Halt!
Tragödien am Eisernen Vorhang - Die Verschlussakten.
Schicksale zwischen Thaya und March Der Eiserne Vorhang zwischen Österreich und der Tschechoslowakei gehörte zu den härtesten Sperrzonen im Kalten Krieg. An Thaya und March starben beinahe so viele Flüchtlinge wie an der Berliner Mauer. Spionage, Verrat,...
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Produktinformationen zu „Halt! “
Klappentext zu „Halt! “
Schicksale zwischen Thaya und March Der Eiserne Vorhang zwischen Österreich und der Tschechoslowakei gehörte zu den härtesten Sperrzonen im Kalten Krieg. An Thaya und March starben beinahe so viele Flüchtlinge wie an der Berliner Mauer. Spionage, Verrat, Verschleppung oder Flucht standen hinter den tödlichen Tragödien. Die Fäden im Hintergrund zogen die tschechoslowakischen Geheimdienste - über ihr dicht verwobenes Netz in ganz Österreich, mit Zentralen in Salzburg und Wien. Stefan Karner und sein Forschungsteam des Ludwig Boltzmann-Instituts haben mithilfe der Archive und Institute in Prag, Brünn und Pressburg erstmals Zugriff auf die bisher unter Verschluss gehaltenen Geheimakten bekommen. Zahlreiche Fallbeispiele erzählen die Schicksale, die sich bis zur Mitte der Fünfziger Jahre ereigneten - und über die das kommunistische Regime der Tschechoslowakei für immer den Mantel des Schweigens breiten wollte.
Lese-Probe zu „Halt! “
Halt von Stefan KarnerVorbemerkungen
Die teilweise Öffnung der Archive in den Staaten des ehemaligen Ostblocks hat seit den 1990er-Jahren der historischen Forschung neue Möglichkeiten eröffnet – thematisch, institutionell, methodisch. Unter Heranziehung von bis dahin unzugänglichen Materialien aus Archiven und Sammlungen sowie von Informationen aus Gesprächen mit „Zeitzeugen“ werden seither belastende Themen der russisch-polnischen Geschichte, wie Katyn, der ukrainisch-russischen Geschichte, wie der Holodomor, der tschechoslowakischen Geschichte, wie die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ und die Okkupation des Landes durch Truppen des Warschauer Paktes 1968, oder die Frage Berlin im „Kalten Krieg“ großteils in bilateralen wissenschaftlichen Kommissionen und Forscher-Netzwerken behandelt. Selbst Materialien der Geheimdienste werden teilweise der historischen Forschung zugänglich gemacht. Dies gilt in besonderem Maß für die Geheimdienst-Archive der ehemaligen Tschechoslowakei, die heute besonders in Prag, Pressburg/Bratislava und Brünn/Brno aufbewahrt werden und einen bemerkenswerten Zugang zu ihren Beständen ermöglichen. Das Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz, Wien und Klagenfurt hat seit 20 Jahren diese Möglichkeiten genutzt und in zahlreichen Publikationen wesentliche Themen der Geschichte Osteuropas und Ostmitteleuropas in partnerschaftlichen, teils gemeinsamen Publikationen, großteils in mehreren Sprachen, aufgegriffen. Auch dieses Buch ist ein Ergebnis dieser Bemühungen. Es ist zudem die erste, freilich noch eher populärwissenschaftliche Publikation der Zusammenarbeit des Instituts mit den erwähnten Geheimdienstarchiven beziehungsweise deren Instituten in Tschechien und der Slowakei. Das Institut für Kriegsfolgen-Forschung, namentlich seine neue
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Außenstelle in Raabs, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die „Operationen der tschechoslowakischen Nachrichtendienste in Österreich 1945–1989“ vor allem auf Basis tschechoslowakischer Dokumente und Akten zu bearbeiten. Dies geschieht seit einem Jahr in Kooperation mit dem „Ústav pro studium totalitních režim “ (USTR) in Prag, dem „Archiv bezpe nostních složek“ (ABS) in Brünn/Brno und Kanitz/Kanice sowie dem „Ustav pamäti národa“ (UPN) in Pressburg/Bratislava. Ihren Direktoren, vor allem Sv tlana Ptá níková vom ABS, dem