Ich will dich sterben sehen
Thriller. Deutsche Erstausgabe. Ausgezeichnet mit dem CWA International Dagger 2013
Gefesselt wacht die junge Alex in einer Lagerhalle auf. Sie weiß, ihr Peiniger meint es ernst. Denn sie kennt ihn. Doch als die Polizei ihr Gefängnis endlich entdeckt, ist Alex verschwunden. Unterwegs, um Rache zunehmen. Und niemand kann sie stoppen.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ich will dich sterben sehen “
Gefesselt wacht die junge Alex in einer Lagerhalle auf. Sie weiß, ihr Peiniger meint es ernst. Denn sie kennt ihn. Doch als die Polizei ihr Gefängnis endlich entdeckt, ist Alex verschwunden. Unterwegs, um Rache zunehmen. Und niemand kann sie stoppen.
Klappentext zu „Ich will dich sterben sehen “
Der Heimweg durch die dunkle Strasse. Plötzlich ein Schlag, ein Knebel, das Innere eines Lieferwagens. Gefesselt und in einen Käfig gesperrt, wacht diejunge Alex in einer Lagerhalle auf. Ohne Kleidung. Ohne Wasser. Ohne Essen. Auf ihre Fragen bekommt sie nur eine Antwort: "Ich will dichsterben sehen." Sie weiss, ihr Peiniger meint es ernst. Denn sie kennt ihn. Doch als die Polizei ihr Gefängnis endlich entdeckt, ist Alex verschwunden - unterwegs, um Rache zunehmen. Und niemand kann sie stoppen ...
Lese-Probe zu „Ich will dich sterben sehen “
Ich will dich sterben sehen von Pierre Lemaitre... mehr
Mit einer Hand packt er einen Büschel echter Haare, mit der anderen boxt er sie in die Magengrube - ein Hieb, der einen Ochsen niederstrecken könnte. Alex kann vor Schmerz gar nicht mehr aufschreien, sie klappt sofort zusammen und übergibt sich. Dieser Mann ist wirklich stark, er drückt sie an sich wie ein Blatt Papier. Einen Arm hat er um ihre Taille gelegt, er hält sie ganz fest und schiebt ihr einen Stoffknebel tief in den Mund, bis in den Rachen. Er ist es, der Mann aus der Metro, der Mann vor dem Laden, er ist es. Für den Bruchteil einer Sekunde blicken sie sich in die Augen. Alex will nach ihm treten, aber er hält sie nun so fest in seinen Armen wie in einem Schraubstock, sie kann gegen diese Kraft nichts ausrichten, er drückt sie nach unten, ihre Knie geben nach, sie fällt auf die Ladefläche des Kastenwagens. Dann tritt er sie brutal ins Kreuz, Alex wird regelrecht in den Wagen geschleudert, ihre Wange schrammt über den Boden. Er steigt hinter ihr ein, dreht sie rücksichtslos um, drückt ihr sein Knie in den Bauch und schlägt sie ins Gesicht. Er hat so kräftig zugeschlagen ... Er will ihr wirklich weh tun, will sie wirklich töten, das denkt Alex in dem Moment, als sie den Schlag bekommt, ihr Kopf prallt auf den Boden, das verursacht ihr einen schrecklichen Schock, da hinten, das ist der Hinterkopf, das ist es, sagt sich Alex, der Hinterkopf. Abgesehen von diesem Wort, kann sie nur denken: Ich will nicht sterben, nicht so, nicht jetzt. Sie hat sich wie ein Fötus zusammengekrümmt, ihr Mund ist voll mit Erbrochenem, ihr Kopf kurz davor zu platzen, sie spürt, wie ihr die Arme grob auf den Rücken gedreht, Hände und Füße gefesselt werden. Ich will jetzt nicht sterben, sagt sich Alex. Die Tür des Wagens wird laut zugeschlagen, der Motor angelassen, mit einem jähen Satz fährt der Wagen vom Gehweg herunter. Ich will jetzt nicht sterben.
Alex ist benommen, bekommt aber mit, was ihr widerfährt. Sie weint, erstickt in Tränen. Warum ich? Warum ich?
Ich will nicht sterben. Nicht jetzt.
