Gmeiner Original / Himmelsspitz
Ein Alpen-Krimi
Isabel und ihre kleine Tochter Lea reisen nach Fuchsbichl im Ötztal. Lea soll dort von ihren Alpträumen kuriert werden. Doch die Reise wird für alle zu einer dramatischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die auf mystische Weise mit dem Schicksal der Bergbauern verwoben ist.
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Produktinformationen zu „Gmeiner Original / Himmelsspitz “
Isabel und ihre kleine Tochter Lea reisen nach Fuchsbichl im Ötztal. Lea soll dort von ihren Alpträumen kuriert werden. Doch die Reise wird für alle zu einer dramatischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die auf mystische Weise mit dem Schicksal der Bergbauern verwoben ist.
Klappentext zu „Gmeiner Original / Himmelsspitz “
Hamburg, Mitte der 60er. Isabel macht sich Sorgen um ihre achtjährige Tochter Lea, die schlafwandelt und von heftigen Alpträumen geplagt wird. Die Ärzte raten zu einem Urlaub in den Bergen. Zusammen mit Isabels Lebenspartner Horst machen sich Mutter und Tochter auf den Weg nach Fuchsbichl, einem kleinen Dorf in den Ötztaler Alpen, das am Himmelsspitz gelegen ist. Diesen Berg hat Lea im Fotoalbum ihrer Mutter entdeckt. Doch die Reise wird für die Familie zu einer harten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die auf mystische Weise mit dem Schicksal der Fuchsbichler Bergbauern verwoben ist. Sie stossen auf Missgunst, dunkle Geheimnisse, zerbrochene Beziehungen - und tödliche Gewalt.
Lese-Probe zu „Gmeiner Original / Himmelsspitz “
Himmelsspitz von Christiane Tramitz1
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Für einen kurzen Augenblick sah der Bub das schwarze Loch direkt vor sich. Aus der Tiefe roch es modrig. Noch einmal krachte der Deckel in seine Fugen zurück. Die Hand krallte sich in seinen Nacken und drückte ihn zu Boden. Er hörte Fluchen und schweres Atmen. Für einen kurzen Moment löste sich die Umklammerung. Schnell entwischen, dachte er, doch die Hand ergriff sein Bein und zog ihn zurück. Dabei bohrte sich ein Schiefer in seinen Schenkel. Weit offen stand der Deckel nun, das schwarze Loch lag vor ihm, gierig wie ein unendlicher Schlund.
Der Junge klammerte sich an die Jacke. Kurz fanden seine Finger Halt an einem Knopf. Dann riss der Faden. Ein starker Stoß in den Rücken ließ das Kind die steilen Stufen in die Tiefe stürzen.
Der schwere Deckel fiel zu Boden, Dunkelheit senkte sich über den Bub wie ein schwarzer Vorhang. Nur durch eine Ritze fiel, einem feinen Faden gleich, ein blasser Lichtstrahl. Auf allen vieren tastete sich der Junge die Stufen hinauf. Er hämmerte gegen das Holz des Deckels, von oben antwortete ihm schepperndes Lachen. »Verrat, wo'st den Zettel hast.«
Der Junge presste die Lippen zusammen. Er hörte den Mann die Treppe hinauf in den ersten Stock und dort auf und ab gehen. Dann kehrte er zurück. »Hast's dir überlegt?« Der Junge hielt sich die Ohren zu und schwieg.
Die Schritte wurden leiser. Eine Tür fiel ins Schloss.
Der Bub tastete sich die Wände entlang, spürte nichts als feuchte, glitschige Steine. Er ließ sich auf die kühle Erde nieder und rutschte von Ecke zu Ecke. Er fühlte den Lehm, ein paar Steine, und plötzlich: etwas Hartes, Rundes. Er kroch zurück zu den Stufen, um im fahlen Lichtstrahl zu betrachten, was er gefunden hatte.
Er lächelte. Ein letztes Mal.
Dann umklammerte er seine Knie und wartete.
Er wartete auf die Zeit, bis sie ihn finden mögen, und hoffte auf die Erinnerung, auf dass sie ihn nicht vergessen würden.
Es war so still, dass er hörte, wie Geister erwachten. Er fühlte, wie sie ihm Trost ins Gesicht hauchten, an sein Ohr schwebten und ihm Geschichten zuraunten. Von oben. Vom Himmelsspitz.
Nicht die schwache Zunge darf's gestehen,
Nicht der Blick verstohlen zugesandt,
Was sich eigen hat das Herz ernannt,
Nicht im Seufzer darf's der Brust entwehen!
Hamburg, Sechzigerjahre
»So, mein kleines Fräulein Lea«, sagte Horst zu dem Kind, »wir packen jetzt mal was Schönes für die Ferien ein. Spiele wie Mensch ärgere Dich nicht, Malefiz oder ABC und Phantasie.« Er lachte. »Ja, ABC und Phantasie, das passt am besten zu Dir.«
Lea sah ihn kurz an, wie er ausgebreitet im Türrahmen stand. Sie musste sich bücken, als sie an ihm vorbeiging. Er roch nach Seife.
»Mensch ärgere Dich nicht«, sagte er und klopfte ihr auf den Hintern.
In ihrem Zimmer kroch Lea unter das Bett und zog einen bunten Spielzeugkoffer hervor. In diesen legte sie einen Malblock, in dem sich ein paar Zeichnungen befanden. Auf dem ersten Blatt sah man einen Mann mit Hut, auf dem zweiten war eine Kuh zu erkennen, auf dem dritten Blatt winkte ein lachender Junge vor einem großen Berg mit einem Tannenzweig. Lea sammelte ihre Stifte aus der Schublade und füllte sie in ein schwarzes Mäppchen. Dann holte sie ihr Tierlexikon aus dem Regal und blätterte darin herum. Unter vielen Tieren standen Namen. Sophie unter dem Zebra, Petra unter der Kuh, Mutter war der schöne Pfau, die Schlange hieß Luise.
»Hast du auch an deine Tabletten gedacht, meine Kleine?«, rief Isabel von unten. Lea nahm das Röhrchen und legte es zusammen mit dem Buch in den Koffer.
»Ja, Mama.«
»Isabel, pack doch bitte auch deine eleganteren Kleider ein, wir wohnen schließlich in einem schicken Hotel«, hörte Lea Horsts tiefe Stimme sagen.
Eine Stunde später hatten sie die Rollladen heruntergelassen, das Wasser abgedreht, die Türen abgesperrt.
»Einsteigen, meine Gnädigsten.« Horst öffnete die Türen seines blauen Opel Kapitän. »Los geht's in die Sommerfrische. Keine Schweinerei in meinem Auto!«, sagte er zu Lea und nahm ihr den Lutscher aus der Hand. »Der klebt. Das ist schließlich ein Neuwagen.«
Lea saß auf dem Rücksitz und betrachtete Horsts Gesicht von der Seite. Es erinnerte sie an ein Tier. An einen Vogel. Eine Eule, ja, an eine Eule mit Federohren und stechenden Augen. Sie nähert sich dem Opfer geräuschlos. Nach einem kräftigen Tötungsbiss wird die Beute mit den kräftigen Fängen gewalkt, dabei werden die Flügel in der sogenannten Fangstellung weit über der Beute gespreizt, las Lea in ihrem Tierlexikon.
Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Stift und schrieb unter die Waldohreule: Horst.
Das monotone Geräusch des Motors und die leisen Gespräche der Erwachsenen, deren Inhalt sie nicht verstand, wirkten einschläfernd, und irgendwann trug ein Traum das Mädchen fort. Als sich Isabel umdrehte, sah sie, wie Leas Nase leicht zuckte.
Schönes Kind, schön und geheimnisvoll.
Das schwarze Haar lag über ihren Augen wie ein Schleier. Sie hatte das Gesicht ihres Vaters geerbt, die dunklen Augen, die markanten Züge, trotz aller Kindlichkeit, der weiche, geschwungene Mund, der, wenn er geschlossen war, etwas Bestimmtes, Trotziges hatte. Isabel fuhr ihr über das Haar. Leas Augen zuckten bei der Berührung, und ihre Lippen bewegten sich.
»Sie spricht wieder im Schlaf. Horst, ich glaube, es ist gut, dass wir wegfahren. In letzter Zeit ist alles schlimmer geworden. Ihre Lehrer sagten mir, sie würde sich in der Schule immer mehr zurückziehen, auch von ihren Mitschülern.« Isabel hielt einen Moment inne und fügte dann leise hinzu: »Die meisten Sorgen mache ich mir wegen ihrer Träume. Sie müssen wirklich schrecklich sein.«
»Hör doch endlich auf, dir dein hübsches Köpfchen zu zerbrechen, sonst bekommst du am Ende noch diese hässlichen Sorgenfalten zwischen den Augen. Das wäre schade, wirklich, meine Süße.«
Horst legte seine Hand auf ihr Knie. »Dem Kind fehlt es an nichts anderem als an der Wirklichkeit. Verstehst du? Deine Tochter entzieht sich dem wahren Leben, und wenn du sie weiterhin in Watte packst, wird sie auch in ihrer merkwürdigen Welt bleiben mit all ihren Fantastereien und Träumereien.« Er lachte spöttisch. »Keine schlechte Welt eigentlich, im Gegenteil, eine durchaus angenehme, denn auf diese Weise kann sich das Fräulein allerhand herausnehmen. Diesen Urlaub zum Beispiel. Diesen Urlaub am Ende der Welt. Wem bitte haben wir den zu verdanken? Na?«
Er sah Isabel herausfordernd an. »Rücksichtnahme, Verständnis und Aufmerksamkeit fordert sie im Überfluss«, setzte er dann seine Ausführungen fort. »Von uns allen, von den Lehrern, dir und somit auch von mir. Lea hin, Lea her.«
»Horst, bitte hör auf«, bat Isabel.
