Harry Hole Band 5: Das fünfte Zeichen
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
"Ein hervorragender Krimi!"
Münchner Merkur
Das fünfte Zeichen von Jo Nesbø
LESEPROBE
Das Polizeipräsidium im Stadtteil Grønland, der Hauptsitz des Polizeidistrikts Oslo, lag aufeinem Höhenzug, der sich von Grønland bis hinauf nachTøyen zog. Von hier aus hatte man eine guteAussicht auf die östlichen Viertel der Innenstadt. Das Gebäude, ganz aus Glasund Stahl erbaut, wurde seit 1978 genutzt. Hier war nichts schief, sondernalles bis in den letzten Winkel korrekt, wofür die Architekten Telje-Torp-Aasen eine Auszeichnung erhalten hatten.
Der Fernmeldetechniker, der in denbeiden sieben und neun Stockwerke hohen Büroflügeln die Kabel verlegt hatte,war vom Gerüst gestürzt, hatte sich das Rückgrat gebrochen und bekam eine Berufsunfähigkeitsrente- und eine Standpauke von seinem Vater.
»Seit sieben Generationen sind wirjetzt Maurer, sind zwischen Himmel und Erde balanciert, haben der Schwerkraftgetrotzt, bis sie uns zu Boden riss. Mein Grossvater hat versucht, diesem Fluchzu entgehen, doch er verfolgte ihn über die Nordsee bis hierher. Deshalb habeich bei deiner Geburt geschworen, dass du nicht zu diesem Schicksal verdammtsein solltest. Und ich dachte, ich hätte es geschafft. Telefontechniker. Waszum Teufel hat ein Fernmeldetechniker sechs Meter über dem Boden verloren?«
Durch das Kupfer ebenjener vom Sohnverlegten Leitungen kam an diesem Tag das Signal von der Notrufzentrale. Esschoss durch die Etagendecken, die aus Industriebeton gegossen waren, bishinauf in die sechste Etage, in das Büro von Bjarne Møller,dem Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen. Møllergrübelte gerade darüber nach, ob er sich auf die bevorstehenden Familienferienin der Hütte in Os vor den Toren Bergens freuen oderob ihm davor grauen sollte. Os im Juli bedeutete mit grosser WahrscheinlichkeitScheisswetter. Dabei hatte Bjarne Møller gar nichtsdagegen, die für Oslo angekündigte Hitzewelle gegen ein wenig Sprühregeneinzutauschen. Aber zwei höchst lebhafte kleine Jungen bei Dauerregen ohneandere Hilfsmittel als ein Kartenspiel bei Laune zu halten, dem überdies derHerz-König fehlte, war wirklich eine Herausforderung.
Bjarne Møllerstreckte die langen Beine aus und kratzte sich hinter dem Ohr, während er sichauf die Nachricht konzentrierte. »Wie haben die das entdeckt?«,fragte er.
»Es hat getropft, beim Mieterdrunter«, antwortete die Stimme aus der Notrufzentrale. »Der Hausmeister undein Nachbar haben geklingelt, aber es hat keiner geantwortet. Da die Türunverschlossen war, sind sie schliesslich hineingegangen.
»In Ordnung. Ich schicke zwei meinerLeute.« Møller legte auf,seufzte und fuhr mit einem Finger die Liste der Diensthabenden entlang, dieunter einer Plastikhülle auf seinem Schreibtisch lag.
Das halbe Dezernat war verwaist. Wiejedes Jahr in den Sommerferien. Was freilich nicht bedeutete, dass die BewohnerOslos jetzt in Lebensgefahr schwebten, denn auch die Verbrecher der Stadtschienen etwas von Sommerferien zu halten. Jedenfalls war der markanteRückgang der Straftaten, die in den Zuständigkeitsbereich des Dezernats fürGewaltverbrechen fielen, anders kaum zu erklären.
Møllers Finger stoppte unter dem NamenBeate Lønn. Er wählte die Nummer der Kriminaltechnikin der Kj ølberggata.Niemand hob ab. Er wartete, bis der Anruf an die Zentrale weitergeleitet wurde.
»Beate Lønnist im Labor«, sagte eine helle Stimme.
»Hier ist Møllervom Morddezernat. Holen Sie sie bitte.«
Møller wartete.