2
Kriminalhauptkommissar Le Guen hat ihm am Telefon keine Wahl gelassen: »Mir ist es vollkommen egal, wie du dich dabei fühlst, Camille. Du kannst mich mal! Ich habe niemanden, verstehst du? Niemanden. Also, ich schicke dir jetzt einen Wagen, und du fährst sofort dorthin!«
Und nach einer Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hat er hinzugefügt: »Und hör endlich auf, mich zu nerven!«
Dann hat er aufgelegt. So ist er nun mal. Impulsiv. Gewöhnlich misst Camille dem keine Bedeutung bei. Im Normalfall kommt er gut mit Le Guen zurecht.
Nur dass es sich dieses Mal um eine Entführung handelt.
Und davon will Camille nichts wissen, das hat er immer gesagt; es gibt zwei, drei Dinge, die er nicht mehr bearbeiten wird, ganz besonders Entführungen. Seit dem Tod von Irène. Seiner Frau. Sie fiel auf der Straße hin, schwanger im neunten Monat. Man musste sie in die Klinik bringen, und gleich nach ihrer Entlassung wurde sie von zu Hause entführt. Man hat sie nicht mehr lebend gesehen. Das hat Camille fertiggemacht. Seine Erschütterung war unbeschreiblich. Er war am Boden zerstört. Tagelang war er wie gelähmt, völlig abwesend. Als er dann angefangen hat zu toben, musste man ihn einweisen. Man hat ihn von Klinik zu Klinik, von Sanatorium zu Sanatorium geschickt. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Damit hatte keiner mehr gerechnet. Während all der Monate, die er dienstunfähig war, haben sich seine Kollegen gefragt, ob er jemals wieder aus dem Tief herauskommen würde. Und als er dann schließlich wieder zurück war, wirkte er genauso wie vor Irènes Tod, er war nur älter geworden. Seitdem bearbeitet er nur noch solche Nebensächlichkeiten wie Verbrechen aus Leidenschaft, Schlägereien im Milieu, Morde unter Nachbarn. Fälle, bei denen der Tod schon eingetreten ist und nicht mehr bevorsteht. Keine Entführungen. Camille will, dass die Toten richtig tot sind, definitiv, unstrittige Tote.
»Trotzdem«, hat Le Guen gesagt, der für Camille wirklich tut, was er kann, »ist es keine Perspektive, die Lebenden zu meiden. Dann kann man ja gleich Sargträger werden!«
»Aber ...«, hat Camille erwidert, »genau das sind wir doch.«
Sie kennen sich seit zwanzig Jahren, sie schätzen sich, sie haben keine Angst voreinander. Le Guen ist ein Camille, der auf die Ermittlungsarbeit verzichtet hat, Camille ein Le Guen, der auf die Macht verzichtet hat. Im Grunde trennen die beiden Männer nur zwei Dienstgrade und achtzig Kilo. Und dreißig Zentimeter. So ausgedrückt, erscheint der Unterschied enorm, und wenn man sie zusammen sieht, ist es auch tatsächlich so - beinahe eine Karikatur. Le Guen ist zwar nicht sehr groß, Camille dafür aber sehr klein. Eins fünfundvierzig - das muss man sich mal vorstellen. Er sieht die Welt von unten wie ein dreizehnjähriges Kind. Das hat er seiner Mutter Maud Verhoeven zu verdanken, einer Malerin, deren Bilder in den Katalogen von zehn Museen weltweit gelistet sind. Eine außerordentliche Künstlerin und große Raucherin, die in Zigarettenrauch gehüllt lebte; man kann sie sich unmöglich ohne diese blaue Dunstwolke vorstellen. Ihr verdankt Camille seine beiden bemerkenswertesten Eigenschaften. Von der Künstlerin hat er ein außergewöhnliches Talent zum Zeichnen geerbt und von der Kettenraucherin die fetale Hypotrophie, die aus ihm einen Mann von eins fünfundvierzig gemacht hat.
Er hat eigentlich noch nie jemanden getroffen, den er von oben betrachten konnte. Umgekehrt schon ... Kleinwüchsigkeit ist nicht nur ein Handicap. Mit zwanzig ist sie eine entsetzliche Erniedrigung, mit dreißig ein Fluch, aber man weiß von Anfang an, dass es Schicksal ist. Ein Umstand, den man mit lautem Fluchen auszugleichen versucht.
