Die Anthologien
Handbuch der phantastischen Zoologie; Das Buch von Himmel und Hölle; Buch der Träume
Sein Name steht stellvertretend für die moderne Literatur in Lateinamerika: Jorge Luis Borges. In diesen Anthologien fesselt er den Leser mit einer fremden Welt jenseits unserer Alltagserfahrungen. Nicht weniger als 120 Phantasiewesen hat der aus...
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Produktinformationen zu „Die Anthologien “
Sein Name steht stellvertretend für die moderne Literatur in Lateinamerika: Jorge Luis Borges. In diesen Anthologien fesselt er den Leser mit einer fremden Welt jenseits unserer Alltagserfahrungen. Nicht weniger als 120 Phantasiewesen hat der aus Argentinien stammende Autor in den jahrtausendealten Vorstellungen der Menschen entdeckt oder selbst erfunden: vom Behemoth der Bibel, den Chimären der Griechen und den Dämonen der Juden bis zu den Drachen des Fernen Ostens und dem Einhorn des Mittelalters. Ein einzigartiges Museum des Phantastischen, Beklemmenden und Absonderlichen.
Klappentext zu „Die Anthologien “
Sein Name steht stellvertretend für die moderne Literatur in Lateinamerika: Jorge Luis Borges. In diesen Anthologien fesselt er den Leser mit einer fremden Welt jenseits unserer Alltagserfahrungen. Nicht weniger als 120 Phantasiewesen hat der aus Argentinien stammende Autor in den jahrtausendealten Vorstellungen der Menschen entdeckt oder selbst erfunden: vom Behemoth der Bibel, den Chimären der Griechen und den Dämonen der Juden bis zu den Drachen des Fernen Ostens und dem Einhorn des Mittelalters. Ein einzigartiges Museum des Phantastischen, Beklemmenden und Absonderlichen.
Lese-Probe zu „Die Anthologien “
Gesammelte Werke Band 10 Die Anthologien von Jorge Luis Borges
Die Mutter der Schildkröten
Zweiundzwanzig Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung
durchmaß der gerechte Kaiser Yü der Große mit seinen
Schritten die Neun Berge, die Neun Flüsse und die Neun
Sümpfe und teilte das Land in Neun Regionen, auf daß sie
der Tugend und der Landwirtschaft dienlich seien. So bändigte
er die Wasser, die Himmel und Erde zu überschwemmen
drohten; die Geschichtsschreiber berichten, daß die Teilung,
die er der Welt der Menschen auferlegte, ihm von einer
übernatürlichen oder engelsgleichen Schildkröte, die einem
Bach entstieg, enthüllt worden sei. Manche behaupten, dieses
Reptil, Mutter aller Schildkröten, sei aus Wasser und Feuer gewesen;
andere schreiben ihm eine kaum weniger ungewöhnliche
Substanz zu: das Licht der Sterne, welche das Sternbild
des Schützen bilden. Auf dem Rücken der Schildkröte befand
sich entweder eine kosmische Abhandlung mit dem Titel
Hong Fan (Allgemeine Regel) oder ein aus schwarzen und weißen
Punkten verfertigtes Diagramm der Neun Unterteilungen
dieser Abhandlungen.
Für die Chinesen ist der Himmel halbkugelförmig und die
Erde viereckig; daher sehen sie in den Schildkröten das Abbild
oder Modell des Universums. Die Schildkröten haben außerdem
teil an der Langlebigkeit des Kosmischen; es ist nur
natürlich, daß man sie zu den Tieren des Geistes zählt (zusammen
mit dem Einhorn, dem Drachen, dem Phönix und dem
Tiger), und daß die Auguren Vorzeichen in ihrem Knochenpanzer
suchen.
Than-Qui (Schildkröten-Geist) ist der Name derjenigen,
die dem Kaiser das Hong Fan enthüllte.
Der Myrmekoleon
... mehr
Ein unfaßbares Tier ist der Myrmekoleon, den Flaubert folgendermaßen
beschreibt: »Löwe von vorn, Ameise von hinten,
dessen Gemächte umgekehrt ist«. Dieses Monstrum hat
eine seltsame Geschichte. In der Heiligen Schrift steht zu lesen:
»Der Löwe ist umgekommen, daß er nicht mehr raubet
. . .« (Hiob, 4:11). Der hebräische Text bringt das Wort
layish für »Löwe«, dieses absonderliche Wort schien eine gleichermaßen
absonderliche Übersetzung zu erfordern; die Verfasser
der Septuaginta erinnerten sich des arabischen Löwen,
den Aelianus und Strabon Myrmex nennen, und bildeten das
Wort »Myrmekoleon«.