»Oh, nein, meine Liebe, das musst du dir schon anhören, so oft und so lange, bis du es verstanden hast, schließlich bin ich ja auch noch da, in deinem Leben. Oder etwa nicht?«
Isabel biss sich auf die Lippen und schluckte das, was es zu sagen gäbe, hinunter.
Während Horst sich nun in einem seiner quälend langen Monologe erging, klebten seine Finger wie Saugnäpfe an ihrer Haut, Isabel spürte Feuchtigkeit und Widerwillen. Doch irgendwann flogen seine Worte an ihr vorbei wie die Landschaft. Flüchtig, kaum wahrgenommen, vergessen, bevor sie verletzen konnten. Eine dicke Fliege, die gegen die Windschutzscheibe klatschte, gelbliches Sekret, ein Flügel und Reste des zarten Rumpfes beendeten Horsts Beschwerden über Leas sonderbare Befindlichkeit. »Die ersten unangenehmen Vorboten des Landlebens«, zischte er durch die Zähne. Die Wischblätter hinterließen eine helle schleimige Spur, über die sich Horst bis zur nächsten Tankstelle ärgern sollte. Was für ein wirkungsvoller Tod eines so kleinen Geschöpfs, überlegte Isabel. Eine Fliege lässt in dem sonst so kontrollierten Horst das Wutherz rasen. Nach einer kurzen Rast bei Frankfurt, bei der die Windschutzscheibe akribisch gesäubert worden war, der Ölstand kontrolliert - »lieber zu oft als zu selten«, hatte Horst konstatiert - der Tank aufgefüllt worden war, ließ Horst den Motor kurz aufheulen. Dann atmete er tief und erleichtert durch.
»Tja«, sagte er, »nun herrscht endlich Klarsicht!« Seine Hand wanderte wieder auf Isabels Knie, und er setzte seinen Sermon fort: »Du kennst ja meine Meinung zu Leas Hirngespinsten.«
Isabel schloss die Augen. Sie ärgerte sich über sich selbst, sie hätte Leas Verhalten erst gar nicht zum Thema werden lassen sollen. Horsts Meinung zu Leas bizarrem Benehmen war ihr keine Hilfe, sondern verstärkte ihre Ohnmacht. »Mehr Strenge«, pflegte er nämlich zu sagen, »meine Eltern hätten das nicht geduldet. Für Träumereien ist das Fräulein mit seinen acht Jahren zu alt. Mal einen ordentlichen Klaps, wenn Gnädigste so tun, als würde sie nicht zu unserer Welt gehören. Mal einen ordentlichen Klaps, wenn sie die Nachtruhe stört.« Und jedes Mal, wenn er das Wort Klaps aussprach, ließ er das Lenkrad los und klatschte sich auf seine Schenkel. »Klaps.« Klatsch.
Irgendwann, kurz vor Nürnberg, hatte Horst seine Gedanken in andere Bahnen gelenkt. Zufriedenheit machte sich breit, denn er entsann sich der Macht seines Opel Kapitäns. »Ah, wie der Wagen schnurrt. Isabel, meine Beste«, er tätschelte ihren Oberschenkel. »Wir werden das Kind schon schaukeln.« Dann fuhr er über ihr Bein, immer höher, bis er die Spitzen ihrer Wäsche spürte.
Isabel betrachtete das Treiben seiner fleischigen Hand, wie sie Besitz von ihr ergriff, mit dem blauen Siegelring, den glänzenden Manschettenknöpfen, der goldenen Omega. Und sie schauderte.
Wie sehr hatte sich ihre Welt verändert, seit Horst vor drei Jahren in ihr Leben getreten war. So vieles hatte sich ihr entfremdet, das Vertrauen, die Zuversicht, die Liebe, vor allem aber sie sich selbst, denn ihre einst eigenwillige, impulsive Natur hatte sich gewandelt in jene Biederkeit, die Männern wie Horst gefiel: feinste Wäsche, enge, elegante Röcke, hohe Schuhe, die wilden Locken gezähmt und hochgesteckt, Perlen in den Ohren und teure Ringe an den Händen. Das schnelle Ende ihres ebenso leidenschaftlichen wie kurzen Abenteuers mit Leas Vater und die nachfolgende Verbitterung führten zur allmählichen Veränderung nicht nur ihrer äußerlichen Erscheinung, sie ließ auch ihre Seele erkalten. Bereit, alles zu geben, um nie mehr zu verlieren, wurde sie nach etlichen halbherzigen Affären zur kühlen Schönen an der Seite eines erfolgreichen Immobilienmaklers, der, so schien es zumindest, seine große Erfüllung darin fand, Isabel, seine Isabel, attraktiv und gut versorgt zu sehen.
Seine Hand mühte sich ab, als sie Isabels Beine auseinanderspreizte. Auf seinem Gesicht bildete sich feuchter Glanz. Horst steuerte den Wagen auf die rechte Fahrbahn.
Isabels Augen blickten starr nach vorn, als suchten sie am Horizont nach Bedeutsamkeit, in ihrem Gesicht lag Anstrengung, ihre Sinne spürten nichts, sie waren den Gedanken tief ins Innere gefolgt. Die Autobahn war leer, offizieller Ferienanfang war erst in einem Monat, doch die Schule hatte Lea auf Empfehlung ihres Therapeuten schon ein paar Wochen früher vom Unterricht befreit.
»Was ist bloß mit Ihrem Kind los?«, hatten die Lehrer gefragt. »Lea macht uns langsam Sorgen. Sie beteiligt sich immer weniger am Unterricht, träumt nur, und in letzter Zeit schläft sie auch noch öfters ein. Während der Schulpausen steht sie im Abseits. Merkwürdig, Ihr Kind, sehr merkwürdig. Sie sollten mal einen Arzt konsultieren!« Mit ihren Beobachtungen hatten die Lehrer bestätigt, was Isabel seit einiger Zeit mit Sorge selbst bemerkt hatte: Leas Verhalten wurde immer befremdlicher.
Vor einem Jahr begannen dann auch noch die nächtlichen Unruhen. Zunächst schlief Lea nur schlecht ein und wachte in der Nacht öfter auf. Irgendwann fing sie damit an, mit ihrem Kopf in die Kissen zu schlagen, bis sie halb bewusstlos in einen kurzen Schlaf fiel, aus dem sie dann ein Albtraum riss. Schließlich begann sie auch noch schlafzuwandeln.
Früher hatte Isabel sie geschimpft, wenn Lea nachts umhergeirrt war, vor allem, wenn sie dabei das Haus verlassen hatte und im Garten umhergeschwebt war wie ein Geist, unheimlich, aschgrau, mit starrem Gesicht und geweiteten Augen. Oft erwachte sie an den seltsamsten Örtlichkeiten, mal im untersten Regal des Bücherschranks, mal im Badezimmer unter dem Waschbecken oder im Garten neben der Gießkanne. Eine Zeit lang hatte Isabel die Kinderzimmertür abgesperrt, dann aber ließ Lea die Furcht vor Enge nicht einschlafen, und sie weinte ohne Unterlass. »Meine Kleine, wie kann ich dir nur helfen? Ich bin so ratlos«, hatte Isabel geklagt, und Horst hatte mit noch mehr Strenge gedroht, als Lea ohnehin von ihm bereits erfuhr. Als Lea auch noch begann, laute Schreie durch die Nacht zu schicken, sodass man in der Nachbarschaft munkelte, das Kind sei nicht ganz normal, und die Lehrer zunehmend ungehaltener wurden, weil das Kind in der Schule schlief, anstatt aufzupassen, konsultierte Isabel Doktor Henning, den besten Psychologen, den Hamburg zu bieten hatte, wie Horst versichert hatte.
»Es tut mir leid, was ich Ihnen nun mitteilen muss«, sagte Doktor Henning nach der ersten Sitzung mit Lea. »Aber Ihre Tochter leidet unter sämtlichen Formen der Parasomnien, angefangen von Jactatio capitis nocturno, dem Kopfschlagen, bis hin zu Somnabulismus, auch Schlafwandeln genannt. All das weist darauf hin, dass Lea von Problemen gequält wird, die sie am Tag nicht bewältigen kann. Ahnen Sie, um welche Sorgen es sich dabei handeln könnte?«
Isabel schüttelte den Kopf.