Es war Karl Weber gewesen, der erstkürzlich pensionierte Leiter der Kriminaltechnik, der Beate Lønn vom Morddezernat zur Kriminaltechnik hatte versetzenlassen. Møller sah darin einen neuerlichen Beweisfür die Theorie der Neodarwinisten, dass der einzige Antrieb des Individuumsdarin bestand, die eigenen Gene zu vererben. Und Weber schien der Meinung zusein, dass Beate Lønn eine ganze Menge Kriminaltechnikergene hatte. Auf den ersten Blick schienenKarl Weber und Beate Lønn sehr verschieden. Weberwar mürrisch und reizbar, Lønn eine stille,graue Maus, die, als sie frisch von der Polizeischule gekommen war, schon rotwurde, wenn man sie bloss ansprach. Aber ihr Polizeiinstinkt war gleich stark ausgeprägt.Sie gehörten zu dem Typ passionierter Ermittler, der, wenn er erst Beutegewittert hat, alles ausblenden und sich einzig und allein auf eine Spurkonzentrieren kann, ein Indiz, eine Videoaufzeichnung, eine vageZeugenaussage, bis schliesslich alles einen Sinn ergibt. Böse Zungenbehaupteten, Weber und Lønn gehörten ins Labor undnicht unter Menschen, weil die Menschenkenntnis eines Ermittlers schliesslichwichtiger als ein Fussabdruck oder die Faser einer Jacke sei.
Weber und Lønnstimmten zu, was das Labor, nicht aber, was den Fussabdruck oder die Jackenfaserbetraf.
»Lønn.«
»Hallo Beate, hier ist Bjarne Møller. Störe ich?«
»Natürlich. Was gibt's?«
Møller erklärte ihr kurz die Sachlage undgab ihr die Adresse. »Ich schicke auch zwei von meinen Jungs«, fügte er hinzu.
»Wen?«
»Mal sehen, wen ich finde, du weisstja, Urlaubszeit.«
Møller legte auf und fuhr mit dem Fingerweiter nach unten.
Er stoppte bei dem Namen Tom Waaler.
Die Rubrik »Urlaub« war leer, wasBjarne Møller nicht weiter verwunderte. Man konnteleicht das Gefühl bekommen, Hauptkommissar Tom Waalermache niemals Ferien, ja, er schlafe kaum. Als Ermittler war er eines derbeiden Asse der Abteilung. Immer zur Stelle, immer einsatzfreudig und fastimmer mit den entsprechenden Resultaten. Und im Gegensatz zu dem anderenSuperermittler war Tom Waaler verlässlich, hatte eineblitzsaubere Akte und wurde von allen respektiert. Kurz gesagt: ein Traumvon einem Untergebenen. Und bei Toms unbezweifelbaren Führungseigenschaftenwar es wohl nur eine Frage der Zeit, bis er MøllersJob als Leiter des Dezernats übernehmen würde.
Das Klingeln hallte durch die dünnenWände.
»Waaler«,antwortete eine klangvolle Stimme.
»Møllerhier, wir ...«
»Einen Augenblick, Bjarne. Ich musseben erst ein anderes Gespräch beenden.«
Bjarne Møllertrommelte beim Warten mit den Fingern auf die Tischplatte. Tom Waaler konnte der jüngste Dezernatsleiter werden, derjemals dem Morddezernat vorgestanden hatte. War es das, was Møllermanchmal zweifeln liess, wenn er daran dachte, Tom eines Tages dieVerantwortung zu übertragen? Oder waren es die zwei Fälle, bei denen Waaler in einen Schusswechsel geraten war? Beide Male hatteder Hauptkommissar bei einer Festnahme zur Waffe gegriffen und als einer derbesten Schützen der Polizei tödliche Treffer gelandet. Aber Møller wusste auch, dass es paradoxerweise gerade diesebeiden Episoden sein konnten, die bei der Ernennung des neuen Leiters dieEntscheidung zu Toms Gunsten beeinflussen mochten. Die internen Ermittlungenhatten nichts zutage gefördert, was dem widersprach, dass Tom Waaler zur Selbstverteidigung geschossen hatte. ImGegenteil. Es war vielmehr festgehalten worden, dass er die Situation richtigeingeschätzt und in einer äusserst kritischen Lage Tatkraft bewiesen hatte.Konnte es ein besseres Zeugnis für jemanden geben, der sich um eine leitendeStellung bewarb?
»Tut mir Leid, Møller,das Handy. Womit kann ich dienen?«
»Wir haben einen Fall.«
»Endlich.«
Der Rest des Gesprächs war inweniger als zehn Sekunden erledigt. Jetzt fehlte ihm nur noch der zweite Mann.Møller hatte an Kriminalassistent Halvorsengedacht, doch auf der Liste stand, dass der zu Hause in SteinkjerUrlaub machte.