ehemaligen Direktor des USTR, Daniel Hermann, und Direktor Ondrej Kraj ák vom UPN in Bratislava sowie ihren Mitarbeitern sei daher an dieser Stelle zuerst für die großzügigen Arbeitsmöglichkeiten und die gute Zusammenarbeit gedankt. Die Niederösterreichische Landesregierung, vor allem Landeshauptmann Erwin Pröll, steht unseren Forschungen seit bald 20 Jahren stets hilfreich zur Seite. Er hat auch die Neuerrichtung der Außenstelle Raabs an der Thaya meines Instituts besonders gefördert, in der gerade die Arbeiten an diesem österreichisch-slowakisch-tschechischen Projekt durchgeführt werden. Ebenso danke ich dem „Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank“ für die Förderung des Projektes und den österreichischen Botschaftern in Prag und Bratislava, Dr. Ferdinand Trauttmansdorff und Dr. Josef Markus Wuketich, für ihr reges Interesse am Projekt und die Zurverfügungstellung der Residenzen beziehungsweise Botschaften für die Vertragsunterzeichnungen und Workshops. Generaldirektor Claus Raidl hat als Erster ein großes Interesse an der Thematik bekundet und die ersten Vorarbeiten unterstützt. Der „Zukunftsfonds der Republik Österreich“ stand auch diesem Projekt hilfreich zur Seite. Ein besonderer Dank gilt meinen Mitarbeitern am Institut in Graz, den tschechischen und slowakischen Rechercheuren in Prag, Brno und Bratislava, den Mitarbeitern in Wien und Raabs, vor allem Philipp Lesiak, Kate ina Lozoviuková, Mirjana Söhn und in Prag Prokop Tomek, der den Hinweis auf die Geheimdienst-Bestände gab und bei der Materialaufnahme behilflich war, sowie Dieter Bacher und Harald Knoll in Graz. Sie haben eine riesige Fülle an Material zusammengetragen, das nunmehr zur Auswertung ansteht. Das österreichische Innenministerium hat diese Arbeit in besonderer Weise unterstützt. Dafür gebührt seinen Verantwortungsträgern ein besonderer Dank. Schließlich danke ich dem Ecowin Verlag, namentlich seinem Gründer und Geschäftsführer, Dr. Hannes Steiner, der die Idee zu diesem Buch aufgegriffen und mit seinen Mitarbeitern, vor allem Frau Mag. Christina Kindl, umgesetzt hat. Das wegen der zahlreichen diakritischen Schriftzeichen besonders aufwendige Lektorat und die Korrekturarbeiten besorgten Dr. Arnold Klaffenböck und Mag. Dieter Bacher, die Fotorecherchen Mag. Harald Knoll und Mag. Philipp Lesiak. Die tschechoslowakischen geheimdienstlichen Aktivitäten in Österreich gehörten sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu den um fangreichsten aller osteuropäischen Nachrichtendienste, einschließlich jener der Sowjetunion. Die Akronyme SNB, StB und MNB stehen für die breit gefächerten tschechoslowakischen „Organe“. Sie zählten zu den schärfsten Konkurrenten der westlichen und österreichischen Nachrichtendienste. Daher ist ihre Aktivität und Rolle für eine Darstellung Österreichs in der Nachkriegszeit und als nachrichtendienstliches Drehkreuz notwendig. Dieses Buch setzt dazu einen ersten Schritt. Es beleuchtet die Lage am „Eisernen Vorhang“ zur Tschechoslowakei zu Ende der 1940er- und zu Anfang der 1950er-Jahre. Erstmals werden auf Basis der bis vor Kurzem unzugänglichen Verschlussakten der Geheimdienste der ehemaligen Tschechoslowakei Tragödien am „Eisernen Vorhang“ dargestellt, die sich an Thaya/Dyje und March/Morawa abspielten und die auch für immer im Schatten bleiben sollten. Dass nunmehr Licht in dieses Gemenge aus Dunkel und Schatten kommen konnte, ist wesentlich das Verdienst der wissenschaftlichen Institute und Archive der ehemaligen Geheimdienste und ihrer Direktoren, vor allem aber einer erstaunlich liberalen Archivgesetzgebung in Tschechien und der Slowakei. Sie ermöglicht es auch, dass in weiteren Arbeiten die Operationen der tschechoslowakischen Geheimdienste in Österreich untersucht und dargestellt werden.
