Hiobs Brüder
Historischer Roman
England, 1147: Auf einer Insel leben eingesperrt in einer Burg 17 Männer und Jungen - wegen körperlicher und geistiger Gebrechen von der Gesellschaft getrennt. Nach einer Flut kehren sie aufs Festland zurück. Eine abenteuerliche Reise beginnt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hiobs Brüder “
England, 1147: Auf einer Insel leben eingesperrt in einer Burg 17 Männer und Jungen - wegen körperlicher und geistiger Gebrechen von der Gesellschaft getrennt. Nach einer Flut kehren sie aufs Festland zurück. Eine abenteuerliche Reise beginnt.
Klappentext zu „Hiobs Brüder “
England 1147: Eingesperrt in einer verfallenen Inselfestung, fristen sie ein menschenunwürdiges Dasein, weil sie nicht zu den Kindern Gottes zählen: Simon hat die Fallsucht, Edmund hält sich für einen Märtyrerkönig, Regy ist ein Mörder, und Losian hat sein Gedächtnis verloren. Ausgerechnet Letzterem fällt die Führung dieser sonderbaren Gemeinschaft zu, als eine Laune der Natur ihnen den Weg in die Freiheit öffnet. Ein Abenteuer beginnt und eine Suche, die Losian zu erschreckenden Erkenntnissen über den Mann führt, der er einmal war. Gerade als er einer Frau begegnet, mit der ein Neuanfang möglich scheint, keimt in Losian ein schrecklicher Verdacht: Hat er den grauenvollen Krieg verschuldet, unter dem ganz England leidet?
Lese-Probe zu „Hiobs Brüder “
Hiobsbrüder von Rebecca GabléIsle of Whitholm, Februar 1147
... mehr
»Sieh dich um, du Ausgeburt der Hölle«, knurrte der Mönch. »Wirf einen letzten Blick auf die Welt.«
Unwillkürlich folgte Simon der Aufforderung, obwohl er sich so fest vorgenommen hatte, genau das nicht zu tun. Er blieb stehen, wandte sich um und blickte zurück über die rastlose, aufgewühlte See. Der Wind fuhr ihm ruppig durch die Haare und wehte ihm eine Strähne ins Auge, aber der Junge konnte nichts tun, um sie zurückzustreichen, denn die Brüder hatten ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt. Anscheinend fürchteten sie, der fünfzehnjährige, schilfdünne Knabe sei in der Lage, es mit vier gestandenen Benediktinern gleichzeitig aufzunehmen.
Ein Sonnenstrahl brach durch die bleifarbene Wolkendecke und tauchte das Meer und die flache Küste des Festlandes drüben in ein gleißendes, geradezu unirdisches Licht. Simon sah das Heidekraut aufleuchten, und der Turm der Klosterkirche, der eigentlich gedrungen und hässlich war, wirkte mit einem Mal filigran und schimmerte wie Elfenbein. Eine kleine Schafherde graste dicht zusammengedrängt unweit der klösterlichen Obstwiesen. Wie gelbe Wollflocken wirkten die Tiere aus der Ferne. Dann schob sich eine der schweren Wolken vor die Sonne, und das einsam gelegene St.-Pancras-Kloster versank wieder im Zwielicht.
Nicht gerade überwältigend, hätte Simon gern gesagt, um der Welt, die ihn ausstieß, zu bekunden, dass er gut auf sie verzichten könne. Doch nicht einmal zu dieser trotzigen Lüge bekam er Gelegenheit, denn die Brüder hatten ihn geknebelt, damit er sie nicht verfluchen konnte. Der alte Mönch mit dem Glatzkopf und den weißen Haarbüscheln in den Nasenlöchern, der sich während des Exorzismus so in Rage gebetet hatte, dass er irgendwann ohnmächtig zusammengebrochen war, stieß den Jungen mit seinem knorrigen Gehstock zwischen die Schulterblätter. »Vorwärts!«
Simon kehrte der Welt den Rücken.
Das kleine, aber stabile Ruderboot, mit welchem die Brüder ihn hergebracht hatten, schaukelte auf den kurzen Wellen. Mit zwei dicken Leinen war es am Anlegesteg vertäut. Vermutlich graute den wackeren Brüdern davor, ihr Bötchen könne abtreiben und sie hier stranden, nahm Simon an.
Keine dreißig Schritte vom Bootssteg entfernt erhob sich ein Palisadenzaun mit einem mächtigen hölzernen Torhaus.
»Der Schlüssel, Bruder Martin«, drängte der mit den Nasenhaaren. Es klang ungeduldig und ein bisschen nervös.
Sie hatten wirklich Angst vor ihm, wusste Simon. Jetzt ganz besonders. Sie fürchteten, im letzten Augenblick könne noch irgendetwas schiefgehen, könne er sich mithilfe der finsteren Mächte, die ihm innewohnten, befreien und sie alle niederstrecken oder in Regenwürmer verwandeln. Bruder Nasenhaar hielt seinen Eschenstock einsatzbereit hoch, und die hellen Augen strahlten unnatürlich. »Nun mach endlich«, drängte er seinen Mitbruder.
