Gute Nacht, Liebster
Demenz. Ein berührender Bericht über Liebe und Vergessen. Mit Vorwort und Infoteil der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Originalausgabe
Hilda und Hans sind seit dreissig Jahren verheiratet. Doch langsam beginnt Hans sich zu verändern. Zuerst wundert sich Hilda über ihn, findet sein Verhalten manchmal unverschämt.
Als ein Neurologe ihn dann fragt: "Wie heissen ihre Töchter?", weiss Hans die...
Als ein Neurologe ihn dann fragt: "Wie heissen ihre Töchter?", weiss Hans die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gute Nacht, Liebster “
Klappentext zu „Gute Nacht, Liebster “
Hilda und Hans sind seit dreissig Jahren verheiratet. Doch langsam beginnt Hans sich zu verändern. Zuerst wundert sich Hilda über ihn, findet sein Verhalten manchmal unverschämt.Als ein Neurologe ihn dann fragt: "Wie heissen ihre Töchter?", weiss Hans die Antwort nicht. Die erschreckende Diagnose: Demenz. Schon bald kann er seiner Frau Hilda kein Partner mehr sein und wird zum Schwerstpflegefall.
Obwohl die Belastung fast unmenschlich erscheint, entscheidet Hilda, dass sie sich zu Hause um ihren Mann kümmern wird. In diesem sehr persönlichen Buch spricht sie über ihren Alltag, ihre Ängste und ihre intimsten Gedanken. Ihr Bericht ist ein bewegendes Plädoyer für die Liebe.
Hilda und Hans sind seit dreissig Jahren verheiratet. Doch langsam beginnt Hans sich zu verändern. Zuerst wundert sich Hilda über ihn, findet sein Verhalten manchmal unverschämt. Als ein Neurologe ihn dann fragt: Wie heissen ihre Töchter?, weiss Hans die Antwort nicht. Die erschreckende Diagnose: Demenz. Schon bald kann er seiner Frau Hilda kein Partner mehr sein und wird zum Schwerstpflegefall. Obwohl die Belastung fast unmenschlich erscheint, entscheidet Hilda, dass sie sich zu Hause um ihren Mann kümmern wird. In diesem sehr persönlichen Buch spricht sie über ihren Alltag, ihre Ängste und ihre intimsten Gedanken. Ihr Bericht ist ein bewegendes Plädoyer für die Liebe.
Lese-Probe zu „Gute Nacht, Liebster “
GUTE NACHT, LIEBSTER von Katrin Hummel Prolog ... mehr
Augenblick, verweile doch, du bist so schön. Johann Wolfgang von Goethe1955Hans hatte einen schwarzen Parallelo an – einen Pullover mit Fledermausärmeln und U-Boot-Ausschnitt, der von rechts nach links gestrickt war – man fing an einem Ärmel an und hörte am Bündchen des anderen auf. Parallelos waren Mitte der Fünfziger gerade modern und sehr teuer. Das wusste ich deshalb so genau, weil ich selbst nicht viel Taschengeld bekam und mir nie viel kaufen konnte. Im Vergleich zu heute besaß ich nur wenig zum Anziehen. Meine besten Stücke waren ein dunkelblauer Faltenrock aus Schurwolle und ein roter, kurzärmeliger Angorapulli. Beides trug ich, als ich Hans zum ersten Mal begegnete. Ich lernte ihn durch seinen Cousin Peterkennen, der mit meiner Schwester Franziska angebandelt hatte. Peter war neunzehn, und Franziska schwärmte für ihn; er war zwei Jahre älter als sie und hatte schon einen Führerschein.»Das ist mein Vetter Hans, und das ist die Hilda«, sagte Peter und legte den Arm um Franziska. Es war offensichtlich, dass er Hans mitgebracht hatte, weil er mit ihr allein sein wollte. Ich musterte Hans verstohlen, obwohl ich mich damals für Jungen noch nicht interessierte. Ich war vierzehn und noch nicht richtig in der Pubertät. Trotzdem fiel mir auf, dass ersehr gut aussah – groß, schlank und sportlich, mit dichtendunkelbraunen Haaren. Als sich unsere Blicke trafen, schaute ich schnell weg. Während Franziska und Peter spazieren gingen, stiegen Hans und ich in den offenen Heuschober und rutschten die Heuhaufen hinunter, etwa fünf Meter tief. Wieder und wieder, es machte einen wahnsinnigen Spaß. Doch auf einmal hatte Hansin seinem schicken schwarzen Pullover ein Loch.»Oh«, sagte er nur, »da wird meine alte Dame sauer sein. Da krieg ich Prügel.