Graz, im September 2013
Stefan Karner
Der „Eiserne Vorhang“ – Die Teilung Europas
Mittwoch, 16. August 1950: österreichisch-tschechoslowakische Grenze. Ein scharfes tschechisches Kommando „Stoj!“ Gleich darauf peitschen 26 Schüsse durch die Nacht, zerreißen die gespenstische Stille. Der Fluchtversuch dreier unbewaffneter junger Tschechen ist grausam zu Ende. Im Kugelhagel tschechoslowakischer Grenzsoldaten werden Ludvík Duro , 25, und Otakar Králí ek, 22, regelrecht durchsiebt und sind auf der Stelle tot; Zden k Š astný, 23, überlebt nur wenige Monate. Ein Geheimdienstmann schilderte das Geschehen später im Zuge der Untersuchung durch die Staatssicherheit mit folgenden Worten:
„Nach dem Ende der Schießerei: kurze Ruhe; dann hörte ich das Gestöhne eines Verletzten. Jemand schrie ihn an, er solle aufstehen und die Hände heben. Der Verletzte wimmerte und stöhnte, dass er nicht mehr aufstehen könne“
Die brutale Erschießung dreier nicht bewaffneter Männer war rechtlich nicht gedeckt und ein schwerer Verstoß selbst gegen die tschechoslowakische Rechtsordnung.2 Die drei hatten sich aus politischen Gründen zur Flucht nach Österreich entschlossen. Im stalinistischen KP-Regime hatten sie für sich keine Aufstiegschancen, keine Perspektiven mehr gesehen. Und sie hatten trotz ihrer jungen Jahre die Repression des KP-Regimes bereits zu hart erfahren, um weiter ein Leben in der SR führen zu wollen. So wie ihnen erging es vielen Menschen in der Tschechoslowakei „hinter“ dem „Eisernen Vorhang“. Dieser teilte Europa 40 Jahre lang. Er bildete eine nahezu unüberwindbare Barriere und Grenze zwischen dem westlichen und dem sowjetischen Block: politisch, militärisch, wirtschaftlich, geistig, gesellschaftlich und mental. In Jahrhunderten zusammengewachsene Gebiete wurden zerschnitten, Familien und Menschen voneinander getrennt. Der „Eiserne Vorhang“ war der größte Schlag ins Gesicht von Demokratie und Freiheit, nach der sich Millionen Menschen sehnten und sich in großteils brutal niedergeschlagenen Aufständen und Revolutionen (von der Deutschen Demokratischen Republik und Ungarn über die Tschecho- slowakei und Polen bis Russland) von den stalinistischen KP-Regimen befreien oder durch Flucht entziehen wollten. Die Grenze des „Eisernen Vorhangs“ markiert so abertausende Hilfeschreie nach Freiheit, tausende Versuche ihrer Unterwanderung und partiellen Durchbrechung: für Zeitungen, Fernsehen, Radio, Flugschriften, für wirtschaftliche Organisationen, für Spionage und Geheimdienste. Der „Kalte Krieg“ des Alltags im Äther, im Sport, in der Kunst und Wirtschaft, hier an der Grenze wurde er besonders manifest. Täglich. Hier spionierten Nachrichtendienste aus Ost und West, schlugen Flüchtende Schneisen durch die Befestigungsanlagen, gruben Tunnel unter den Wachtürmen der Grenzsoldaten, eröffneten Nachrichtensender von Geheimdiensten Propagandaoffensiven über die Grenze, störten Ost-Sender westliche Sendungen, schleusten Geheimdienste Aktivisten und Propagandisten über die Grenze in den Westen, hörten Telefonate ab, kidnappten Menschen und ermordeten sie. Stärker als anderswo wurden an der Grenze Ortsbewohner, ja selbst Exekutivorgane angeworben, um einen für sie gefährlichen Menschenraub oder Schmuggel durchzuführen, Menschen gezielt zu beobachten, zu observieren. Hier am „Eisernen Vorhang“ tummelten sich Agenten, Spione, Glücksritter, Menschenhändler und Flüchtige. Die eigentlichen Drahtzieher der Agenten und Spione, ihre Schalt- und Kommandozentralen saßen weit hinter der Grenze im sicheren Abstand, in Budapest, Prag, Ost-Berlin, Moskau, in Pullach oder Washington. In Österreich selbst gab es zahlreiche sogenannte „Residenturen“, das