Grosses Solo für Anton
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Der letzte Held im Erziehungsroman zur Endzeit. Ein Doktor Faust unserer Tage - zeitgemäss zwangsläufig eine ordinäre Ausgabe, doch auch mit mancherlei Erinnerungen an diverse Gretchen belastet und ebenso mit dem fatalen (und folgenreichen) Hang zum Höheren (oder Tieferen) geschlagen.
GrossesSolo für Anton von Herbert Rosendorfer
LESEPROBE
Sonnengeflechtsschwellung
Als AntonL. einige Tage später über die Sache nachzudenken begann - in den ersten Tagenhatte er keine Zeit dazu gehabt, war er damit beschäftigt gewesen, zu staunen undsein neues Leben einzurichten -, erinnerte er sich daran, dasser in der Nacht vom 25. auf den 26. einmal kurz aufgewacht war. Er hatte nichtauf die Uhr geschaut. Ein auffallend heller Schein, ein fahler, gelblicher Scheinwie in einer Schneenacht, war durch den Spalt des Vorhanges gedrungen. Er warnur kurz wach gewesen, erinnerte sich Anton L.; nicht lang genug, um die Kraftaufzubringen, auf die Uhr zu schauen, aber lang genug, um zu denken: es ist einSchneesturm, und um dem entgegen zu denken: nein, nicht im Juni. Dann musste er wieder eingeschlafen sein.
Dieserhelle, fahl-gelbliche Schein war das einzige gewesen, was Anton L. in der Nachtvom 25. auf den 26. Juni aufgefallen war und was er später als Hinweis deutenkonnte, wenn er nach Erklärungen suchte. Viel half es ihm freilich auch nichtweiter.
Der 26.Juni war ein Dienstag. Anton L. wachte, ehe sein Wecker um halb sieben Uhrläutete, davon auf, dass auf der Veranda schräggegenüber die Hunde bellten. Die Familie, die dort wohnte, hatte zwei Hunde,einen kleinen wurstfarbenen mit Haaren über den Augen und einen grösserengefleckten mit spitziger Schnauze. Aus der Tatsache, dassAnton L. mit dröhnendem Kopf aufwachte, schloss er, dass die Hunde schon länger gebellt hatten. Anton L. standauf und zog die Vorhänge auseinander.
Das Fensterseines Untermietzimmers ging nicht direkt ins Freie, sondern auf eine ähnlicheVeranda wie die schräg gegenüber, in der die Hunde bellten. Die Veranda vorAnton L.s Fenster war, seit er hier wohnte, voll von unnützen Gegenständen,altem, verstaubtem Hausrat und Gerümpel. Frau Hommer,die Frau des Hauptmieters, machte manchmal, wenn ihr Mann wieder einmalSauberkeit und Ordnung gepredigt hatte, einen Tag lang oder zwei verzweifelte Anstrengungen,um die Veranda aufzuräumen. Da sie es aber aus Furcht vor Herrn Hommer nicht wagte, irgendeinen und sei es den unnützestenGegenstand fortzuwerfen, war ihre Mühe fast immer so gut wie vergeblich. Seiteiniger Zeit - genauer gesagt, seit Herrn Amtmann HommersPensionierung im Herbst vorigen Jahres - kam für Frau Hommererschwerend hinzu, dass sich Herr Hommerauf der Veranda einen Leguan in einem Terrarium hielt. Es war schwer zu sagen,wen Frau Hommer mehr fürchtete, ihren Mann oder den Leguan.
DieScheiben der Veranda waren halb blind und ungeputzt. Durch eine weniger blindeScheibe sah Anton L. zur anderen Veranda hinüber. Der grössere Hund stand aufgerichtethinter dem Fenster, die Vorderpfoten auf das Fensterbrett gelegt. Unmittelbardanach verschwand er. Das Bellen ging in Winseln über.
Nun läuteteder Wecker. Anton L. nahm seine Toilettensachen und ging ins Bad. Sein Zimmerhatte keine eigene Waschgelegenheit. Anton L. hatte Anspruch auf Mitbenutzungdes Bades nach einem genau geregelten Plan, den ihm bei Abschlussdes Untermietvertrages der Hauptmieter, Herr Amtmann (damals noch im Dienst) Hommer, in Schriftform ausgehändigt hatte.
