Neun Drachen / Harry Bosch Bd.15
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Der nette Mr. Li, Inhaber eines Liquor Stores, wird erschossen. Ein ganz "normaler" Raubmord in L.A.? Eher nicht - glaubt Detective Harry Bosch, der die chinesischen Triaden als Drahtzieher verdächtigt. Ein Verdacht, der sich bald verdichtet: Harrys...
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Produktinformationen zu „Neun Drachen / Harry Bosch Bd.15 “
Der nette Mr. Li, Inhaber eines Liquor Stores, wird erschossen. Ein ganz "normaler" Raubmord in L.A.? Eher nicht - glaubt Detective Harry Bosch, der die chinesischen Triaden als Drahtzieher verdächtigt. Ein Verdacht, der sich bald verdichtet: Harrys Tochter Madeline wird in Hongkong entführt.
Klappentext zu „Neun Drachen / Harry Bosch Bd.15 “
Im Moloch Los Angeles lässt der nächste Mord nicht lange auf sich warten: Mr. Li, der chinesische Besitzer eines Liquor Store, wird erschossen. Zunächst sieht alles nach einem gewöhnlichen Raubüberfall aus. Doch Detective Harry Bosch ist sich schnell sicher, dass es in Wirklichkeit um Schutzgelderpressung und die schmutzigen Geschäfte chinesischer Triaden geht. Sein Verdacht bestätigt sich auf grausame Weise: In Hongkong wird Harrys 15-jährige Tochter Madeline entführt, die dort seit der Scheidung mit ihrer Mutter lebt - und Harry muss mit allen Mitteln um ihr Leben kämpfen ...
Lese-Probe zu „Neun Drachen / Harry Bosch Bd.15 “
Neun Drachen von Michael ConnellyAus dem Amerikanischen von Sepp Leeb
Teil 1
HOMICIDE SPECIAL
1
... mehr
Harry Bosch schaute über den Gang in das Abteil
seines Partners und beobachtete ihn bei seinem täglichen Ritual:
die Kanten der Aktenstapel ausrichten, den Schreibkram
aus der Mitte des Schreibtisches räumen und zum
Schluss die ausgespülte Kaffeetasse in die Schreibtischschublade
stellen. Bosch sah auf die Uhr. Es war erst zwanzig vor
vier. Wie es schien, begann Ignacio Ferras mit seinem Ritual
jeden Tag ein, zwei Minuten früher als am Tag zuvor. Es war
erst Dienstag, der Tag nach dem verlängerten Labor-Day-
Wochenende und der Anfang einer kurzen Woche, und
schon wieder legte es Ferras auf einen frühen Dienstschluss
an. Eingeleitet wurde das Ritual immer von einem Anruf
von zu Hause. Dort wartete eine Ehefrau mit einem kleinen
Kind und neugeborenen Zwillingen. Sie hatte die Uhr im
Auge wie ein Süßwarenladenbesitzer die dicken Kids. Sie
brauchte die Entlastung, und dafür brauchte sie ihren Mann
zu Hause. Obwohl der Gang Bosch von seinem Partner
trennte und die Arbeitsplätze im neuen Bereitschaftsraum
mit einem Meter zwanzig hohen Schallschutzwänden voneinander
abgeschottet waren, bekam er normalerweise beide
Seiten dieser Anrufe mit. Sie begannen immer mit: »Wann
kommst du nach Hause?«
Als an Ferras' Arbeitsplatz alles seine Ordnung hatte, schaute
er zu Bosch herüber.
»Ich mache mich dann mal auf den Weg, Harry. Bevor der
Feierabendverkehr einsetzt. Es stehen noch verschiedene
Rückrufe aus, aber die haben alle meine Handynummer.
Deswegen extra hierzubleiben brächte nichts.«
Ferras rieb sich beim Sprechen die linke Schulter. Auch das
war Teil des Rituals. Damit erinnerte er Bosch unausgespro-
chen daran, dass er an dieser Stelle vor zwei Jahren eine Kugel
abbekommen und sich den frühen Dienstschluss verdient
hatte.
Bosch nickte bloß. Es ging eigentlich nicht darum, wann
sein Partner Feierabend machte oder was er sich verdient
hatte. Es ging um seine Einsatzbereitschaft für die Mission
Mordaufklärung und ob sie zu spüren wäre, wenn sie endlich
zu ihrem nächsten Einsatz gerufen würden.
Ferras hatte neun Monate Physiotherapie und Reha durchlaufen,
bevor er sich zum Dienst zurückgemeldet hatte. Allerdings
war er in dem Jahr, das seitdem vergangen war, seinen
Aufgaben als Ermittler mit einem Widerstreben nachgekommen,
für das Bosch zusehends weniger Verständnis
aufbrachte. Er war nicht engagiert, und Bosch war es leid,
auf ihn zu warten.
Er war es auch leid, auf ein neues Mordopfer zu warten. Es
war vier Wochen her, dass sie den letzten Fall an Land gezogen
hatten, und die spätsommerliche Hitzephase war schon
ziemlich weit fortgeschritten. Bosch wusste: So sicher, wie
die Santa-Ana-Winde die Bergpässe heruntergeweht kämen,
käme auch ein neues Mordopfer.
Ferras stand auf und schloss seinen Schreibtisch ab. Gerade
als er sein Sakko von der Stuhllehne nahm, sah Bosch Larry
Gandle von seinem Büro am anderen Ende des Bereitschaftsraums
auf sie zukommen. Als der Ranghöhere der beiden
Partner hatte sich Bosch sein Abteil als Erster aussuchen
dürfen, als die Robbery-Homicide Division einen Monat
zuvor aus dem maroden Parker Center in das neue Police
Administration Building umgezogen war. Die meisten 3er
Detectives hatten Abteile genommen, von denen man auf
die Fenster mit Blick auf die City Hall sehen konnte. Bosch
hatte sich für das Gegenteil entschieden. Er hatte seinem
Partner die Aussicht überlassen und das Abteil gewählt, von
dem aus er mitbekam, was sich im Bereitschaftsraum tat.
Jetzt sah er den Lieutenant auf sie zukommen, und ihm war
sofort klar, dass sein Partner diesmal nicht früh nach Hause
ginge.
Gandle hatte einen von einem Notizblock gerissenen Zettel
in der Hand und etwas Federndes in seinem Schritt. Das verriet
Bosch, dass das Warten ein Ende hatte. Ein Einsatz stand
an. Ein neues Mordopfer. Bosch stemmte sich aus seinem
Stuhl hoch.
»Bosch und Ferras, Sie sind dran«, sagte Gandle, als er sie
erreichte. »Sie müssen mir fürs South Bureau einen Fall
übernehmen.«
Bosch sah die Schultern seines Partners nach unten sacken.
Ohne sich darum zu kümmern, griff er nach dem Zettel, den
Gandle ihm entgegenhielt. Er schaute auf die Adresse, die
darauf stand. South Normandie. Dort war er schon mal gewesen.
»Ein Getränkemarkt«, sagte Gandle. »Hinter dem Ladentisch
liegt ein Mann, die Streife hält einen Zeugen fest. Das
ist alles, was ich habe. Können Sie das übernehmen?«
»Können wir«, erwiderte Bosch, bevor sein Partner protestieren
konnte.
Aber es nützte nichts.
»Lieutenant, wir sind hier bei Homicide Special.« Ferras
drehte sich um und deutete auf den Keilerkopf über der Tür
des Bereitschaftsraums. »Wieso sollen wir einen Überfall auf
einen Liquor Store übernehmen? Sie wissen genau, das können
nur irgendwelche Ghetto-Kids gewesen sein, und so etwas
haben die Jungs vom South Bureau noch vor Mitternacht
unter Dach und Fach - oder zumindest wissen sie bis
dahin den Namen des Täters.«
Damit hatte Ferras nicht ganz unrecht. Homicide Special
war für die schwierigen und komplizierten Fälle zuständig.
Es war eine Eliteeinheit, die sich mit dem unnachsichtigen
Riecher eines Ebers, der im Dreck nach Trüffeln wühlte, die
schwierigen Fälle vornahm. Ein Überfall auf einen Getränkemarkt
im tiefsten Ghetto fi el da kaum darunter.
In einer Geste, die keinerlei Verständnis signalisierte, breitete
Gandle, mit seiner Glatze und dem Dauerflunsch der Inbegriff
des Schreibtischhengstes, die Hände aus.