heißt Stützpunkte ausländischer Geheimdienste: Amerikanische Dienste hatten Büros unter anderem in Wien, Salzburg, Klagenfurt, Linz, Innsbruck und Zell am See, britische Dienste waren etwa in Wien, Klagenfurt, Graz, Villach, Wolfsberg, Millstatt, Weiz, Leoben, Leibnitz und Bruck an der Mur. Französische Dienste saßen vor allem in Seefeld und Innsbruck und sowjetische Dienste unter anderem in Wien, Baden, Neunkirchen, Weiden/See und St. Pölten. Nicht selten bedienten sich die Geheimdienste, besonders die amerikanischen, ehemaliger ranghoher SS-Leute.3 Neben den Geheimdiensten der Besatzer tummelten sich, teilweise im Gefolge oder in engster Zusammenarbeit mit diesen, Nachrichtendienste anderer Staaten, vor allem der unmittelbaren Nachbarn: Jugoslawien, Ungarn und natürlich auch der Tschechoslowakei. Allein die tschechoslowakische Staatssicherheit („Státni bezpe nost“, StB) operierte seit 1945 mit zwei Residenturen, in Wien und Salzburg, und Heerscharen von Spionen, Agenten, Zuträgern und Informanten. Helmut Zilk, der spätere Unterrichtsminister und Wiener Bürgermeister, durch Medienberichte in seiner Verbindung zum StB aufgedeckt,4 war nur einer von ihnen. Der StB-Nachlass verwahrt Personalakten von über 12.000 Österreicherinnen und Österreichern, die von der tschechoslowakischen Staatssicherheit angelegt wurden, weil sie dem StB aus irgendeinem Grund interessant erschienen, weil sie observiert wurden oder weil sie selbst mit dem StB in irgendeiner Form zusammenarbeiteten oder einfach „abgeschöpft“ wurden. Das amerikanische „Office of Strategic Services“ (OSS) gab an, dass in Salzburg nach Kriegsende jeder vierte Bewohner mit den amerikanischen Diensten kooperierte. Der Tiroler Landeshauptmann Karl Gruber schätzte die Stärke der diversen französischen Dienste im August 1945 allein für Tirol auf 200 Agenten.Auf der Tagesordnung geheimdienstlicher Grenz-Operationen des StB standen Menschenschmuggel, Deportationen und kaltblütige Morde an vorgeblichen (Doppel-)Agenten sowie die Überwachung und Verfolgung von Flüchtenden, oft über die Grenze hinweg auf österreichisches Territorium. Der „Eiserne Vorhang“ entlang der 453 Kilometer langen Grenze zwischen Österreich und der Tschechoslowakei war für Tausende aus dem „Ostblock“ auch die letzte Barriere zum Westen. Zu viele schafften sie nicht, traten auf Minen, die sie zerfetzten, von Hunden der Grenzwache, die man auf sie gehetzt hatte, zerfleischt, meistens jedoch gestellt und verhaftet, noch bevor sie die Todeszone des Grenzstreifens überquert oder die Grenze überhaupt erreicht hatten: vom allzeit und überall gegenwärtigen, unsichtbaren Spitzeldienst des StB. Hohe Kerkerstrafen folgten, ihre Familien kamen in Sippenhaft. 129 flüchtende Menschen starben an der Grenze im Kugelhagel der tschechoslowakischen Grenzer oder wurden von ihren Hunden getötet. Dazu kamen Grenzsoldaten, die am eigenen Stacheldrahtzaun bei Unfällen ihr Leben ließen oder am elektrisch geladenen Zaun Selbstmord begingen, weil sie psychisch den täglichen Schrecken nicht mehr aushielten. Diese schreckliche Bilanz belegt, wie perfide und tödlich die teilweise kilometertief gestaffelten Sicherungsanlagen zur Abwehr des „kapitalistischen Feindes“ in der Tschechoslowakei ausgebaut waren und wie bedrückend die Atmosphäre in den Sperrgebieten, selbst für die Grenzsoldaten, gewesen sein muss. Die Zäune und Sperranlagen des „Eisernen Vorhangs“ sind heute aus der Landschaft verschwunden, die einstmaligen Sperrzonen als „grünes Band“ nur mehr in Nationalparks nachzuvollziehen. Die ideologische Grenze ist durch die EU-Integration weitgehend überwunden. In Tschechien und in der Slowakei