Granit und Regenbogen
Essays
Virginia Woolfs Gedanken zu Literatur und Leben
Ihre Romane gehören zur Weltliteratur, ihre Tagebücher und autobiographischen Schriften sind berühmt. Aber als glänzende, höchst anregende Essayistin ist Virginia Woolf immer noch zu entdecken. Die...
Ihre Romane gehören zur Weltliteratur, ihre Tagebücher und autobiographischen Schriften sind berühmt. Aber als glänzende, höchst anregende Essayistin ist Virginia Woolf immer noch zu entdecken. Die...
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Produktinformationen zu „Granit und Regenbogen “
Klappentext zu „Granit und Regenbogen “
Virginia Woolfs Gedanken zu Literatur und LebenIhre Romane gehören zur Weltliteratur, ihre Tagebücher und autobiographischen Schriften sind berühmt. Aber als glänzende, höchst anregende Essayistin ist Virginia Woolf immer noch zu entdecken. Die leidenschaftliche Leserin schrieb viele ihrer Rezensionen und Betrachtungen für das renommierte 'Times Literary Supplement' und andere Zeitschriften. Mit schwebender Aufmerksamkeit widmet sie sich den Themen, die Literatur, Kunst und Leben ihr stellen, und offenbart dabei den ganzen Reichtum ihres Wissens und Denkens, die Vielfalt ihrer gestalterischen Möglichkeiten und den Zauber ihrer Prosa. Die beiden Textsammlungen 'Granit und Regenbogen' (Bd. 092568) und 'Das Totenbett des Kapitäns' (Bd. 092560), ausgewählt aus dem immensen essayistischen Werk, bilden den Abschluss der Ausgabe der Gesammelten Werke von Virginia Woolf.
Lese-Probe zu „Granit und Regenbogen “
Granit und Regenbogen von Virginia WoolfDeutsch von Brigitte Walitzek
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Stunden in einer Bibliothek
Beginnen wir damit, daß wir der alten Verwechslung von Menschen, die die Gelehrsamkeit lieben, mit solchen, die das Lesen lieben, ein Ende bereiten und konstatieren, daß zwischen beiden keinerlei Zusammenhang besteht. Ein gelehrsamer Mann ist ein meist sitzender, konzentrierter, einsiedlerischer Enthusiast, der Bücher nach irgendeinem speziellen Körnchen Wahrheit durchsucht, an das er sein Herz gehängt hat. Sollte ihn die Leseleidenschaft überwältigen, schrumpfen seine Gewinne und zerrinnen ihm zwischen den Fingern. Ein Leser dagegen muß seinen Wunsch nach Wissen von Anfang an zügeln; falls Wissen an ihm kleben bleibt, schön und gut, aber sich auf die Suche danach zu begeben, nach einem System zu lesen, ein Spezialist oder eine Koryphäe zu werden, würde aller Voraussicht nach vernichten, was wir gern als die humanere Liebe zum reinen, auf keinen Gewinn bedachten Lesen betrachten.
All dem zum Trotz können wir mit Leichtigkeit ein Bild heraufbeschwören, das auf den bücherbesessenen Menschen zutrifft und ein Lächeln auf seine Kosten hervorruft. Wir sehen eine bleiche, hagere Gestalt im Morgenmantel, in Grübeleien versunken, unfähig, einen Kessel vom Herd zu heben oder eine Dame anzusprechen, ohne rot zu werden, ahnungslos, was die Tagesereignisse angeht, aber wohlvertraut mit den Katalogen der Antiquare, in deren dunklen Räumlichkeiten er die Stunden des Sonnenlichts verbringt - ein liebenswerter Charakter, ohne jeden Zweifel, mit seiner griesgrämigen Naivität, doch ohne die geringste Ähnlichkeit mit jenem anderen, auf den wir die Aufmerksamkeit lenken möchten. Denn der wahre Leser ist im wesentlichen jung. Er ist ein Mann von intensiver Neugier; voller Ideen; offen und mitteilsam, für den das Lesen eher so etwas wie ein flotter Spaziergang an der frischen Luft denn ein Aufenthalt in der Zurückgezogenheit eines Arbeitszimmers ist; er stapft über Landstraßen, klettert immer höher in die Berge hinauf, bis die Luft fast zu dünn ist, um noch atmen zu können; für ihn ist es überhaupt keine sitzende Beschäftigung.