Der nahm den größten Schlüssel, den Simon je im Leben gesehen hatte, vom Gürtel und steckte ihn in ein ebenfalls riesiges, schwarzes Vorhängeschloss. Erst als dessen Bolzen aus einer rostigen Öse gezogen war, konnten die beiden anderen Brüder den mächtigen Eisenriegel hochstemmen, der das Tor versperrte. Solche Schließkonstruktionen gehörten natürlich eigentlich auf die Innenseite eines Burgtors.
Aber hier war eben alles anders.
Die beiden jungen Mönche mussten ihre gesamte Kraft aufbieten, um einen der schweren Torflügel weit genug zu öffnen. Als der Spalt so breit wie ein Mann war, traf Simon ein tückischer Stoß mit dem Stockende in den Nacken, er torkelte über die Schwelle und fiel auf die harte Erde. Da er seinen Sturz nicht mit den Händen abfangen konnte, landete er auf der Brust, und für einen Moment konnte er sich nicht rühren. Als er Bruder Nasenhaar brummen hörte: »Gott sei dir gnädig, Söhnchen«, fuhr sein Kopf herum, aber schon schlug das Tor hallend zu.
Simon wälzte sich auf die Seite, spürte eiskalten Schlamm unter der Wange und weinte.
Er weinte lange und bitterlich. Er war zutiefst entsetzt über das, was ihm geschehen war. Er war einsam, und er hatte Angst. Vor der ewigen Verdammnis, die der ehrwürdige Abt ihm prophezeit hatte, aber noch ein bisschen mehr vor dem, was ihn hier erwarten mochte. Vor dem Rest seines Lebens.
Er schluchzte, und als die Tränen ihm die Nase verstopften, bekam er mit einem Mal keine Luft mehr, denn der Knebel machte es ihm fast unmöglich, durch den Mund einzuatmen. Simon fing an zu keuchen, krümmte sich und versuchte erfolglos, sich auf die Knie aufzurichten. Gerade als die Panik sich seiner bemächtigen wollte, spürte er eine Hand auf dem Arm.
»Schsch. Nur die Ruhe, mein Sohn«, hörte er eine Stimme murmeln. Kräftige Arme umschlangen ihn von hinten, eine Hand strich ihm über die Stirn.
Simon erstarrte vor Schreck und versuchte, über die Schulter zu erkennen, was für eine Kreatur es war, die ihn gepackt hielt, aber er konnte den Kopf nicht weit genug drehen, und außerdem war es fast dunkel im Torhaus.
»Schsch. Atme. Gleich wird es besser, du wirst sehen.«
Es war eine gütige Stimme. Simon entspannte sich ein wenig, ließ sich in die Umarmung zurücksinken und betete, dass er nicht ausgerechnet jetzt einen Anfall bekommen möge.
Allmählich wurde es besser. Die Erstickungsangst verging, und er atmete wieder ruhiger. Schließlich packten die Hände ihn unter den Achseln und hievten ihn auf die Füße. Im nächsten Moment wurde der Knoten des widerwärtigen Lumpens gelöst, mit dem sie ihn geknebelt hatten.
Simon spuckte aus, rieb sich den Mund an der Schulter und drehte sich um. »Danke.«
Er fand sich Auge in Auge mit einem hageren Angelsachsen in einem zerschlissenen Mönchsgewand. Der Mann war jünger, als das graue Haar und der weiße Zottelbart auf den ersten Blick schließen ließen, vierzig vielleicht, und die blauen Augen funkelten wie vor jugendlichem Übermut. Seine Haltung war ein wenig gekrümmt, so als habe er zu viel Zeit über fromme Bücher gebeugt verbracht.
»Alle fangen hier so an wie du, weißt du«, sagte er. »Alle liegen am Tor und heulen. Aber so schlimm ist es gar nicht, glaub mir. Man gewöhnt sich daran. Wie ist dein Name, mein Sohn?«
»Simon de Clare.«
»Ah ! Von edelstem normannischem Geblüt. Eine Ehre für uns, eine Ehre. Willkommen auf der Insel der Seligen, Simon de Clare.«
»Ich dachte, sie heißt die Insel der Verdammten«, entgegnete Simon.
Aber der Angelsachse schüttelte den Kopf. »So nennen sie sie dort draußen«, antwortete er und ruckte abschätzig das Kinn zum Burgtor hinüber. »Wir hier drinnen wissen es besser.«
Simon nickte, aber er war keineswegs überzeugt. »Und wie ist dein Name?«, fragte er.
»Ich bin der heilige Edmund«, stellte der Angelsachse sich vor. »Aber du kannst mich King Edmund nennen, das tun hier alle. Wir legen keinen großen Wert auf Förmlichkeiten.«
Simon spürte, wie das vorsichtige Lächeln auf seinem Gesicht gefror. Irre. Dieser Kerl war vollkommen irre. Wie alle hier. Was für ein Narr er doch war, dass er auch nur für einen Augenblick Hoffnung geschöpft hatte. Er räusperte sich mühsam. »Und wirst du mir die Fesseln abnehmen, King Edmund?«
Der zeigte ein spitzbübisches Lächeln. »Sobald ich weiß, wie gefährlich du bist.«
»Oh, keine Bange«, gab der Junge bitter zurück. »Ich bin völlig harmlos.«
»Wenn du das glaubst, kennst du dich selbst schlecht, Simon de Clare. Kein Mann ist harmlos. Weswegen bist du hier?«
Simon wandte das Gesicht ab. Die Schande brannte wie Galle in seinem Innern, an der vertrauten Stelle gleich hinter dem Brustbein. »Darüber möchte ich lieber nicht sprechen«, brachte er gepresst hervor.