«11»Was? Die schlägt dich?«, fragte ich ungläubig. Solche Erziehungsmethoden gab es bei uns zu Hause nicht. Er nickte, und ich spürte ein Ziehen in der Magengegend. Ich wollte ihm anbieten, den Pullover zu stopfen. Doch dann biss ich mir auf die Zunge. Ich ahnte, dass mir die Arbeit nichtgut von der Hand gehen und seine Mutter meine stümperhaften Versuche bemerken würde. Also schwieg ich. Peter erlaubte Hans, mit seinem Mercedes die Feldwege entlang zufahren, auch wenn das Wahnsinn war, weil Hans erst fünfzehn war und noch keinen Führerschein hatte. Hans fuhr schnell; wenn ich dabei die Augen schloss, fühlte es sich an, als würde ich fliegen oder als stünde mir die Welt offen –so beschwingt und berauscht war ich. Hans’ Mutter wusste nichts von seiner heimlichen Leidenschaft für schnelle Autos, das erzählte er mir. Für sie war es in Ordnung, wenn ihr Sohn stundenlang unterwegs war – sie war mit der Arbeit in der Firma beschäftigt. Hans war schon damals ein guter Autofahrer. Er rangierte im Unternehmen seines Vaters immer heimlich die Lastwagen rückwärts in die Hallen. Die Firma stellte Erntemaschinen her, sein Vater war einer der Inhaber. Für damalige Verhältnisse war es ein großer Betrieb mit etwa hundert Mitarbeitern. An dem Abend, nachdem Hans und Peter bei uns gewesen waren, lag ich länger wach als sonst. Ich roch noch den Duft des Heus, spürte den Rausch der Geschwindigkeit in meinem Kopf. Und auch an Hans dachte ich. Ich wünschte mir, er möge bald wiederkommen. Er gefiel mir, ohne dass ich schon hätte sagen können, warum. Das heißt, vielleicht hätte ich es sogar sagen können. Aber dazu hätte ich über ihn nachdenken müssen, und so weit war ich noch nicht. Im darauf folgenden Jahr kam er oft allein oder mit einem Freund zu uns, ohne dass einer von uns ausgesprochen hätte, warum. Ich war stolz, dass er das meinetwegen tat, denn immerhin musste er mit dem Fahrrad etwa fünfzehn Kilometer fahren, eine Strecke, auf der es ständig bergauf und bergab ging. Meistens spielten wir auf dem Hof Fußball mit mei12nen Schwestern und deren Freunden. Einmal aber hatten wir uns eine Höhle im Heu gebaut und waren hinein gekrochen. Drinnen war es dämmrig, das Heu duftete und kitzelte in der Nase. Durch ein Fenster im Heuschober fielen Sonnenstrahlen herein, in denen der Staub tanzte. Von draußen hörte man gedämpft die Geräusche eines Traktors. Fliegen surrten. Wir lagen nebeneinander in unserer Höhle, auf die Ellenbogen gestützt. Heute sind die Jugendlichen in dem Alter schon viel weiter, doch wir waren noch sehr kindlich damals, sodass uns die Nähe des anderen nicht befangen machte. Ich erzählte Hans, dass ich nie wüsste, warum ich beichten gehen sollte, und dass ich dem Pfarrer daher in meiner Not bei der letzten Beichte erzählt hätte, ich hätte getötet. »Als er mich dann gefragt hat, wen ich denn getötet hätte, hab ich gesagt: ›Ameisen und Käfer. Ich bin aus Versehen drauf getreten‹«, sagte ich, und wir mussten lachen. Hans fing eine Spinne, die über meinen Kopf krabbelte, und hielt sie mir vor die Nase. »Lass sie laufen«, sagte ich. Ich ekelte mich kein bisschen, immerhin kam ich vom Bauernhof. Wir blickten der flüchtenden Spinne nach. Als sie verschwunden war, begann Hans von seinem Vater zu erzählen, der vorkurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und dessen Platz er nun ausfüllen sollte. Seine beiden Brüder waren noch zu klein dafür.»Ich kann das nicht«, stieß er hervor. »Ich will nicht beim Essen auf seinem Platz sitzen, und ich will auch nicht seine Rolle einnehmen.