Aber von allgemeinen Aussagen einmal abgesehen, wäre es nicht schwer, durch eine Zusammenstellung von Fakten zu beweisen, daß die große Zeit des Lesens das Alter zwischen achtzehn und vierundzwanzig ist. Allein die Liste dessen, was während dieser Zeit gelesen wird, erfüllt das Herz älterer Menschen mit Verzweiflung. Nicht nur, daß wir so viele Bücher gelesen haben, sondern daß wir solche Bücher zum Lesen hatten. Nehmen wir uns, um unsere Erinnerungen aufzufrischen, eines der alten Notizbücher hervor, die wir alle zu irgendeinem Zeitpunkt mit solcher Leidenschaft zu führen begannen. Die meisten Seiten sind leer, das ist wohl wahr; aber am Anfang finden wir eine gewisse Anzahl, die sehr schön mit auffallend leserlicher Schrift gefüllt sind. Hier haben wir die Namen großer Schriftsteller in der Rangfolge ihrer Verdienste aufgelistet; hier haben wir wundervolle Passagen aus den Klassikern abgeschrieben; hier sind Listen zu lesender Bücher; und hier, am interessantesten, Listen von Büchern, die tatsächlich gelesen wurden, wie der Leser mit einem gewissen Maß an jugendlicher Eitelkeit durch ein Häkchen in roter Tinte bezeugt. Wir wollen eine Liste der Bücher zitieren, die jemand in irgendeinem vergangenen Januar im Alter von zwanzig Jahren gelesen hat, die meisten davon wahrscheinlich zum ersten Mal. 1. Rhoda Fleming. 2. The Shaving of Shagpat. 3. Tom Jones. 4. The Laodicean. 5. Psychology von Dewey. 6. Das Buch Hiob. 7. Webbes Discourse of Poesie. 8. The Duchess of Malfi. 9. The Revenger's Tragedy.1 Und so geht es Monat um Monat weiter, bis die Listen, wie es bei solchen Listen oft der Fall ist, im Monat Juni plötzlich aufhören. Doch wenn wir dem Leser durch die Monate folgen, wird klar, daß er praktisch nichts anderes getan haben kann als lesen. Die elisabethanische Literatur wurde mit einiger Gründlichkeit durchgegangen; er las eine Menge Webster, Browning, Shelley, Spenser und Congreve; Peacock las er von Anfang bis Ende; und die meisten Romane Jane Austens zwei- oder dreimal.2 Er las den ganzen Meredith, den ganzen Ibsen, und ein wenig Bernard Shaw. Wir dürfen zudem ziemlich sicher sein, daß die Zeit, die nicht mit Lesen verbracht wurde, irgendeiner hitzigen Debatte gewidmet war, in der die Griechen gegen neuzeitliche Autoren ins Feld geführt wurden, die Romantik gegen den Realismus, Racine gegen Shakespeare, bis man bemerkte, daß der Lichtschein der Lampen in der Morgendämmerung verblaßt war.
Die alten Listen sind dazu da, uns lächeln und vielleicht ein wenig seufzen zu lassen, aber wir würden viel dafür geben, wenn wir auch die Stimmung zurückholen könnten, in der diese Orgie des Lesens stattfand. Zum Glück war unser Leser kein Wunderkind, und mit ein bißchen Nachdenken können sich die meisten von uns zumindest an die Phasen unserer eigenen Initiation erinnern. Die Bücher, die wir in der Kindheit lasen, nachdem wir sie heimlich von irgendeinem Regal stibitzt hatten, das für uns als unerreichbar galt, besitzen etwas von der Unwirklichkeit und Erhabenheit einer heimlichen Betrachtung der Morgendämmerung, die über stillen Feldern hereinbricht, während der Rest des Hauses schläft. Durch die Vorhänge spähend sehen wir die fremdartigen Umrisse nebelverhangener Bäume, die wir kaum erkennen, obwohl wir sie vielleicht unser ganzes Leben lang in Erinnerung behalten; denn Kinder haben seltsame Vorahnungen dessen, was kommen wird. Das spätere Lesen dagegen, für das die oben angeführte Liste ein Beispiel sein mag, ist etwas völlig anderes. Vielleicht zum ersten Mal sind alle Einschränkungen weggefallen, wir können lesen, was wir wollen; Bibliotheken stehen uns zur Verfügung und, was das Beste ist, Freunde, die sich in derselben Lage befinden wie wir. Tagelang tun wir nichts anderes als lesen. Es ist eine Zeit außergewöhnlicher Erregung und Verzückung. Wie im Rausch scheinen wir überall Helden zu entdecken. In uns ist eine Art Staunen, daß wir das alles wirklich selbst tun, und, damit vermischt, eine absurde Arroganz und der Wunsch, unsere Vertrautheit mit den großartigsten Menschen kundzutun, die je auf dieser Welt wandelten. Die Gier nach Wissen ist zu dieser Zeit am leidenschaftlichsten oder zumindest am selbstbewußtesten, und zudem besitzen wir ein intensives Gefühl der Einzigartigkeit, das die großen Schriftsteller bestätigen, indem sie den Anschein erwecken, als stimmten sie in ihrer Einschätzung all dessen, was im Leben gut ist, mit uns überein. Und da es unabdingbar ist, uns gegen jemanden zu behaupten, der sich beispielsweise Pope statt Sir Thomas Browne3 zum Helden erkoren hat, empfinden wir eine tiefe Zuneigung zu diesen Männern und haben das Gefühl, sie nicht so zu kennen, wie andere Menschen sie kennen, sondern ganz persönlich, für uns allein. Wir kämpfen unter ihrer Führung und sozusagen unter ihren Augen. Und so geistern wir durch die Antiquariate und schleppen Folio- und Quartbände nach Hause, Euripides zwischen Holzdeckeln und Voltaire in neunundachtzig Oktavbändchen.
Diese Listen sind jedoch insofern seltsame Dokumente, als sie kaum einen der zeitgenössischen Schriftsteller zu enthalten scheinen. Meredith und Hardy und Henry James waren zwar noch am Leben, als unser Leser sie entdeckte, galten jedoch bereits als Klassiker. Es gibt niemanden seiner eigenen Generation, der ihn so beeinflußt, wie Carlyle oder Tennyson oder Ruskin4 die jungen Leute ihrer Zeit beeinflußten. Und das, so glauben wir, ist sehr charakteristisch für einen jungen Menschen, denn sofern es keinen anerkannten Giganten gibt, will er nichts mit unbedeutenderen Geistern zu tun haben, obwohl sie sich mit der Welt befassen, in der er lebt. Lieber geht er zurück zu den Klassikern und verkehrt ausschließlich mit Denkern von allererstem Rang. Für den Augenblick steht er über allen menschlichen Aktivitäten und beurteilt sie, aus seiner Distanz heraus, mit erlesener Strenge.