werden die Toten des „Eisernen Vorhangs“ wissenschaftlich und in Film-Dokumentationen thematisiert, in Österreich scheinen die Schrecken des „Eisernen Vorhangs“, die starke Präsenz und Tätigkeit ausländischer Geheimdienste im Land vergessen oder verdrängt zu werden. Nur von Zeit zu Zeit, wenn aktuelle Tätigkeiten von Nachrichtendiensten bekannt werden, wie zuletzt jene der amerikanischen „National Security Agency“ (NSA), kommt auch dieses Thema am Rande in die Medien und in den öffentlichen Diskurs. Genau in diese Wunde legt das Buch den Finger: Auf Basis tschechoslowakischer und österreichischer Akten wird ein minutiöses Bild gezeichnet, ein Schattenmosaik, das niemals an die Öffentlichkeit kommen sollte, in das mehr Menschen als kleine Steinchen gezwungen wurden und in dem mehr Menschen arbeiteten, als man sich je vorstellen konnte. Mit den Grenzfällen zwischen 1945 und etwa 1955, den Vorgängen am „Eisernen Vorhang“, werden Schattenzonen der Nachkriegszeit in Österreich und in der Tschechoslowakei offengelegt, die vielfach auch im Zusammenhang mit den Operationen tschechoslowakischer Geheimdienste auf österreichischem Gebiet oder gegen Österreich zu sehen sind.
© Ecowin Verlag
Graz, im September 2013
Stefan Karner
Der „Eiserne Vorhang“ – Die Teilung Europas
Mittwoch, 16. August 1950: österreichisch-tschechoslowakische Grenze. Ein scharfes tschechisches Kommando „Stoj!“ Gleich darauf peitschen 26 Schüsse durch die Nacht, zerreißen die gespenstische Stille. Der Fluchtversuch dreier unbewaffneter junger Tschechen ist grausam zu Ende. Im Kugelhagel tschechoslowakischer Grenzsoldaten werden Ludvík Duro , 25, und Otakar Králí ek, 22, regelrecht durchsiebt und sind auf der Stelle tot; Zden k Š astný, 23, überlebt nur wenige Monate. Ein Geheimdienstmann schilderte das Geschehen später im Zuge der Untersuchung durch die Staatssicherheit mit folgenden Worten:
„Nach dem Ende der Schießerei: kurze Ruhe; dann hörte ich das Gestöhne eines Verletzten. Jemand schrie ihn an, er solle aufstehen und die Hände heben. Der Verletzte wimmerte und stöhnte, dass er nicht mehr aufstehen könne“
Die brutale Erschießung dreier nicht bewaffneter Männer war rechtlich nicht gedeckt und ein schwerer Verstoß selbst gegen die tschechoslowakische Rechtsordnung.2 Die drei hatten sich aus politischen Gründen zur Flucht nach Österreich entschlossen. Im stalinistischen KP-Regime hatten sie für sich keine Aufstiegschancen, keine Perspektiven mehr gesehen. Und sie hatten trotz ihrer jungen Jahre die Repression des KP-Regimes bereits zu hart erfahren, um weiter ein Leben in der SR führen zu wollen. So wie ihnen erging es vielen Menschen in der Tschechoslowakei „hinter“ dem „Eisernen Vorhang“. Dieser teilte Europa 40 Jahre lang. Er bildete eine nahezu unüberwindbare Barriere und Grenze zwischen dem westlichen und dem sowjetischen Block: politisch, militärisch, wirtschaftlich, geistig, gesellschaftlich und mental. In Jahrhunderten zusammengewachsene Gebiete wurden zerschnitten, Familien und Menschen voneinander getrennt. Der „Eiserne Vorhang“ war der größte Schlag ins Gesicht von Demokratie und Freiheit, nach der sich Millionen Menschen sehnten und sich in großteils brutal niedergeschlagenen Aufständen und Revolutionen (von der Deutschen Demokratischen Republik und Ungarn über die Tschecho- slowakei und Polen bis Russland) von den stalinistischen KP-Regimen befreien oder durch Flucht entziehen wollten. Die Grenze des „Eisernen Vorhangs“ markiert so abertausende Hilfeschreie nach Freiheit, tausende Versuche ihrer Unterwanderung und partiellen Durchbrechung: für Zeitungen, Fernsehen, Radio, Flugschriften, für wirtschaftliche Organisationen, für