»Dann müssen wir das Geheimnis Ihrer kleinen Tochter eben knacken. Zusätzlich soll sie vorläufig mal abends ein paar beruhigende Tabletten einnehmen«, beschloss er und notierte sich die weiteren Sitzungstermine in seinen Kalender.
Lea mochte die Stunden bei ihm nicht besonders leiden. Henning stellte nämlich viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte und wollte.
Schließlich ließ er sie Bilder malen. Weil auf beinahe jedem, egal, ob sie eine Familie oder Tiere zeichnete, auch ein Berg zu sehen war, zu dessen Gipfel ein kleiner Weg führte, war Henning davon überzeugt, der Berg stünde in enger Verbindung zu all den wirren Nächten.
Und so begann er seine Fragen auf den Himmelsspitz zu konzentrieren. Zu diesem Zweck breitete er alle gemalten Bilder auf einem großen Tisch aus und eröffnete die Therapie stets mit dem gleichen Satz:
»Hier haben wir also viele schöne Himmelsspitze! Himmelsspitz, schöner Name für einen Berg. Warst du schon mal in den Bergen, Lea?«
Lea schüttelte den Kopf.
»Also warst du auch noch nie auf dem Himmelsspitz, hab ich recht?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Liebe Lea, willst du mir verraten, woher du den Himmelsspitz kennst?«
»Von einer Postkarte«, antwortete das Kind.
»Warum gefällt dir denn der Berg so gut?«
Lea zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Überleg mal. Was ist das Besondere an dem Berg?«
»Nichts«, wiederholte Lea. »Nichts.«
Henning seufzte. Irgendwann, nach der fünften oder sechsten Sitzung, nahm er einen Radiergummi in die Hand und sagte:
»Gut, wenn der Berg nicht wichtig ist, dann können wir ihn ja aus dem Bild entfernen. Ja?« Und er begann, mit ungeduldigen Bewegungen die Zacken des Berges wegzuradieren, bis Lea kaum hörbar flüsterte:
»Weil er bis zum Himmel geht.«
Henning hielt inne und legte den Radiergummi zur Seite. »So, so, bis zum Himmel. Hmh, und dieser Weg, den du hier«, dabei zeigte er auf all die Pfade, die ausgebreitet vor ihnen lagen, »immer so schön malst, der führt also in den Himmel?«
Lea wusste keine Antwort. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin der Pfad sie führen würde, nur, dass er in ihren Träumen stets schrecklich unwegsam war, gespickt mit garstigem Gebüsch, an dem spitze Dornen saßen und auf sie warteten, um ihr Gesicht, Beine und Arme zu zerkratzen. Sie musste sich ducken und wie ein Wurm über den Boden kriechen, derart dicht waren die Äste gewachsen. Käfer und Würmer begleiteten sie auf dem Pfad. Kleine Vögel hüpften neben ihr auf dem Boden. »Weiter, weiter, kleine Lea«, zwitscherten sie ihr aufmunternd ins Ohr. Die ersten Meter dieses Pfades verliefen immer gleich, doch endete er an unterschiedlichen Stellen seines Verlaufs. Mal gelangte Lea zur Biegung, bei der das Geröll begann, mal bis zu jener Stelle, an der links am Rand der dichte Moosteppich wuchs. Ein Mal, und in dieser Nacht war sie besonders weit gekommen, befand sie sich auf etwas, was wie eine Hängebrücke aussah. Weil diese so furchterregend hin und her wackelte, dass Lea drohte, das Gleichgewicht zu verlieren und in den reißenden Fluss unter ihr zu stürzen, umklammerten ihre Hände die Seile, welche links und rechts gespannt waren, bis die Finger bluteten. »Nicht fallen, nicht fallen«, krähten die pechschwarzen Raben, die neben ihr durch die Lüfte wehten. Doch als ein heftiger Windstoß die Brücke erfasste, sie aus den Felsangeln riss und durch die Luft schleuderte, dass Lea verloren dem Himmel entgegensegelte, wie die großen Todesvögel, durchzuckte es ihren Körper, und sie schrie aus vollen Kräften, bis Isabel und Horst aus dem Haus gestürmt kamen und sie von der Gartenschaukel zogen.
Ja, so endete der Pfad stets.
»Vielleicht führt der Weg tatsächlich in den Himmel«, murmelte Herr Henning und kratzte sich bedächtig am Bart. »Möchtest du denn in den Himmel?«, fragte er schließlich.
»Ich bin doch nicht tot«, antwortete Lea. Henning seufzte wieder.
Schwerer Fall, dachte er und schrieb ein paar Notizen in sein dickes Patientenbuch.
Nach ein paar Wochen Therapie bat Doktor Henning Isabel in seine Praxis.
»Ich denke«, hob er an, »Ihre Tochter braucht Ruhe. Ruhe und einen Ortswechsel. Fahren Sie doch mit ihr in die Berge, am besten so bald wie möglich«, riet er.
»Die Berge? Warum ausgerechnet dorthin? Worunter leidet meine Tochter, haben Sie denn eine leise Ahnung, Herr Doktor?«, fragte Isabel.
»Das weiß ich nicht, ich weiß auch nicht, ob sie überhaupt leidet. Ich fühle nur, dass ein Teil ihrer Gedanken mit einem Berg zu tun hat. Ihre Tochter malt in den Sitzungen auffallend häufig einen Berg. Dieser Berg hat stets die gleiche Form mit seinem zackigen Gipfel.«
»Ah, der Himmelsspitz!« Isabel lächelte kurz.
»Was hat es mit diesem Berg auf sich?«
»Nichts Besonderes, Lea kennt ihn von einer alten Postkarte aus meinem Fotoalbum.«
»Wo liegt denn dieser Berg?«
»Irgendwo in Österreich, glaube ich zumindest.«
»Waren Sie denn schon mal dort?«
»Nein, ich kenne den Berg nur von der Postkarte, die mir ein alter Schulfreund geschenkt hatte.«
»Ich denke, das wäre doch für Ihre Tochter eine nette Überraschung, was meinen Sie? Überlegen Sie es sich doch einmal.«
Isabel versprach, sich den Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen. »Gut, vielleicht haben Sie ja recht, vielleicht tun ihr die Berge wirklich gut«, sagte sie.
»Ich habe noch eine Frage an Sie«, sagte der Psychologe. »Leas Vater, Sie erzählten mir, sie würde ihn nicht kennen.«
»Stimmt, sie kennt ihn nicht.«
»Fragt sie nicht häufiger mal nach ihm?«
»Manchmal. In den letzten Jahren aber immer seltener.«
»Wo ist denn ihr Vater?«
Isabel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Bitte fragen Sie nicht weiter.«
»Und was haben Sie dem Kind über ihn erzählt?«
»Nun ja, nicht viel. Sie weiß, dass er Tiere liebte. Und die Tiere ihn.«
»Mehr nicht? Hat Lea nie gefragt, wo ihr Vater ist?«
»Doch, ich habe Lea erzählt, dass ihr Vater ein Reisender war. Und dass er auf einer Reise war, auf der ich ihn nicht begleiten konnte.«
»Sie sprechen in der Vergangenheit von ihm.«
»Stimmt. Er ist Vergangenheit.«
Als sie die Praxistür hinter sich geschlossen hatte, fühlte sich Isabel elend, denn mit einem Schlag war sie wieder da, die Erinnerung. Von nun an würde sie Regie führen, die Dramaturgie bestimmen, die Worte wählen, die Gefühle dirigieren - und Isabel zu einer Statistin werden lassen, in einem Stück, dessen Ende noch nicht geschrieben war.
Horst hatte sich von dem Urlaubsziel alles andere als begeistert gezeigt. Die Bergwelt lag ihm nicht besonders, er zog das Wasser und die Wärme, insbesondere aber den Luxus vor. »Gibt es denn da überhaupt gute Hotels?«, hatte er zweifelnd gefragt. »Ich meine, den ganzen Sommer irgendwo zwischen Kühen und Schweinen zu verbringen, das muss wirklich nicht sein. Und dann auch noch zu diesem Himmelswitz oder Himmelsspitz oder wie auch immer der heißen mag. Warum ausgerechnet dieser Berg?«
Doch irgendwann gab er dem Drängen Isabels nach und willigte ein, mit ihr und Lea einen Sommer lang in die Bergwelt zu verreisen, und zwar in jene, die für das Kind eine besondere Überraschung bedeuten würde.
Die Lage des Himmelsspitzes zu eruieren, war für einen findigen Mann wie ihn nicht schwer. Ein Anruf beim Alpenverein hatte genügt. Vom örtlichen Touristenbüro ließ sich Horst Prospekte und Reiseführer dieser Gegend kommen, aus denen er abends, wenn alle beim Essen saßen, vorlas.
»Mitten in der imposanten Gebirgslandschaft liegt der Höhenluftkurort. Er ist infolge seiner sonnigen Lage das beliebte Urlaubsziel aller Erholungssuchenden. Schöne Spaziergänge in den umliegenden Wiesen und Waldhängen und in die blumigen Almlandschaften über der Waldgrenze sind die Anziehungspunkte für den Ruhesuchenden, das weite Berg- und Gletschermeer das Ziel der Bergstürmer.«
Er zwickte Lea in die Wange. »Na ja, mal sehen. Stürmen muss ja nicht sein.« Dann las er weiter.