DieRegelung war pedantisch, aber nicht kleinlich. Anton L. beanspruchte nichteinmal alles, was ihm der Hauptmieter eingeräumt hatte, wobei man allerdings berücksichtigenmuss, dass Anton L. eineigenartiges Verhältnis zur Sauberkeit hatte. Anton L. war sozusagen einQuartals-Reiniger. In längeren Abständen, die sich bis zu einem halben Jahrhinziehen mochten, aber nie kürzer als vier Wochen waren, erfassteAnton L. das Bedürfnis, sich zu reinigen. Er verbrachte ganze Wochenenden odermehrere Urlaubstage im Volksbad (zu diesen exzessiven Reinigungszeitengenügte natürlich die Hommersche Badegelegenheitseinen Ansprüchen nicht), nahm Vollbäder, Dampfbäder, Salzbäder, Duschbäder, Mineralbäder,Sprudelbäder, liess sich massieren, maniküren, pediküren, besuchte die Sauna,gebrauchte Wurzelbürsten, Seegurken, Aloe-Handschuhe, studierte im Bad vorFeuchtigkeit bald zerfallende Prospekte über medizinische Reinigungsneuheiten,liess sich Haarkuren und Hautkompressen und manchmal sogar Reinigungsklistiereverabreichen. Waren die Tage dieser Reinigungsexzesse vorbei, beschränkte sich AntonL. für, wie gesagt, oft ein halbes Jahr auf eine minimale Toilette, die sich ineinem flüchtigen Zähneputzen, Rasieren und dem Waschen der Fingerspitzenerschöpfte.
Zu diesenZeiten wechselte Anton L. auch seine Wäsche nicht, was dazu führte, dass er allmählich nicht mehr gut roch, es ist nicht zuleugnen, zumal er dann auch in der Unterwäsche schlief.
Sowohl eineStellung bei einer Bank (vor vier Jahren) als auch eine Stellung in einemReisebüro (vor zwei Jahren) war Anton L. wegen seines Geruches gekündigtworden. (Einen Posten in einem Verlag hatte Anton L. aus anderen Gründenverlassen, wovon noch die Rede sein wird.) Um die Bank war ihm nicht leid gewesen,im Reisebüro wäre er aber gern geblieben. Er hatte deshalb dem Chef zu erklärenversucht, wie angenehm es sei, ja wohltuend, alte Wäsche zu tragen. Die Wäsche,hatte Anton L. gesagt, nehme mit der Zeit einen Grad von Weichheit undSchmiegsamkeit an, wie sie saubere Wäsche nie zu erreichen imstande sei. Sie gehein einem auf. Man gehe in ihr auf. Man habe das Gefühl, sagte Anton L., eskönne einem nichts passieren. Der Chef hatte kein Verständnis dafür.
Seit zweiJahren arbeitete Anton L. im Finanzamt. Das Finanzamt hat Kunden, die auch dannnur ungern kommen, wenn der zuständige Beamte nach Ambra duftet. Den Chef desFinanzamtes bekam Anton L. fast nie zu Gesicht, der befand sich also ausserRiechweite. Hie und da beschwerte sich ein Zimmerkollege. Beschwerte sich derZimmerkollege oft und hartnäckig genug, wurde er oder Anton L. in ein anderesZimmer versetzt. Anton L. machte das nichts aus; er suchte keinen Kontakt mitden Kollegen, die er geistig als weit unter sich stehend betrachtete (mit einemgewissen Recht, muss man dazusagen).