Nach einigen Jahrhunderten verlor sich diese Ableitung.
Myrmex bedeutet im Griechischen »Ameise«; aus den rätselhaften
Worten, »Der Löwe-Ameise ist umgekommen, daß er
nicht mehr raubet«, entstand ein Phantasiegebilde, das von
den mittelalterlichen Bestiarien vervielfältigt wurde:
»Der Physiologe beschäftigt sich mit dem Löwe-Ameise;
der Vater hat die Gestalt des Löwen, die Mutter die der
Ameise; der Vater ernährt sich von Fleisch und die Mutter
von Kräutern. Und diese beiden zeugen den Löwe-Ameise,
der eine Mischung von beiden ist und beiden ähnelt, denn
der vordere Teil ist eines Löwen und der hintere der einer
Ameise. So geschaffen, kann er weder Fleisch fressen wie der
Vater, noch Kräuter wie die Mutter; infolgedessen stirbt er.«
Die Nagas
Die Nagas gehören der indischen Mythologie an. Es handelt
sich um Schlangen, die jedoch hin und wieder menschliche
Gestalt annehmen.
Arjuna wird in einem der Bücher des Mahabharata von
Ulupi, der Tochter eines Nagakönigs, begehrt; er versucht,
seinen Keuschheitsschwur geltend zu machen, aber das Mädchen
erinnert ihn an seine Pflicht, den Unglücklichen beizustehen,
und so gewährt der Held ihr eine Nacht. Buddha,
der meditierend unter einem Feigenbaum sitzt, wird von
Sturm und Regen gepeinigt; ein mitleidiger Naga windet
sich siebenmal um ihn herum und breitet seine sieben Köpfe
wie ein Dach über ihm aus. Buddha bekehrt ihn zu seinem
Glauben.
In seinem Handbuch des indischen Buddhismus beschreibt
Kern die Nagas als Schlangen, die Wolken gleichen. Sie leben
in großen Palästen tief unter der Erde. Die Sektierer des Großen
Gefährtes berichten, daß Buddha ein Gesetz für die Menschen
und ein anderes für die Götter gepredigt habe, und daß
dieses - das esoterische - in den Himmeln und in den Palästen
der Schlangen bewahrt wurde, die es Jahrhunderte später
dem Mönch Nagarjuna aushändigten.
Eine Legende, die der Pilger Fa Hsien zu Beginn des 5.Jahrhunderts
in Indien vernahm, besagt folgendes:
»König Asoka kam zu einem See, in dessen Nähe sich ein
Turm befand. Er gedachte, diesen niederreißen zu lassen, um
einen anderen, höheren zu bauen. Ein Brahmane forderte
ihn auf, den Turm zu betreten, und als er darinnen war, sagte
er ihm:
›Meine menschliche Gestalt ist eine Täuschung; ich bin in
Wirklichkeit ein Naga, ein Drache. Meine Sünden haben mich
dazu verdammt, in diesem schrecklichen Körper zu wohnen,
aber ich befolge das von Buddha befohlene Gesetz und hoffe,
mich zu erlösen. Du darfst dieses Heiligtum zerstören, wenn
du dich fähig wähnst, ein besseres zu errichten.‹
Er zeigte ihm die Kultgefäße. Der König betrachtete sie mit
Staunen, denn sie waren gänzlich anders als diejenigen, welche
die Menschen herstellen, und so sah er von seinem Vorhaben
ab.«
Die Nisnas
Unter den Ungeheuern der Versuchung finden wir die Nisnas,
die »nur ein Auge, eine Wange, eine Hand, ein Bein, einen
halben Körper und ein halbes Herz« haben. Ein Kommentator,
Jean-Claude Margolin, schreibt, sie seien ein Phantasiegebilde
Flauberts, aber der erste Band von Tausendundeiner
Nacht von Lane (1839) schreibt sie dem Verkehr der Menschen
mit den Dämonen zu. Der Nesnas, wie Lane ihn schreibt, ist
ein »halbes Menschenwesen; er hat einen halben Kopf, einen
halben Rumpf, einen Arm und ein Bein; er ist äußerst behende
« und haust in den Einöden des Jemen und von Hadramaut.