»Gemütliche Gasthöfe, moderne Hotels und Tanzcafés sorgen für gute Unterkunft und Geselligkeit. Ein Tennisplatz und ein modernes Schwimmbad sind im Bau.«
Er hatte kurz innegehalten. »Meine Güte, in diesen modernen Zeiten noch kein Schwimmbad, da sagen sich ja Fuchs und Hase gute Nacht. Da ist wohl die Welt zu Ende.«
Ein Lastwagen überholte hupend. Isabel sah den Beifahrer aus dem Fenster winken. Er lachte, eine Zigarette im Mund. Horst zog seine Hand zurück, sie hatte sich weit vorgetastet, weiter als es für die Augen anderer bestimmt war. Verlegen räusperte er sich und bedeckte Isabels Bein mit ihrem Rock. Dann trat er energisch auf das Pedal und lenkte seinen Kapitän auf die Überholspur.
Der Tag begann zu dämmern, die Reisenden schwiegen, Horst gegen die Müdigkeit kämpfend, Isabel in abgrundtiefen Gedanken versunken. Lea, die kurz hinter Nürnberg erwacht war, blätterte still in ihrem Tierlexikon, auch dann noch, als der Kapitän schließlich in die Nacht eintauchte und es noch finsterer wurde in seinem Innenraum. Das Mädchen strich über die Seiten, als könnte sie mit ihren Fingern sehen. »Mein Schatz, geht es dir gut?«, fragte Isabel.
Das Kind nickte. »Ja, es geht mir gut.« Inzwischen befanden sie sich vor den Toren Münchens, was Horst in ausnehmend gute Laune versetzte. Er freute sich auf das Abendessen. »Vom Allerfeinsten, mein Goldschatz, vom Allerfeinsten. Ich kenne die Küche vom Vierjahreszeiten gut. Da haben wir öfter unsere Geschäftsessen. Isabel, Isabel, mein Goldschatz, du sagst seit über einer Stunde kein Wort. Hast du mir überhaupt zugehört? Wir nächtigen in einem der besten Hotels Münchens. Meine Goldstücke«, er wandte sich zuerst zu Isabel, dann zu Lea, »genießt das Essen, genießt das Bett, denn ab morgen beginnt das raue Landleben. Am Ende der Welt.«
Dann lachte er schallend.
Fuchsbichl, Vierzigerjahre
Alles begann an einem eigentlich fröhlichen Tag, am Tag des Schützenfests.
Es geschah hoch oben in der Bergwelt, in einem Weiler, der sich Fuchsbichl nennt und damals aus nur acht Höfen bestand. Zur Geistlichkeit, zum Doktor, zur Schule, zum Telefon, zu wichtigen Lebensmitteln wie Zucker, Salz und Getreide verband die Dorfbewohner nichts als ein Pfad.
Unten, vom Tal aus führte er zunächst steil nach oben durch einen dichten Wald, dann kam eine ebene Lichtung, in deren Mitte eine Bank stand, für die Alten und Kleinen zur Rast, wenn sie sonntags in die Kirche gingen. Daneben hatte man ein Marterl aufgestellt, an dem eine blecherne Vase mit frischen Alpenrosen befestigt war sowie eine Tafel, auf der stand:
Hier wurden vom Dunder derschlagen
Drei Schaf, a Kalb und a Bua
Herr, gib ihnen die ewige Ruah.
Der Pfad stieg wieder an, man verließ den weichen Boden und kletterte über glitschige Steinstufen weiter nach oben. Nach der Linkskurve vernahm man den Wolfsbach. Zuerst ein entferntes Rauschen, dann ein Poltern, und wenn man zur Brücke kam, hörte man sein eigenes Atmen nicht mehr, denn es verschwand im Tosen der schäumenden Wassermassen.
Hinter dem Bach erinnerte eine Pestsäule an noch schwerere Zeiten, als es die gegenwärtigen ohnehin waren.
Es ging die feuchte Wolfsschlucht entlang, von deren Felsen das Wasser in langen, gläsernen Fäden tropfte, die sich in der Tiefe zu einem durchsichtigen Vorhang knüpften. Es roch nach Moos.
Hinter der nächsten Biegung war Stille. Der Lärchenwald kündigte die Nähe des Weilers an. Sobald sich die Zweige lichteten, sah man Bergwiesen. Am Waldesrand konnte man sich auf eine Bank setzen, die zweite auf dem Pfad, denn man war inzwischen eine Stunde unterwegs.
Fast jeder der seltenen Wandersleute nahm auf ihr Platz, denn der Anblick, der sich ihnen bot, war berauschend. Sanftheit inmitten der schroffen Bergwelt. Umgeben von schneebedeckten Gipfeln, an denen weiße Wolken wie Sahnehäubchen hingen, lag der Weiler in einem hügeligen Hochtal. Von der Ferne wirkte der Ort schlafend, so, als hätte die Zeit ihn vergessen. Seit Langem. Die Vergangenheit hatte die Gegenwart im Griff, und niemand glaubte, die Zukunft würde anderes versprechen. Und würde aus den Kaminen kein Rauch aufsteigen, hielte man das alles für das Gemälde eines liebestrunkenen Malers.
Von Weitem wirkten die Höfe wie hölzerne Spielzeughäuser, zerbrechlich und schief. Ihre Dächer waren mit Schindeln gedeckt, an den Wänden lag Holz geschichtet, darüber hingen Rechen, Sensen, Heustangen und Körbe. Vor jedem Haus, eingezäunt von Holzpfählen, hatte man Gemüsebeete angelegt. Es wuchsen Bohnen, Salat, Schnittlauch, Petersilie und allerlei Heilkräuter wie Salbei, Wermut, Baldrian und Ringelblumen. Die Kartoffeläcker und kleine Getreidefelder lagen hinter den Häusern. Die Stallungen befanden sich auf der Bergseite. Von ihnen aus führten eingezäunte Wege durch die Wiesen hoch in den Bergwald.
Das erste Haus gehörte dem Oswin Kneisl. Es wirkte etwas heruntergekommen, auf dem Balkonboden fehlten ein paar Bretter, einige Fensterläden hingen schief in ihren Angeln. Im mittleren Fenster des oberen Stockwerks war eine Scheibe zerbrochen. An der verwitterten Hauswand konnte man ein paar Heilige erkennen, die vor allerlei Gefahren schützen sollten.
Im Stall standen nur noch zwei Kühe, und die Hühner, die im Boden rund ums Haus scharrten, hatten auch bessere Tage gesehen.
Der Sohn vom Oswin war im Krieg gefallen, die Tochter hatte ins andere Tal geheiratet und die Frau Kneisl hatte längst der Tod heimgesucht, den Oswin nun mithilfe selbst gebrannten Schnapses herbeitrank. Wenn die Sonne schien, saß er auf der Bank vorm Haus. Die Wärme tat seinem Rheuma im Buckel gut, den er seit seinem 16. Lebensjahr hatte. Schien die Sonne nicht und kam die Kälte, schmierte er Katzenfett auf die plagenden Stellen.
Er trug einen dichten, borstigen Bart. Aus seiner Nase wuchsen störrische Haare, vom Tabak dunkelgelb verfärbt. Der alte Kneisl schnupfte seit seinem 14. Lebensjahr. Den ersten Tabak hatte er dem Vater geklaut und in einer selbst geschnitzten Dose aus Birkenholz aufbewahrt. Das Tabakstehlen war sein harmlosestes Delikt gewesen. Seine wahre Leidenschaft hatte nämlich von jeher dem Wildern gegolten. Er schoss auf alles, was sich im Bergwald bewegte, Gämse, Rehe, Füchse und manchmal auch auf streunende Katzen. Die Kadaver weidete er an verborgener Stelle aus, die Katzen aß er selbst, das andere Fleisch verkaufte er an hungrige Soldaten, die die Bergwälder durchstreiften.
Auf diese Weise verdiente er etwas Geld, das er am Sonntag im Tal verzechte.
Das Wildern hatte seine Seele derart im Griff, dass er auf jeden Schatten zielte, den seine Augen ausmachen konnten, ohne zu wissen, ob dieser zu einem Menschen- oder Tierkörper gehörte. So war es einmal zu einem schrecklichen Jagdunfall gekommen, wie es später im örtlichen Anzeiger hieß. Oswins Kugel traf aus Versehen einen verirrten Landstreicher, dessen Tod niemand bemerkt hatte, bis eine Mure seine von Füchsen und Dachsen abgeknabberten Knochen ins Tal schleuderte, wo sie von einem Wanderer gefunden wurden. Anhand der blechernen Erkennungsplakette aus dem Ersten Weltkrieg, die an einem Knochen baumelte, konnte man ihn identifizieren. Oswin als Täter ausfindig zu machen, das war jedoch nicht möglich. Und so blieb der alte Kneisl sein Leben lang sein einziger Zeuge. Fast. »Herr, es war doch nur ein Versehen«, beichtete er nämlich dem Herrgott und zündete für die arme Seele jeden Sonntag in der Kirche eine Kerze an.