»Das kannst du halten, wie du willst«, gab King Edmund gleichmütig zurück. »Aber es besteht kein Grund, dich zu schämen. Jeder von uns hier hat einen Makel. Genau wie die da draußen, nur ist er bei uns vielleicht ein bisschen augenfälliger. Doch wenn du hier eines lernen kannst, dann, dich dessen, was du bist, nicht zu schämen.«
Simon schnaubte, um nur ja nicht wieder anzufangen zu heulen. »Ich glaube, das wird mir verdammt schwerfallen, King Edmund.«
Der zwinkerte ihm zu. »Das macht nichts. Du hast ja den Rest deines Lebens Zeit. Und wenn ich dich noch einmal fluchen höre, mein Sohn, dann wirst du's bereuen, du hast mein Wort.«
Der leutselige Ton hatte sich ebenso wenig geändert wie das verschmitzte Lächeln, aber plötzlich spürte Simon einen Schauer seinen Rücken hinabrieseln. Hatte er einen Widerschein des Wahnsinns in den blauen Augen des Angelsachsen aufleuchten sehen? Oder hatte er es sich nur eingebildet, weil es eben das war, was man hier zu sehen erwartete? Simon, der mehr als sein halbes Leben unter den vorgefassten Meinungen anderer Menschen zu leiden gehabt hatte, misstraute seinem eigenen Urteil.
»Ich bitte um Entschuldigung, heiliger King Edmund.« Sorgsam hielt er jeden Anflug von Hohn aus seiner Stimme, nickte dem Mann in der Mönchskutte höflich zu, der sich für den wohl am glühendsten verehrten angelsächsischen Märtyrer hielt, ließ ihn stehen und trat aus dem Torhaus in den Innenhof der alten Inselfestung.
Er ging mit langsamen Schritten, die Hände unverändert auf dem Rücken zusammengebunden, und schaute sich um. Er war erschüttert, aber nicht überrascht von dem Anblick, der sich ihm bot: eine Burganlage typischer normannischer Bauart, schnell zusammengezimmert, aber solide. Vermutlich hatte der Eroberer irgendeinen Unglücksraben unter seinen Getreuen mit diesem kargen Eiland im Meer beglückt und ihm befohlen, hier eine Festung zu errichten und nach dänischen Invasionsflotten Ausschau zu halten. Aber die Dänen kamen schon lange nicht mehr. Vor mehr als dreißig Jahren war die Burg aufgegeben worden, und man konnte unschwer erkennen, dass niemand in all der Zeit auch nur irgendwo einen neuen Nagel eingeschlagen hatte. Dennoch standen die Palisaden in Reih und Glied und so unverrückbar wie am ersten Tag, und der hölzerne Burgturm oben auf der Motte schien sogar noch ein Dach zu haben.
King Edmund folgte Simon aus dem Torhaus, gesellte sich zu ihm und schickte sich an, ihn herumzuführen, so wie ein stolzer Burgherr es mit einem Besucher getan hätte. Er zeigte auf eine halb vermoderte Holzhütte auf der rechten Seite. »Wir glauben, dass dies hier einmal das Backhaus war. Jedenfalls gibt es eine Feuerstelle, und wir kochen hier unser Essen.«
»Was esst ihr denn?«, fragte Simon. »Woher ... ich meine, hier wächst doch nichts, und ich rieche kein Vieh.«
»Nein, nein«, gab King Edmund glucksend zurück. »Wir müssen nicht im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen. Das ist einer der Vorzüge, wenn man in den Augen der ahnungslosen, umnachteten Welt nicht mehr zu den Kindern Gottes zählt. Die Mönche kommen etwa einmal im Monat mit dem Boot herüber und bringen uns, was sie entbehren können. Mehl. Hafer. Fisch und Zwiebeln. Brennholz, aber immer zu wenig. Im Sommer manchmal ein bisschen Obst. Im Herbst nach dem Schlachten Fleisch und Wurst, wenn wir Glück haben ... Du kannst nicht zufällig kochen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Schade. Bist du sicher?«, hakte King Edmund nach.
»Seh ich aus wie ein verdammter Küchenjunge?«, brauste der junge Normanne auf, und King Edmund stürzte sich mit einem schrillen, wahrhaft markerschütternden Schrei auf ihn.
»Ich hab dir gesagt, du sollst nicht fluchen! Ich hab es dir gesagt, du kleiner Drecksack! Du kannst nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt! Man flucht nicht in Gegenwart der Heiligen!«
Er riss ihn zu Boden, warf sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten auf Brust und Kopf ein. Simon lag auf seinen gefesselten Händen und konnte nicht einmal sein Gesicht schützen. Eher zufällig streifte die Faust seine Nase, die augenblicklich zu sprudeln begann, aber bevor es richtig schlimm wurde, packte jemand den rasenden King Edmund und riss ihn zurück.