Die Nisnas sind einer artikulierten Sprache fähig;
einige von ihnen tragen - ebenso wie die Blemmyer - das
Gesicht auf der Brust, und ihr Schwanz ähnelt dem eines
Schafes; ihr Fleisch ist süßlich und sehr begehrt. Eine Abart
des Nisnas, mit fledermausartigen Flügeln, lebt auf der Insel
Raïj (wahrscheinlich Borneo), südlich von China; aber - setzt
der skeptische Berichterstatter hinzu - Allah weiß alles.
Die Nornen
In der mittelalterlichen nordischen Mythologie entsprechen
die Nornen den Parzen oder Faten. Snorri Sturluson, der zu
Beginn des 13. Jahrhunderts diese verstreuten Mythen ordnete,
berichtet uns, es gebe drei Nornen, und ihre Namen
seien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man kann
wahrscheinlich vermuten, daß die Namen eine Verfeinerung
oder Beifügung theologischer Natur darstellen; die alten germanischen
Völker neigten derartigen Abstraktionen nicht
sonderlich zu. Snorri zeigt uns drei Mädchen bei einer Quelle
am Fuße der Weltesche Yggdrasil. Unerbittlich weben sie unsere
Geschicke.
Die Zeit (aus der sie bestehen) hatte sie vergessen, aber
gegen 1606 schrieb William Shakespeare die Tragödie Macbeth,
in deren erster Szene sie erscheinen. Sie sind die drei Hexen,
die den Kriegern das Schicksal voraussagen, das ihrer
harrt. Shakespeare nennt sie die weird sisters, die unheimlichen
bzw. unheilverheißenden Schwestern, die Parzen. Bei
den Angelsachsen war Wyrd die schweigsame Göttin, die das
Schicksal der Unsterblichen und der Sterblichen bestimmte.
Die Nymphen
Paracelsus beschränkte die Welt der Nymphen auf die Gewässer,
aber im Altertum unterschied man zwischen Wassernymphen
und Landnymphen. Einige der letzteren herrschten
über die Wälder. Die Hamadryaden weilten unsichtbar in den
Bäumen und vergingen mit ihnen; von anderen nahm man
an, sie seien unsterblich oder lebten Tausende von Jahren.
Die Meeresnymphen nannte man Okeaninen oder Nereiden;
die Nymphen der Flüsse Naiaden. Ihre genaue Anzahl ist unbekannt;
Hesiod schlug die Zahl dreitausend vor. Sie waren
ernsthafte und schöne Mädchen; sie zu sehen konnte Wahnsinn
bewirken und, wenn sie nackt waren, Tod. Eine Zeile bei
Propertius stellt dies fest.
Die Menschen der Antike boten ihnen Honig, Olivenöl und
Milch dar. Sie waren kleinere Gottheiten; Tempel wurden zu
ihren Ehren nicht errichtet.
Der Odradek
»Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen,
und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes
nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem
Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit
beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf
schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von
ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen,
wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek
heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirn-
spule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen;
allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete,
aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster
Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine
Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines
Querstäbchen hervor, und an dieses Stäbchen fügt sich dann
im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens
auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des
Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei
Beinen aufrecht stehen.
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher
irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen.
Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens
findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder
Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen
würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art
abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen,
da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen
ist.
© Weltbild
Ein unfaßbares Tier ist der Myrmekoleon, den Flaubert folgendermaßen
beschreibt: »Löwe von vorn, Ameise von hinten,
dessen Gemächte umgekehrt ist«. Dieses Monstrum hat
eine seltsame Geschichte. In der Heiligen Schrift steht zu lesen:
»Der Löwe ist umgekommen, daß er nicht mehr raubet
. . .« (Hiob, 4:11). Der hebräische Text bringt das Wort
layish für »Löwe«, dieses absonderliche Wort schien eine gleichermaßen
absonderliche Übersetzung zu erfordern; die Verfasser
der Septuaginta erinnerten sich des arabischen Löwen,
den Aelianus und Strabon Myrmex nennen, und bildeten das
Wort »Myrmekoleon«.