An jenem ereignisreichen Tag des Schützenfestes war Oswin nachmittags bereits derart betrunken, dass er die turbulenten und tragischen Ereignisse auf der Bank vor seinem Haus verschlief.
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Für einen kurzen Augenblick sah der Bub das schwarze Loch direkt vor sich. Aus der Tiefe roch es modrig. Noch einmal krachte der Deckel in seine Fugen zurück. Die Hand krallte sich in seinen Nacken und drückte ihn zu Boden. Er hörte Fluchen und schweres Atmen. Für einen kurzen Moment löste sich die Umklammerung. Schnell entwischen, dachte er, doch die Hand ergriff sein Bein und zog ihn zurück. Dabei bohrte sich ein Schiefer in seinen Schenkel. Weit offen stand der Deckel nun, das schwarze Loch lag vor ihm, gierig wie ein unendlicher Schlund.
Der Junge klammerte sich an die Jacke. Kurz fanden seine Finger Halt an einem Knopf. Dann riss der Faden. Ein starker Stoß in den Rücken ließ das Kind die steilen Stufen in die Tiefe stürzen.
Der schwere Deckel fiel zu Boden, Dunkelheit senkte sich über den Bub wie ein schwarzer Vorhang. Nur durch eine Ritze fiel, einem feinen Faden gleich, ein blasser Lichtstrahl. Auf allen vieren tastete sich der Junge die Stufen hinauf. Er hämmerte gegen das Holz des Deckels, von oben antwortete ihm schepperndes Lachen. »Verrat, wo'st den Zettel hast.«
Der Junge presste die Lippen zusammen. Er hörte den Mann die Treppe hinauf in den ersten Stock und dort auf und ab gehen. Dann kehrte er zurück. »Hast's dir überlegt?« Der Junge hielt sich die Ohren zu und schwieg.
Die Schritte wurden leiser. Eine Tür fiel ins Schloss.
Der Bub tastete sich die Wände entlang, spürte nichts als feuchte, glitschige Steine. Er ließ sich auf die kühle Erde nieder und rutschte von Ecke zu Ecke. Er fühlte den Lehm, ein paar Steine, und plötzlich: etwas Hartes, Rundes. Er kroch zurück zu den Stufen, um im fahlen Lichtstrahl zu betrachten, was er gefunden hatte.
Er lächelte. Ein letztes Mal.
Dann umklammerte er seine Knie und wartete.
Er wartete auf die Zeit, bis sie ihn finden mögen, und hoffte auf die Erinnerung, auf dass sie ihn nicht vergessen würden.
Es war so still, dass er hörte, wie Geister erwachten. Er fühlte, wie sie ihm Trost ins Gesicht hauchten, an sein Ohr schwebten und ihm Geschichten zuraunten. Von oben. Vom Himmelsspitz.
Nicht die schwache Zunge darf's gestehen,
Nicht der Blick verstohlen zugesandt,
Was sich eigen hat das Herz ernannt,
Nicht im Seufzer darf's der Brust entwehen!
Hamburg, Sechzigerjahre
»So, mein kleines Fräulein Lea«, sagte Horst zu dem Kind, »wir packen jetzt mal was Schönes für die Ferien ein. Spiele wie Mensch ärgere Dich nicht, Malefiz oder ABC und Phantasie.« Er lachte. »Ja, ABC und Phantasie, das passt am besten zu Dir.«
Lea sah ihn kurz an, wie er ausgebreitet im Türrahmen stand. Sie musste sich bücken, als sie an ihm vorbeiging. Er roch nach Seife.
»Mensch ärgere Dich nicht«, sagte er und klopfte ihr auf den Hintern.
In ihrem Zimmer kroch Lea unter das Bett und zog einen bunten Spielzeugkoffer hervor. In diesen legte sie einen Malblock, in dem sich ein paar Zeichnungen befanden. Auf dem ersten Blatt sah man einen Mann mit Hut, auf dem zweiten war eine Kuh zu erkennen, auf dem dritten Blatt winkte ein lachender Junge vor einem großen Berg mit einem Tannenzweig. Lea sammelte ihre Stifte aus der Schublade und füllte sie in ein schwarzes Mäppchen. Dann holte sie ihr Tierlexikon aus dem Regal und blätterte darin herum. Unter vielen Tieren standen Namen. Sophie unter dem Zebra, Petra unter der Kuh, Mutter war der schöne Pfau, die Schlange hieß Luise.
»Hast du auch an deine Tabletten gedacht, meine Kleine?«, rief Isabel von unten. Lea nahm das Röhrchen und legte es zusammen mit dem Buch in den Koffer.
»Ja, Mama.«
»Isabel, pack doch bitte auch deine eleganteren Kleider ein, wir wohnen schließlich in einem schicken Hotel«, hörte Lea Horsts tiefe Stimme sagen.
Eine Stunde später hatten sie die Rollladen heruntergelassen, das Wasser abgedreht, die Türen abgesperrt.
»Einsteigen, meine Gnädigsten.« Horst öffnete die Türen seines blauen Opel Kapitän. »Los geht's in die Sommerfrische. Keine Schweinerei in meinem Auto!«, sagte er zu Lea und nahm ihr den Lutscher aus der Hand. »Der klebt. Das ist schließlich ein Neuwagen.«
Lea saß auf dem Rücksitz und betrachtete Horsts Gesicht von der Seite. Es erinnerte sie an ein Tier. An einen Vogel. Eine Eule, ja, an eine Eule mit Federohren und stechenden Augen. Sie nähert sich dem Opfer geräuschlos. Nach einem kräftigen Tötungsbiss wird die Beute mit den kräftigen Fängen gewalkt, dabei werden die Flügel in der sogenannten Fangstellung weit über der Beute gespreizt, las Lea in ihrem Tierlexikon.
Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Stift und schrieb unter die Waldohreule: Horst.
Das monotone Geräusch des Motors und die leisen Gespräche der Erwachsenen, deren Inhalt sie nicht verstand, wirkten einschläfernd, und irgendwann trug ein Traum das Mädchen fort. Als sich Isabel umdrehte, sah sie, wie Leas Nase leicht zuckte.
Schönes Kind, schön und geheimnisvoll.
Das schwarze Haar lag über ihren Augen wie ein Schleier. Sie hatte das Gesicht ihres Vaters geerbt, die dunklen Augen, die markanten Züge, trotz aller Kindlichkeit, der weiche, geschwungene Mund, der, wenn er geschlossen war, etwas Bestimmtes, Trotziges hatte. Isabel fuhr ihr über das Haar. Leas Augen zuckten bei der Berührung, und ihre Lippen bewegten sich.
»Sie spricht wieder im Schlaf. Horst, ich glaube, es ist gut, dass wir wegfahren. In letzter Zeit ist alles schlimmer geworden. Ihre Lehrer sagten mir, sie würde sich in der Schule immer mehr zurückziehen, auch von ihren Mitschülern.« Isabel hielt einen Moment inne und fügte dann leise hinzu: »Die meisten Sorgen mache ich mir wegen ihrer Träume. Sie müssen wirklich schrecklich sein.«
»Hör doch endlich auf, dir dein hübsches Köpfchen zu zerbrechen, sonst bekommst du am Ende noch diese hässlichen Sorgenfalten zwischen den Augen. Das wäre schade, wirklich, meine Süße.«
Horst legte seine Hand auf ihr Knie. »Dem Kind fehlt es an nichts anderem als an der Wirklichkeit. Verstehst du? Deine Tochter entzieht sich dem wahren Leben, und wenn du sie weiterhin in Watte packst, wird sie auch in ihrer merkwürdigen Welt bleiben mit all ihren Fantastereien und Träumereien.« Er lachte spöttisch. »Keine schlechte Welt eigentlich, im Gegenteil, eine durchaus angenehme, denn auf diese Weise kann sich das Fräulein allerhand herausnehmen. Diesen Urlaub zum Beispiel. Diesen Urlaub am Ende der Welt. Wem bitte haben wir den zu verdanken? Na?«
Er sah Isabel herausfordernd an. »Rücksichtnahme, Verständnis und Aufmerksamkeit fordert sie im Überfluss«, setzte er dann seine Ausführungen fort. »Von uns allen, von den Lehrern, dir und somit auch von mir. Lea hin, Lea her.«
»Horst, bitte hör auf«, bat Isabel.
»Oh, nein, meine Liebe, das musst du dir schon anhören, so oft und so lange, bis du es verstanden hast, schließlich bin ich ja auch noch da, in deinem Leben. Oder etwa nicht?«
Isabel biss sich auf die Lippen und schluckte das, was es zu sagen gäbe, hinunter.