»Ich schätze, das ist genug.« Es war eine angenehme Stimme, in der eine eigentümliche Mischung aus Respekt und Autorität schwang. »Ich bin überzeugt, er hat es nicht böse gemeint.«
Mit schreckgeweiteten Augen sah Simon zu seinem Retter und King Edmund empor, der noch ein paar Augenblicke weiterschrie und sich dann ebenso plötzlich beruhigte, wie er zu toben begonnen hatte.
»Es wäre gut, wenn du dich entschuldigst«, riet der Neuankömmling dem Jungen ohne besonderen Nachdruck. Sein Haar und Bart waren ebenso lang und zottelig wie die des selbsternannten Heiligen, aber weizenblond. Er mochte Mitte zwanzig sein, und Simon konnte nicht entscheiden, ob die Augen blau oder grün waren. Kräftige Hände legten sich um seine Oberarme und halfen ihm auf die Füße. Dann stellte der Mann mit den seltsamen Augen sich hinter ihn und begann geduldig, den Knoten seiner Handfesseln zu lösen.
Simon warf King Edmund einen argwöhnischen Blick zu. »Tut mir leid«, knurrte er.
»Das hast du eben auch gesagt«, gab der heilige Märtyrerkönig zurück und stapfte beleidigt davon.
»Großartig«, murmelte Simon vor sich hin. »Ich hab wirklich nicht lange gebraucht, mir den ersten Irren zum Feind zu machen.«
»Sei unbesorgt. Er ist nicht nachtragend. Heute Abend hat er dir verziehen. King Edmund ist einer der Harmloseren unter uns. Und erstaunlich gebildet. Er kann sogar lesen.«
»Er sieht aus wie ein Mönch«, bemerkte Simon über die Schulter.
»Ich glaube eher, dass er Priester war. Er kennt sich aus in der Welt und mit den Menschen. Ich schätze, er war ein guter Hirte, bevor er ...« Er ließ den Satz unvollendet.
Simon spürte, wie der Strick endlich von seinen Handgelenken verschwand. Erleichtert ließ er die gefühllosen, eiskalten Hände sinken, rieb sie kurz und fuhr sich mit der Linken über die blutende Nase. Dann wandte er sich um und verneigte sich leicht. Er wusste nicht so recht, warum er das tat, aber es erschien ihm richtig. Trotz der albtraumhaften Umgebung und seiner abenteuerlichen Erscheinung strahlte dieser Mann eine natürliche und darum unaufdringliche Vornehmheit aus. »Seid Ihr Normanne, Monseigneur?«, fragte Simon ebenso hoffnungsvoll wie ungläubig.
Der Blick der eigentümlichen Augen richtete sich in die Ferne. »Ja.«
Simon hatte das Gefühl, als habe er etwas Falsches gesagt. »Ich meinte nur ...«, fügte er hastig hinzu. »Weil Ihr so fließend Angelsächsisch sprecht.« Er wies vage in die Richtung, wo King Edmund verschwunden war.
»Was heißt das heutzutage schon? Du sprichst es auch.«
Simon nickte. Es war nicht die Sprache, in der er dachte und träumte, aber er war in diesem Land zur Welt gekommen, genau wie sein Vater, und seine Amme und alle Dienstboten im Haus waren Angelsachsen gewesen. Viele Normannen sprachen Angelsächsisch. Aber nur wenige so wie dieser Mann mit den seltsamen Augen, so mühelos und ohne Akzent.
Simon kaute nervös auf seiner Unterlippe. »Mein Name ist Simon de Clare.«
Die Eröffnung entlockte seinem Retter keine so ehrfurchtsvolle Reaktion wie King Edmund. Er nickte lediglich, ohne sich vorzustellen. »Und was verschlägt dich an diesen im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassenen Ort, Simon de Clare?«
Der Junge schob sich die dunklen Fransen aus der Stirn und schlang den guten Mantel fester um sich. »Die Fallsucht«, antwortete er knapp. Es war plötzlich eigentümlich leicht, es auszusprechen, obwohl das Wort die quälende Scham mit sich brachte wie eh und je.
»Sie haben gesagt, du seiest besessen?«
Simon senkte den Blick und schluckte. »Ja.« Dann sah er auf. »Und Ihr?«, fragte er. Es klang fast ein bisschen herausfordernd. »Ihr macht nicht den Eindruck, als gehörtet Ihr hierher, Monseigneur.«
»Das ist ausgesprochen schmeichelhaft, aber du irrst dich.« »Und habt Ihr einen Namen?«
»Ich nehme es an. Aber ich weiß ihn nicht mehr.« Simon schaute ihm verständnislos ins Gesicht und sah in den grünblauen Augen eine solche Verstörtheit, dass ihm ganz elend davon wurde. »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, Simon de Clare. Mein Leben, wie ich es kenne, beginnt an einem Tag vor ungefähr zweieinhalb Jahren, als ich in dem Kloster dort drüben am Festland aus einem Fieber erwachte. Offenbar war ich kurz zuvor aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, denn ich trug einen Kreuzfahrermantel. Aber was immer ich dort getan haben mag, wer immer ich war, weiß ich nicht mehr. Darum nennen sie mich Losian.«
Simon wusste, das bedeutete: verloren sein. Verwundert stellte er fest, dass er tatsächlich noch in der Lage war, für eine andere menschliche Kreatur Mitgefühl zu empfinden. Gott und die Welt hatten ihm übel, wirklich übel mitgespielt, aber wenigstens hatte er sich nicht verloren. Ihm ging auf, dass es noch etwas gab, wofür er dankbar sein sollte.