»Ich habe doch bei der Besprechung letzte Woche allen gesagt:
Wir müssen South diese Woche aushelfen. Sie haben
zurzeit nur ein Rumpfteam zur Verfügung, weil alle anderen
bis zum Vierzehnten auf Mordlehrgang sind. Drei Fälle
haben sie übers Wochenende reinbekommen und einen heute
Morgen. Damit ist das Rumpfteam ausgelastet. Deshalb
sind jetzt Sie beide dran, und der Überfall gehört Ihnen. So
einfach ist das. Noch Fragen? Die Streife wartet mit einem
Zeugen.«
»Wir können los, Boss«, sagte Bosch, um die Diskussion zu
beenden.
»Und Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?«
Damit kehrte Gandle in sein Büro zurück. Bosch nahm sein
Sakko von der Stuhllehne, schlüpfte hinein und öffnete die
mittlere Schublade seines Schreibtisches. Dann zog er die lederne
Notizblockhülle aus seiner Gesäßtasche und ersetzte
den linierten Block darin durch einen neuen. Ein neuer Mord
bekam immer einen neuen Block. Das war sein Ritual. Er
sah kurz auf die Detective-Dienstmarke, die in die lederne
Hülle geprägt war, und steckte sie in die Gesäßtasche zurück.
Ihm war egal, was für ein Fall es war. Hauptsache, ein
Fall. Es war wie mit allem anderen. Man kam nur aus der
Übung und verlor den Biss. Das wollte Bosch nicht.
Ferras hatte die Hände an die Hüften gestemmt und schaute
zu der Uhr an der Wand über den Anschlagtafeln hinauf.
»Scheiße«, zischte er. »Jedes Mal wir.«
»Was heißt hier ›jedes Mal wir‹?«, entgegnete Bosch. »Wir
haben schon einen Monat keinen Fall mehr bekommen.«
»Na ja, daran hatte ich mich eben gewöhnt.«
»Also, wenn du keine Morde machen willst, gibt es immer
noch Autodiebstähle. Da kannst du jeden Tag Punkt fünf
nach Hause gehen.«
»Klar, genau.«
»Dann lass uns mal gehen.«
Bosch verließ sein Abteil und ging in Richtung Tür. Ferras
folgte ihm und holte sein Handy heraus, um seine Frau anzurufen
und ihr die schlechte Nachricht zu überbringen.
Auf dem Weg nach draußen hoben beide Männer die Hand
und tätschelten den kurzen Rüssel des Ebers, damit er ihnen
Glück brächte.
2
Bosch brauchte Ferras auf der Fahrt nach South L. A.
keine Standpauke zu halten. Sein Schweigen war Standpauke
genug. Sein junger Partner schien unter dem Druck dessen,
was nicht gesagt wurde, immer weiter einzuknicken, und irgendwann
konnte er einfach nicht mehr an sich halten.
»Das macht mich noch total wahnsinnig«, platzte es aus ihm
heraus.
»Was?«, fragte Bosch.
»Die Zwillinge. Sie machen irrsinnig viel Arbeit, und dazu
dieses ständige Geplärre. Der reinste Dominoeffekt. Einer
wacht auf, und davon wird dann der andere wach. Und davon
wacht dann auch der Große auf. Niemand kommt noch
zum Schlafen, und meine Frau fängt langsam an ...«
»Was?«
»Ich weiß auch nicht, sie dreht einfach allmählich durch.
Ständig ruft sie mich an und will wissen, wann ich nach
Hause komme. Also komme ich nach Hause und kriege
prompt gleich als Erstes die Jungs aufgedrückt. Ich komme
einfach nicht dazu, mal abzuschalten. Immer nur Arbeit,
Kinder, Arbeit, Kinder, Arbeit, Kinder. Jeden Tag.«
»Nehmt euch doch ein Kindermädchen.«
»Ein Kindermädchen können wir uns nicht leisten. Jedenfalls
nicht in der momentanen Situation. Überstunden bekommen
wir ja auch keine mehr bezahlt.«
Bosch wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Tochter Madeline
war vor einem Monat dreizehn geworden und wohnte
fast zehntausend Meilen von ihm entfernt. Er war nie direkt
daran beteiligt gewesen, sie aufzuziehen. Er sah sie vier Wochen
im Jahr - zwei davon in Hongkong und zwei in L. A. -,
und damit hatte es sich. Wer war er also, einem Vollzeitvater
mit drei kleinen Kindern, darunter Zwillinge, gute Ratschläge
zu erteilen?
»Tja, was soll ich dazu sagen? Du weißt, du kannst voll auf
meine Unterstützung zählen. Ich tue, was ich kann, wenn es
irgendwie möglich ist. Aber ...«
»Ich weiß, Harry. Ich weiß das durchaus zu schätzen. Es ist
nur das erste Jahr mit den Zwillingen, verstehst du? Wenn sie
ein bisschen älter werden, wird alles wesentlich leichter.«
»Schon, aber was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass es
vielleicht nicht nur an den Zwillingen liegt. Vielleicht liegt es
auch an dir, Ignacio.«
»An mir? Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Es soll heißen, dass es vielleicht an dir liegt. Vielleicht bist
du zu früh zurückgekommen - hast du dir darüber schon
mal Gedanken gemacht?«
Ferras zog einen Flunsch und antwortete nicht.
»Ich meine, so was soll vorkommen«, fuhr Bosch fort. »Es
hat dich einmal erwischt, und schon fängst du an, dir Gedanken
zu machen, ob der Blitz ein zweites Mal einschlagen könnte.«
»Also wirklich, Harry, was soll das jetzt wieder für ein
Scheiß? Was das angeht, habe ich nun echt keine Probleme.
Nicht die geringsten. Ich rede hier von chronischem Schlafmangel
und dass ich total auf dem Zahnfl eisch gehe und einfach
nicht dazu komme, mich wieder zu berappeln, weil mir
sofort meine Frau auf die Pelle rückt, kaum dass ich nach
Hause komme, verstehst du?«
»Na ja, das musst du schließlich am besten wissen, Partner.«
»Genau, Partner. Das muss ich am besten wissen. Glaub mir,
ich kann mir schon von ihr genügend anhören. Da brauchst
jetzt nicht auch noch du mit so einer Scheiße ankommen.«
Bosch nickte, und damit war genug gesagt. Er wusste, wann
er aufhören musste.
Die Adresse, die Gandle ihnen gegeben hatte, war im Siebzigerblock
der South Normandie Avenue. Nur ein paar Straßen
weiter befand sich die berüchtigte Kreuzung von Florence
und Normandie, wo von Fernsehhubschraubern einige
der verstörendsten Bilder der Unruhen von 1992
aufgenommen und in alle Welt übertragen worden waren.
Und diese Bilder schienen sich in den Köpfen vieler festgesetzt
zu haben, wenn sie an Los Angeles dachten.
Aber Bosch merkte rasch, dass er die Gegend und den Getränkemarkt,
zu dem sie unterwegs waren, von anderen Unruhen
und aus einem anderen Grund kannte.
Fortune Liquors war bereits mit gelbem Tatort-Tape abgesperrt.
Es hatte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger gebildet,
auch wenn in dieser Gegend ein Mord nichts Besonderes
war. So etwas hatten die Leute hier schon zur Genüge zu
sehen bekommen. Bosch hielt in einer Gruppe von drei
Streifenwagen und stieg aus. Nachdem er seine Aktentasche
aus dem Kofferraum geholt hatte, schloss er den Wagen ab
und ging auf die Absperrung zu.
Bosch und Ferras nannten dem Streifenpolizisten mit dem
Tatort-Logbuch Namen und Dienstnummer, dann duckten
sie sich unter dem Band durch. Als sie auf den Eingang des
Getränkemarkts zugingen, zog Bosch ein Streichholzbriefchen
aus seiner rechten Jackentasche. Es war alt und abgenutzt.
Auf dem Deckel stand FORTUNE LIQUORS, und
darunter war die Adresse des kleinen gelben Baus vor ihnen
angegeben. Er klappte das Heftchen mit dem Daumen auf.
Es fehlte nur ein Streichholz, und auf der Innenseite des
Deckels stand der Spruch, der in keinem dieser Briefchen
fehlte:
Glücklich der Mann, der
Zuflucht in sich selbst findet.
Bosch trug das Streichholzbriefchen schon über zehn Jahre
mit sich herum. Nicht so sehr wegen des Spruchs - auch
wenn er ihn zutreffend fand -, sondern wegen des fehlenden
Streichholzes und woran es ihn erinnerte.
»Was ist, Harry?«, fragte Ferras.
Bosch merkte, dass er kurz stehen geblieben war.
»Nichts. Es ist nur, dass ich schon mal in dem Laden war.«
»Wann? Dienstlich?«
»Gewissermaßen. Ist aber schon lange her. Lass uns reingehen.«
Bosch trat an seinem Partner vorbei durch die offene Tür des
Getränkemarkts.
Drinnen standen mehrere Streifenpolizisten und ein Sergeant.