Dank Irène wurde Camilles Größe zu einer Stärke. Irène ließ ihn innerlich wachsen. Camille war nie so ... er sucht nach Worten ... Doch ohne Irène fehlen ihm auch diese.
Im Gegensatz zu Camille ist Le Guen ein Koloss. Er wiegt ... man weiß nicht, wie viel, er verrät niemals sein Gewicht; manche sagen hundertzwanzig, andere hundertdreißig Kilo, wieder andere gehen noch weiter, aber das spielt keine Rolle mehr: Le Guen ist gewaltig, fettleibig mit großen Hamsterbacken, aber aus seinem klaren Blick strahlt die Klugheit, und - keiner kann es erklären, die Männer wollen es nicht zugeben, die Frauen jedoch sind sich fast alle einig: Der Hauptkommissar ist ein äußerst attraktiver Mann. Das soll einer verstehen!
Camille hat Le Guen brüllen gehört. Die Wutausbrüche seines Chefs beeindrucken ihn nicht. Seit damals ... Er legt ganz ruhig auf und ruft dann zurück.
»Gut, Jean, ich gehe hin, ich mache deine Entführungsgeschichte. Aber sobald Morel wieder da ist, übergibst du sie ihm, denn ... (er holt Schwung und betont jede Silbe mit einer Gelassenheit, die wie eine Drohung klingt) ... ich übernehme diesen Fall nicht!«
Camille Verhoeven schreit nie. Selten. Er ist ein beherrschter Mann. Klein, kahlköpfig, leichtgewichtig, aber jeder weiß: Camille hat einen scharfen Verstand. Außerdem antwortet Le Guen nicht. Böse Zungen behaupten, bei den beiden hätte Camille die Hosen an. Das finden sie nicht lustig. Camille legt wieder auf.
»Verdammte Scheiße!«
Das ist wirklich Pech. Vor allem weil nicht jeden Tag eine Entführung stattfindet, man ist ja nicht in Mexiko. Das hätte doch auch zu einem anderen Zeitpunkt passieren können, wenn er auf Dienstreise gewesen wäre oder freigehabt hätte, oder an einem anderen Ort! Camille schlägt mit der Faust auf den Tisch. Langsam, denn er ist ein maßvoller Mensch. Auch bei anderen mag er keinen Überschwang.
Die Zeit drängt. Camille steht auf, nimmt seinen Mantel und den Hut und geht schnell die Treppen hinunter. Er ist klein, hat aber einen schweren Schritt. Bis zu Irènes Tod hatte er einen leichteren Gang, sie hat sogar oft zu ihm gesagt: »Du bewegst dich wie ein Vogel. Ich habe immer den Eindruck, du würdest gleich aufflattern.« Irène ist seit vier Jahren tot.
Der Wagen bremst vor ihm ab. Camille steigt ein.
»Wie heißt du noch mal?«
»Alexandre, Che-«
Er beißt sich auf die Zunge. Jeder in der Brigade weiß, dass Camille es hasst, »Chef« genannt zu werden. Er sagt, das klinge nach Krankenhaus, wie in einer Arztserie. Deutliche Worte, das ist Camilles Art. Er ist friedfertig, hat aber seine groben Seiten. Manchmal ist er aufbrausend. Er hatte schon immer einen ziemlich festen Charakter, aber mit dem Alter, als Witwer, wurde er ein wenig verletzbar, reizbar. Im Grunde ist er ein ungeduldiger Mensch. Schon Irène hat immer gefragt: »Warum bist du denn immer so wütend, Liebster?« Sozusagen aus der Höhe seiner eins fünfundvierzig hat er dann erwidert, um seine Verwunderung zu überspielen: »Ja, das stimmt ... Es gibt keinen Grund, wütend zu sein ...« Cholerisch und maßvoll, grob und umsichtig - die Leute verstehen und schätzen das selten beim ersten Mal. Auch weil er nicht sehr heiter ist. Camille mag sich selbst nicht besonders.