Copyright der deutschen Erst- und Originalausgabe © 2009 by
Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
»Sieh dich um, du Ausgeburt der Hölle«, knurrte der Mönch. »Wirf einen letzten Blick auf die Welt.«
Unwillkürlich folgte Simon der Aufforderung, obwohl er sich so fest vorgenommen hatte, genau das nicht zu tun. Er blieb stehen, wandte sich um und blickte zurück über die rastlose, aufgewühlte See. Der Wind fuhr ihm ruppig durch die Haare und wehte ihm eine Strähne ins Auge, aber der Junge konnte nichts tun, um sie zurückzustreichen, denn die Brüder hatten ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt. Anscheinend fürchteten sie, der fünfzehnjährige, schilfdünne Knabe sei in der Lage, es mit vier gestandenen Benediktinern gleichzeitig aufzunehmen.
Ein Sonnenstrahl brach durch die bleifarbene Wolkendecke und tauchte das Meer und die flache Küste des Festlandes drüben in ein gleißendes, geradezu unirdisches Licht. Simon sah das Heidekraut aufleuchten, und der Turm der Klosterkirche, der eigentlich gedrungen und hässlich war, wirkte mit einem Mal filigran und schimmerte wie Elfenbein. Eine kleine Schafherde graste dicht zusammengedrängt unweit der klösterlichen Obstwiesen. Wie gelbe Wollflocken wirkten die Tiere aus der Ferne. Dann schob sich eine der schweren Wolken vor die Sonne, und das einsam gelegene St.-Pancras-Kloster versank wieder im Zwielicht.
Nicht gerade überwältigend, hätte Simon gern gesagt, um der Welt, die ihn ausstieß, zu bekunden, dass er gut auf sie verzichten könne. Doch nicht einmal zu dieser trotzigen Lüge bekam er Gelegenheit, denn die Brüder hatten ihn geknebelt, damit er sie nicht verfluchen konnte. Der alte Mönch mit dem Glatzkopf und den weißen Haarbüscheln in den Nasenlöchern, der sich während des Exorzismus so in Rage gebetet hatte, dass er irgendwann ohnmächtig zusammengebrochen war, stieß den Jungen mit seinem knorrigen Gehstock zwischen die Schulterblätter. »Vorwärts!«
Simon kehrte der Welt den Rücken.
Das kleine, aber stabile Ruderboot, mit welchem die Brüder ihn hergebracht hatten, schaukelte auf den kurzen Wellen. Mit zwei dicken Leinen war es am Anlegesteg vertäut. Vermutlich graute den wackeren Brüdern davor, ihr Bötchen könne abtreiben und sie hier stranden, nahm Simon an.
Keine dreißig Schritte vom Bootssteg entfernt erhob sich ein Palisadenzaun mit einem mächtigen hölzernen Torhaus.
»Der Schlüssel, Bruder Martin«, drängte der mit den Nasenhaaren. Es klang ungeduldig und ein bisschen nervös.
Sie hatten wirklich Angst vor ihm, wusste Simon. Jetzt ganz besonders. Sie fürchteten, im letzten Augenblick könne noch irgendetwas schiefgehen, könne er sich mithilfe der finsteren Mächte, die ihm innewohnten, befreien und sie alle niederstrecken oder in Regenwürmer verwandeln. Bruder Nasenhaar hielt seinen Eschenstock einsatzbereit hoch, und die hellen Augen strahlten unnatürlich. »Nun mach endlich«, drängte er seinen Mitbruder.
Der nahm den größten Schlüssel, den Simon je im Leben gesehen hatte, vom Gürtel und steckte ihn in ein ebenfalls riesiges, schwarzes Vorhängeschloss. Erst als dessen Bolzen aus einer rostigen Öse gezogen war, konnten die beiden anderen Brüder den mächtigen Eisenriegel hochstemmen, der das Tor versperrte. Solche Schließkonstruktionen gehörten natürlich eigentlich auf die Innenseite eines Burgtors.
Aber hier war eben alles anders.
Die beiden jungen Mönche mussten ihre gesamte Kraft aufbieten, um einen der schweren Torflügel weit genug zu öffnen. Als der Spalt so breit wie ein Mann war, traf Simon ein tückischer Stoß mit dem Stockende in den Nacken, er torkelte über die Schwelle und fiel auf die harte Erde. Da er seinen Sturz nicht mit den Händen abfangen konnte, landete er auf der Brust, und für einen Moment konnte er sich nicht rühren. Als er Bruder Nasenhaar brummen hörte: »Gott sei dir gnädig, Söhnchen«, fuhr sein Kopf herum, aber schon schlug das Tor hallend zu.
Simon wälzte sich auf die Seite, spürte eiskalten Schlamm unter der Wange und weinte.