Eines der Anzeichen schwindender Jugend ist in der Tat die Geburt eines Gefühls der Verbundenheit mit anderen menschlichen Wesen, unter denen wir allmählich unseren Platz einnehmen. Wir würden gern denken, daß wir unseren Maßstab ebenso hoch ansetzen wie eh und je; doch interessieren wir uns zunehmend für das, was unsere Zeitgenossen schreiben, und verzeihen ihnen ihren Mangel an Eingebung, weil sie etwas besitzen, was sie uns näherbringt. Es ist sogar denkbar, daß die lebenden Autoren uns tatsächlich mehr geben als die toten, obwohl sie ihnen vielleicht weit unterlegen sind. Zunächst einmal kann keine heimliche Eitelkeit damit verbunden sein, unsere Zeitgenossen zu lesen, und die Art der Bewunderung, die sie in uns wecken, ist äußerst herzlich und echt, denn um Glauben an sie zu fassen, müssen wir oft irgendein sehr respektables Vorurteil aufgeben, das uns zur Ehre gereicht. Außerdem müssen wir unsere eigenen Gründe dafür finden, was wir mögen oder nicht mögen, was Ansporn für unsere Aufmerksamkeit und der beste Beweis dafür ist, daß wir die Klassiker mit Verstand gelesen haben.
In einer großen Buchhandlung zu stehen, die bis unter die Decke mit Büchern vollgepackt ist, die so neu sind, daß ihre Seiten fast noch zusammenkleben, und auf deren Rücken das Gold noch ganz frisch ist, erfüllt uns daher mit einer Erregung, die genauso herrlich ist wie die alte Erregung am Stand mit gebrauchten Büchern. Vielleicht ist sie nicht ganz so erhebend. Aber der alte Hunger, zu wissen, was die Unsterblichen dachten, hat der weit toleranteren Neugier Platz gemacht, zu erfahren, was unsere eigene Generation denkt. Was fühlen lebende Männer und Frauen, wie sehen ihre Häuser aus und welche Kleider tragen sie, wieviel Geld besitzen sie und welche Speisen nehmen sie zu sich, was lieben und was hassen sie, was sehen sie von der Welt um sie herum, und welcher Traum füllt die Lücken in ihrem aktiven Leben aus? All das erzählen sie uns in ihren Büchern. Darin können wir ebensoviel vom Geist und vom Körper unserer Zeit entdecken, wie wir mit den Augen sehen können.
Wenn dieser Geist der Neugier uns ganz ergriffen hat, sammelt sich der Staub bald schon dick auf den Klassikern, es sei denn, irgendeine Notwendigkeit zwingt uns, sie zu lesen. Denn die lebenden Stimmen sind schließlich die, die wir am besten verstehen. Wir können sie behandeln, wie wir unseresgleichen behandeln; sie erraten unsere Rätsel und, was vielleicht wichtiger ist, wir verstehen ihre Witze. Und bald entwickeln wir eine weitere Vorliebe, die von den Großen nicht befriedigt wurde - vielleicht keine wertvolle Vorliebe, aber auf jeden Fall eine sehr angenehme -., wir finden Geschmack an schlechten Büchern. Ohne die Indiskretion zu begehen, Namen zu nennen, wissen wir, bei welchen Schriftstellern wir darauf vertrauen können, daß sie jährlich (denn zum Glück sind sie sehr produktiv) einen Roman, einen Gedichtband oder eine Essaysammlung hervorbringen, die uns unbeschreibliches Vergnügen bereiten. Wir verdanken schlechten Büchern ungemein viel; tatsächlich fangen wir irgendwann an, ihre Verfasser und ihre Helden zu den Personen zu zählen, die eine große Rolle in unserem stillen Leben spielen. Etwas Ähnliches geschieht im Fall der Memoirenschreiber und Autobiographen, die in unserer Zeit fast einen neuen Zweig der Literatur geschaffen haben. Nicht alle von ihnen sind bedeutende Persönlichkeiten, aber seltsamerweise sind nur die bedeutendsten, die Herzöge und die Staatsmänner, wirklich langweilig. Jene Männer und Frauen, die sich vielleicht nur mit der Begründung, daß sie den Herzog von Wellington einmal zu Gesicht bekamen, daran machen, uns ihre Überzeugungen anzuvertrauen, ihre Streitigkeiten, ihre Sehnsüchte und ihre Krankheiten, verwandeln sich normalerweise irgendwann, zumindest für den Augenblick, in Darsteller in jenen privaten Dramen, mit denen wir uns unsere einsamen Spaziergänge und unsere schlaflosen Stunden verkürzen. Filterte man das alles aus unserem Bewußtsein heraus, wären wir in der Tat arm. Und dann gibt es die Sach- und die Geschichtsbücher, Bücher über Bienen und Wespen und Industrien und Goldminen und Kaiserinnen und diplomatische Intrigen, über Flüsse und wilde Eingeborene, Gewerkschaften und Gesetzesvorlagen, die wir ständig lesen und, ach ja, ständig vergessen. Vielleicht tun wir der Sache der Buchhandlungen keinen Gefallen, wenn wir zugeben müssen, daß sie so viele Sehnsüchte erfüllen, die anscheinend nichts mit Literatur zu tun haben. Aber wir müssen auch bedenken, daß wir es hier mit einer Literatur im Werden zu tun haben. Unter diesen neuen Büchern werden unsere Kinder das eine oder die zwei auswählen, anhand deren man uns für immer kennen wird. Hier liegt, wenn wir es nur erkennen könnten, irgendein Gedicht, ein Roman, eine Erzählung, die aufstehen und sich mit anderen Zeitaltern über unser Zeitalter unterhalten werden, wenn wir selbst so starr und stumm daliegen, wie die Menschen aus Shakespeares Zeit verstummt sind und nur auf den Seiten seiner Dichtung für uns weiterleben.