Der Laden war lang und schmal, mit dem Grundriss
eines Shotgun-Hauses, und nur vier Regalreihen breit. Bosch
konnte den Mittelgang zwischen den Regalen hinunter zu
einem Quergang und einer offenen Hintertür sehen, die auf
einen kleinen Parkplatz hinausführte. Die Kühlvitrinen mit
den kalten Getränken verliefen entlang der linken Seitenwand
und dann quer an der Rückwand des Ladens. Die Spirituosen
befanden sich im rechten Gang, und der Mittelgang
war den Weinen vorbehalten, roter rechts, weißer links.
Im hinteren Teil des Ladens sah Bosch zwei weitere Streifenpolizisten
stehen, und er vermutete, dass sie dort hinten in
einem Lager oder Büro den Zeugen festhielten. Er stellte seine
Aktentasche neben der Tür auf den Boden, zog zwei Paar
Gummihandschuhe aus seiner Anzugjacke und reichte eines
Ferras. Sie streiften sich die Handschuhe über.
Der Sergeant merkte, dass die beiden Detectives eingetroffen
waren. Er löste sich von seinen Männern und kam auf sie zu.
»Ray Lucas«, sagte er statt eines Grußes. »Das Opfer liegt
hinter dem Ladentisch. Sein Name ist John Li, L-I geschrieben.
Dürfte noch keine zwei Stunden her sein. Sieht nach
einem Raubüberfall aus, bei dem der Täter keine Zeugen
wollte. Viele von uns hier unten im Siebenundsiebzigsten
kannten Mr. Li. Netter alter Mann.«
Lucas winkte Bosch und Ferras zum Ladentisch. Um nichts
mit seinem Jackett zu berühren, hielt Bosch es eng an seinen
Körper, als er sich hinter den Ladentisch zwängte. Dann
ging er auf der kleinen Fläche dahinter wie ein Baseball-Catcher
in die Hocke, um sich den Toten auf dem Fußboden
genauer anzusehen. Ferras beugte sich wie ein Schiedsrichter
über ihn.
Das Opfer war ein etwa siebzigjähriger Asiate. Er lag auf
dem Rücken, und sein Blick war starr an die Decke gerichtet.
Seine Lippen waren von den zusammengebissenen Zähnen
zurückgezogen, es wirkte fast wie ein hämisches Grinsen.
Auf Lippen, Wangen und Kinn des Toten war Blut, das
er wahrscheinlich im Todeskampf ausgehustet hatte. Die
Vorderseite seines Hemds war blutgetränkt, und Bosch
konnte mindestens drei Einschusslöcher in seiner Brust erkennen.
Das rechte Bein war am Knie angewinkelt und in
einer unnatürlichen Stellung unter das andere Bein geknickt.
Anscheinend war der alte Mann an der Stelle zusammengebrochen,
an der er gestanden hatte, als ihn die tödlichen
Schüsse getroffen hatten.
»Keine Hülsen, soweit wir gesehen haben«, berichtete Lucas.
»Wahrscheinlich hat der Täter sie eingesammelt, und
dann war er auch noch so schlau, die DVD aus der Anlage
hinten zu nehmen.«
Bosch nickte. Die Kollegen von der Streife wollten immer
helfen, aber das waren lauter Informationen, die Bosch noch
nicht brauchte und die irreführend sein konnten.
»Außer er hatte einen Revolver. Dann hätte er keine Hülsen
einsammeln müssen.«
»Schon klar«, meinte Lucas. »Bloß sind hier unten nicht allzu
viele Revolver in Umlauf. Wer will bei einem Drive-by-
Shooting schon mit nur sechs Kugeln in seiner Knarre erwischt
werden.«
Lucas wollte Bosch zeigen, dass er wusste, was hier unten in
South L. A. Sache war. Bosch war nur auf Besuch hier.
»Ich werde es mir merken«, sagte Bosch.
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Opfer
und blickte sich wortlos um. Er war sich ziemlich sicher,
dass der Tote derselbe Mann war, dem er vor vielen Jahren in
diesem Laden begegnet war. Er befand sich sogar an derselben
Stelle wie damals, hinter dem Ladentisch. Und Bosch
konnte ein Päckchen Zigaretten in seiner Hemdtasche stecken
sehen.
Ihm fi el auf, dass die rechte Hand des Toten voll Blut war.
Das war nicht weiter ungewöhnlich. Es war eine ganz normale
menschliche Reaktion, die Hände auf eine Verletzung
zu legen, um sie zu schützen und die Heilung zu beschleunigen.
Ein angeborener Instinkt. Entsprechend hatte wahrscheinlich
auch der Inhaber des Getränkemarkts an seine
Brust gefasst, als ihn der erste Schuss getroffen hatte. Der
Abstand zwischen den Schusswunden, die ein Dreieck bildeten,
betrug jeweils etwa zwölf Zentimeter. Bosch wusste,
dass drei aus nächster Nähe rasch hintereinander abgefeuerte
Schüsse normalerweise anders angeordnet waren. Daraus
schloss er, dass zunächst nur ein Schuss auf das Opfer abgegeben
worden war, und als der alte Mann daraufhin zu
Boden ging, hatte sich der Täter wahrscheinlich über den
Ladentisch gebeugt und zwei weitere Male auf ihn geschossen.
Und das war der Grund für die Streuung.
Die Kugeln hatten die Brust des Opfers durchschlagen und
Herz und Lunge massiv geschädigt. Das durch den Mund
ausgetretene Blut war ein Zeichen dafür, dass der Tod nicht
sofort eingetreten war. Das Opfer hatte noch zu atmen versucht.
In all den Jahren als Mordermittler hatte Bosch zumindest
eines gelernt. So etwas wie einen leichten Tod gab es
nicht.
»Kein Kopfschuss«, sagte Bosch.
»Richtig«, stimmte Ferras zu. »Was bedeutet das?«
Bosch merkte, dass er laut nachgedacht hatte.
»Vielleicht gar nichts. Bei drei Schüssen in die Brust möchte
man eigentlich meinen, der Täter wollte auf Nummer sicher
gehen. Aber warum dann keinen Kopfschuss?«
»Das ist ein gewisser Widerspruch.«
»Vielleicht.«
Erst jetzt wandte Bosch den Blick von der Leiche ab und
schaute sich aus seinem niedrigen Blickwinkel um. Dabei
stach ihm sofort die Pistole ins Auge, die in einem an der
Unterseite des Ladentischs angebrachten Holster steckte.
Dort wäre sie bei einem Überfall leicht zugänglich gewesen,
aber sie war nicht einmal ein Stück hervorgezogen worden.
»Hier drunter steckt eine Pistole«, sagte Bosch. »Sieht nach
einer Fünfundvierziger in einem Holster aus. Aber der alte
Mann kam nicht mehr dazu, sie zu ziehen.«
»Wahrscheinlich ist der Täter reingekommen und hat den
Alten erschossen, bevor er nach seiner Kanone greifen konnte
«, vermutete Ferras. »Vielleicht war in dem Viertel hier sogar
bekannt, dass der Alte eine Kanone unter dem Ladentisch
hatte.«
Lucas machte mit dem Mund ein Geräusch, als wäre er anderer
Meinung.
»Was ist, Sergeant?«, fragte Bosch.
»Die Pistole muss neu sein«, sagte Lucas. »In den fünf Jahren,
die ich inzwischen hier bin, ist der Mann mindestens
sechsmal überfallen worden. Soweit ich weiß, hat er nie zur
Waffe gegriffen. Das ist das erste Mal, dass ich überhaupt
etwas von einer Pistole höre.«
Bosch nickte. Das war eine hilfreiche Beobachtung. Er drehte
den Kopf, um den Sergeant über seine Schulter hinweg zu
fragen:
»Was können Sie mir über den Zeugen sagen?«
»Äh, sie ist eigentlich keine richtige Zeugin«, erwiderte Lucas.
»Es ist Mrs. Li, die Frau des Opfers. Sie kam in den Laden,
um ihm sein Essen zu bringen, und dann fand sie ihn.
Sie ist im Hinterzimmer, aber Sie werden einen Dolmetscher
brauchen. Wir haben bei der ACU angerufen und einen Chinesen
angefordert.«
Bosch schaute noch einmal in das Gesicht des Toten, und als
er sich danach aufrichtete, gaben beide Knie ein lautes Knacken
von sich. Mit ACU hatte Lucas die Asian Crimes Unit
gemeint. Sie war vor kurzem in Asian Gang Unit umbenannt
worden, um nicht den Eindruck zu erwecken, mit dieser Bezeichnung
die asiatischen Mitbürger verunglimpfen zu wollen,
weil der Name suggerierte, alle Asiaten seien kriminell.
Aber alte Hasen wie Lucas nannten sie immer noch ACU.