Während Horst sich nun in einem seiner quälend langen Monologe erging, klebten seine Finger wie Saugnäpfe an ihrer Haut, Isabel spürte Feuchtigkeit und Widerwillen. Doch irgendwann flogen seine Worte an ihr vorbei wie die Landschaft. Flüchtig, kaum wahrgenommen, vergessen, bevor sie verletzen konnten. Eine dicke Fliege, die gegen die Windschutzscheibe klatschte, gelbliches Sekret, ein Flügel und Reste des zarten Rumpfes beendeten Horsts Beschwerden über Leas sonderbare Befindlichkeit. »Die ersten unangenehmen Vorboten des Landlebens«, zischte er durch die Zähne. Die Wischblätter hinterließen eine helle schleimige Spur, über die sich Horst bis zur nächsten Tankstelle ärgern sollte. Was für ein wirkungsvoller Tod eines so kleinen Geschöpfs, überlegte Isabel. Eine Fliege lässt in dem sonst so kontrollierten Horst das Wutherz rasen. Nach einer kurzen Rast bei Frankfurt, bei der die Windschutzscheibe akribisch gesäubert worden war, der Ölstand kontrolliert - »lieber zu oft als zu selten«, hatte Horst konstatiert - der Tank aufgefüllt worden war, ließ Horst den Motor kurz aufheulen. Dann atmete er tief und erleichtert durch.
»Tja«, sagte er, »nun herrscht endlich Klarsicht!« Seine Hand wanderte wieder auf Isabels Knie, und er setzte seinen Sermon fort: »Du kennst ja meine Meinung zu Leas Hirngespinsten.«
Isabel schloss die Augen. Sie ärgerte sich über sich selbst, sie hätte Leas Verhalten erst gar nicht zum Thema werden lassen sollen. Horsts Meinung zu Leas bizarrem Benehmen war ihr keine Hilfe, sondern verstärkte ihre Ohnmacht. »Mehr Strenge«, pflegte er nämlich zu sagen, »meine Eltern hätten das nicht geduldet. Für Träumereien ist das Fräulein mit seinen acht Jahren zu alt. Mal einen ordentlichen Klaps, wenn Gnädigste so tun, als würde sie nicht zu unserer Welt gehören. Mal einen ordentlichen Klaps, wenn sie die Nachtruhe stört.« Und jedes Mal, wenn er das Wort Klaps aussprach, ließ er das Lenkrad los und klatschte sich auf seine Schenkel. »Klaps.« Klatsch.
Irgendwann, kurz vor Nürnberg, hatte Horst seine Gedanken in andere Bahnen gelenkt. Zufriedenheit machte sich breit, denn er entsann sich der Macht seines Opel Kapitäns. »Ah, wie der Wagen schnurrt. Isabel, meine Beste«, er tätschelte ihren Oberschenkel. »Wir werden das Kind schon schaukeln.« Dann fuhr er über ihr Bein, immer höher, bis er die Spitzen ihrer Wäsche spürte.
Isabel betrachtete das Treiben seiner fleischigen Hand, wie sie Besitz von ihr ergriff, mit dem blauen Siegelring, den glänzenden Manschettenknöpfen, der goldenen Omega. Und sie schauderte.
Wie sehr hatte sich ihre Welt verändert, seit Horst vor drei Jahren in ihr Leben getreten war. So vieles hatte sich ihr entfremdet, das Vertrauen, die Zuversicht, die Liebe, vor allem aber sie sich selbst, denn ihre einst eigenwillige, impulsive Natur hatte sich gewandelt in jene Biederkeit, die Männern wie Horst gefiel: feinste Wäsche, enge, elegante Röcke, hohe Schuhe, die wilden Locken gezähmt und hochgesteckt, Perlen in den Ohren und teure Ringe an den Händen. Das schnelle Ende ihres ebenso leidenschaftlichen wie kurzen Abenteuers mit Leas Vater und die nachfolgende Verbitterung führten zur allmählichen Veränderung nicht nur ihrer äußerlichen Erscheinung, sie ließ auch ihre Seele erkalten. Bereit, alles zu geben, um nie mehr zu verlieren, wurde sie nach etlichen halbherzigen Affären zur kühlen Schönen an der Seite eines erfolgreichen Immobilienmaklers, der, so schien es zumindest, seine große Erfüllung darin fand, Isabel, seine Isabel, attraktiv und gut versorgt zu sehen.
Seine Hand mühte sich ab, als sie Isabels Beine auseinanderspreizte. Auf seinem Gesicht bildete sich feuchter Glanz. Horst steuerte den Wagen auf die rechte Fahrbahn.
Isabels Augen blickten starr nach vorn, als suchten sie am Horizont nach Bedeutsamkeit, in ihrem Gesicht lag Anstrengung, ihre Sinne spürten nichts, sie waren den Gedanken tief ins Innere gefolgt. Die Autobahn war leer, offizieller Ferienanfang war erst in einem Monat, doch die Schule hatte Lea auf Empfehlung ihres Therapeuten schon ein paar Wochen früher vom Unterricht befreit.
»Was ist bloß mit Ihrem Kind los?«, hatten die Lehrer gefragt. »Lea macht uns langsam Sorgen. Sie beteiligt sich immer weniger am Unterricht, träumt nur, und in letzter Zeit schläft sie auch noch öfters ein. Während der Schulpausen steht sie im Abseits. Merkwürdig, Ihr Kind, sehr merkwürdig. Sie sollten mal einen Arzt konsultieren!« Mit ihren Beobachtungen hatten die Lehrer bestätigt, was Isabel seit einiger Zeit mit Sorge selbst bemerkt hatte: Leas Verhalten wurde immer befremdlicher.
Vor einem Jahr begannen dann auch noch die nächtlichen Unruhen. Zunächst schlief Lea nur schlecht ein und wachte in der Nacht öfter auf. Irgendwann fing sie damit an, mit ihrem Kopf in die Kissen zu schlagen, bis sie halb bewusstlos in einen kurzen Schlaf fiel, aus dem sie dann ein Albtraum riss. Schließlich begann sie auch noch schlafzuwandeln.
Früher hatte Isabel sie geschimpft, wenn Lea nachts umhergeirrt war, vor allem, wenn sie dabei das Haus verlassen hatte und im Garten umhergeschwebt war wie ein Geist, unheimlich, aschgrau, mit starrem Gesicht und geweiteten Augen. Oft erwachte sie an den seltsamsten Örtlichkeiten, mal im untersten Regal des Bücherschranks, mal im Badezimmer unter dem Waschbecken oder im Garten neben der Gießkanne. Eine Zeit lang hatte Isabel die Kinderzimmertür abgesperrt, dann aber ließ Lea die Furcht vor Enge nicht einschlafen, und sie weinte ohne Unterlass. »Meine Kleine, wie kann ich dir nur helfen? Ich bin so ratlos«, hatte Isabel geklagt, und Horst hatte mit noch mehr Strenge gedroht, als Lea ohnehin von ihm bereits erfuhr. Als Lea auch noch begann, laute Schreie durch die Nacht zu schicken, sodass man in der Nachbarschaft munkelte, das Kind sei nicht ganz normal, und die Lehrer zunehmend ungehaltener wurden, weil das Kind in der Schule schlief, anstatt aufzupassen, konsultierte Isabel Doktor Henning, den besten Psychologen, den Hamburg zu bieten hatte, wie Horst versichert hatte.
»Es tut mir leid, was ich Ihnen nun mitteilen muss«, sagte Doktor Henning nach der ersten Sitzung mit Lea. »Aber Ihre Tochter leidet unter sämtlichen Formen der Parasomnien, angefangen von Jactatio capitis nocturno, dem Kopfschlagen, bis hin zu Somnabulismus, auch Schlafwandeln genannt. All das weist darauf hin, dass Lea von Problemen gequält wird, die sie am Tag nicht bewältigen kann. Ahnen Sie, um welche Sorgen es sich dabei handeln könnte?«
Isabel schüttelte den Kopf.
»Dann müssen wir das Geheimnis Ihrer kleinen Tochter eben knacken. Zusätzlich soll sie vorläufig mal abends ein paar beruhigende Tabletten einnehmen«, beschloss er und notierte sich die weiteren Sitzungstermine in seinen Kalender.
Lea mochte die Stunden bei ihm nicht besonders leiden. Henning stellte nämlich viele Fragen, die sie nicht beantworten konnte und wollte.
Schließlich ließ er sie Bilder malen. Weil auf beinahe jedem, egal, ob sie eine Familie oder Tiere zeichnete, auch ein Berg zu sehen war, zu dessen Gipfel ein kleiner Weg führte, war Henning davon überzeugt, der Berg stünde in enger Verbindung zu all den wirren Nächten.
Und so begann er seine Fragen auf den Himmelsspitz zu konzentrieren. Zu diesem Zweck breitete er alle gemalten Bilder auf einem großen Tisch aus und eröffnete die Therapie stets mit dem gleichen Satz:
»Hier haben wir also viele schöne Himmelsspitze! Himmelsspitz, schöner Name für einen Berg. Warst du schon mal in den Bergen, Lea?«
Lea schüttelte den Kopf.
»Also warst du auch noch nie auf dem Himmelsspitz, hab ich recht?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Liebe Lea, willst du mir verraten, woher du den Himmelsspitz kennst?«
»Von einer Postkarte«, antwortete das Kind.