Das halten wir für die Wahrheit; und doch ist es im Fall neuer Bücher eigenartig schwierig zu wissen, welches die wahren Bücher sind und was sie uns sagen, und welches die aufgeblasenen, die in sich zusammenfallen werden, wenn sie ein oder zwei Jahre herumgelegen haben. Wir sehen, daß es viele Bücher gibt, und hören oft, daß heutzutage jeder schreiben könne. Das mag stimmen; und doch bezweifeln wir nicht, daß im Inneren dieser immensen Beredsamkeit, dieses Flutens und Schäumens der Sprache, dieser Geschwätzigkeit und Vulgarität und Trivialität, die Hitze einer großen Leidenschaft liegt, die nur der Zufälligkeit eines Geistes bedarf, der glücklicher veranlagt ist als der Rest, um eine Form anzunehmen, die die Zeiten überdauern wird. Es sollte uns ein Vergnügen sein, diesen Tumult zu beobachten, uns mit den Ideen und Visionen unserer eigenen Zeit auseinanderzusetzen, uns anzueignen, was wir verwenden können, zu vernichten, was wir als wertlos erachten, und vor allem zu erkennen, daß wir großzügig gegenüber den Menschen sein müssen, die, so gut sie können, den Gedanken, die in ihnen stecken, Form verleihen. Kein Zeitalter der Literatur beugt sich der Autorität so wenig wie unseres; keines scheint so frei von der Vorherrschaft der Großen, keines so unberechenbar darin, wem es Respekt zollt, oder so unstet in seinen Experimenten. Selbst aufmerksamen Beobachtern mag es scheinen, als gebe es keine Spur von einer Schule oder einem Ziel in den Werken unserer Dichter oder Romanschriftsteller. Allerdings ist der Pessimist überall anzutreffen, doch soll er uns nicht davon überzeugen, daß unsere Literatur tot ist, oder uns daran hindern zu fühlen, wie wahr und lebhaft Schönheit aufleuchtet, wie die jungen Schriftsteller, um ihre neue Vision zu schaffen, die uralten Wörter der schönsten aller lebenden Sprachen um sich sammeln. Was immer wir aus der Lektüre der Klassiker gelernt haben mögen, wir brauchen es jetzt, um die Arbeiten unserer Zeitgenossen zu beurteilen, denn wenn je Leben in ihnen ist, werden sie ihr Netz über irgendeinen unbekannten Abgrund auswerfen, um neue Formen einzufangen, und wir müssen dann unsere Phantasie auswerfen, wenn wir die seltsamen Geschenke, die sie uns bringen, annehmen und verstehen wollen.
Doch wenn wir all unsere Kenntnis der alten Schriftsteller brauchen, um nachvollziehen zu können, was die neuen Schriftsteller versuchen, gilt sicherlich auch, daß wir von unseren Streifzügen durch die neuen Bücher mit einem viel schärferen Blick für die alten zurückkommen. Es scheint, als müßten wir nun in der Lage sein, ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen; tief in ihre Werke hineinblicken zu können und zu sehen, wie die Teile sich zusammenfügen, weil wir die Entstehung neuer Bücher beobachtet haben und mit Augen, die frei von Vorurteilen sind, wahrhaftiger beurteilen können, was sie tun und was gut und was schlecht ist. Womöglich werden wir feststellen, daß einige der Großen weniger verehrungswürdig sind, als wir dachten. Tatsächlich sind sie nicht so vortrefflich oder so tiefgründig wie manche unserer eigenen Zeit. Doch wenn das in ein oder zwei Fällen zuzutreffen scheint, überkommt uns anderen gegenüber eine Art Demut, gemischt mit Freude. Nehmen wir Shakespeare, oder Milton, oder Sir Thomas Browne. Unser geringes Wissen darüber, wie Dinge gemacht werden, nützt uns hier nicht viel, verleiht unserem Entzücken aber eine zusätzliche Würze. Empfanden wir in unserer Jugend je ein derartiges Staunen über ihre Leistung wie das, das uns nun erfüllt, da wir auf der Suche nach neuen Formen für unsere neuen Empfindungen unzählige Wörter gesiebt und unerforschte Wege beschritten haben? Neue Bücher mögen in mancher Hinsicht stimulierender und in mancher anregender sein als die alten, aber sie geben uns nicht jene absolute Gewißheit des Vergnügens, das uns durchweht, wenn wir zu Comus zurückkehren, zu Lycidas,5 Urn Burial oder Antony and Cleopatra. Es liegt uns fern, eine Theorie über das Wesen der Kunst zu wagen. Vielleicht werden wir nie mehr darüber wissen, als wir von Natur aus wissen, und unsere längere Erfahrung damit lehrt uns nur dies - daß unter all unseren Genüssen jene, die die großen Künstler uns bereiten, unbestreitbar zu den besten gehören; und mehr brauchen wir vielleicht nicht zu wissen. Aber, ohne eine Theorie vorbringen zu wollen, wir werden in Werken wie diesen ein oder zwei Besonderheiten finden, welche wir in Büchern, die während unserer eigenen Lebenszeit geschrieben wurden, kaum erwarten können. Vielleicht besitzt das Alter an sich eine eigene Alchimie. Aber es stimmt: man kann sie so oft lesen, wie man will, ohne feststellen zu müssen, daß sie an Kraft verloren und eine bedeutungslose Worthülse zurückgelassen haben; und sie besitzen eine absolute Endgültigkeit. Keine Wolke von Andeutungen schwebt über ihnen und neckt uns mit einer Vielzahl irrelevanter Gedanken. Vielmehr sind all unsere Fähigkeiten gefordert, wie in den großen Augenblicken unserer eigenen Erfahrung; und eine Weihe sinkt aus ihren Händen auf uns herab, welche wir ans Leben zurückgeben, das wir intensiver empfinden und tiefer verstehen als zuvor.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Stunden in einer Bibliothek
Beginnen wir damit, daß wir der alten Verwechslung von Menschen, die die Gelehrsamkeit lieben, mit solchen, die das Lesen lieben, ein Ende bereiten und konstatieren, daß zwischen beiden keinerlei Zusammenhang besteht. Ein gelehrsamer Mann ist ein meist sitzender, konzentrierter, einsiedlerischer Enthusiast, der Bücher nach irgendeinem speziellen Körnchen Wahrheit durchsucht, an das er sein Herz gehängt hat. Sollte ihn die Leseleidenschaft überwältigen, schrumpfen seine Gewinne und zerrinnen ihm zwischen den Fingern. Ein Leser dagegen muß seinen Wunsch nach Wissen von Anfang an zügeln; falls Wissen an ihm kleben bleibt, schön und gut, aber sich auf die Suche danach zu begeben, nach einem System zu lesen, ein Spezialist oder eine Koryphäe zu werden, würde aller Voraussicht nach vernichten, was wir gern als die humanere Liebe zum reinen, auf keinen Gewinn bedachten Lesen betrachten.