Ungeachtet des Namens oder der Abkürzung hätte jedoch
die Entscheidung, einen zusätzlichen Ermittler egal welcher
Art hinzuzuziehen, Bosch als Leiter der Ermittlungen überlassen
bleiben sollen.
»Sprechen Sie Chinesisch, Sarge?«
»Nein, deshalb habe ich die ACU angerufen.«
»Woher wussten Sie dann, dass Sie einen Chinesen anfordern
müssen und keinen Koreaner oder Vietnamesen?«
»Ich mache diesen Job jetzt schon sechsundzwanzig Jahre,
Detective, und ...«
»Und Sie erkennen einen Chinesen vom bloßen Ansehen.«
»Nein, was ich damit sagen will, ist, dass es mir zunehmend
schwerer fällt, meine Schicht durchzustehen, ohne mich
zwischendurch ein bisschen zu dopen, wenn Sie verstehen,
was ich meine. Deshalb komme ich einmal am Tag hier vorbei,
um mir einen dieser Energy Drinks zu kaufen. Hält einen
fünf Stunden auf Zack. Jedenfalls habe ich Mr. Li im
Zug meiner Besuche hier etwas näher kennengelernt. Er hat
mir erzählt, dass er und seine Frau aus China kommen, und
deshalb weiß ich das.«
Bosch nickte und schämte sich ein wenig für seine Versuche,
Lucas zu blamieren.
»Dann sollte ich vielleicht auch mal so einen Energy Drink
probieren«, sagte er. »Hat Mrs. Li Sie verständigt?«
»Nein. Sie spricht, wie gesagt, kaum Englisch. Soviel ich von
der Zentrale mitbekommen habe, hat Mrs. Li ihren Sohn angerufen,
und er hat dann uns verständigt.«
Bosch kam hinter dem Ladentisch hervor. Ferras blieb dahinter
und ging in die Hocke, um sich den gleichen Blick auf
Leiche und Pistole zu verschaffen, den Bosch gerade gehabt
hatte.
»Wo ist der Sohn?«, fragte Bosch.
»Schon unterwegs, aber er arbeitet oben im Valley«, antwortete
Lucas. »Er müsste jeden Augenblick hier sein.«
Bosch deutete auf den Ladentisch.
»Weisen Sie Ihre Leute an, ihn erst mal nicht reinzulassen,
wenn er ankommt.«
»Alles klar.«
»Und dass hier im Laden möglichst alles so bleibt, wie es
war.«
Lucas schaltete sofort und schickte seine Leute aus dem Getränkemarkt.
Als Ferras hinter dem Ladentisch fertig war,
kam er zu Bosch, der am Eingang stand und zu der Überwachungskamera
hinaufschaute, die in der Mitte des Ladens an
der Decke angebracht war.
»Sieh dich doch mal hinten um«, sagte Bosch zu seinem
Partner. »Ob der Kerl die DVD tatsächlich rausgenommen
hat. Und wirf mal einen Blick zu unserer Zeugin rein.«
»Okay.«
»Ach, und sieh mal nach, wo der Thermostat ist, und dreh
ihn etwas runter. Viel zu warm hier drinnen. Nicht, dass der
Verwesungsprozess schon einsetzt.«
Ferras ging den Mittelgang hinunter. Bosch blickte sich um
und versuchte, sich einen Gesamteindruck von dem Getränkemarkt
zu verschaffen. Der Ladentisch war etwa dreieinhalb
Meter lang. Die Kasse befand sich in der Mitte neben
einer freien Fläche, auf der die Kunden ihre Einkäufe ablegen
konnten. Sie war auf einer Seite von Gestellen mit Kaugummis
und Süßigkeiten begrenzt. Auf der anderen Seite
der Kasse fanden sich Produkte wie Energy Drinks, ein
Plastikbehälter mit billigen Zigarren und ein Lottoschalter.
Von der Decke hing ein Maschendrahtbehälter mit Zigarettenstangen.
Hinter dem Ladentisch waren Regale mit hochpreisigen Spirituosen,
nach denen die Kunden fragen mussten. Bosch sah
sechs Reihen Hennessy. Er wusste, der teure Cognac war bei
Gangmitgliedern sehr beliebt, wenn sie es richtig krachen
lassen wollten, und er war sich ziemlich sicher, dass Fortune
Liquors auf dem Territorium der Hoover Street Criminals
lag, einer Gang, die einmal zu den Crips gehört hatte, dann
aber so mächtig geworden war, dass ihre Anführer beschlossen
hatten, sich selbständig zu machen.
Bosch fi elen zwei Dinge auf, und er stellte sich näher an den
Ladentisch.
Die Registrierkasse war verschoben worden, so dass da, wo
sie gestanden hatte, ein Viereck aus Staub und Wollmäusen
auf der Resopal-Oberfl äche zu sehen war. Daraus schloss
Bosch, dass sie der Mörder zu sich herumgedreht hatte, als
er das Geld aus der Schublade nahm. Das war insofern wichtig,
als es bedeutete, dass nicht Mr. Li die Kasse geöffnet und
dem Räuber das Geld gegeben hatte, sondern dass er zu diesem
Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot gewesen war. Möglicherweise
war Ferras' Theorie, dass der Mörder hereingekommen
war und sofort geschossen hatte, zutreffend. Und
das wiederum konnte sich als wichtig erweisen, wenn dem
Täter im Zug eines Strafverfahrens eine Tötungsabsicht
nachgewiesen werden sollte. Und noch wichtiger: Es verschaffte
Bosch einen besseren Eindruck vom Tathergang
und dem Tätertypus, nach dem sie suchen mussten.
Bosch holte seine Brille heraus, die er immer dann brauchte,
wenn er etwas aus der Nähe betrachten wollte. Er setzte sie
auf und beugte sich, ohne etwas zu berühren, über den Ladentisch,
um die Tastatur der Registrierkasse zu untersuchen.
Er entdeckte weder einen Knopf mit der Aufschrift
ÖFFNEN noch sonst einen Hinweis, wie sich die Kasse
bedienen ließ. Bosch hatte keine Ahnung, wie er sie aufbekommen
könnte. Er fragte sich, woher es der Täter gewusst
hatte.
Er richtete sich wieder auf und schaute auf das Wandregal
mit den Flaschen, das hinter dem Ladentisch angebracht
war. Es enthielt fast ausschließlich Hennessy, damit Mr. Li
den teuren Cognac sofort griffbereit hatte, wenn Hoover
Street-Mitglieder in den Laden kamen. Aber die Reihen waren
lückenlos. Keine Flasche fehlte.
Bosch beugte sich erneut über den Ladentisch, und diesmal
versuchte er, nach einer der Hennessy-Flaschen zu greifen.
Er merkte, dass er ohne weiteres an eine der Flaschen kommen
und sie aus dem Regal nehmen könnte, wenn er sich mit
der anderen Hand auf dem Ladentisch abstützte.
»Harry?«
Bosch richtete sich auf und drehte sich zu seinem Partner
um.
»Der Sergeant hatte recht«, sagte Ferras. »Die Aufnahmen
der Überwachungskamera werden auf DVD gespeichert.
Aber es ist keine Disc im Rekorder. Entweder hat sie jemand
verschwinden lassen, oder der Alte hat die Überwachungsvideos
gar nicht auf DVD gespeichert. Vielleicht diente die
Kamera nur zur Abschreckung.«
»Gibt es irgendwelche Back-up-DVDs?«
»Dort auf dem Ladentisch sind zwei, aber das Aufnahmegerät
speichert alles immer nur auf der Festplatte, und wenn sie
voll ist, fängt es wieder von vorn an und überspielt die alte
Aufnahme. Als ich noch bei Raubüberfällen war, hatten wir
ständig mit diesen Dingern zu tun. Sie reichen etwa einen
Tag, und wenn sie voll sind, werden die alten Aufnahmen
einfach überspielt. Wenn man also irgendwas nachsehen
will, muss man es noch am selben Tag tun.«
»Okay, aber sieh zu, dass wir alle vorhandenen DVDs auf
jeden Fall bekommen.«
Lucas kam wieder zur Tür herein.
»Die ACU ist hier«, sagte er. »Soll ich ihn reinschicken?«
Bosch sah Lucas eine Weile an, bevor er antwortete.
»Es heißt AGU«, entgegnete er schließlich. »Aber schicken
Sie ihn nicht rein. Ich komme gleich raus.«
Knaur Taschenbuch Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
»Nine Dragons« bei Little, Brown and Company, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe April 2011
Copyright © 2009 by Hieronymus, Inc.
This edition published by arrangement with Little, Brown
and Company, New York, USA. All rights reserved.