Nach einigen Jahrhunderten verlor sich diese Ableitung.
Myrmex bedeutet im Griechischen »Ameise«; aus den rätselhaften
Worten, »Der Löwe-Ameise ist umgekommen, daß er
nicht mehr raubet«, entstand ein Phantasiegebilde, das von
den mittelalterlichen Bestiarien vervielfältigt wurde:
»Der Physiologe beschäftigt sich mit dem Löwe-Ameise;
der Vater hat die Gestalt des Löwen, die Mutter die der
Ameise; der Vater ernährt sich von Fleisch und die Mutter
von Kräutern. Und diese beiden zeugen den Löwe-Ameise,
der eine Mischung von beiden ist und beiden ähnelt, denn
der vordere Teil ist eines Löwen und der hintere der einer
Ameise. So geschaffen, kann er weder Fleisch fressen wie der
Vater, noch Kräuter wie die Mutter; infolgedessen stirbt er.«
Die Nagas
Die Nagas gehören der indischen Mythologie an. Es handelt
sich um Schlangen, die jedoch hin und wieder menschliche
Gestalt annehmen.
Arjuna wird in einem der Bücher des Mahabharata von
Ulupi, der Tochter eines Nagakönigs, begehrt; er versucht,
seinen Keuschheitsschwur geltend zu machen, aber das Mädchen
erinnert ihn an seine Pflicht, den Unglücklichen beizustehen,
und so gewährt der Held ihr eine Nacht. Buddha,
der meditierend unter einem Feigenbaum sitzt, wird von
Sturm und Regen gepeinigt; ein mitleidiger Naga windet
sich siebenmal um ihn herum und breitet seine sieben Köpfe
wie ein Dach über ihm aus. Buddha bekehrt ihn zu seinem
Glauben.
In seinem Handbuch des indischen Buddhismus beschreibt
Kern die Nagas als Schlangen, die Wolken gleichen. Sie leben
in großen Palästen tief unter der Erde. Die Sektierer des Großen
Gefährtes berichten, daß Buddha ein Gesetz für die Menschen
und ein anderes für die Götter gepredigt habe, und daß
dieses - das esoterische - in den Himmeln und in den Palästen
der Schlangen bewahrt wurde, die es Jahrhunderte später
dem Mönch Nagarjuna aushändigten.
Eine Legende, die der Pilger Fa Hsien zu Beginn des 5.Jahrhunderts
in Indien vernahm, besagt folgendes:
»König Asoka kam zu einem See, in dessen Nähe sich ein
Turm befand. Er gedachte, diesen niederreißen zu lassen, um
einen anderen, höheren zu bauen. Ein Brahmane forderte
ihn auf, den Turm zu betreten, und als er darinnen war, sagte
er ihm:
›Meine menschliche Gestalt ist eine Täuschung; ich bin in
Wirklichkeit ein Naga, ein Drache. Meine Sünden haben mich
dazu verdammt, in diesem schrecklichen Körper zu wohnen,
aber ich befolge das von Buddha befohlene Gesetz und hoffe,
mich zu erlösen. Du darfst dieses Heiligtum zerstören, wenn
du dich fähig wähnst, ein besseres zu errichten.‹
Er zeigte ihm die Kultgefäße. Der König betrachtete sie mit
Staunen, denn sie waren gänzlich anders als diejenigen, welche
die Menschen herstellen, und so sah er von seinem Vorhaben
ab.«
Die Nisnas
Unter den Ungeheuern der Versuchung finden wir die Nisnas,
die »nur ein Auge, eine Wange, eine Hand, ein Bein, einen
halben Körper und ein halbes Herz« haben. Ein Kommentator,
Jean-Claude Margolin, schreibt, sie seien ein Phantasiegebilde
Flauberts, aber der erste Band von Tausendundeiner
Nacht von Lane (1839) schreibt sie dem Verkehr der Menschen
mit den Dämonen zu. Der Nesnas, wie Lane ihn schreibt, ist
ein »halbes Menschenwesen; er hat einen halben Kopf, einen
halben Rumpf, einen Arm und ein Bein; er ist äußerst behende
« und haust in den Einöden des Jemen und von Hadramaut.