Später, alsAnton L. die Zeit gefunden hatte, über die Sache nachzudenken, am Freitag oderSamstag ungefähr, sagte sich Anton L.: Wer weiss, ob ich nicht wegen meinesGeruches von der Katastrophe verschont geblieben bin, wer weiss. -
Die Wohnungwar still. Das war nicht beunruhigend, aber zu so früher Morgenstundeauffällig. Normalerweise stand Frau Hommer früher aufals Anton L. und huschte, in rätselhaften Hantierungen begriffen, in der Wohnungherum (mit Ausnahme des untervermieteten Zimmers, selbstredend). Ob diesesständige Huschen, das bis zur Verflüchtigung des Erinnerungsbildes der Frauführte - niemand war imstande, sie anders als sozusagen unscharf in den Blickzu bekommen -, ob dieses Huschen angeboren war? Oder huschte die Frau, um ihremMann weniger oder weniger klare Zielfläche für den Zorn zu bieten? - wasnatürlich vergeblich war, denn die Schallwellen der Amtmännisch-HommerschenAnordnungen erreichen auch eine Huschende. Herr Hommerpflegte, seit er pensioniert war, recht lang im Bett zu liegen, verstand esaber auch vom Bett aus, seine Frau am Huschen zu halten. Das verdichtete sich -insofern wurde die Frau dadurch wieder körperhafter - zu wespenartigem Surren,wenn sich Herr Amtmann a. D. Hommer erhob, um seinerVerdauung, es ist nicht anders zu sagen, zu huldigen. Das trat mit exakterRegelmässigkeit kurz vor halb acht Uhr ein, wenn sich Anton L. (an Werktagen)zum Weggehen anschickte. Herr Hommer trat dann ineinem türkischen Schlafrock mit goldener Kordel aus dem ehelichen Schlafzimmer,schwang das Quastenende im Kreis und sagte erstaunt -jeden Morgen -, als wäre die Begegnung ein grosser Zufall: »Ach, der Herr L.!«,jeden Morgen: »Wünsche einen guten Morgen!« und fügte - jeden Morgen - inweltmännischer Baritonlage und mit einem Augenzwinkern von Mann zu Mann hinzu:»Ich gehe jetzt Kakteen pflanzen.«
Was sich imeinzelnen dann hinter der Toilettentür abspielte, entzogsich Anton L.s Kenntnis. Das Kakteenpflanzen dauerte lang. Von dienstfreienTagen wusste Anton L., dassHerr Hommer - der sich vor und nach demKakteenpflanzen wog - nachsinnend mit der Zeitung ins Bett zurückkehrte und dass ihm vorher, noch in die Toilette, eine Schüssel mitangewärmtem Selterswasser gereicht werden musste.
- Wo dieAlte heute ist? dachte Anton L. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie verschlafen hatte. Sie hatte noch nie verschlafen.Ob sie krank war? Sie war nie krank gewesen. Bei dieser Gelegenheit versuchtesich Anton L. den Tod der Frau Hommer vorzustellen.Es war nicht anders denkbar: Frau Hommer würde eines Tageshinaus und über die drei Stiegen hinunterhuschen, wie ein kleiner Wind zumFriedhof, dort an zwei verdutzten Sargträgern vorbei in einen zufällig offenen Sargfahren und diesen wie eine Muschel ihre Schalen über sich schliessen. Nur sokönnte sie sich vor dem todüberdauernden Zornschützen, der ihren Mann dann ergreifen würde. Denn wer würde ihm dann sein Selterswasseranwärmen? - Auch als Anton L. kurz nach dreiviertel sieben das Badezimmer verliessund nochmals den Gang überquerte, um in sein Zimmer zu gehen, hörte und sah ervon Frau Hommer nichts.
Anton L.zog sich an. Zwischen sieben und halb neun Uhr hatte er laut der schriftlichenUntermietordnung Anspruch auf eine Kanne heissen Wassers. Auch hier verzichteteAnton L. auf ein Grossteil dessen, was ihm zustand. Erschüttete zwei Löffel Pulverkaffee in ein Glas und ging damit in die Küche.Immer noch rührte sich nichts in der Wohnung. Anton L. stellte die Wasserkanne,einen sehr alten Bestandteil des Hommerschen Hausrats,sechzehneckig (also quasi rund und doch nicht), aus längst stumpf gewordenemMetall, auf den Gasherd. Anton L. kannte sich aus, auch ohne Frau Hommer.