All dem zum Trotz können wir mit Leichtigkeit ein Bild heraufbeschwören, das auf den bücherbesessenen Menschen zutrifft und ein Lächeln auf seine Kosten hervorruft. Wir sehen eine bleiche, hagere Gestalt im Morgenmantel, in Grübeleien versunken, unfähig, einen Kessel vom Herd zu heben oder eine Dame anzusprechen, ohne rot zu werden, ahnungslos, was die Tagesereignisse angeht, aber wohlvertraut mit den Katalogen der Antiquare, in deren dunklen Räumlichkeiten er die Stunden des Sonnenlichts verbringt - ein liebenswerter Charakter, ohne jeden Zweifel, mit seiner griesgrämigen Naivität, doch ohne die geringste Ähnlichkeit mit jenem anderen, auf den wir die Aufmerksamkeit lenken möchten. Denn der wahre Leser ist im wesentlichen jung. Er ist ein Mann von intensiver Neugier; voller Ideen; offen und mitteilsam, für den das Lesen eher so etwas wie ein flotter Spaziergang an der frischen Luft denn ein Aufenthalt in der Zurückgezogenheit eines Arbeitszimmers ist; er stapft über Landstraßen, klettert immer höher in die Berge hinauf, bis die Luft fast zu dünn ist, um noch atmen zu können; für ihn ist es überhaupt keine sitzende Beschäftigung.
Aber von allgemeinen Aussagen einmal abgesehen, wäre es nicht schwer, durch eine Zusammenstellung von Fakten zu beweisen, daß die große Zeit des Lesens das Alter zwischen achtzehn und vierundzwanzig ist. Allein die Liste dessen, was während dieser Zeit gelesen wird, erfüllt das Herz älterer Menschen mit Verzweiflung. Nicht nur, daß wir so viele Bücher gelesen haben, sondern daß wir solche Bücher zum Lesen hatten. Nehmen wir uns, um unsere Erinnerungen aufzufrischen, eines der alten Notizbücher hervor, die wir alle zu irgendeinem Zeitpunkt mit solcher Leidenschaft zu führen begannen. Die meisten Seiten sind leer, das ist wohl wahr; aber am Anfang finden wir eine gewisse Anzahl, die sehr schön mit auffallend leserlicher Schrift gefüllt sind. Hier haben wir die Namen großer Schriftsteller in der Rangfolge ihrer Verdienste aufgelistet; hier haben wir wundervolle Passagen aus den Klassikern abgeschrieben; hier sind Listen zu lesender Bücher; und hier, am interessantesten, Listen von Büchern, die tatsächlich gelesen wurden, wie der Leser mit einem gewissen Maß an jugendlicher Eitelkeit durch ein Häkchen in roter Tinte bezeugt. Wir wollen eine Liste der Bücher zitieren, die jemand in irgendeinem vergangenen Januar im Alter von zwanzig Jahren gelesen hat, die meisten davon wahrscheinlich zum ersten Mal. 1. Rhoda Fleming. 2. The Shaving of Shagpat. 3. Tom Jones. 4. The Laodicean. 5. Psychology von Dewey. 6. Das Buch Hiob. 7. Webbes Discourse of Poesie. 8. The Duchess of Malfi. 9. The Revenger's Tragedy.1 Und so geht es Monat um Monat weiter, bis die Listen, wie es bei solchen Listen oft der Fall ist, im Monat Juni plötzlich aufhören. Doch wenn wir dem Leser durch die Monate folgen, wird klar, daß er praktisch nichts anderes getan haben kann als lesen. Die elisabethanische Literatur wurde mit einiger Gründlichkeit durchgegangen; er las eine Menge Webster, Browning, Shelley, Spenser und Congreve; Peacock las er von Anfang bis Ende; und die meisten Romane Jane Austens zwei- oder dreimal.2 Er las den ganzen Meredith, den ganzen Ibsen, und ein wenig Bernard Shaw. Wir dürfen zudem ziemlich sicher sein, daß die Zeit, die nicht mit Lesen verbracht wurde, irgendeiner hitzigen Debatte gewidmet war, in der die Griechen gegen neuzeitliche Autoren ins Feld geführt wurden, die Romantik gegen den Realismus, Racine gegen Shakespeare, bis man bemerkte, daß der Lichtschein der Lampen in der Morgendämmerung verblaßt war.