Seit er vor fast drei Jahren die Arbeit wiederaufgenommen hat, nimmt er alle Praktikanten zu sich ins Team. Ein großes Glück für die Chefs, die sich nicht mit den jungen Leuten belasten wollen. Doch Camille will auf keinen Fall wieder ein festes Team bilden, nachdem seine Gruppe sich aufgelöst hat.
Er wirft Alexandre einen Blick zu. Mit diesem Gesicht müsste er anders heißen, ganz bestimmt nicht Alexandre. Aber egal, er ist ausreichend Alexandre, um ihn vier Köpfe zu überragen, was keine Leistung ist. Und er ist losgefahren, bevor Camille ihm den Befehl dazu gab, was zumindest ein Zeichen von Entschlossenheit ist.
Alexandre fährt schnell. Er fährt gern Auto, das merkt man. Man könnte meinen, das Navigationsgerät hätte Mühe, den Rückstand aufzuholen, den es seit dem Start hat. Alexandre will dem Kriminalinspektor zeigen, dass er ein guter Fahrer ist, das Martinshorn heult, der Wagen rast problemlos durch Straßen, über Kreuzungen und Boulevards. Camilles Füße baumeln zwanzig Zentimeter über dem Boden, mit der rechten Hand hält er sich am Sicherheitsgurt fest. Sie brauchen nicht einmal zwanzig Minuten zum Einsatzort. Es ist einundzwanzig Uhr fünfzig. Das ist zwar noch nicht besonders spät, aber Paris scheint bereits zu schlafen, wirkt ruhig, nicht gerade wie eine Stadt, in der Frauen entführt werden. »Eine Frau«, hatte der Zeuge gesagt, der die Polizei gerufen hat. Er hat sichtlich unter Schock gestanden. »Entführt - vor meinen Augen! Er hatte es nicht fassen können. Man muss aber auch sagen, dass das ja nicht gerade eine gängige Erfahrung ist.
»Lass mich hier raus«, bittet Camille.
Camille steigt aus, setzt seinen Hut gerade auf, der junge Mann fährt wieder weg. Camille steht am Ende der Straße, etwa fünfzig Meter von den ersten Absperrungen entfernt. Den Rest des Wegs legt er zu Fuß zurück. Wenn er Zeit dazu hat, versucht er immer, das Problem von weitem zu betrachten, das ist seine Methode. Die ersten Eindrücke sind sehr wichtig, vor allem wenn man sich ein umfassendes Bild machen kann, denn hinterher steckt man in Details fest, in unzähligen Fakten, und hat keinen Abstand mehr. Das ist für ihn der offizielle Grund, warum er ein gutes Stück von dem Treffpunkt entfernt ausgestiegen ist. Der andere und wahre Grund: Er will gar nicht dort sein.
Während Camille auf die Polizeiautos zugeht, deren Blaulichter die Fassaden sprenkeln, versucht er zu verstehen, was er empfindet.
Sein Herz schlägt heftig.
Ihm geht es wirklich gar nicht gut. Er würde zehn Jahre seines Lebens dafür geben, anderswo sein zu können.
Doch so langsam er sich auch nähert, er kommt trotzdem an.
Die Sache hier hat sich fast so ähnlich zugetragen wie vier Jahre zuvor. In der Straße, in der er wohnte und die ähnlich aussieht wie diese Straße hier. Irène war nicht mehr da. Sie hätte in wenigen Tagen ein Kind zur Welt bringen sollen, einen Jungen. Sie hätte auf der Entbindungsstation sein sollen. Camille war aus dem Haus geeilt, gerannt, hat sie gesucht - was hat er in jener Nacht nicht alles unternommen, um sie zu finden ... Er war wie von Sinnen, aber alles war vergeblich ... Danach war sie tot. Der Alptraum in Camilles Leben hat in einer solchen Sekunde wie jetzt begonnen. Also klopft sein Herz, setzt aus, seine Ohren dröhnen. Die Schuldgefühle, die er verdrängt glaubte, brechen wieder hervor. Ihm wird schwindelig. Eine Stimme ruft, er solle von hier verschwinden, eine andere ruft, er solle sich mit der Situation konfrontieren, seine Brust ist eingezwängt wie in einem Schraubstock. Camille hat das Gefühl, er müsse gleich fallen. Stattdessen hebt er ein Absperrband an und betritt den gesicherten Bereich. Der uniformierte Beamte winkt ihm kurz zu. Vielleicht kennen nicht alle Polizisten den Kriminalinspektor Verhoeven, aber erkennen tun sie ihn alle. Selbstverständlich. Schließlich ist er eine Legende, mit dieser Größe ... Und dieser Geschichte ...