Während dasWasser warm wurde, trat Anton L. auf die - von der Küche aus zugängliche -Veranda hinaus. Die Hunde auf der Nachbarveranda schräg gegenüber winseltenerbärmlicher als zuvor. Es war ein klarer, sonniger Tag. Der Leguan imTerrarium schaute in einer haarscharfen Tangente an Anton L.s Kopf vorbei. Es warein schönes Tier, ein grosser Leguan. Als grün hätte ihn nur deroberflächliche Betrachter bezeichnet.
Anton L.beobachtete - während das Wasser in der sechzehneckigen Kanne die ersten Blasenwarf - das Tier in den klaren Strahlen der Morgensonne. Auf seinem Körperschillerten alle nur erdenklichen Spielarten der Farbe Grün, nicht weniger alsin einem taufeuchten Mischwald im Sommer, von fast gelb bis fast blau. Sonja hiessder Leguan. Ursprünglich hatte er Ernst geheissen, bis ein Leguankenner Herrn Hommer darauf aufmerksam machte, dasses sich um ein Weibchen handelt.
- Ob Hommers fortgefahren sind? Verreist? dachte Anton L. In derganzen Zeit, in der er hier wohnte, waren Hommers nieverreist. Sie konnten gar nicht verreisen, hatten sie immer gesagt, wegen derTochter. - Und wenn sie verreist waren, wer sollte dann den Leguan Sonjafüttern? Man hätte dann wohl einen Zettel für Anton L. hingelegt. Aber: AntonL. war gestern abends nach Hommers schlafengegangen. Dass Hommers danachwieder aufgestanden wären, um klammheimlich zu verreisen, war höchstunwahrscheinlich.
Man kannauch sehr früh verreisen, um fünf Uhr zum Beispiel. Das gibt aber, zumal, wennPersonen verreisen, die, wie Hommers, das Verreisennicht gewohnt sind, unvermeidlich Lärm. Anton L. hätte das gehört. Das Wasserkochte. Anton L. goss das kochende Wasser in das Glasauf den Pulverkaffee. Das Glas zersprang. Das heisse Wasser - oder war es schonKaffee? - ergoss sich über Anton L.s linkes Knie unddas Schienbein abwärts. Die nasse, heisse Hose wickelte sich um das Bein.
Er zog sich- in der Küche! - die Hose aus. Als er in der leicht gelblichen Unterhosedastand, dachte er: Was für ein Glück, dass Hommers nicht da sind. Herr Hommerwar zwar, wie er oft betonte, ein Freigeist, hielt aber viel auf Moral. Herr Hommer hätte seiner Frau nie gestattet, ihn selber, Hommer selber, den Ehemann also, in Unterhosen zu sehen,viel weniger den Untermieter. Womöglich hätte sich Herr Hommersofort von Frau und Untermieter getrennt.
Anton L.lief ins Bad, trocknete sich ab (es stand ihm laut Untermietordnung ein Hakenan der Badezimmergarderobe zu; für das Handtuch mussteer selber sorgen), ging dann in sein Zimmer und zog eine andere Hose an. Erschaute auf die Uhr: sieben Uhr achtzehn. Wenn er nicht auf den Kaffeeverzichtete, würde er zu spät ins Büro kommen.
- Ich denkenicht daran, auf den Kaffee zu verzichten, dachte Anton L. Hier zuckte daserste Mal der Gedanke durch seinen Kopf, ob er nicht womöglich heute krank sei.
Es war dasletzte Glas gewesen, das Anton L. besass. Anton L. ging wieder in die Küche.Immer noch rührte sich niemand sonst in der Wohnung. - Sie sind tatsächlich fortgefahren,dachte Anton L. Er wurde kühn. Er nahm eine hommerischeTasse aus dem Küchenschrank, löffelte (aus eigenem Bestand) neuen Pulverkaffee hineinund stellte wieder Wasser auf.
Während dasWasser sich erwärmte, säuberte er den Boden. Dann gosser den Kaffee auf und setzte sich - schon wieder eine Kühnheit, denndergleichen stand ihm nicht zu - an den Küchentisch.
©Buchverlage LangenMüller Herbig
- Autor: Herbert Rosendorfer
- 2007, 2. Aufl., 320 Seiten, Masse: 13,6 x 21,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: nymphenburger
- ISBN-10: 3784431259
- ISBN-13: 9783784431253
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