«Ich nickte und bemerkte, dass er mit den Tränen kämpfte.»Tut sie dir weh?« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. Er schüttelte den Kopf. »Aber ich soll meinen kleinen Bruder manchmal schlagen, wenn er frech war.«»Deinen eigenen Bruder?«Wieder nickte er. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut oder Hilflosigkeit. Um ihn zu trösten, legte ich meine Hand auf seinen Arm. Er tat mir leid, gleichzeitig war ich froh, dass er mir solche Geheimnisse anvertraute. Und noch etwas ging mir durch den Kopf, als ich ihn berührte: dass dies etwas anderes war als die Berührungen, die wir sonst austauschten.13Ich konnte die Härchen auf seinem Arm spüren, seine warme Haut. Er gefiel mir, dieser Arm, auf eine Art, die ich vorher nicht gekannt hatte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Hans stützte den Kopf in die Hände und blieb ganz still liegen. Und ich streichelte ihn weiter und fühlte mich seltsam dabei. Nicht mehr wie ein Mädchen, noch nicht wie eine Frau. In jenem Sommer waren wir außer an diesem einen Tag nie allein, auch wenn ich es mir manchmal wünschte. Einmal brachte Hans einen Austauschschüler aus Amerika mit. Das war damals etwas Besonderes, und es beeindruckte mich, wie gut Hans sich mit ihm verständigen konnte. Ein anderes Malfuhren wir gemeinsam mit Freunden mit dem Fahrrad zum Baggersee und überboten uns mit Mutproben: bis zur Insel und zurück schwimmen, vom Floß aus in den See springen, sich trotz der Blutegel in den Sumpf trauen. Die Wochen waren erfüllt von einer atemlosen Spannung. Hatten diese Minuten im Heu bei Hans die gleichen Gefühle ausgelöst wie bei mir? Ich wünschte mir, mit ihm zu reden, und hatte doch Angst davor. An einem warmen Sommertag Anfang August 1957 passierte es dann. Am Morgen hatte ich im Radio gehört, dass Oliver Hardy gestorben war, und ich war bestürzt darüber gewesen, weil ich die »Dick und Doof«-Filme sehr gemocht hatte. Hans fuhr mit seinem neuen roten Mofa bei uns vor, einem schrecklichen Ding mit langem Rennsattel, auf dem er lag wie ein Affe. Aber ich sah ein, dass das Mofa bequemer war als das Fahrrad. Hans hatte eine Umhängetasche dabei, er trug sie über seiner Lederjacke. Sie fiel mir deswegen auf, weil sie sehrdamenhaft aussah – cremefarbener Lack mit goldenen Schnallen. Ich vermutete, dass sie seiner Mutter gehörte.»Was ist da drin?«, fragte ich, als er das Mofa abstellte.»Ich hab was für dich«, sagte er bloß, und schon begann mein Herz zu pochen. Aber noch bevor ich ihn bitten konnte, die Tasche zu öffnen, kamen meine Schwestern Franziska und Christa dazu. Sie nahmen sein Mofa in Augenschein, bemängelten hier eine Kleinigkeit und lobten da etwas. Ich beobachtete, wie die beiden sich mit Hans unterhielten. Sie behandelten ihn, als sei er schon in ihrem Alter, dabei war Franziska zwei Jahre älter als er und Christa sogar vier. Es schmeichelte mir, dass sie ihn akzeptierten, denn die beiden waren viel reifer als ich. Franziska war kurz davor, ihr Medizinstudium aufzunehmen, sie las in ihrer Freizeit dicke Fachbücher und ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich ihrem künftigen Beruf mit Leib und Seele verschreiben würde. Sie war kurzsichtig und hatte sich eine Hornbrille ausgesucht, hinter der ihr hübsches Gesicht beinahe verschwand. Sie hätte damals mehr aus sich machen können. Christa hingegen war in meinen Augen eine richtige Dame. Ich beneidete sie um ihr hinreißendes Gesicht und ihre Figur, schlank und doch mit Kurven. Ich fand, dass sie sich kleidete wie ein Filmstar, auch wenn unsere Mutter immer die Augen verdrehte und ausrief: »Kind, wie siehst du denn wieder aus?«Christa hatte viele Verehrer, die ihr zu Füßen lagen. Jeden Abend ging sie mit einem anderen aus, wobei mit keinem wirklich etwas lief. Als die beiden das Mofa genug bewundert hatten, gingen Hans und ich hinunter in den Obstgarten und setzten uns aufeine Bank.»Jetzt zeig schon. Bitte.« Ich wies auf die Tasche.»Warte noch«, sagte er. »Wahrscheinlich bist du gleich enttäuscht. So toll ist es nun auch wieder nicht.«Ich lehnte mich zurück und erzählte ihm den neuesten Klatsch aus der Schule. Wir gingen auf unterschiedliche Schulen, er auf eine Jungenschule, ich auf eine Mädchenschule, aber dennoch kannten wir die meisten Klassenkameraden des anderen. Wir fuhren mit dem Zug zur Schule, und man begegnete sich morgens auf dem Bahnsteig. Viele kannten sich auch über die älteren Geschwister. Wir saßen lange auf der Bank im Obstgarten, und ich untersagte es mir, ihn noch einmal nach der Tasche zu fragen. Als ich Hunger bekam, fragte ich ihn, ob wir nicht hinein gehen und ein Honigbrot essen sollten. Er war einverstanden, und so machten wir uns auf den Weg in die Küche. Auf der Treppe, die vom Garten hinauf auf die Terrasse führte, nahm er plötzlich meine Hand. Ich blieb stehen und sah ihn an, und da nahm er mich in den Arm und küsste mich. Über uns breitete der Apfelbaum seine Äste aus, dazwischen schimmerte der blaue Himmel durch, und ich war glücklich. Viel später, nachdem wir Brote gegessen und einander über unsere Teller hinweg sprachlos und mit glühenden Wangenangeschaut hatten, machte er die Tasche auf. Darin lag eine kleine Schachtel, in der sich ein Modellauto befand. Ein grüner MG TF, ich sehe ihn noch vor mir. Hans hatte ihn als Talisman für mich gekauft, und ich ahnte, dass dies für ihn ein Beweis äußerster Zuneigung war. Hans liebte Autos. Einen MG TF zu besitzen war sein größter Traum. In den Monaten danach waren wir unzertrennlich, soweit das möglich ist, wenn beide noch zur Schule gehen und fünfzehn Kilometer weit voneinander entfernt wohnen. Während meine Mutter unsere Verbindung stillschweigend zur Kenntnis nahm, war mein Vater sehr eifersüchtig. Eines Abends ging ich mit Hans eng umschlungen spazieren, als mein Vater mit dem Auto an uns vorbeifuhr. Als wir anschließend gemeinsam zu Abend aßen, wendete er sich von Hans ab und wechselte kein Wort mit ihm. Franziska und Christaberuhigten mich später, denn sie kannten diese Eifersucht. In dieser Zeit lernte ich auch Hans’ Mutter kennen. Er hatte eine Grippe, und ich wollte ihn zum ersten Mal besuchen. Nachdem ich mit dem Fahrrad den ganzen Weg durch die flirrende Hitze zu ihm gefahren war, stieg ich vollkommen verschwitzt vor einem eindrucksvollen Haus mit baumbewachsener Auffahrt ab, einer weiß verputzten Jugendstilvilla mit Freitreppe und säulengetragenem Vordach. Meine Familie war zwar nicht arm, wir besaßen den Hof und die Felder. Auf unserem Anwesen betrieben meine Eltern zudem ein Café16Restaurant, das bei Wochenendausflüglern und Hochzeitsgesellschaften sehr beliebt war. Aber das hier war etwas anderes, das spürte ich. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es eine erfolgreiche Firma sein musste, die seine Familie leitete. Davon abgesehen ließ mich der Reichtum unberührt, denn es war Hans, der mich interessierte, und seinetwegen war ich hier. Ich nahm mein Körbchen mit Himbeeren vom Gepäckträger, die ich in unserem Garten für ihn gepflückt hatte, und klingelte. Fast hatte ich damit gerechnet, dass ein Dienstmädchenöffnen würde, aber Hans kam selbst zur Tür, lächelte mich an und führte mich die Treppe hinauf in eine Art Herrenzimmer, das mit grünen Samt- und Ledermöbeln eingerichtet war.»Meine Mutter möchte dich kennenlernen«, sagte er; anscheinend war es die Begründung dafür, dass er mich in diesen Raum führte. Wir saßen einander gegenüber, blickten einander an, und ich war auf einmal so aufgeregt, als wäre ich auf einem Staatsbesuch. Nicht so sehr wegen seiner Mutter, die ich gleich kennenlernen würde. Eher wegen der Symbolik, die der Begegnung mit ihr innewohnte. Ich fragte mich, ob er ihr zuvor andere Mädchen vorgestellt hatte, und wenn ja, welche. Nach einigen Minuten öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Zimmers, und seine Mutter betrat den Raum. Sie war eine schöne Frau, groß und mit üppigen Formen. Ihre braunen Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt. Unter ihrem dunkelblauen Kostüm trug sie eine cremefarbene Bluse, sie hielt sich sehr aufrecht und musterte mich von oben herab, als ich von meinem Stuhl aufgestanden war, um sie zu begrüßen. »So, Sie sind also die Hilda«, stellte sie mit kühler Stimme fest. Ich spürte sofort: Sie war das Gegenteil von meiner eigenen Mutter, einer lieben, sanften und gütigen Frau, die immer ein offenes Ohr für mich hatte. Sie nahm meine Hand und blickte mir kurz in die Augen, ohne zu lächeln. Ich machte einen Knicks, wie es damals üblich war. Weil ich kleiner war als sie, musste ich selbst dann noch zu ihr aufblicken, als ich mich wieder aufgerichtet hatte. So standen wir einander gegenüber, und dann ließ sie meine Hand wieder los, wobei ihr Blick schon zuvor abgeschweift war – hinüber zu Hans. Ich dachte, mir gefriert das Herz! Mir fiel wieder ein, was Hans mir im Heuschober anvertraut hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Was machst du eigentlich hier?, dachte ich. Das Beste wäre, du würdest gleich wieder gehen. Bis zum Abitur und auch noch danach hatte Hans immer wieder einmal andere Freundinnen, und ich hatte andere Freunde. Denn zwischendurch stritten wir uns oder es passierte irgendetwas anderes, und dann trennten wir uns. Ich weiß noch, wie ich ihn einmal gefragt habe: »Was ist jetzt?«Daraufhin antwortete er: »Du, ich mag die andere grad lieber.«Ich gab dann schnippisch zurück: »Na, dann kannst du jetzt gehen.«Ein andermal war ich es, die ihm gestand: »Du, ich hab mich in einen anderen verliebt.«Es war eine aufregende Zeit, und ich genoss sie. Dennoch gab es nur einmal einen jungen Mann, der Hans wirklich hätte den Platz streitig machen können. Max war angehender Mediziner, blond, schlaksig, mit einem jungenhaften Lächeln und sehr guten Manieren. Er ließ mich nie warten, war zuvorkommend und vergötterte mich geradezu. Er verwöhnte mich über alle Maßen und machte mir oft Geschenke. Einmal bastelte er mir in wochenlanger Arbeit eine Spieluhr. Dann beobachtete er zufällig, wie Hans mich sonntags abends zum Bahnhof brachte, als ich nach einem Wochenendbesuch daheim zurück in