Die Nisnas sind einer artikulierten Sprache fähig;
einige von ihnen tragen - ebenso wie die Blemmyer - das
Gesicht auf der Brust, und ihr Schwanz ähnelt dem eines
Schafes; ihr Fleisch ist süßlich und sehr begehrt. Eine Abart
des Nisnas, mit fledermausartigen Flügeln, lebt auf der Insel
Raïj (wahrscheinlich Borneo), südlich von China; aber - setzt
der skeptische Berichterstatter hinzu - Allah weiß alles.
Die Nornen
In der mittelalterlichen nordischen Mythologie entsprechen
die Nornen den Parzen oder Faten. Snorri Sturluson, der zu
Beginn des 13. Jahrhunderts diese verstreuten Mythen ordnete,
berichtet uns, es gebe drei Nornen, und ihre Namen
seien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Man kann
wahrscheinlich vermuten, daß die Namen eine Verfeinerung
oder Beifügung theologischer Natur darstellen; die alten germanischen
Völker neigten derartigen Abstraktionen nicht
sonderlich zu. Snorri zeigt uns drei Mädchen bei einer Quelle
am Fuße der Weltesche Yggdrasil. Unerbittlich weben sie unsere
Geschicke.
Die Zeit (aus der sie bestehen) hatte sie vergessen, aber
gegen 1606 schrieb William Shakespeare die Tragödie Macbeth,
in deren erster Szene sie erscheinen. Sie sind die drei Hexen,
die den Kriegern das Schicksal voraussagen, das ihrer
harrt. Shakespeare nennt sie die weird sisters, die unheimlichen
bzw. unheilverheißenden Schwestern, die Parzen. Bei
den Angelsachsen war Wyrd die schweigsame Göttin, die das
Schicksal der Unsterblichen und der Sterblichen bestimmte.
Die Nymphen
Paracelsus beschränkte die Welt der Nymphen auf die Gewässer,
aber im Altertum unterschied man zwischen Wassernymphen
und Landnymphen. Einige der letzteren herrschten
über die Wälder. Die Hamadryaden weilten unsichtbar in den
Bäumen und vergingen mit ihnen; von anderen nahm man
an, sie seien unsterblich oder lebten Tausende von Jahren.
Die Meeresnymphen nannte man Okeaninen oder Nereiden;
die Nymphen der Flüsse Naiaden. Ihre genaue Anzahl ist unbekannt;
Hesiod schlug die Zahl dreitausend vor. Sie waren
ernsthafte und schöne Mädchen; sie zu sehen konnte Wahnsinn
bewirken und, wenn sie nackt waren, Tod. Eine Zeile bei
Propertius stellt dies fest.
Die Menschen der Antike boten ihnen Honig, Olivenöl und
Milch dar. Sie waren kleinere Gottheiten; Tempel wurden zu
ihren Ehren nicht errichtet.
Der Odradek
»Die einen sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen,
und sie suchen auf Grund dessen die Bildung des Wortes
nachzuweisen. Andere wieder meinen, es stamme aus dem
Deutschen, vom Slawischen sei es nur beeinflußt. Die Unsicherheit
beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf
schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von
ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.
Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen,
wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek
heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirn-
spule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen;
allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinandergeknotete,
aber auch ineinanderverfilzte Zwirnstücke von verschiedenster
Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine
Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines
Querstäbchen hervor, und an dieses Stäbchen fügt sich dann
im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens
auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des
Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei
Beinen aufrecht stehen.
Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher
irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen.
Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens
findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder
Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen
würden; das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art
abgeschlossen. Näheres läßt sich übrigens nicht darüber sagen,
da Odradek außerordentlich beweglich und nicht zu fangen
ist.
© Weltbild
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Autoren-Porträt von Jorge Luis Borges
Jorge Luis Borges wurde 1899 in Buenos Aires geboren und starb 1986 in Genf. Sein erster Gedichtband erschien 1923. Borges erhielt zahlreiche internationale Ehrungen. Sein Gesamtwerk erscheint im Carl Hanser Verlag.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jorge Luis Borges
- 2008, 649 Seiten, Masse: 12,9 x 19,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Gisbert Haefs, Fritz Arnold
- Übersetzer: Gisbert Haefs, Maria Bamberg, Ulla de Herrera, Edith Aron
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446230777
- ISBN-13: 9783446230774
- Erscheinungsdatum: 25.07.2008
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