Er weinte lange und bitterlich. Er war zutiefst entsetzt über das, was ihm geschehen war. Er war einsam, und er hatte Angst. Vor der ewigen Verdammnis, die der ehrwürdige Abt ihm prophezeit hatte, aber noch ein bisschen mehr vor dem, was ihn hier erwarten mochte. Vor dem Rest seines Lebens.
Er schluchzte, und als die Tränen ihm die Nase verstopften, bekam er mit einem Mal keine Luft mehr, denn der Knebel machte es ihm fast unmöglich, durch den Mund einzuatmen. Simon fing an zu keuchen, krümmte sich und versuchte erfolglos, sich auf die Knie aufzurichten. Gerade als die Panik sich seiner bemächtigen wollte, spürte er eine Hand auf dem Arm.
»Schsch. Nur die Ruhe, mein Sohn«, hörte er eine Stimme murmeln. Kräftige Arme umschlangen ihn von hinten, eine Hand strich ihm über die Stirn.
Simon erstarrte vor Schreck und versuchte, über die Schulter zu erkennen, was für eine Kreatur es war, die ihn gepackt hielt, aber er konnte den Kopf nicht weit genug drehen, und außerdem war es fast dunkel im Torhaus.
»Schsch. Atme. Gleich wird es besser, du wirst sehen.«
Es war eine gütige Stimme. Simon entspannte sich ein wenig, ließ sich in die Umarmung zurücksinken und betete, dass er nicht ausgerechnet jetzt einen Anfall bekommen möge.
Allmählich wurde es besser. Die Erstickungsangst verging, und er atmete wieder ruhiger. Schließlich packten die Hände ihn unter den Achseln und hievten ihn auf die Füße. Im nächsten Moment wurde der Knoten des widerwärtigen Lumpens gelöst, mit dem sie ihn geknebelt hatten.
Simon spuckte aus, rieb sich den Mund an der Schulter und drehte sich um. »Danke.«
Er fand sich Auge in Auge mit einem hageren Angelsachsen in einem zerschlissenen Mönchsgewand. Der Mann war jünger, als das graue Haar und der weiße Zottelbart auf den ersten Blick schließen ließen, vierzig vielleicht, und die blauen Augen funkelten wie vor jugendlichem Übermut. Seine Haltung war ein wenig gekrümmt, so als habe er zu viel Zeit über fromme Bücher gebeugt verbracht.
»Alle fangen hier so an wie du, weißt du«, sagte er. »Alle liegen am Tor und heulen. Aber so schlimm ist es gar nicht, glaub mir. Man gewöhnt sich daran. Wie ist dein Name, mein Sohn?«
»Simon de Clare.«
»Ah ! Von edelstem normannischem Geblüt. Eine Ehre für uns, eine Ehre. Willkommen auf der Insel der Seligen, Simon de Clare.«
»Ich dachte, sie heißt die Insel der Verdammten«, entgegnete Simon.
Aber der Angelsachse schüttelte den Kopf. »So nennen sie sie dort draußen«, antwortete er und ruckte abschätzig das Kinn zum Burgtor hinüber. »Wir hier drinnen wissen es besser.«
Simon nickte, aber er war keineswegs überzeugt. »Und wie ist dein Name?«, fragte er.
»Ich bin der heilige Edmund«, stellte der Angelsachse sich vor. »Aber du kannst mich King Edmund nennen, das tun hier alle. Wir legen keinen großen Wert auf Förmlichkeiten.«
Simon spürte, wie das vorsichtige Lächeln auf seinem Gesicht gefror. Irre. Dieser Kerl war vollkommen irre. Wie alle hier. Was für ein Narr er doch war, dass er auch nur für einen Augenblick Hoffnung geschöpft hatte. Er räusperte sich mühsam. »Und wirst du mir die Fesseln abnehmen, King Edmund?«
Der zeigte ein spitzbübisches Lächeln. »Sobald ich weiß, wie gefährlich du bist.«
»Oh, keine Bange«, gab der Junge bitter zurück. »Ich bin völlig harmlos.«
»Wenn du das glaubst, kennst du dich selbst schlecht, Simon de Clare. Kein Mann ist harmlos. Weswegen bist du hier?«
Simon wandte das Gesicht ab. Die Schande brannte wie Galle in seinem Innern, an der vertrauten Stelle gleich hinter dem Brustbein. »Darüber möchte ich lieber nicht sprechen«, brachte er gepresst hervor.
»Das kannst du halten, wie du willst«, gab King Edmund gleichmütig zurück. »Aber es besteht kein Grund, dich zu schämen. Jeder von uns hier hat einen Makel. Genau wie die da draußen, nur ist er bei uns vielleicht ein bisschen augenfälliger. Doch wenn du hier eines lernen kannst, dann, dich dessen, was du bist, nicht zu schämen.«
Simon schnaubte, um nur ja nicht wieder anzufangen zu heulen. »Ich glaube, das wird mir verdammt schwerfallen, King Edmund.«
Der zwinkerte ihm zu. »Das macht nichts. Du hast ja den Rest deines Lebens Zeit. Und wenn ich dich noch einmal fluchen höre, mein Sohn, dann wirst du's bereuen, du hast mein Wort.«
Der leutselige Ton hatte sich ebenso wenig geändert wie das verschmitzte Lächeln, aber plötzlich spürte Simon einen Schauer seinen Rücken hinabrieseln. Hatte er einen Widerschein des Wahnsinns in den blauen Augen des Angelsachsen aufleuchten sehen? Oder hatte er es sich nur eingebildet, weil es eben das war, was man hier zu sehen erwartete? Simon, der mehr als sein halbes Leben unter den vorgefassten Meinungen anderer Menschen zu leiden gehabt hatte, misstraute seinem eigenen Urteil.