Er fuhr mit dem Finger weiter nachunten. Urlaub, Urlaub, krank.
Der Dezernatsleiter seufzte tief,als sein Finger bei einem Namen stoppte, den zu umgehen er gehofft hatte.
Harry Hole.
Der Eigenbrötler. Der Alkoholiker.Das Enfant terrible der Abteilung. Aber - neben Tom Waaler- tatsächlich der beste Ermittler der sechsten Etage. Hätte Bjarne Møller mit den Jahren nicht eine geradezu perverseLust entwickelt, seinen Hals für diesen gross gewachsenen Polizisten mit demAlkoholproblem zu riskieren, Harry Hole wäre längst aus dem Polizeidienstgeflogen. Normalerweise hätte er Harry als Erstes angerufen, um ihm den neuenFall zu übertragen, aber die Lage war nicht normal.
Oder genauer gesagt: Sie war nurallzu normal.
Vier Wochen zuvor hatten sich dieEreignisse überschlagen, nachdem Harry im Winter noch einmal den altenMordfall an Ellen Gjelten aufgerollt hatte, Harrysengster Kollegin. Seit sie am Ufer des Akerselvaerschlagen worden war, hatte er das Interesse an allen anderen Fällenverloren. Das Problem dabei: Der Fall »Ellen« war seit langem aufgeklärt. DochHarry verfolgte ihn so manisch, dass sich Møllerernsthaft Sorgen um Harrys geistige Gesundheit machte. Der Gipfel war, alsHarry vor einem Monat in sein Büro gestürmt war und ihm eine haarsträubendeVerschwörungstheorie aufgetischt hatte. Aber als es hart auf hart kam, konnteer seine phantasievollen Vorwürfe gegen Tom Waalerweder beweisen noch untermauern.
Und dann war Harry einfachverschwunden. Nach ein paar Tagen hatte Møller imRestaurant Schrøder angerufen und bestätigt bekommen,was er befürchtet hatte: Harry hatte einen neuen Rückfall erlitten. Da hatte Møller ihn in die Urlaubsliste eingetragen, um sein Fehlenzu kaschieren. Wieder einmal. In der Regel gab Harry nach etwa einer Woche einLebenszeichen von sich. Jetzt waren vier vergangen. Der Urlaub war vorbei.
Møller starrte auf den Telefonhörer, standauf und trat ans Fenster. Es war halb sechs, und dennoch war der Park vor demPräsidium beinahe menschenleer, nur einige wenige Sonnenanbeter trotzten derHitze. Am Grønlandsleiret sassen die Händler alleinmit ihrem Gemüse unter den Markisen ihrer Stände. Sogar die Autos fuhrenlangsam und das ohne Stau. Møller strich sich dieHaare über den Schädel zurück, eine langjährige Angewohnheit, die eraber nach Meinung seiner Frau endlich ablegen sollte, da die Leute sonst meinenkönnten, er wolle seine Glatze verbergen.
Harry. Blieb ihm wirklich keineandere Wahl? Møller folgte mit dem Blick einemtorkelnden Mann auf dem Grønlandsleiret.Wahrscheinlich würde der Mann es im Café Ravnenversuchen, dort nicht eingelassen werden und schliesslich im Boxer landen. DemOrt, an dem der Fall »Ellen« endgültig begraben worden war. Und vielleicht auchHarry Holes Laufbahn als Polizist. Møller stand unter Druck, er würde bald entscheiden müssen,was er mit dem Problem »Harry« anstellen wollte. Langfristig. Jetzt ging es erstmal um den Fall.
Møller hob den Hörer ab. War ertatsächlich im Begriff, Harry Hole und Tom Waaler aufden gleichen Fall anzusetzen? Urlaubszeit war einfach Scheisse. Derelektrische Impuls verliess das staatliche Telje-Torp-Aasen-Monumentfür Recht und Ordnung, und es klingelte an einem Ort, an dem das blanke Chaosherrschte. In einer Wohnung in der Sofies Gate.
© Ullstein Buchverlage
Übersetzung: Günther Frauenlob
Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.
- Autor: Jo Nesbø
- 2009, 7. Aufl., 506 Seiten, Masse: 11,9 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Frauenlob, Günther
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548267254
- ISBN-13: 9783548267258
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Harry Hole Band 5: Das fünfte Zeichen".
Kommentar verfassen