Copyright © 2011 für die deutschsprachige Ausgabe bei
Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kirsten Reimers
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: © Gettyimages / Jonathan Knowles
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50789-6
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Harry Bosch schaute über den Gang in das Abteil
seines Partners und beobachtete ihn bei seinem täglichen Ritual:
die Kanten der Aktenstapel ausrichten, den Schreibkram
aus der Mitte des Schreibtisches räumen und zum
Schluss die ausgespülte Kaffeetasse in die Schreibtischschublade
stellen. Bosch sah auf die Uhr. Es war erst zwanzig vor
vier. Wie es schien, begann Ignacio Ferras mit seinem Ritual
jeden Tag ein, zwei Minuten früher als am Tag zuvor. Es war
erst Dienstag, der Tag nach dem verlängerten Labor-Day-
Wochenende und der Anfang einer kurzen Woche, und
schon wieder legte es Ferras auf einen frühen Dienstschluss
an. Eingeleitet wurde das Ritual immer von einem Anruf
von zu Hause. Dort wartete eine Ehefrau mit einem kleinen
Kind und neugeborenen Zwillingen. Sie hatte die Uhr im
Auge wie ein Süßwarenladenbesitzer die dicken Kids. Sie
brauchte die Entlastung, und dafür brauchte sie ihren Mann
zu Hause. Obwohl der Gang Bosch von seinem Partner
trennte und die Arbeitsplätze im neuen Bereitschaftsraum
mit einem Meter zwanzig hohen Schallschutzwänden voneinander
abgeschottet waren, bekam er normalerweise beide
Seiten dieser Anrufe mit. Sie begannen immer mit: »Wann
kommst du nach Hause?«
Als an Ferras' Arbeitsplatz alles seine Ordnung hatte, schaute
er zu Bosch herüber.
»Ich mache mich dann mal auf den Weg, Harry. Bevor der
Feierabendverkehr einsetzt. Es stehen noch verschiedene
Rückrufe aus, aber die haben alle meine Handynummer.
Deswegen extra hierzubleiben brächte nichts.«
Ferras rieb sich beim Sprechen die linke Schulter. Auch das
war Teil des Rituals. Damit erinnerte er Bosch unausgespro-
chen daran, dass er an dieser Stelle vor zwei Jahren eine Kugel
abbekommen und sich den frühen Dienstschluss verdient
hatte.
Bosch nickte bloß. Es ging eigentlich nicht darum, wann
sein Partner Feierabend machte oder was er sich verdient
hatte. Es ging um seine Einsatzbereitschaft für die Mission
Mordaufklärung und ob sie zu spüren wäre, wenn sie endlich
zu ihrem nächsten Einsatz gerufen würden.
Ferras hatte neun Monate Physiotherapie und Reha durchlaufen,
bevor er sich zum Dienst zurückgemeldet hatte. Allerdings
war er in dem Jahr, das seitdem vergangen war, seinen
Aufgaben als Ermittler mit einem Widerstreben nachgekommen,
für das Bosch zusehends weniger Verständnis
aufbrachte. Er war nicht engagiert, und Bosch war es leid,
auf ihn zu warten.
Er war es auch leid, auf ein neues Mordopfer zu warten. Es
war vier Wochen her, dass sie den letzten Fall an Land gezogen
hatten, und die spätsommerliche Hitzephase war schon
ziemlich weit fortgeschritten. Bosch wusste: So sicher, wie
die Santa-Ana-Winde die Bergpässe heruntergeweht kämen,
käme auch ein neues Mordopfer.
Ferras stand auf und schloss seinen Schreibtisch ab. Gerade
als er sein Sakko von der Stuhllehne nahm, sah Bosch Larry
Gandle von seinem Büro am anderen Ende des Bereitschaftsraums
auf sie zukommen. Als der Ranghöhere der beiden
Partner hatte sich Bosch sein Abteil als Erster aussuchen
dürfen, als die Robbery-Homicide Division einen Monat
zuvor aus dem maroden Parker Center in das neue Police
Administration Building umgezogen war. Die meisten 3er
Detectives hatten Abteile genommen, von denen man auf
die Fenster mit Blick auf die City Hall sehen konnte. Bosch
hatte sich für das Gegenteil entschieden. Er hatte seinem
Partner die Aussicht überlassen und das Abteil gewählt, von
dem aus er mitbekam, was sich im Bereitschaftsraum tat.
Jetzt sah er den Lieutenant auf sie zukommen, und ihm war
sofort klar, dass sein Partner diesmal nicht früh nach Hause
ginge.
Gandle hatte einen von einem Notizblock gerissenen Zettel
in der Hand und etwas Federndes in seinem Schritt. Das verriet
Bosch, dass das Warten ein Ende hatte. Ein Einsatz stand
an. Ein neues Mordopfer. Bosch stemmte sich aus seinem
Stuhl hoch.
»Bosch und Ferras, Sie sind dran«, sagte Gandle, als er sie
erreichte. »Sie müssen mir fürs South Bureau einen Fall
übernehmen.«
Bosch sah die Schultern seines Partners nach unten sacken.
Ohne sich darum zu kümmern, griff er nach dem Zettel, den
Gandle ihm entgegenhielt. Er schaute auf die Adresse, die
darauf stand. South Normandie. Dort war er schon mal gewesen.
»Ein Getränkemarkt«, sagte Gandle. »Hinter dem Ladentisch
liegt ein Mann, die Streife hält einen Zeugen fest. Das
ist alles, was ich habe. Können Sie das übernehmen?«
»Können wir«, erwiderte Bosch, bevor sein Partner protestieren
konnte.
Aber es nützte nichts.
»Lieutenant, wir sind hier bei Homicide Special.« Ferras
drehte sich um und deutete auf den Keilerkopf über der Tür
des Bereitschaftsraums. »Wieso sollen wir einen Überfall auf
einen Liquor Store übernehmen? Sie wissen genau, das können
nur irgendwelche Ghetto-Kids gewesen sein, und so etwas
haben die Jungs vom South Bureau noch vor Mitternacht
unter Dach und Fach - oder zumindest wissen sie bis
dahin den Namen des Täters.«
Damit hatte Ferras nicht ganz unrecht. Homicide Special
war für die schwierigen und komplizierten Fälle zuständig.
Es war eine Eliteeinheit, die sich mit dem unnachsichtigen
Riecher eines Ebers, der im Dreck nach Trüffeln wühlte, die
schwierigen Fälle vornahm. Ein Überfall auf einen Getränkemarkt
im tiefsten Ghetto fi el da kaum darunter.
In einer Geste, die keinerlei Verständnis signalisierte, breitete
Gandle, mit seiner Glatze und dem Dauerflunsch der Inbegriff
des Schreibtischhengstes, die Hände aus.
»Ich habe doch bei der Besprechung letzte Woche allen gesagt:
Wir müssen South diese Woche aushelfen. Sie haben
zurzeit nur ein Rumpfteam zur Verfügung, weil alle anderen
bis zum Vierzehnten auf Mordlehrgang sind. Drei Fälle
haben sie übers Wochenende reinbekommen und einen heute
Morgen. Damit ist das Rumpfteam ausgelastet. Deshalb
sind jetzt Sie beide dran, und der Überfall gehört Ihnen. So
einfach ist das. Noch Fragen? Die Streife wartet mit einem
Zeugen.«
»Wir können los, Boss«, sagte Bosch, um die Diskussion zu
beenden.
»Und Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?«
Damit kehrte Gandle in sein Büro zurück. Bosch nahm sein
Sakko von der Stuhllehne, schlüpfte hinein und öffnete die
mittlere Schublade seines Schreibtisches. Dann zog er die lederne
Notizblockhülle aus seiner Gesäßtasche und ersetzte
den linierten Block darin durch einen neuen. Ein neuer Mord
bekam immer einen neuen Block. Das war sein Ritual. Er
sah kurz auf die Detective-Dienstmarke, die in die lederne
Hülle geprägt war, und steckte sie in die Gesäßtasche zurück.
Ihm war egal, was für ein Fall es war. Hauptsache, ein
Fall. Es war wie mit allem anderen. Man kam nur aus der
Übung und verlor den Biss. Das wollte Bosch nicht.
Ferras hatte die Hände an die Hüften gestemmt und schaute
zu der Uhr an der Wand über den Anschlagtafeln hinauf.
»Scheiße«, zischte er. »Jedes Mal wir.«
»Was heißt hier ›jedes Mal wir‹?«, entgegnete Bosch. »Wir
haben schon einen Monat keinen Fall mehr bekommen.«
»Na ja, daran hatte ich mich eben gewöhnt.«
»Also, wenn du keine Morde machen willst, gibt es immer
noch Autodiebstähle. Da kannst du jeden Tag Punkt fünf
nach Hause gehen.«
»Klar, genau.«
»Dann lass uns mal gehen.«
Bosch verließ sein Abteil und ging in Richtung Tür. Ferras
folgte ihm und holte sein Handy heraus, um seine Frau anzurufen
und ihr die schlechte Nachricht zu überbringen.