»Ich bitte um Entschuldigung, heiliger King Edmund.« Sorgsam hielt er jeden Anflug von Hohn aus seiner Stimme, nickte dem Mann in der Mönchskutte höflich zu, der sich für den wohl am glühendsten verehrten angelsächsischen Märtyrer hielt, ließ ihn stehen und trat aus dem Torhaus in den Innenhof der alten Inselfestung.
Er ging mit langsamen Schritten, die Hände unverändert auf dem Rücken zusammengebunden, und schaute sich um. Er war erschüttert, aber nicht überrascht von dem Anblick, der sich ihm bot: eine Burganlage typischer normannischer Bauart, schnell zusammengezimmert, aber solide. Vermutlich hatte der Eroberer irgendeinen Unglücksraben unter seinen Getreuen mit diesem kargen Eiland im Meer beglückt und ihm befohlen, hier eine Festung zu errichten und nach dänischen Invasionsflotten Ausschau zu halten. Aber die Dänen kamen schon lange nicht mehr. Vor mehr als dreißig Jahren war die Burg aufgegeben worden, und man konnte unschwer erkennen, dass niemand in all der Zeit auch nur irgendwo einen neuen Nagel eingeschlagen hatte. Dennoch standen die Palisaden in Reih und Glied und so unverrückbar wie am ersten Tag, und der hölzerne Burgturm oben auf der Motte schien sogar noch ein Dach zu haben.
King Edmund folgte Simon aus dem Torhaus, gesellte sich zu ihm und schickte sich an, ihn herumzuführen, so wie ein stolzer Burgherr es mit einem Besucher getan hätte. Er zeigte auf eine halb vermoderte Holzhütte auf der rechten Seite. »Wir glauben, dass dies hier einmal das Backhaus war. Jedenfalls gibt es eine Feuerstelle, und wir kochen hier unser Essen.«
»Was esst ihr denn?«, fragte Simon. »Woher ... ich meine, hier wächst doch nichts, und ich rieche kein Vieh.«
»Nein, nein«, gab King Edmund glucksend zurück. »Wir müssen nicht im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen. Das ist einer der Vorzüge, wenn man in den Augen der ahnungslosen, umnachteten Welt nicht mehr zu den Kindern Gottes zählt. Die Mönche kommen etwa einmal im Monat mit dem Boot herüber und bringen uns, was sie entbehren können. Mehl. Hafer. Fisch und Zwiebeln. Brennholz, aber immer zu wenig. Im Sommer manchmal ein bisschen Obst. Im Herbst nach dem Schlachten Fleisch und Wurst, wenn wir Glück haben ... Du kannst nicht zufällig kochen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Schade. Bist du sicher?«, hakte King Edmund nach.
»Seh ich aus wie ein verdammter Küchenjunge?«, brauste der junge Normanne auf, und King Edmund stürzte sich mit einem schrillen, wahrhaft markerschütternden Schrei auf ihn.
»Ich hab dir gesagt, du sollst nicht fluchen! Ich hab es dir gesagt, du kleiner Drecksack! Du kannst nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt! Man flucht nicht in Gegenwart der Heiligen!«
Er riss ihn zu Boden, warf sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten auf Brust und Kopf ein. Simon lag auf seinen gefesselten Händen und konnte nicht einmal sein Gesicht schützen. Eher zufällig streifte die Faust seine Nase, die augenblicklich zu sprudeln begann, aber bevor es richtig schlimm wurde, packte jemand den rasenden King Edmund und riss ihn zurück.
»Ich schätze, das ist genug.« Es war eine angenehme Stimme, in der eine eigentümliche Mischung aus Respekt und Autorität schwang. »Ich bin überzeugt, er hat es nicht böse gemeint.«
Mit schreckgeweiteten Augen sah Simon zu seinem Retter und King Edmund empor, der noch ein paar Augenblicke weiterschrie und sich dann ebenso plötzlich beruhigte, wie er zu toben begonnen hatte.
»Es wäre gut, wenn du dich entschuldigst«, riet der Neuankömmling dem Jungen ohne besonderen Nachdruck. Sein Haar und Bart waren ebenso lang und zottelig wie die des selbsternannten Heiligen, aber weizenblond. Er mochte Mitte zwanzig sein, und Simon konnte nicht entscheiden, ob die Augen blau oder grün waren. Kräftige Hände legten sich um seine Oberarme und halfen ihm auf die Füße. Dann stellte der Mann mit den seltsamen Augen sich hinter ihn und begann geduldig, den Knoten seiner Handfesseln zu lösen.
Simon warf King Edmund einen argwöhnischen Blick zu. »Tut mir leid«, knurrte er.