»Warum gefällt dir denn der Berg so gut?«
Lea zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Überleg mal. Was ist das Besondere an dem Berg?«
»Nichts«, wiederholte Lea. »Nichts.«
Henning seufzte. Irgendwann, nach der fünften oder sechsten Sitzung, nahm er einen Radiergummi in die Hand und sagte:
»Gut, wenn der Berg nicht wichtig ist, dann können wir ihn ja aus dem Bild entfernen. Ja?« Und er begann, mit ungeduldigen Bewegungen die Zacken des Berges wegzuradieren, bis Lea kaum hörbar flüsterte:
»Weil er bis zum Himmel geht.«
Henning hielt inne und legte den Radiergummi zur Seite. »So, so, bis zum Himmel. Hmh, und dieser Weg, den du hier«, dabei zeigte er auf all die Pfade, die ausgebreitet vor ihnen lagen, »immer so schön malst, der führt also in den Himmel?«
Lea wusste keine Antwort. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin der Pfad sie führen würde, nur, dass er in ihren Träumen stets schrecklich unwegsam war, gespickt mit garstigem Gebüsch, an dem spitze Dornen saßen und auf sie warteten, um ihr Gesicht, Beine und Arme zu zerkratzen. Sie musste sich ducken und wie ein Wurm über den Boden kriechen, derart dicht waren die Äste gewachsen. Käfer und Würmer begleiteten sie auf dem Pfad. Kleine Vögel hüpften neben ihr auf dem Boden. »Weiter, weiter, kleine Lea«, zwitscherten sie ihr aufmunternd ins Ohr. Die ersten Meter dieses Pfades verliefen immer gleich, doch endete er an unterschiedlichen Stellen seines Verlaufs. Mal gelangte Lea zur Biegung, bei der das Geröll begann, mal bis zu jener Stelle, an der links am Rand der dichte Moosteppich wuchs. Ein Mal, und in dieser Nacht war sie besonders weit gekommen, befand sie sich auf etwas, was wie eine Hängebrücke aussah. Weil diese so furchterregend hin und her wackelte, dass Lea drohte, das Gleichgewicht zu verlieren und in den reißenden Fluss unter ihr zu stürzen, umklammerten ihre Hände die Seile, welche links und rechts gespannt waren, bis die Finger bluteten. »Nicht fallen, nicht fallen«, krähten die pechschwarzen Raben, die neben ihr durch die Lüfte wehten. Doch als ein heftiger Windstoß die Brücke erfasste, sie aus den Felsangeln riss und durch die Luft schleuderte, dass Lea verloren dem Himmel entgegensegelte, wie die großen Todesvögel, durchzuckte es ihren Körper, und sie schrie aus vollen Kräften, bis Isabel und Horst aus dem Haus gestürmt kamen und sie von der Gartenschaukel zogen.
Ja, so endete der Pfad stets.
»Vielleicht führt der Weg tatsächlich in den Himmel«, murmelte Herr Henning und kratzte sich bedächtig am Bart. »Möchtest du denn in den Himmel?«, fragte er schließlich.
»Ich bin doch nicht tot«, antwortete Lea. Henning seufzte wieder.
Schwerer Fall, dachte er und schrieb ein paar Notizen in sein dickes Patientenbuch.
Nach ein paar Wochen Therapie bat Doktor Henning Isabel in seine Praxis.
»Ich denke«, hob er an, »Ihre Tochter braucht Ruhe. Ruhe und einen Ortswechsel. Fahren Sie doch mit ihr in die Berge, am besten so bald wie möglich«, riet er.
»Die Berge? Warum ausgerechnet dorthin? Worunter leidet meine Tochter, haben Sie denn eine leise Ahnung, Herr Doktor?«, fragte Isabel.
»Das weiß ich nicht, ich weiß auch nicht, ob sie überhaupt leidet. Ich fühle nur, dass ein Teil ihrer Gedanken mit einem Berg zu tun hat. Ihre Tochter malt in den Sitzungen auffallend häufig einen Berg. Dieser Berg hat stets die gleiche Form mit seinem zackigen Gipfel.«
»Ah, der Himmelsspitz!« Isabel lächelte kurz.
»Was hat es mit diesem Berg auf sich?«
»Nichts Besonderes, Lea kennt ihn von einer alten Postkarte aus meinem Fotoalbum.«
»Wo liegt denn dieser Berg?«
»Irgendwo in Österreich, glaube ich zumindest.«
»Waren Sie denn schon mal dort?«
»Nein, ich kenne den Berg nur von der Postkarte, die mir ein alter Schulfreund geschenkt hatte.«
»Ich denke, das wäre doch für Ihre Tochter eine nette Überraschung, was meinen Sie? Überlegen Sie es sich doch einmal.«
Isabel versprach, sich den Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen. »Gut, vielleicht haben Sie ja recht, vielleicht tun ihr die Berge wirklich gut«, sagte sie.
»Ich habe noch eine Frage an Sie«, sagte der Psychologe. »Leas Vater, Sie erzählten mir, sie würde ihn nicht kennen.«
»Stimmt, sie kennt ihn nicht.«
»Fragt sie nicht häufiger mal nach ihm?«
»Manchmal. In den letzten Jahren aber immer seltener.«
»Wo ist denn ihr Vater?«
Isabel zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Bitte fragen Sie nicht weiter.«
»Und was haben Sie dem Kind über ihn erzählt?«
»Nun ja, nicht viel. Sie weiß, dass er Tiere liebte. Und die Tiere ihn.«
»Mehr nicht? Hat Lea nie gefragt, wo ihr Vater ist?«
»Doch, ich habe Lea erzählt, dass ihr Vater ein Reisender war. Und dass er auf einer Reise war, auf der ich ihn nicht begleiten konnte.«
»Sie sprechen in der Vergangenheit von ihm.«
»Stimmt. Er ist Vergangenheit.«
Als sie die Praxistür hinter sich geschlossen hatte, fühlte sich Isabel elend, denn mit einem Schlag war sie wieder da, die Erinnerung. Von nun an würde sie Regie führen, die Dramaturgie bestimmen, die Worte wählen, die Gefühle dirigieren - und Isabel zu einer Statistin werden lassen, in einem Stück, dessen Ende noch nicht geschrieben war.
Horst hatte sich von dem Urlaubsziel alles andere als begeistert gezeigt. Die Bergwelt lag ihm nicht besonders, er zog das Wasser und die Wärme, insbesondere aber den Luxus vor. »Gibt es denn da überhaupt gute Hotels?«, hatte er zweifelnd gefragt. »Ich meine, den ganzen Sommer irgendwo zwischen Kühen und Schweinen zu verbringen, das muss wirklich nicht sein. Und dann auch noch zu diesem Himmelswitz oder Himmelsspitz oder wie auch immer der heißen mag. Warum ausgerechnet dieser Berg?«
Doch irgendwann gab er dem Drängen Isabels nach und willigte ein, mit ihr und Lea einen Sommer lang in die Bergwelt zu verreisen, und zwar in jene, die für das Kind eine besondere Überraschung bedeuten würde.
Die Lage des Himmelsspitzes zu eruieren, war für einen findigen Mann wie ihn nicht schwer. Ein Anruf beim Alpenverein hatte genügt. Vom örtlichen Touristenbüro ließ sich Horst Prospekte und Reiseführer dieser Gegend kommen, aus denen er abends, wenn alle beim Essen saßen, vorlas.
»Mitten in der imposanten Gebirgslandschaft liegt der Höhenluftkurort. Er ist infolge seiner sonnigen Lage das beliebte Urlaubsziel aller Erholungssuchenden. Schöne Spaziergänge in den umliegenden Wiesen und Waldhängen und in die blumigen Almlandschaften über der Waldgrenze sind die Anziehungspunkte für den Ruhesuchenden, das weite Berg- und Gletschermeer das Ziel der Bergstürmer.«
Er zwickte Lea in die Wange. »Na ja, mal sehen. Stürmen muss ja nicht sein.« Dann las er weiter.
»Gemütliche Gasthöfe, moderne Hotels und Tanzcafés sorgen für gute Unterkunft und Geselligkeit. Ein Tennisplatz und ein modernes Schwimmbad sind im Bau.«
Er hatte kurz innegehalten. »Meine Güte, in diesen modernen Zeiten noch kein Schwimmbad, da sagen sich ja Fuchs und Hase gute Nacht. Da ist wohl die Welt zu Ende.«
Ein Lastwagen überholte hupend. Isabel sah den Beifahrer aus dem Fenster winken. Er lachte, eine Zigarette im Mund. Horst zog seine Hand zurück, sie hatte sich weit vorgetastet, weiter als es für die Augen anderer bestimmt war. Verlegen räusperte er sich und bedeckte Isabels Bein mit ihrem Rock. Dann trat er energisch auf das Pedal und lenkte seinen Kapitän auf die Überholspur.
Der Tag begann zu dämmern, die Reisenden schwiegen, Horst gegen die Müdigkeit kämpfend, Isabel in abgrundtiefen Gedanken versunken. Lea, die kurz hinter Nürnberg erwacht war, blätterte still in ihrem Tierlexikon, auch dann noch, als der Kapitän schließlich in die Nacht eintauchte und es noch finsterer wurde in seinem Innenraum. Das Mädchen strich über die Seiten, als könnte sie mit ihren Fingern sehen. »Mein Schatz, geht es dir gut?«, fragte Isabel.