meine Studentenbude nach Schwäbisch Gmünd fahren wollte, wo ich die Pädagogische Hochschule besuchte. Da warf Max die Spieluhr enttäuscht und wütend in die Isar, wie er mir hinterher erzählte. Seine Hingabe fand ich jedoch auf Dauer langweilig, und ich merkte, dass meine Gedanken, wenn wir zusammen waren, immer öfter zu Hans schweiften. Dachte er noch an mich? Die Frage war berechtigt, denn viele Frauen schwärmten für ihn, und Hans schien diese Jahre ebenso zu genießen wie ich. Eines Abends trafen wir uns nach längerer Zeit wieder einmal in einem Lokal in der Nähe meines Elternhauses, und ich fragte ihn mit einem neckischen Unterton, was er so trieb, wenn er mit anderen Frauen ausging. Allerdings war meine Frage durchaus ernst gemeint, ich wollte nur nicht, dass er das merkte. Er schien aber zu spüren, dass ich nur vorgab, so fröhlich und locker zu sein, und versicherte mir, dass er seine Bekanntschaften nie ausnutzen würde. Ich glaubte ihm. Es gab andere Männer, die sofort mit jeder Frau schliefen. Doch Hans gehörte nicht dazu, er war ein anständiger Kerl. Als er mich an diesem Abend küsste, begann ich zuwünschen, dass er bei mir eine Ausnahme machen würde. Wir begannen uns wieder fest zu verabreden. Hans war einer von den Männern, die alles vergessen, wenn sie in der Garage unter einem Auto liegen und daran herumschrauben. Wenn er sich deswegen verspätete, fragte ich mich, ob ich ihm genauso viel bedeutete wie er mir. Er enttäuschte mich nie, er verspätete sich nie um mehr als eine halbe Stunde, dennoch litt ich jedes Mal wieder unter der Ungewissheit. Eigentlich aber machte sie ihn noch interessanter für mich. Wir hatten den gleichen Humor, was uns im Laufe unserer Ehe so manches Mal half, uns nach einem Streit wieder zu versöhnen. Und auch sonst spielte Humor eine große Rolle in unserem Zusammenleben: Hans neckte mich oft oder erzählte einen Witz, und wenn ich dann lachen musste, fiel er in mein Lachen ein. Diese Augenblicke sind mir auf ewig ins Gedächtnis eingebrannt. Es hört sich fast banal an: zusammen lachen können. Aber es waren Momente von solcher Wärme und Nähe, wie man sie kaum beschreiben kann. Erst wenn der andere fehlt, weiß man, wie einzigartig sie sind. Mir schien es, als sei er für mich gemacht.
.© 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch GladbachLektorat: Ann-Kathrin Schwarz
Textredaktion: Monika Hofko, Scripta Literatur-Studio München
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
Der Auszug aus dem Gedicht: »Funeral Blues« auf der Seite 25
ist zitiert nach W. H. Auden: »Tell Me the Truth About Love«,Faber and Faber, London 1978.
Titelbild: © Larry Williams/zefa/CorbisSatz: Textverarbeitung Garbe, Köln Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN 978-3-404-61646-6
Sie finden uns im Internet unter
www.luebbe.deBitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
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Autoren-Porträt von Katrin Hummel
Katrin Hummel, geboren 1968 in Ulm, studierte in Strassburg und Freiburg i.Br. die Fächer Französisch, Geographie und Englisch. Sie besuchte die Berliner Journalistenschule und arbeitet seit mehreren Jahren als Redakteurin bei der FAZ. Katrin Hummel ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katrin Hummel
- 2014, 8. Aufl. 2008, 284 Seiten, Masse: 13,6 x 21,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404616464
- ISBN-13: 9783404616466
- Erscheinungsdatum: 26.11.2008
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