»Ach, Sie sind's.«
»Bist wohl enttäuscht ...«
Louis wird sofort unsicher, ist aufgeregt.
»Nein, nein, nein, überhaupt nicht!«
© Ullstein TB (Verlag), Weltbild
Mit einer Hand packt er einen Büschel echter Haare, mit der anderen boxt er sie in die Magengrube - ein Hieb, der einen Ochsen niederstrecken könnte. Alex kann vor Schmerz gar nicht mehr aufschreien, sie klappt sofort zusammen und übergibt sich. Dieser Mann ist wirklich stark, er drückt sie an sich wie ein Blatt Papier. Einen Arm hat er um ihre Taille gelegt, er hält sie ganz fest und schiebt ihr einen Stoffknebel tief in den Mund, bis in den Rachen. Er ist es, der Mann aus der Metro, der Mann vor dem Laden, er ist es. Für den Bruchteil einer Sekunde blicken sie sich in die Augen. Alex will nach ihm treten, aber er hält sie nun so fest in seinen Armen wie in einem Schraubstock, sie kann gegen diese Kraft nichts ausrichten, er drückt sie nach unten, ihre Knie geben nach, sie fällt auf die Ladefläche des Kastenwagens. Dann tritt er sie brutal ins Kreuz, Alex wird regelrecht in den Wagen geschleudert, ihre Wange schrammt über den Boden. Er steigt hinter ihr ein, dreht sie rücksichtslos um, drückt ihr sein Knie in den Bauch und schlägt sie ins Gesicht. Er hat so kräftig zugeschlagen ... Er will ihr wirklich weh tun, will sie wirklich töten, das denkt Alex in dem Moment, als sie den Schlag bekommt, ihr Kopf prallt auf den Boden, das verursacht ihr einen schrecklichen Schock, da hinten, das ist der Hinterkopf, das ist es, sagt sich Alex, der Hinterkopf. Abgesehen von diesem Wort, kann sie nur denken: Ich will nicht sterben, nicht so, nicht jetzt. Sie hat sich wie ein Fötus zusammengekrümmt, ihr Mund ist voll mit Erbrochenem, ihr Kopf kurz davor zu platzen, sie spürt, wie ihr die Arme grob auf den Rücken gedreht, Hände und Füße gefesselt werden. Ich will jetzt nicht sterben, sagt sich Alex. Die Tür des Wagens wird laut zugeschlagen, der Motor angelassen, mit einem jähen Satz fährt der Wagen vom Gehweg herunter. Ich will jetzt nicht sterben.
Alex ist benommen, bekommt aber mit, was ihr widerfährt. Sie weint, erstickt in Tränen. Warum ich? Warum ich?
Ich will nicht sterben. Nicht jetzt.
2
Kriminalhauptkommissar Le Guen hat ihm am Telefon keine Wahl gelassen: »Mir ist es vollkommen egal, wie du dich dabei fühlst, Camille. Du kannst mich mal! Ich habe niemanden, verstehst du? Niemanden. Also, ich schicke dir jetzt einen Wagen, und du fährst sofort dorthin!«
Und nach einer Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hat er hinzugefügt: »Und hör endlich auf, mich zu nerven!«
Dann hat er aufgelegt. So ist er nun mal. Impulsiv. Gewöhnlich misst Camille dem keine Bedeutung bei. Im Normalfall kommt er gut mit Le Guen zurecht.
Nur dass es sich dieses Mal um eine Entführung handelt.