Die alten Listen sind dazu da, uns lächeln und vielleicht ein wenig seufzen zu lassen, aber wir würden viel dafür geben, wenn wir auch die Stimmung zurückholen könnten, in der diese Orgie des Lesens stattfand. Zum Glück war unser Leser kein Wunderkind, und mit ein bißchen Nachdenken können sich die meisten von uns zumindest an die Phasen unserer eigenen Initiation erinnern. Die Bücher, die wir in der Kindheit lasen, nachdem wir sie heimlich von irgendeinem Regal stibitzt hatten, das für uns als unerreichbar galt, besitzen etwas von der Unwirklichkeit und Erhabenheit einer heimlichen Betrachtung der Morgendämmerung, die über stillen Feldern hereinbricht, während der Rest des Hauses schläft. Durch die Vorhänge spähend sehen wir die fremdartigen Umrisse nebelverhangener Bäume, die wir kaum erkennen, obwohl wir sie vielleicht unser ganzes Leben lang in Erinnerung behalten; denn Kinder haben seltsame Vorahnungen dessen, was kommen wird. Das spätere Lesen dagegen, für das die oben angeführte Liste ein Beispiel sein mag, ist etwas völlig anderes. Vielleicht zum ersten Mal sind alle Einschränkungen weggefallen, wir können lesen, was wir wollen; Bibliotheken stehen uns zur Verfügung und, was das Beste ist, Freunde, die sich in derselben Lage befinden wie wir. Tagelang tun wir nichts anderes als lesen. Es ist eine Zeit außergewöhnlicher Erregung und Verzückung. Wie im Rausch scheinen wir überall Helden zu entdecken. In uns ist eine Art Staunen, daß wir das alles wirklich selbst tun, und, damit vermischt, eine absurde Arroganz und der Wunsch, unsere Vertrautheit mit den großartigsten Menschen kundzutun, die je auf dieser Welt wandelten. Die Gier nach Wissen ist zu dieser Zeit am leidenschaftlichsten oder zumindest am selbstbewußtesten, und zudem besitzen wir ein intensives Gefühl der Einzigartigkeit, das die großen Schriftsteller bestätigen, indem sie den Anschein erwecken, als stimmten sie in ihrer Einschätzung all dessen, was im Leben gut ist, mit uns überein. Und da es unabdingbar ist, uns gegen jemanden zu behaupten, der sich beispielsweise Pope statt Sir Thomas Browne3 zum Helden erkoren hat, empfinden wir eine tiefe Zuneigung zu diesen Männern und haben das Gefühl, sie nicht so zu kennen, wie andere Menschen sie kennen, sondern ganz persönlich, für uns allein. Wir kämpfen unter ihrer Führung und sozusagen unter ihren Augen. Und so geistern wir durch die Antiquariate und schleppen Folio- und Quartbände nach Hause, Euripides zwischen Holzdeckeln und Voltaire in neunundachtzig Oktavbändchen.
Diese Listen sind jedoch insofern seltsame Dokumente, als sie kaum einen der zeitgenössischen Schriftsteller zu enthalten scheinen. Meredith und Hardy und Henry James waren zwar noch am Leben, als unser Leser sie entdeckte, galten jedoch bereits als Klassiker. Es gibt niemanden seiner eigenen Generation, der ihn so beeinflußt, wie Carlyle oder Tennyson oder Ruskin4 die jungen Leute ihrer Zeit beeinflußten. Und das, so glauben wir, ist sehr charakteristisch für einen jungen Menschen, denn sofern es keinen anerkannten Giganten gibt, will er nichts mit unbedeutenderen Geistern zu tun haben, obwohl sie sich mit der Welt befassen, in der er lebt. Lieber geht er zurück zu den Klassikern und verkehrt ausschließlich mit Denkern von allererstem Rang. Für den Augenblick steht er über allen menschlichen Aktivitäten und beurteilt sie, aus seiner Distanz heraus, mit erlesener Strenge.
Eines der Anzeichen schwindender Jugend ist in der Tat die Geburt eines Gefühls der Verbundenheit mit anderen menschlichen Wesen, unter denen wir allmählich unseren Platz einnehmen. Wir würden gern denken, daß wir unseren Maßstab ebenso hoch ansetzen wie eh und je; doch interessieren wir uns zunehmend für das, was unsere Zeitgenossen schreiben, und verzeihen ihnen ihren Mangel an Eingebung, weil sie etwas besitzen, was sie uns näherbringt. Es ist sogar denkbar, daß die lebenden Autoren uns tatsächlich mehr geben als die toten, obwohl sie ihnen vielleicht weit unterlegen sind. Zunächst einmal kann keine heimliche Eitelkeit damit verbunden sein, unsere Zeitgenossen zu lesen, und die Art der Bewunderung, die sie in uns wecken, ist äußerst herzlich und echt, denn um Glauben an sie zu fassen, müssen wir oft irgendein sehr respektables Vorurteil aufgeben, das uns zur Ehre gereicht. Außerdem müssen wir unsere eigenen Gründe dafür finden, was wir mögen oder nicht mögen, was Ansporn für unsere Aufmerksamkeit und der beste Beweis dafür ist, daß wir die Klassiker mit Verstand gelesen haben.