»Das hast du eben auch gesagt«, gab der heilige Märtyrerkönig zurück und stapfte beleidigt davon.
»Großartig«, murmelte Simon vor sich hin. »Ich hab wirklich nicht lange gebraucht, mir den ersten Irren zum Feind zu machen.«
»Sei unbesorgt. Er ist nicht nachtragend. Heute Abend hat er dir verziehen. King Edmund ist einer der Harmloseren unter uns. Und erstaunlich gebildet. Er kann sogar lesen.«
»Er sieht aus wie ein Mönch«, bemerkte Simon über die Schulter.
»Ich glaube eher, dass er Priester war. Er kennt sich aus in der Welt und mit den Menschen. Ich schätze, er war ein guter Hirte, bevor er ...« Er ließ den Satz unvollendet.
Simon spürte, wie der Strick endlich von seinen Handgelenken verschwand. Erleichtert ließ er die gefühllosen, eiskalten Hände sinken, rieb sie kurz und fuhr sich mit der Linken über die blutende Nase. Dann wandte er sich um und verneigte sich leicht. Er wusste nicht so recht, warum er das tat, aber es erschien ihm richtig. Trotz der albtraumhaften Umgebung und seiner abenteuerlichen Erscheinung strahlte dieser Mann eine natürliche und darum unaufdringliche Vornehmheit aus. »Seid Ihr Normanne, Monseigneur?«, fragte Simon ebenso hoffnungsvoll wie ungläubig.
Der Blick der eigentümlichen Augen richtete sich in die Ferne. »Ja.«
Simon hatte das Gefühl, als habe er etwas Falsches gesagt. »Ich meinte nur ...«, fügte er hastig hinzu. »Weil Ihr so fließend Angelsächsisch sprecht.« Er wies vage in die Richtung, wo King Edmund verschwunden war.
»Was heißt das heutzutage schon? Du sprichst es auch.«
Simon nickte. Es war nicht die Sprache, in der er dachte und träumte, aber er war in diesem Land zur Welt gekommen, genau wie sein Vater, und seine Amme und alle Dienstboten im Haus waren Angelsachsen gewesen. Viele Normannen sprachen Angelsächsisch. Aber nur wenige so wie dieser Mann mit den seltsamen Augen, so mühelos und ohne Akzent.
Simon kaute nervös auf seiner Unterlippe. »Mein Name ist Simon de Clare.«
Die Eröffnung entlockte seinem Retter keine so ehrfurchtsvolle Reaktion wie King Edmund. Er nickte lediglich, ohne sich vorzustellen. »Und was verschlägt dich an diesen im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassenen Ort, Simon de Clare?«
Der Junge schob sich die dunklen Fransen aus der Stirn und schlang den guten Mantel fester um sich. »Die Fallsucht«, antwortete er knapp. Es war plötzlich eigentümlich leicht, es auszusprechen, obwohl das Wort die quälende Scham mit sich brachte wie eh und je.
»Sie haben gesagt, du seiest besessen?«
Simon senkte den Blick und schluckte. »Ja.« Dann sah er auf. »Und Ihr?«, fragte er. Es klang fast ein bisschen herausfordernd. »Ihr macht nicht den Eindruck, als gehörtet Ihr hierher, Monseigneur.«
»Das ist ausgesprochen schmeichelhaft, aber du irrst dich.« »Und habt Ihr einen Namen?«
»Ich nehme es an. Aber ich weiß ihn nicht mehr.« Simon schaute ihm verständnislos ins Gesicht und sah in den grünblauen Augen eine solche Verstörtheit, dass ihm ganz elend davon wurde. »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, Simon de Clare. Mein Leben, wie ich es kenne, beginnt an einem Tag vor ungefähr zweieinhalb Jahren, als ich in dem Kloster dort drüben am Festland aus einem Fieber erwachte. Offenbar war ich kurz zuvor aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, denn ich trug einen Kreuzfahrermantel. Aber was immer ich dort getan haben mag, wer immer ich war, weiß ich nicht mehr. Darum nennen sie mich Losian.«
Simon wusste, das bedeutete: verloren sein. Verwundert stellte er fest, dass er tatsächlich noch in der Lage war, für eine andere menschliche Kreatur Mitgefühl zu empfinden. Gott und die Welt hatten ihm übel, wirklich übel mitgespielt, aber wenigstens hatte er sich nicht verloren. Ihm ging auf, dass es noch etwas gab, wofür er dankbar sein sollte.
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Autoren-Porträt von Rebecca Gablé
Die 1964 geborene Rebecca Gable war nach dem Studium der Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Literaturübersetzerin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rebecca Gablé
- Altersempfehlung: Ab 16 Jahre
- 2011, 8. Aufl., 907 Seiten, Masse: 12,6 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 340416069X
- ISBN-13: 9783404160693
- Erscheinungsdatum: 16.05.2011
Pressezitat
"Ein grossartiger Mittelalter-Roman, in dem Rebecca Gablé Fakten und Fiktion zu einer mitreissenden Geschichte fügt." Brigitte "Ein atemberaubendes Mittelalter-Epos von der Königin des historischen Romans." Büchermenschen "Grossartiger Mittelater-Roman." Glücks-Revue
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