Spionage und Geheimdienste. Der „Kalte Krieg“ des Alltags im Äther, im Sport, in der Kunst und Wirtschaft, hier an der Grenze wurde er besonders manifest. Täglich. Hier spionierten Nachrichtendienste aus Ost und West, schlugen Flüchtende Schneisen durch die Befestigungsanlagen, gruben Tunnel unter den Wachtürmen der Grenzsoldaten, eröffneten Nachrichtensender von Geheimdiensten Propagandaoffensiven über die Grenze, störten Ost-Sender westliche Sendungen, schleusten Geheimdienste Aktivisten und Propagandisten über die Grenze in den Westen, hörten Telefonate ab, kidnappten Menschen und ermordeten sie. Stärker als anderswo wurden an der Grenze Ortsbewohner, ja selbst Exekutivorgane angeworben, um einen für sie gefährlichen Menschenraub oder Schmuggel durchzuführen, Menschen gezielt zu beobachten, zu observieren. Hier am „Eisernen Vorhang“ tummelten sich Agenten, Spione, Glücksritter, Menschenhändler und Flüchtige. Die eigentlichen Drahtzieher der Agenten und Spione, ihre Schalt- und Kommandozentralen saßen weit hinter der Grenze im sicheren Abstand, in Budapest, Prag, Ost-Berlin, Moskau, in Pullach oder Washington. In Österreich selbst gab es zahlreiche sogenannte „Residenturen“, das heißt Stützpunkte ausländischer Geheimdienste: Amerikanische Dienste hatten Büros unter anderem in Wien, Salzburg, Klagenfurt, Linz, Innsbruck und Zell am See, britische Dienste waren etwa in Wien, Klagenfurt, Graz, Villach, Wolfsberg, Millstatt, Weiz, Leoben, Leibnitz und Bruck an der Mur. Französische Dienste saßen vor allem in Seefeld und Innsbruck und sowjetische Dienste unter anderem in Wien, Baden, Neunkirchen, Weiden/See und St. Pölten. Nicht selten bedienten sich die Geheimdienste, besonders die amerikanischen, ehemaliger ranghoher SS-Leute.3 Neben den Geheimdiensten der Besatzer tummelten sich, teilweise im Gefolge oder in engster Zusammenarbeit mit diesen, Nachrichtendienste anderer Staaten, vor allem der unmittelbaren Nachbarn: Jugoslawien, Ungarn und natürlich auch der Tschechoslowakei. Allein die tschechoslowakische Staatssicherheit („Státni bezpe nost“, StB) operierte seit 1945 mit zwei Residenturen, in Wien und Salzburg, und Heerscharen von Spionen, Agenten, Zuträgern und Informanten. Helmut Zilk, der spätere Unterrichtsminister und Wiener Bürgermeister, durch Medienberichte in seiner Verbindung zum StB aufgedeckt,4 war nur einer von ihnen. Der StB-Nachlass verwahrt Personalakten von über 12.000 Österreicherinnen und Österreichern, die von der tschechoslowakischen Staatssicherheit angelegt wurden, weil sie dem StB aus irgendeinem Grund interessant erschienen, weil sie observiert wurden oder weil sie selbst mit dem StB in irgendeiner Form zusammenarbeiteten oder einfach „abgeschöpft“ wurden. Das amerikanische „Office of Strategic Services“ (OSS) gab an, dass in Salzburg nach Kriegsende jeder vierte Bewohner mit den amerikanischen Diensten kooperierte. Der Tiroler Landeshauptmann Karl Gruber schätzte die Stärke der diversen französischen Dienste im August 1945 allein für Tirol auf 200 Agenten.Auf der Tagesordnung geheimdienstlicher Grenz-Operationen des StB standen Menschenschmuggel, Deportationen und kaltblütige Morde an vorgeblichen (Doppel-)Agenten sowie die Überwachung und Verfolgung von Flüchtenden, oft über die Grenze hinweg auf österreichisches Territorium. Der „Eiserne Vorhang“ entlang der 453 Kilometer langen Grenze zwischen Österreich und der Tschechoslowakei war für Tausende aus dem „Ostblock“ auch die letzte Barriere zum Westen. Zu viele schafften sie nicht, traten auf Minen, die sie zerfetzten, von Hunden der Grenzwache, die man auf sie gehetzt hatte, zerfleischt, meistens jedoch gestellt und verhaftet, noch bevor sie die Todeszone des Grenzstreifens überquert oder die Grenze überhaupt erreicht hatten: vom allzeit und überall gegenwärtigen, unsichtbaren Spitzeldienst des StB. Hohe Kerkerstrafen folgten, ihre Familien kamen in Sippenhaft. 