In einer großen Buchhandlung zu stehen, die bis unter die Decke mit Büchern vollgepackt ist, die so neu sind, daß ihre Seiten fast noch zusammenkleben, und auf deren Rücken das Gold noch ganz frisch ist, erfüllt uns daher mit einer Erregung, die genauso herrlich ist wie die alte Erregung am Stand mit gebrauchten Büchern. Vielleicht ist sie nicht ganz so erhebend. Aber der alte Hunger, zu wissen, was die Unsterblichen dachten, hat der weit toleranteren Neugier Platz gemacht, zu erfahren, was unsere eigene Generation denkt. Was fühlen lebende Männer und Frauen, wie sehen ihre Häuser aus und welche Kleider tragen sie, wieviel Geld besitzen sie und welche Speisen nehmen sie zu sich, was lieben und was hassen sie, was sehen sie von der Welt um sie herum, und welcher Traum füllt die Lücken in ihrem aktiven Leben aus? All das erzählen sie uns in ihren Büchern. Darin können wir ebensoviel vom Geist und vom Körper unserer Zeit entdecken, wie wir mit den Augen sehen können.
Wenn dieser Geist der Neugier uns ganz ergriffen hat, sammelt sich der Staub bald schon dick auf den Klassikern, es sei denn, irgendeine Notwendigkeit zwingt uns, sie zu lesen. Denn die lebenden Stimmen sind schließlich die, die wir am besten verstehen. Wir können sie behandeln, wie wir unseresgleichen behandeln; sie erraten unsere Rätsel und, was vielleicht wichtiger ist, wir verstehen ihre Witze. Und bald entwickeln wir eine weitere Vorliebe, die von den Großen nicht befriedigt wurde - vielleicht keine wertvolle Vorliebe, aber auf jeden Fall eine sehr angenehme -., wir finden Geschmack an schlechten Büchern. Ohne die Indiskretion zu begehen, Namen zu nennen, wissen wir, bei welchen Schriftstellern wir darauf vertrauen können, daß sie jährlich (denn zum Glück sind sie sehr produktiv) einen Roman, einen Gedichtband oder eine Essaysammlung hervorbringen, die uns unbeschreibliches Vergnügen bereiten. Wir verdanken schlechten Büchern ungemein viel; tatsächlich fangen wir irgendwann an, ihre Verfasser und ihre Helden zu den Personen zu zählen, die eine große Rolle in unserem stillen Leben spielen. Etwas Ähnliches geschieht im Fall der Memoirenschreiber und Autobiographen, die in unserer Zeit fast einen neuen Zweig der Literatur geschaffen haben. Nicht alle von ihnen sind bedeutende Persönlichkeiten, aber seltsamerweise sind nur die bedeutendsten, die Herzöge und die Staatsmänner, wirklich langweilig. Jene Männer und Frauen, die sich vielleicht nur mit der Begründung, daß sie den Herzog von Wellington einmal zu Gesicht bekamen, daran machen, uns ihre Überzeugungen anzuvertrauen, ihre Streitigkeiten, ihre Sehnsüchte und ihre Krankheiten, verwandeln sich normalerweise irgendwann, zumindest für den Augenblick, in Darsteller in jenen privaten Dramen, mit denen wir uns unsere einsamen Spaziergänge und unsere schlaflosen Stunden verkürzen. Filterte man das alles aus unserem Bewußtsein heraus, wären wir in der Tat arm. Und dann gibt es die Sach- und die Geschichtsbücher, Bücher über Bienen und Wespen und Industrien und Goldminen und Kaiserinnen und diplomatische Intrigen, über Flüsse und wilde Eingeborene, Gewerkschaften und Gesetzesvorlagen, die wir ständig lesen und, ach ja, ständig vergessen. Vielleicht tun wir der Sache der Buchhandlungen keinen Gefallen, wenn wir zugeben müssen, daß sie so viele Sehnsüchte erfüllen, die anscheinend nichts mit Literatur zu tun haben. Aber wir müssen auch bedenken, daß wir es hier mit einer Literatur im Werden zu tun haben. Unter diesen neuen Büchern werden unsere Kinder das eine oder die zwei auswählen, anhand deren man uns für immer kennen wird. Hier liegt, wenn wir es nur erkennen könnten, irgendein Gedicht, ein Roman, eine Erzählung, die aufstehen und sich mit anderen Zeitaltern über unser Zeitalter unterhalten werden, wenn wir selbst so starr und stumm daliegen, wie die Menschen aus Shakespeares Zeit verstummt sind und nur auf den Seiten seiner Dichtung für uns weiterleben.
Das halten wir für die Wahrheit; und doch ist es im Fall neuer Bücher eigenartig schwierig zu wissen, welches die wahren Bücher sind und was sie uns sagen, und welches die aufgeblasenen, die in sich zusammenfallen werden, wenn sie ein oder zwei Jahre herumgelegen haben. Wir sehen, daß es viele Bücher gibt, und hören oft, daß heutzutage jeder schreiben könne. Das mag stimmen; und doch bezweifeln wir nicht, daß im Inneren dieser immensen Beredsamkeit, dieses Flutens und Schäumens der Sprache, dieser Geschwätzigkeit und Vulgarität und Trivialität, die Hitze einer großen Leidenschaft liegt, die nur der Zufälligkeit eines Geistes bedarf, der glücklicher veranlagt ist als der Rest, um eine Form anzunehmen, die die Zeiten überdauern wird. Es sollte uns ein Vergnügen sein, diesen Tumult zu beobachten, uns mit den Ideen und Visionen unserer eigenen Zeit auseinanderzusetzen, uns anzueignen, was wir verwenden können, zu vernichten, was wir als wertlos erachten, und vor allem zu erkennen, daß wir großzügig gegenüber den Menschen sein müssen, die, so gut sie können, den Gedanken, die in ihnen stecken, Form verleihen. Kein Zeitalter der Literatur beugt sich der Autorität so wenig wie unseres; keines scheint so frei von der Vorherrschaft der Großen, keines so unberechenbar darin, wem es Respekt zollt, oder so unstet in seinen Experimenten. Selbst aufmerksamen Beobachtern mag es scheinen, als gebe es keine Spur von einer Schule oder einem Ziel in den Werken unserer Dichter oder Romanschriftsteller. Allerdings ist der Pessimist überall anzutreffen, doch soll er uns nicht davon überzeugen, daß unsere Literatur tot ist, oder uns daran hindern zu fühlen, wie wahr und lebhaft Schönheit aufleuchtet, wie die jungen Schriftsteller, um ihre neue Vision zu schaffen, die uralten Wörter der schönsten aller lebenden Sprachen um sich sammeln. Was immer wir aus der Lektüre der Klassiker gelernt haben mögen, wir brauchen es jetzt, um die Arbeiten unserer Zeitgenossen zu beurteilen, denn wenn je Leben in ihnen ist, werden sie ihr Netz über irgendeinen unbekannten Abgrund auswerfen, um neue Formen einzufangen, und wir müssen dann unsere Phantasie auswerfen, wenn wir die seltsamen Geschenke, die sie uns bringen, annehmen und verstehen wollen.