Auf dem Weg nach draußen hoben beide Männer die Hand
und tätschelten den kurzen Rüssel des Ebers, damit er ihnen
Glück brächte.
2
Bosch brauchte Ferras auf der Fahrt nach South L. A.
keine Standpauke zu halten. Sein Schweigen war Standpauke
genug. Sein junger Partner schien unter dem Druck dessen,
was nicht gesagt wurde, immer weiter einzuknicken, und irgendwann
konnte er einfach nicht mehr an sich halten.
»Das macht mich noch total wahnsinnig«, platzte es aus ihm
heraus.
»Was?«, fragte Bosch.
»Die Zwillinge. Sie machen irrsinnig viel Arbeit, und dazu
dieses ständige Geplärre. Der reinste Dominoeffekt. Einer
wacht auf, und davon wird dann der andere wach. Und davon
wacht dann auch der Große auf. Niemand kommt noch
zum Schlafen, und meine Frau fängt langsam an ...«
»Was?«
»Ich weiß auch nicht, sie dreht einfach allmählich durch.
Ständig ruft sie mich an und will wissen, wann ich nach
Hause komme. Also komme ich nach Hause und kriege
prompt gleich als Erstes die Jungs aufgedrückt. Ich komme
einfach nicht dazu, mal abzuschalten. Immer nur Arbeit,
Kinder, Arbeit, Kinder, Arbeit, Kinder. Jeden Tag.«
»Nehmt euch doch ein Kindermädchen.«
»Ein Kindermädchen können wir uns nicht leisten. Jedenfalls
nicht in der momentanen Situation. Überstunden bekommen
wir ja auch keine mehr bezahlt.«
Bosch wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Tochter Madeline
war vor einem Monat dreizehn geworden und wohnte
fast zehntausend Meilen von ihm entfernt. Er war nie direkt
daran beteiligt gewesen, sie aufzuziehen. Er sah sie vier Wochen
im Jahr - zwei davon in Hongkong und zwei in L. A. -,
und damit hatte es sich. Wer war er also, einem Vollzeitvater
mit drei kleinen Kindern, darunter Zwillinge, gute Ratschläge
zu erteilen?
»Tja, was soll ich dazu sagen? Du weißt, du kannst voll auf
meine Unterstützung zählen. Ich tue, was ich kann, wenn es
irgendwie möglich ist. Aber ...«
»Ich weiß, Harry. Ich weiß das durchaus zu schätzen. Es ist
nur das erste Jahr mit den Zwillingen, verstehst du? Wenn sie
ein bisschen älter werden, wird alles wesentlich leichter.«
»Schon, aber was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass es
vielleicht nicht nur an den Zwillingen liegt. Vielleicht liegt es
auch an dir, Ignacio.«
»An mir? Was soll das jetzt wieder heißen?«
»Es soll heißen, dass es vielleicht an dir liegt. Vielleicht bist
du zu früh zurückgekommen - hast du dir darüber schon
mal Gedanken gemacht?«
Ferras zog einen Flunsch und antwortete nicht.
»Ich meine, so was soll vorkommen«, fuhr Bosch fort. »Es
hat dich einmal erwischt, und schon fängst du an, dir Gedanken
zu machen, ob der Blitz ein zweites Mal einschlagen könnte.«
»Also wirklich, Harry, was soll das jetzt wieder für ein
Scheiß? Was das angeht, habe ich nun echt keine Probleme.
Nicht die geringsten. Ich rede hier von chronischem Schlafmangel
und dass ich total auf dem Zahnfl eisch gehe und einfach
nicht dazu komme, mich wieder zu berappeln, weil mir
sofort meine Frau auf die Pelle rückt, kaum dass ich nach
Hause komme, verstehst du?«
»Na ja, das musst du schließlich am besten wissen, Partner.«
»Genau, Partner. Das muss ich am besten wissen. Glaub mir,
ich kann mir schon von ihr genügend anhören. Da brauchst
jetzt nicht auch noch du mit so einer Scheiße ankommen.«
Bosch nickte, und damit war genug gesagt. Er wusste, wann
er aufhören musste.
Die Adresse, die Gandle ihnen gegeben hatte, war im Siebzigerblock
der South Normandie Avenue. Nur ein paar Straßen
weiter befand sich die berüchtigte Kreuzung von Florence
und Normandie, wo von Fernsehhubschraubern einige
der verstörendsten Bilder der Unruhen von 1992
aufgenommen und in alle Welt übertragen worden waren.
Und diese Bilder schienen sich in den Köpfen vieler festgesetzt
zu haben, wenn sie an Los Angeles dachten.
Aber Bosch merkte rasch, dass er die Gegend und den Getränkemarkt,
zu dem sie unterwegs waren, von anderen Unruhen
und aus einem anderen Grund kannte.
Fortune Liquors war bereits mit gelbem Tatort-Tape abgesperrt.
Es hatte sich eine kleine Gruppe Schaulustiger gebildet,
auch wenn in dieser Gegend ein Mord nichts Besonderes
war. So etwas hatten die Leute hier schon zur Genüge zu
sehen bekommen. Bosch hielt in einer Gruppe von drei
Streifenwagen und stieg aus. Nachdem er seine Aktentasche
aus dem Kofferraum geholt hatte, schloss er den Wagen ab
und ging auf die Absperrung zu.
Bosch und Ferras nannten dem Streifenpolizisten mit dem
Tatort-Logbuch Namen und Dienstnummer, dann duckten
sie sich unter dem Band durch. Als sie auf den Eingang des
Getränkemarkts zugingen, zog Bosch ein Streichholzbriefchen
aus seiner rechten Jackentasche. Es war alt und abgenutzt.
Auf dem Deckel stand FORTUNE LIQUORS, und
darunter war die Adresse des kleinen gelben Baus vor ihnen
angegeben. Er klappte das Heftchen mit dem Daumen auf.
Es fehlte nur ein Streichholz, und auf der Innenseite des
Deckels stand der Spruch, der in keinem dieser Briefchen
fehlte:
Glücklich der Mann, der
Zuflucht in sich selbst findet.
Bosch trug das Streichholzbriefchen schon über zehn Jahre
mit sich herum. Nicht so sehr wegen des Spruchs - auch
wenn er ihn zutreffend fand -, sondern wegen des fehlenden
Streichholzes und woran es ihn erinnerte.
»Was ist, Harry?«, fragte Ferras.
Bosch merkte, dass er kurz stehen geblieben war.
»Nichts. Es ist nur, dass ich schon mal in dem Laden war.«
»Wann? Dienstlich?«
»Gewissermaßen. Ist aber schon lange her. Lass uns reingehen.«
Bosch trat an seinem Partner vorbei durch die offene Tür des
Getränkemarkts.
Drinnen standen mehrere Streifenpolizisten und ein Sergeant.
Der Laden war lang und schmal, mit dem Grundriss
eines Shotgun-Hauses, und nur vier Regalreihen breit. Bosch
konnte den Mittelgang zwischen den Regalen hinunter zu
einem Quergang und einer offenen Hintertür sehen, die auf
einen kleinen Parkplatz hinausführte. Die Kühlvitrinen mit
den kalten Getränken verliefen entlang der linken Seitenwand
und dann quer an der Rückwand des Ladens. Die Spirituosen
befanden sich im rechten Gang, und der Mittelgang
war den Weinen vorbehalten, roter rechts, weißer links.
Im hinteren Teil des Ladens sah Bosch zwei weitere Streifenpolizisten
stehen, und er vermutete, dass sie dort hinten in
einem Lager oder Büro den Zeugen festhielten. Er stellte seine
Aktentasche neben der Tür auf den Boden, zog zwei Paar
Gummihandschuhe aus seiner Anzugjacke und reichte eines
Ferras. Sie streiften sich die Handschuhe über.
Der Sergeant merkte, dass die beiden Detectives eingetroffen
waren. Er löste sich von seinen Männern und kam auf sie zu.
»Ray Lucas«, sagte er statt eines Grußes. »Das Opfer liegt
hinter dem Ladentisch. Sein Name ist John Li, L-I geschrieben.
Dürfte noch keine zwei Stunden her sein. Sieht nach
einem Raubüberfall aus, bei dem der Täter keine Zeugen
wollte. Viele von uns hier unten im Siebenundsiebzigsten
kannten Mr. Li. Netter alter Mann.«
Lucas winkte Bosch und Ferras zum Ladentisch. Um nichts
mit seinem Jackett zu berühren, hielt Bosch es eng an seinen
Körper, als er sich hinter den Ladentisch zwängte. Dann
ging er auf der kleinen Fläche dahinter wie ein Baseball-Catcher
in die Hocke, um sich den Toten auf dem Fußboden
genauer anzusehen. Ferras beugte sich wie ein Schiedsrichter
über ihn.