Und davon will Camille nichts wissen, das hat er immer gesagt; es gibt zwei, drei Dinge, die er nicht mehr bearbeiten wird, ganz besonders Entführungen. Seit dem Tod von Irène. Seiner Frau. Sie fiel auf der Straße hin, schwanger im neunten Monat. Man musste sie in die Klinik bringen, und gleich nach ihrer Entlassung wurde sie von zu Hause entführt. Man hat sie nicht mehr lebend gesehen. Das hat Camille fertiggemacht. Seine Erschütterung war unbeschreiblich. Er war am Boden zerstört. Tagelang war er wie gelähmt, völlig abwesend. Als er dann angefangen hat zu toben, musste man ihn einweisen. Man hat ihn von Klinik zu Klinik, von Sanatorium zu Sanatorium geschickt. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Damit hatte keiner mehr gerechnet. Während all der Monate, die er dienstunfähig war, haben sich seine Kollegen gefragt, ob er jemals wieder aus dem Tief herauskommen würde. Und als er dann schließlich wieder zurück war, wirkte er genauso wie vor Irènes Tod, er war nur älter geworden. Seitdem bearbeitet er nur noch solche Nebensächlichkeiten wie Verbrechen aus Leidenschaft, Schlägereien im Milieu, Morde unter Nachbarn. Fälle, bei denen der Tod schon eingetreten ist und nicht mehr bevorsteht. Keine Entführungen. Camille will, dass die Toten richtig tot sind, definitiv, unstrittige Tote.
»Trotzdem«, hat Le Guen gesagt, der für Camille wirklich tut, was er kann, »ist es keine Perspektive, die Lebenden zu meiden. Dann kann man ja gleich Sargträger werden!«
»Aber ...«, hat Camille erwidert, »genau das sind wir doch.«
Sie kennen sich seit zwanzig Jahren, sie schätzen sich, sie haben keine Angst voreinander. Le Guen ist ein Camille, der auf die Ermittlungsarbeit verzichtet hat, Camille ein Le Guen, der auf die Macht verzichtet hat. Im Grunde trennen die beiden Männer nur zwei Dienstgrade und achtzig Kilo. Und dreißig Zentimeter. So ausgedrückt, erscheint der Unterschied enorm, und wenn man sie zusammen sieht, ist es auch tatsächlich so - beinahe eine Karikatur. Le Guen ist zwar nicht sehr groß, Camille dafür aber sehr klein. Eins fünfundvierzig - das muss man sich mal vorstellen. Er sieht die Welt von unten wie ein dreizehnjähriges Kind. Das hat er seiner Mutter Maud Verhoeven zu verdanken, einer Malerin, deren Bilder in den Katalogen von zehn Museen weltweit gelistet sind. Eine außerordentliche Künstlerin und große Raucherin, die in Zigarettenrauch gehüllt lebte; man kann sie sich unmöglich ohne diese blaue Dunstwolke vorstellen. Ihr verdankt Camille seine beiden bemerkenswertesten Eigenschaften. Von der Künstlerin hat er ein außergewöhnliches Talent zum Zeichnen geerbt und von der Kettenraucherin die fetale Hypotrophie, die aus ihm einen Mann von eins fünfundvierzig gemacht hat.
Er hat eigentlich noch nie jemanden getroffen, den er von oben betrachten konnte. Umgekehrt schon ... Kleinwüchsigkeit ist nicht nur ein Handicap. Mit zwanzig ist sie eine entsetzliche Erniedrigung, mit dreißig ein Fluch, aber man weiß von Anfang an, dass es Schicksal ist. Ein Umstand, den man mit lautem Fluchen auszugleichen versucht.
Dank Irène wurde Camilles Größe zu einer Stärke. Irène ließ ihn innerlich wachsen. Camille war nie so ... er sucht nach Worten ... Doch ohne Irène fehlen ihm auch diese.
Im Gegensatz zu Camille ist Le Guen ein Koloss. Er wiegt ... man weiß nicht, wie viel, er verrät niemals sein Gewicht; manche sagen hundertzwanzig, andere hundertdreißig Kilo, wieder andere gehen noch weiter, aber das spielt keine Rolle mehr: Le Guen ist gewaltig, fettleibig mit großen Hamsterbacken, aber aus seinem klaren Blick strahlt die Klugheit, und - keiner kann es erklären, die Männer wollen es nicht zugeben, die Frauen jedoch sind sich fast alle einig: Der Hauptkommissar ist ein äußerst attraktiver Mann. Das soll einer verstehen!
Camille hat Le Guen brüllen gehört. Die Wutausbrüche seines Chefs beeindrucken ihn nicht. Seit damals ... Er legt ganz ruhig auf und ruft dann zurück.