129 flüchtende Menschen starben an der Grenze im Kugelhagel der tschechoslowakischen Grenzer oder wurden von ihren Hunden getötet. Dazu kamen Grenzsoldaten, die am eigenen Stacheldrahtzaun bei Unfällen ihr Leben ließen oder am elektrisch geladenen Zaun Selbstmord begingen, weil sie psychisch den täglichen Schrecken nicht mehr aushielten. Diese schreckliche Bilanz belegt, wie perfide und tödlich die teilweise kilometertief gestaffelten Sicherungsanlagen zur Abwehr des „kapitalistischen Feindes“ in der Tschechoslowakei ausgebaut waren und wie bedrückend die Atmosphäre in den Sperrgebieten, selbst für die Grenzsoldaten, gewesen sein muss. Die Zäune und Sperranlagen des „Eisernen Vorhangs“ sind heute aus der Landschaft verschwunden, die einstmaligen Sperrzonen als „grünes Band“ nur mehr in Nationalparks nachzuvollziehen. Die ideologische Grenze ist durch die EU-Integration weitgehend überwunden. In Tschechien und in der Slowakei werden die Toten des „Eisernen Vorhangs“ wissenschaftlich und in Film-Dokumentationen thematisiert, in Österreich scheinen die Schrecken des „Eisernen Vorhangs“, die starke Präsenz und Tätigkeit ausländischer Geheimdienste im Land vergessen oder verdrängt zu werden. Nur von Zeit zu Zeit, wenn aktuelle Tätigkeiten von Nachrichtendiensten bekannt werden, wie zuletzt jene der amerikanischen „National Security Agency“ (NSA), kommt auch dieses Thema am Rande in die Medien und in den öffentlichen Diskurs. Genau in diese Wunde legt das Buch den Finger: Auf Basis tschechoslowakischer und österreichischer Akten wird ein minutiöses Bild gezeichnet, ein Schattenmosaik, das niemals an die Öffentlichkeit kommen sollte, in das mehr Menschen als kleine Steinchen gezwungen wurden und in dem mehr Menschen arbeiteten, als man sich je vorstellen konnte. Mit den Grenzfällen zwischen 1945 und etwa 1955, den Vorgängen am „Eisernen Vorhang“, werden Schattenzonen der Nachkriegszeit in Österreich und in der Tschechoslowakei offengelegt, die vielfach auch im Zusammenhang mit den Operationen tschechoslowakischer Geheimdienste auf österreichischem Gebiet oder gegen Österreich zu sehen sind.
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Autoren-Porträt von Stefan Karner
Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner, Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz sowie Leiter und Gründer des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz-Wien-Klagenfurt. Seit 1990 Forschungen in russischen Archiven. Österreichischer Wissenschafter des Jahres (1995); Co-Vorsitzender der Österreichisch-Russischen Historikerkommission. Karner verfasste über 40 Bücher und rund 350 wissenschaftliche Beiträge. Zahlreiche öffentliche Funktionen und Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften des In- und Auslandes. Leitung mehrerer Gross-Ausstellungen, zuletzt "Österreich-Tschechien" (Niederösterreichische Landesausstellung 2009) und "90 Jahre Republik Österreich" (Parlament Wien 2008/09). Zahlreiche in- und ausländische hohe Auszeichnungen, zuletzt Commendatore des Georg-Ordens des Vatikans.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefan Karner
- 2013, 1., Aufl., 216 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Masse: 15 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ecoWing
- ISBN-10: 3711000495
- ISBN-13: 9783711000491
- Erscheinungsdatum: 09.11.2013
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