Das Opfer war ein etwa siebzigjähriger Asiate. Er lag auf
dem Rücken, und sein Blick war starr an die Decke gerichtet.
Seine Lippen waren von den zusammengebissenen Zähnen
zurückgezogen, es wirkte fast wie ein hämisches Grinsen.
Auf Lippen, Wangen und Kinn des Toten war Blut, das
er wahrscheinlich im Todeskampf ausgehustet hatte. Die
Vorderseite seines Hemds war blutgetränkt, und Bosch
konnte mindestens drei Einschusslöcher in seiner Brust erkennen.
Das rechte Bein war am Knie angewinkelt und in
einer unnatürlichen Stellung unter das andere Bein geknickt.
Anscheinend war der alte Mann an der Stelle zusammengebrochen,
an der er gestanden hatte, als ihn die tödlichen
Schüsse getroffen hatten.
»Keine Hülsen, soweit wir gesehen haben«, berichtete Lucas.
»Wahrscheinlich hat der Täter sie eingesammelt, und
dann war er auch noch so schlau, die DVD aus der Anlage
hinten zu nehmen.«
Bosch nickte. Die Kollegen von der Streife wollten immer
helfen, aber das waren lauter Informationen, die Bosch noch
nicht brauchte und die irreführend sein konnten.
»Außer er hatte einen Revolver. Dann hätte er keine Hülsen
einsammeln müssen.«
»Schon klar«, meinte Lucas. »Bloß sind hier unten nicht allzu
viele Revolver in Umlauf. Wer will bei einem Drive-by-
Shooting schon mit nur sechs Kugeln in seiner Knarre erwischt
werden.«
Lucas wollte Bosch zeigen, dass er wusste, was hier unten in
South L. A. Sache war. Bosch war nur auf Besuch hier.
»Ich werde es mir merken«, sagte Bosch.
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Opfer
und blickte sich wortlos um. Er war sich ziemlich sicher,
dass der Tote derselbe Mann war, dem er vor vielen Jahren in
diesem Laden begegnet war. Er befand sich sogar an derselben
Stelle wie damals, hinter dem Ladentisch. Und Bosch
konnte ein Päckchen Zigaretten in seiner Hemdtasche stecken
sehen.
Ihm fi el auf, dass die rechte Hand des Toten voll Blut war.
Das war nicht weiter ungewöhnlich. Es war eine ganz normale
menschliche Reaktion, die Hände auf eine Verletzung
zu legen, um sie zu schützen und die Heilung zu beschleunigen.
Ein angeborener Instinkt. Entsprechend hatte wahrscheinlich
auch der Inhaber des Getränkemarkts an seine
Brust gefasst, als ihn der erste Schuss getroffen hatte. Der
Abstand zwischen den Schusswunden, die ein Dreieck bildeten,
betrug jeweils etwa zwölf Zentimeter. Bosch wusste,
dass drei aus nächster Nähe rasch hintereinander abgefeuerte
Schüsse normalerweise anders angeordnet waren. Daraus
schloss er, dass zunächst nur ein Schuss auf das Opfer abgegeben
worden war, und als der alte Mann daraufhin zu
Boden ging, hatte sich der Täter wahrscheinlich über den
Ladentisch gebeugt und zwei weitere Male auf ihn geschossen.
Und das war der Grund für die Streuung.
Die Kugeln hatten die Brust des Opfers durchschlagen und
Herz und Lunge massiv geschädigt. Das durch den Mund
ausgetretene Blut war ein Zeichen dafür, dass der Tod nicht
sofort eingetreten war. Das Opfer hatte noch zu atmen versucht.
In all den Jahren als Mordermittler hatte Bosch zumindest
eines gelernt. So etwas wie einen leichten Tod gab es
nicht.
»Kein Kopfschuss«, sagte Bosch.
»Richtig«, stimmte Ferras zu. »Was bedeutet das?«
Bosch merkte, dass er laut nachgedacht hatte.
»Vielleicht gar nichts. Bei drei Schüssen in die Brust möchte
man eigentlich meinen, der Täter wollte auf Nummer sicher
gehen. Aber warum dann keinen Kopfschuss?«
»Das ist ein gewisser Widerspruch.«
»Vielleicht.«
Erst jetzt wandte Bosch den Blick von der Leiche ab und
schaute sich aus seinem niedrigen Blickwinkel um. Dabei
stach ihm sofort die Pistole ins Auge, die in einem an der
Unterseite des Ladentischs angebrachten Holster steckte.
Dort wäre sie bei einem Überfall leicht zugänglich gewesen,
aber sie war nicht einmal ein Stück hervorgezogen worden.
»Hier drunter steckt eine Pistole«, sagte Bosch. »Sieht nach
einer Fünfundvierziger in einem Holster aus. Aber der alte
Mann kam nicht mehr dazu, sie zu ziehen.«
»Wahrscheinlich ist der Täter reingekommen und hat den
Alten erschossen, bevor er nach seiner Kanone greifen konnte
«, vermutete Ferras. »Vielleicht war in dem Viertel hier sogar
bekannt, dass der Alte eine Kanone unter dem Ladentisch
hatte.«
Lucas machte mit dem Mund ein Geräusch, als wäre er anderer
Meinung.
»Was ist, Sergeant?«, fragte Bosch.
»Die Pistole muss neu sein«, sagte Lucas. »In den fünf Jahren,
die ich inzwischen hier bin, ist der Mann mindestens
sechsmal überfallen worden. Soweit ich weiß, hat er nie zur
Waffe gegriffen. Das ist das erste Mal, dass ich überhaupt
etwas von einer Pistole höre.«
Bosch nickte. Das war eine hilfreiche Beobachtung. Er drehte
den Kopf, um den Sergeant über seine Schulter hinweg zu
fragen:
»Was können Sie mir über den Zeugen sagen?«
»Äh, sie ist eigentlich keine richtige Zeugin«, erwiderte Lucas.
»Es ist Mrs. Li, die Frau des Opfers. Sie kam in den Laden,
um ihm sein Essen zu bringen, und dann fand sie ihn.
Sie ist im Hinterzimmer, aber Sie werden einen Dolmetscher
brauchen. Wir haben bei der ACU angerufen und einen Chinesen
angefordert.«
Bosch schaute noch einmal in das Gesicht des Toten, und als
er sich danach aufrichtete, gaben beide Knie ein lautes Knacken
von sich. Mit ACU hatte Lucas die Asian Crimes Unit
gemeint. Sie war vor kurzem in Asian Gang Unit umbenannt
worden, um nicht den Eindruck zu erwecken, mit dieser Bezeichnung
die asiatischen Mitbürger verunglimpfen zu wollen,
weil der Name suggerierte, alle Asiaten seien kriminell.
Aber alte Hasen wie Lucas nannten sie immer noch ACU.
Ungeachtet des Namens oder der Abkürzung hätte jedoch
die Entscheidung, einen zusätzlichen Ermittler egal welcher
Art hinzuzuziehen, Bosch als Leiter der Ermittlungen überlassen
bleiben sollen.
»Sprechen Sie Chinesisch, Sarge?«
»Nein, deshalb habe ich die ACU angerufen.«
»Woher wussten Sie dann, dass Sie einen Chinesen anfordern
müssen und keinen Koreaner oder Vietnamesen?«
»Ich mache diesen Job jetzt schon sechsundzwanzig Jahre,
Detective, und ...«
»Und Sie erkennen einen Chinesen vom bloßen Ansehen.«
»Nein, was ich damit sagen will, ist, dass es mir zunehmend
schwerer fällt, meine Schicht durchzustehen, ohne mich
zwischendurch ein bisschen zu dopen, wenn Sie verstehen,
was ich meine. Deshalb komme ich einmal am Tag hier vorbei,
um mir einen dieser Energy Drinks zu kaufen. Hält einen
fünf Stunden auf Zack. Jedenfalls habe ich Mr. Li im
Zug meiner Besuche hier etwas näher kennengelernt. Er hat
mir erzählt, dass er und seine Frau aus China kommen, und
deshalb weiß ich das.«
Bosch nickte und schämte sich ein wenig für seine Versuche,
Lucas zu blamieren.