»Gut, Jean, ich gehe hin, ich mache deine Entführungsgeschichte. Aber sobald Morel wieder da ist, übergibst du sie ihm, denn ... (er holt Schwung und betont jede Silbe mit einer Gelassenheit, die wie eine Drohung klingt) ... ich übernehme diesen Fall nicht!«
Camille Verhoeven schreit nie. Selten. Er ist ein beherrschter Mann. Klein, kahlköpfig, leichtgewichtig, aber jeder weiß: Camille hat einen scharfen Verstand. Außerdem antwortet Le Guen nicht. Böse Zungen behaupten, bei den beiden hätte Camille die Hosen an. Das finden sie nicht lustig. Camille legt wieder auf.
»Verdammte Scheiße!«
Das ist wirklich Pech. Vor allem weil nicht jeden Tag eine Entführung stattfindet, man ist ja nicht in Mexiko. Das hätte doch auch zu einem anderen Zeitpunkt passieren können, wenn er auf Dienstreise gewesen wäre oder freigehabt hätte, oder an einem anderen Ort! Camille schlägt mit der Faust auf den Tisch. Langsam, denn er ist ein maßvoller Mensch. Auch bei anderen mag er keinen Überschwang.
Die Zeit drängt. Camille steht auf, nimmt seinen Mantel und den Hut und geht schnell die Treppen hinunter. Er ist klein, hat aber einen schweren Schritt. Bis zu Irènes Tod hatte er einen leichteren Gang, sie hat sogar oft zu ihm gesagt: »Du bewegst dich wie ein Vogel. Ich habe immer den Eindruck, du würdest gleich aufflattern.« Irène ist seit vier Jahren tot.
Der Wagen bremst vor ihm ab. Camille steigt ein.
»Wie heißt du noch mal?«
»Alexandre, Che-«
Er beißt sich auf die Zunge. Jeder in der Brigade weiß, dass Camille es hasst, »Chef« genannt zu werden. Er sagt, das klinge nach Krankenhaus, wie in einer Arztserie. Deutliche Worte, das ist Camilles Art. Er ist friedfertig, hat aber seine groben Seiten. Manchmal ist er aufbrausend. Er hatte schon immer einen ziemlich festen Charakter, aber mit dem Alter, als Witwer, wurde er ein wenig verletzbar, reizbar. Im Grunde ist er ein ungeduldiger Mensch. Schon Irène hat immer gefragt: »Warum bist du denn immer so wütend, Liebster?« Sozusagen aus der Höhe seiner eins fünfundvierzig hat er dann erwidert, um seine Verwunderung zu überspielen: »Ja, das stimmt ... Es gibt keinen Grund, wütend zu sein ...« Cholerisch und maßvoll, grob und umsichtig - die Leute verstehen und schätzen das selten beim ersten Mal. Auch weil er nicht sehr heiter ist. Camille mag sich selbst nicht besonders.
Seit er vor fast drei Jahren die Arbeit wiederaufgenommen hat, nimmt er alle Praktikanten zu sich ins Team. Ein großes Glück für die Chefs, die sich nicht mit den jungen Leuten belasten wollen. Doch Camille will auf keinen Fall wieder ein festes Team bilden, nachdem seine Gruppe sich aufgelöst hat.
Er wirft Alexandre einen Blick zu. Mit diesem Gesicht müsste er anders heißen, ganz bestimmt nicht Alexandre. Aber egal, er ist ausreichend Alexandre, um ihn vier Köpfe zu überragen, was keine Leistung ist. Und er ist losgefahren, bevor Camille ihm den Befehl dazu gab, was zumindest ein Zeichen von Entschlossenheit ist.