Doch wenn wir all unsere Kenntnis der alten Schriftsteller brauchen, um nachvollziehen zu können, was die neuen Schriftsteller versuchen, gilt sicherlich auch, daß wir von unseren Streifzügen durch die neuen Bücher mit einem viel schärferen Blick für die alten zurückkommen. Es scheint, als müßten wir nun in der Lage sein, ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen; tief in ihre Werke hineinblicken zu können und zu sehen, wie die Teile sich zusammenfügen, weil wir die Entstehung neuer Bücher beobachtet haben und mit Augen, die frei von Vorurteilen sind, wahrhaftiger beurteilen können, was sie tun und was gut und was schlecht ist. Womöglich werden wir feststellen, daß einige der Großen weniger verehrungswürdig sind, als wir dachten. Tatsächlich sind sie nicht so vortrefflich oder so tiefgründig wie manche unserer eigenen Zeit. Doch wenn das in ein oder zwei Fällen zuzutreffen scheint, überkommt uns anderen gegenüber eine Art Demut, gemischt mit Freude. Nehmen wir Shakespeare, oder Milton, oder Sir Thomas Browne. Unser geringes Wissen darüber, wie Dinge gemacht werden, nützt uns hier nicht viel, verleiht unserem Entzücken aber eine zusätzliche Würze. Empfanden wir in unserer Jugend je ein derartiges Staunen über ihre Leistung wie das, das uns nun erfüllt, da wir auf der Suche nach neuen Formen für unsere neuen Empfindungen unzählige Wörter gesiebt und unerforschte Wege beschritten haben? Neue Bücher mögen in mancher Hinsicht stimulierender und in mancher anregender sein als die alten, aber sie geben uns nicht jene absolute Gewißheit des Vergnügens, das uns durchweht, wenn wir zu Comus zurückkehren, zu Lycidas,5 Urn Burial oder Antony and Cleopatra. Es liegt uns fern, eine Theorie über das Wesen der Kunst zu wagen. Vielleicht werden wir nie mehr darüber wissen, als wir von Natur aus wissen, und unsere längere Erfahrung damit lehrt uns nur dies - daß unter all unseren Genüssen jene, die die großen Künstler uns bereiten, unbestreitbar zu den besten gehören; und mehr brauchen wir vielleicht nicht zu wissen. Aber, ohne eine Theorie vorbringen zu wollen, wir werden in Werken wie diesen ein oder zwei Besonderheiten finden, welche wir in Büchern, die während unserer eigenen Lebenszeit geschrieben wurden, kaum erwarten können. Vielleicht besitzt das Alter an sich eine eigene Alchimie. Aber es stimmt: man kann sie so oft lesen, wie man will, ohne feststellen zu müssen, daß sie an Kraft verloren und eine bedeutungslose Worthülse zurückgelassen haben; und sie besitzen eine absolute Endgültigkeit. Keine Wolke von Andeutungen schwebt über ihnen und neckt uns mit einer Vielzahl irrelevanter Gedanken. Vielmehr sind all unsere Fähigkeiten gefordert, wie in den großen Augenblicken unserer eigenen Erfahrung; und eine Weihe sinkt aus ihren Händen auf uns herab, welche wir ans Leben zurückgeben, das wir intensiver empfinden und tiefer verstehen als zuvor.
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Autoren-Porträt von Virginia Woolf
Woolf, VirginiaVirginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust.Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterliess ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluss Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Reichert, Klaus
Klaus Reichert, 1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Goethe-Universität, 1993 gründete er dort das »Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit«. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschien zuletzt »Türkische Tagebücher. Reisen in ein unentdecktes Land« (2011) und »Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen« (2016).
Zerning, Heidi
Heidi Zerning, geboren 1940 in Berlin, studierte Anglistik, Amerikanistik, Geschichte und Philosophie und ist seit 1990 hauptberuflich als Übersetzerin tätig. Neben Alice Munros Erzählungen hat sie Werke von Virginia Woolf, Truman Capote und Steve Tesich übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Virginia Woolf
- 320 Seiten, Masse: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Herausgegeben von Reichert, Klaus; Übersetzung: Walitzek, Brigitte; Zerning, Heidi
- Herausgegeben: Klaus Reichert
- Übersetzer: Brigitte Walitzek, Heidi Zerning
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100925688
- ISBN-13: 9783100925688
- Erscheinungsdatum: 22.05.2014
Rezension zu „Granit und Regenbogen “
Woolfs kritische Essays haben oft eine scharfe Klinge. Die benutzt sie wie ein schönes Werkzeug und schafft [...] kleine Kunstwerke. Das können nur ganz Grosse. Harald Loch Nürnberger Nachrichten 20140813
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