»Dann sollte ich vielleicht auch mal so einen Energy Drink
probieren«, sagte er. »Hat Mrs. Li Sie verständigt?«
»Nein. Sie spricht, wie gesagt, kaum Englisch. Soviel ich von
der Zentrale mitbekommen habe, hat Mrs. Li ihren Sohn angerufen,
und er hat dann uns verständigt.«
Bosch kam hinter dem Ladentisch hervor. Ferras blieb dahinter
und ging in die Hocke, um sich den gleichen Blick auf
Leiche und Pistole zu verschaffen, den Bosch gerade gehabt
hatte.
»Wo ist der Sohn?«, fragte Bosch.
»Schon unterwegs, aber er arbeitet oben im Valley«, antwortete
Lucas. »Er müsste jeden Augenblick hier sein.«
Bosch deutete auf den Ladentisch.
»Weisen Sie Ihre Leute an, ihn erst mal nicht reinzulassen,
wenn er ankommt.«
»Alles klar.«
»Und dass hier im Laden möglichst alles so bleibt, wie es
war.«
Lucas schaltete sofort und schickte seine Leute aus dem Getränkemarkt.
Als Ferras hinter dem Ladentisch fertig war,
kam er zu Bosch, der am Eingang stand und zu der Überwachungskamera
hinaufschaute, die in der Mitte des Ladens an
der Decke angebracht war.
»Sieh dich doch mal hinten um«, sagte Bosch zu seinem
Partner. »Ob der Kerl die DVD tatsächlich rausgenommen
hat. Und wirf mal einen Blick zu unserer Zeugin rein.«
»Okay.«
»Ach, und sieh mal nach, wo der Thermostat ist, und dreh
ihn etwas runter. Viel zu warm hier drinnen. Nicht, dass der
Verwesungsprozess schon einsetzt.«
Ferras ging den Mittelgang hinunter. Bosch blickte sich um
und versuchte, sich einen Gesamteindruck von dem Getränkemarkt
zu verschaffen. Der Ladentisch war etwa dreieinhalb
Meter lang. Die Kasse befand sich in der Mitte neben
einer freien Fläche, auf der die Kunden ihre Einkäufe ablegen
konnten. Sie war auf einer Seite von Gestellen mit Kaugummis
und Süßigkeiten begrenzt. Auf der anderen Seite
der Kasse fanden sich Produkte wie Energy Drinks, ein
Plastikbehälter mit billigen Zigarren und ein Lottoschalter.
Von der Decke hing ein Maschendrahtbehälter mit Zigarettenstangen.
Hinter dem Ladentisch waren Regale mit hochpreisigen Spirituosen,
nach denen die Kunden fragen mussten. Bosch sah
sechs Reihen Hennessy. Er wusste, der teure Cognac war bei
Gangmitgliedern sehr beliebt, wenn sie es richtig krachen
lassen wollten, und er war sich ziemlich sicher, dass Fortune
Liquors auf dem Territorium der Hoover Street Criminals
lag, einer Gang, die einmal zu den Crips gehört hatte, dann
aber so mächtig geworden war, dass ihre Anführer beschlossen
hatten, sich selbständig zu machen.
Bosch fi elen zwei Dinge auf, und er stellte sich näher an den
Ladentisch.
Die Registrierkasse war verschoben worden, so dass da, wo
sie gestanden hatte, ein Viereck aus Staub und Wollmäusen
auf der Resopal-Oberfl äche zu sehen war. Daraus schloss
Bosch, dass sie der Mörder zu sich herumgedreht hatte, als
er das Geld aus der Schublade nahm. Das war insofern wichtig,
als es bedeutete, dass nicht Mr. Li die Kasse geöffnet und
dem Räuber das Geld gegeben hatte, sondern dass er zu diesem
Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot gewesen war. Möglicherweise
war Ferras' Theorie, dass der Mörder hereingekommen
war und sofort geschossen hatte, zutreffend. Und
das wiederum konnte sich als wichtig erweisen, wenn dem
Täter im Zug eines Strafverfahrens eine Tötungsabsicht
nachgewiesen werden sollte. Und noch wichtiger: Es verschaffte
Bosch einen besseren Eindruck vom Tathergang
und dem Tätertypus, nach dem sie suchen mussten.
Bosch holte seine Brille heraus, die er immer dann brauchte,
wenn er etwas aus der Nähe betrachten wollte. Er setzte sie
auf und beugte sich, ohne etwas zu berühren, über den Ladentisch,
um die Tastatur der Registrierkasse zu untersuchen.
Er entdeckte weder einen Knopf mit der Aufschrift
ÖFFNEN noch sonst einen Hinweis, wie sich die Kasse
bedienen ließ. Bosch hatte keine Ahnung, wie er sie aufbekommen
könnte. Er fragte sich, woher es der Täter gewusst
hatte.
Er richtete sich wieder auf und schaute auf das Wandregal
mit den Flaschen, das hinter dem Ladentisch angebracht
war. Es enthielt fast ausschließlich Hennessy, damit Mr. Li
den teuren Cognac sofort griffbereit hatte, wenn Hoover
Street-Mitglieder in den Laden kamen. Aber die Reihen waren
lückenlos. Keine Flasche fehlte.
Bosch beugte sich erneut über den Ladentisch, und diesmal
versuchte er, nach einer der Hennessy-Flaschen zu greifen.
Er merkte, dass er ohne weiteres an eine der Flaschen kommen
und sie aus dem Regal nehmen könnte, wenn er sich mit
der anderen Hand auf dem Ladentisch abstützte.
»Harry?«
Bosch richtete sich auf und drehte sich zu seinem Partner
um.
»Der Sergeant hatte recht«, sagte Ferras. »Die Aufnahmen
der Überwachungskamera werden auf DVD gespeichert.
Aber es ist keine Disc im Rekorder. Entweder hat sie jemand
verschwinden lassen, oder der Alte hat die Überwachungsvideos
gar nicht auf DVD gespeichert. Vielleicht diente die
Kamera nur zur Abschreckung.«
»Gibt es irgendwelche Back-up-DVDs?«
»Dort auf dem Ladentisch sind zwei, aber das Aufnahmegerät
speichert alles immer nur auf der Festplatte, und wenn sie
voll ist, fängt es wieder von vorn an und überspielt die alte
Aufnahme. Als ich noch bei Raubüberfällen war, hatten wir
ständig mit diesen Dingern zu tun. Sie reichen etwa einen
Tag, und wenn sie voll sind, werden die alten Aufnahmen
einfach überspielt. Wenn man also irgendwas nachsehen
will, muss man es noch am selben Tag tun.«
»Okay, aber sieh zu, dass wir alle vorhandenen DVDs auf
jeden Fall bekommen.«
Lucas kam wieder zur Tür herein.
»Die ACU ist hier«, sagte er. »Soll ich ihn reinschicken?«
Bosch sah Lucas eine Weile an, bevor er antwortete.
»Es heißt AGU«, entgegnete er schließlich. »Aber schicken
Sie ihn nicht rein. Ich komme gleich raus.«
Knaur Taschenbuch Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel
»Nine Dragons« bei Little, Brown and Company, New York.
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www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe April 2011
Copyright © 2009 by Hieronymus, Inc.
This edition published by arrangement with Little, Brown
and Company, New York, USA. All rights reserved.
Copyright © 2011 für die deutschsprachige Ausgabe bei
Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kirsten Reimers
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Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50789-6
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... weniger
Autoren-Porträt von Michael Connelly
Connelly, MichaelMichael Connelly, geboren 1956 in Philadelphia, studierte zunächst Journalismus und Kreatives Schreiben in Florida. Anschliessend (ab 1980) arbeitete er für verschiedene Zeitungen in Fort Lauderdale und Daytona Beach, wo er sich auf Polizeireportagen spezialisierte. Nachdem 1986 eine seiner Reportagen für den Pulitzer Preis nominiert worden war, wechselte er als Polizeireporter zur »Los Angeles Times«. Für sein Thrillerdebüt, »Schwarzes Echo«, den ersten Band der Harry-Bosch-Serie, erhielt er 1992 auf Anhieb den Edgar Award, den renommiertesten amerikanischen Krimipreis. Zahlreiche Bestseller folgten, die ihn zum erfolgreichsten Thrillerautor der USA machten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Connelly
- 2011, 2. Aufl., 476 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Leeb, Sepp
- Übersetzer: Sepp Leeb
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426507897
- ISBN-13: 9783426507896
- Erscheinungsdatum: 28.02.2011
Rezension zu „Neun Drachen / Harry Bosch Bd.15 “
"Ein Thriller über eine Polizeiermittlung, wie sie kaum jemand besser hinkriegen würde." Ingrid Müller-Münch WDR 5 Die telefonische Mord(s)beratung (WDR) 20121215
Pressezitat
"Ein Thriller über eine Polizeiermittlung, wie sie kaum jemand besser hinkriegen würde." Ingrid Müller-Münch WDR 5 Die telefonische Mord(s)beratung (WDR) 20121215
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