Alexandre fährt schnell. Er fährt gern Auto, das merkt man. Man könnte meinen, das Navigationsgerät hätte Mühe, den Rückstand aufzuholen, den es seit dem Start hat. Alexandre will dem Kriminalinspektor zeigen, dass er ein guter Fahrer ist, das Martinshorn heult, der Wagen rast problemlos durch Straßen, über Kreuzungen und Boulevards. Camilles Füße baumeln zwanzig Zentimeter über dem Boden, mit der rechten Hand hält er sich am Sicherheitsgurt fest. Sie brauchen nicht einmal zwanzig Minuten zum Einsatzort. Es ist einundzwanzig Uhr fünfzig. Das ist zwar noch nicht besonders spät, aber Paris scheint bereits zu schlafen, wirkt ruhig, nicht gerade wie eine Stadt, in der Frauen entführt werden. »Eine Frau«, hatte der Zeuge gesagt, der die Polizei gerufen hat. Er hat sichtlich unter Schock gestanden. »Entführt - vor meinen Augen! Er hatte es nicht fassen können. Man muss aber auch sagen, dass das ja nicht gerade eine gängige Erfahrung ist.
»Lass mich hier raus«, bittet Camille.
Camille steigt aus, setzt seinen Hut gerade auf, der junge Mann fährt wieder weg. Camille steht am Ende der Straße, etwa fünfzig Meter von den ersten Absperrungen entfernt. Den Rest des Wegs legt er zu Fuß zurück. Wenn er Zeit dazu hat, versucht er immer, das Problem von weitem zu betrachten, das ist seine Methode. Die ersten Eindrücke sind sehr wichtig, vor allem wenn man sich ein umfassendes Bild machen kann, denn hinterher steckt man in Details fest, in unzähligen Fakten, und hat keinen Abstand mehr. Das ist für ihn der offizielle Grund, warum er ein gutes Stück von dem Treffpunkt entfernt ausgestiegen ist. Der andere und wahre Grund: Er will gar nicht dort sein.
Während Camille auf die Polizeiautos zugeht, deren Blaulichter die Fassaden sprenkeln, versucht er zu verstehen, was er empfindet.
Sein Herz schlägt heftig.
Ihm geht es wirklich gar nicht gut. Er würde zehn Jahre seines Lebens dafür geben, anderswo sein zu können.
Doch so langsam er sich auch nähert, er kommt trotzdem an.
Die Sache hier hat sich fast so ähnlich zugetragen wie vier Jahre zuvor. In der Straße, in der er wohnte und die ähnlich aussieht wie diese Straße hier. Irène war nicht mehr da. Sie hätte in wenigen Tagen ein Kind zur Welt bringen sollen, einen Jungen. Sie hätte auf der Entbindungsstation sein sollen. Camille war aus dem Haus geeilt, gerannt, hat sie gesucht - was hat er in jener Nacht nicht alles unternommen, um sie zu finden ... Er war wie von Sinnen, aber alles war vergeblich ... Danach war sie tot. Der Alptraum in Camilles Leben hat in einer solchen Sekunde wie jetzt begonnen. Also klopft sein Herz, setzt aus, seine Ohren dröhnen. Die Schuldgefühle, die er verdrängt glaubte, brechen wieder hervor. Ihm wird schwindelig. Eine Stimme ruft, er solle von hier verschwinden, eine andere ruft, er solle sich mit der Situation konfrontieren, seine Brust ist eingezwängt wie in einem Schraubstock. Camille hat das Gefühl, er müsse gleich fallen. Stattdessen hebt er ein Absperrband an und betritt den gesicherten Bereich. Der uniformierte Beamte winkt ihm kurz zu. Vielleicht kennen nicht alle Polizisten den Kriminalinspektor Verhoeven, aber erkennen tun sie ihn alle. Selbstverständlich. Schließlich ist er eine Legende, mit dieser Größe ... Und dieser Geschichte ...
»Ach, Sie sind's.«
»Bist wohl enttäuscht ...«
Louis wird sofort unsicher, ist aufgeregt.
»Nein, nein, nein, überhaupt nicht!«
© Ullstein TB (Verlag), Weltbild
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Autoren-Porträt von Pierre Lemaître
Lemaitre, PierrePierre Lemaitre lebt in Paris und arbeitet als Drehbuchautor für Kino- und Fernsehfilme. Robe de marié ist sein zweiter Roman. Sein erstes Buch, ein Krimi, erschien bei einem kleineren Verlag und wurde nicht ins Deutsche übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Pierre Lemaître
- 2012, 400 Seiten, Masse: 12 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Wurster, Gaby
- Übersetzer: Gaby Wurster
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283853
- ISBN-13: 9783548283852
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