Das Kind nickte. »Ja, es geht mir gut.« Inzwischen befanden sie sich vor den Toren Münchens, was Horst in ausnehmend gute Laune versetzte. Er freute sich auf das Abendessen. »Vom Allerfeinsten, mein Goldschatz, vom Allerfeinsten. Ich kenne die Küche vom Vierjahreszeiten gut. Da haben wir öfter unsere Geschäftsessen. Isabel, Isabel, mein Goldschatz, du sagst seit über einer Stunde kein Wort. Hast du mir überhaupt zugehört? Wir nächtigen in einem der besten Hotels Münchens. Meine Goldstücke«, er wandte sich zuerst zu Isabel, dann zu Lea, »genießt das Essen, genießt das Bett, denn ab morgen beginnt das raue Landleben. Am Ende der Welt.«
Dann lachte er schallend.
Fuchsbichl, Vierzigerjahre
Alles begann an einem eigentlich fröhlichen Tag, am Tag des Schützenfests.
Es geschah hoch oben in der Bergwelt, in einem Weiler, der sich Fuchsbichl nennt und damals aus nur acht Höfen bestand. Zur Geistlichkeit, zum Doktor, zur Schule, zum Telefon, zu wichtigen Lebensmitteln wie Zucker, Salz und Getreide verband die Dorfbewohner nichts als ein Pfad.
Unten, vom Tal aus führte er zunächst steil nach oben durch einen dichten Wald, dann kam eine ebene Lichtung, in deren Mitte eine Bank stand, für die Alten und Kleinen zur Rast, wenn sie sonntags in die Kirche gingen. Daneben hatte man ein Marterl aufgestellt, an dem eine blecherne Vase mit frischen Alpenrosen befestigt war sowie eine Tafel, auf der stand:
Hier wurden vom Dunder derschlagen
Drei Schaf, a Kalb und a Bua
Herr, gib ihnen die ewige Ruah.
Der Pfad stieg wieder an, man verließ den weichen Boden und kletterte über glitschige Steinstufen weiter nach oben. Nach der Linkskurve vernahm man den Wolfsbach. Zuerst ein entferntes Rauschen, dann ein Poltern, und wenn man zur Brücke kam, hörte man sein eigenes Atmen nicht mehr, denn es verschwand im Tosen der schäumenden Wassermassen.
Hinter dem Bach erinnerte eine Pestsäule an noch schwerere Zeiten, als es die gegenwärtigen ohnehin waren.
Es ging die feuchte Wolfsschlucht entlang, von deren Felsen das Wasser in langen, gläsernen Fäden tropfte, die sich in der Tiefe zu einem durchsichtigen Vorhang knüpften. Es roch nach Moos.
Hinter der nächsten Biegung war Stille. Der Lärchenwald kündigte die Nähe des Weilers an. Sobald sich die Zweige lichteten, sah man Bergwiesen. Am Waldesrand konnte man sich auf eine Bank setzen, die zweite auf dem Pfad, denn man war inzwischen eine Stunde unterwegs.
Fast jeder der seltenen Wandersleute nahm auf ihr Platz, denn der Anblick, der sich ihnen bot, war berauschend. Sanftheit inmitten der schroffen Bergwelt. Umgeben von schneebedeckten Gipfeln, an denen weiße Wolken wie Sahnehäubchen hingen, lag der Weiler in einem hügeligen Hochtal. Von der Ferne wirkte der Ort schlafend, so, als hätte die Zeit ihn vergessen. Seit Langem. Die Vergangenheit hatte die Gegenwart im Griff, und niemand glaubte, die Zukunft würde anderes versprechen. Und würde aus den Kaminen kein Rauch aufsteigen, hielte man das alles für das Gemälde eines liebestrunkenen Malers.
Von Weitem wirkten die Höfe wie hölzerne Spielzeughäuser, zerbrechlich und schief. Ihre Dächer waren mit Schindeln gedeckt, an den Wänden lag Holz geschichtet, darüber hingen Rechen, Sensen, Heustangen und Körbe. Vor jedem Haus, eingezäunt von Holzpfählen, hatte man Gemüsebeete angelegt. Es wuchsen Bohnen, Salat, Schnittlauch, Petersilie und allerlei Heilkräuter wie Salbei, Wermut, Baldrian und Ringelblumen. Die Kartoffeläcker und kleine Getreidefelder lagen hinter den Häusern. Die Stallungen befanden sich auf der Bergseite. Von ihnen aus führten eingezäunte Wege durch die Wiesen hoch in den Bergwald.
Das erste Haus gehörte dem Oswin Kneisl. Es wirkte etwas heruntergekommen, auf dem Balkonboden fehlten ein paar Bretter, einige Fensterläden hingen schief in ihren Angeln. Im mittleren Fenster des oberen Stockwerks war eine Scheibe zerbrochen. An der verwitterten Hauswand konnte man ein paar Heilige erkennen, die vor allerlei Gefahren schützen sollten.
Im Stall standen nur noch zwei Kühe, und die Hühner, die im Boden rund ums Haus scharrten, hatten auch bessere Tage gesehen.
Der Sohn vom Oswin war im Krieg gefallen, die Tochter hatte ins andere Tal geheiratet und die Frau Kneisl hatte längst der Tod heimgesucht, den Oswin nun mithilfe selbst gebrannten Schnapses herbeitrank. Wenn die Sonne schien, saß er auf der Bank vorm Haus. Die Wärme tat seinem Rheuma im Buckel gut, den er seit seinem 16. Lebensjahr hatte. Schien die Sonne nicht und kam die Kälte, schmierte er Katzenfett auf die plagenden Stellen.
Er trug einen dichten, borstigen Bart. Aus seiner Nase wuchsen störrische Haare, vom Tabak dunkelgelb verfärbt. Der alte Kneisl schnupfte seit seinem 14. Lebensjahr. Den ersten Tabak hatte er dem Vater geklaut und in einer selbst geschnitzten Dose aus Birkenholz aufbewahrt. Das Tabakstehlen war sein harmlosestes Delikt gewesen. Seine wahre Leidenschaft hatte nämlich von jeher dem Wildern gegolten. Er schoss auf alles, was sich im Bergwald bewegte, Gämse, Rehe, Füchse und manchmal auch auf streunende Katzen. Die Kadaver weidete er an verborgener Stelle aus, die Katzen aß er selbst, das andere Fleisch verkaufte er an hungrige Soldaten, die die Bergwälder durchstreiften.
Auf diese Weise verdiente er etwas Geld, das er am Sonntag im Tal verzechte.
Das Wildern hatte seine Seele derart im Griff, dass er auf jeden Schatten zielte, den seine Augen ausmachen konnten, ohne zu wissen, ob dieser zu einem Menschen- oder Tierkörper gehörte. So war es einmal zu einem schrecklichen Jagdunfall gekommen, wie es später im örtlichen Anzeiger hieß. Oswins Kugel traf aus Versehen einen verirrten Landstreicher, dessen Tod niemand bemerkt hatte, bis eine Mure seine von Füchsen und Dachsen abgeknabberten Knochen ins Tal schleuderte, wo sie von einem Wanderer gefunden wurden. Anhand der blechernen Erkennungsplakette aus dem Ersten Weltkrieg, die an einem Knochen baumelte, konnte man ihn identifizieren. Oswin als Täter ausfindig zu machen, das war jedoch nicht möglich. Und so blieb der alte Kneisl sein Leben lang sein einziger Zeuge. Fast. »Herr, es war doch nur ein Versehen«, beichtete er nämlich dem Herrgott und zündete für die arme Seele jeden Sonntag in der Kirche eine Kerze an.
An jenem ereignisreichen Tag des Schützenfestes war Oswin nachmittags bereits derart betrunken, dass er die turbulenten und tragischen Ereignisse auf der Bank vor seinem Haus verschlief.
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Autoren-Porträt von Christiane Tramitz
Christiane Tramitz, geboren 1959 in München, studierte Sprechwissenschaften und promovierte an der Forschungsstelle für Humanethologie in Andechs, wo sie mehrere Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin war. In zahlreichen Sachbüchern, Fachartikeln und Reportagen hat sie sich mit menschlischen Verhaltensweisen beschäftigt. Der Krimi "Himmelsspitz" ist ihr Debüt als Romanautorin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christiane Tramitz
- 2011, 3. Aufl., 278 Seiten, Masse: 12 x 19,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gmeiner-Verlag
- ISBN-10: 3839211824
- ISBN-13: 9783839211823
- Erscheinungsdatum: 14.07.2011
Rezension zu „Gmeiner Original / Himmelsspitz “
Auf mystische Weise verweben sich menschliche Schicksale, die weit voneinander entfernt scheinen. Ein atmosphärisch dichter, ungemein spannend erzählter Kriminalroman vor grandioser Alpen-Kulisse. Und eine beklemmende Reise in die Abgründe der menschlichen Seele.
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