Georgs Sorgen um die Vergangenheit
Oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag. Roman. Für den Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Belletristik 2010 nominiert
Ein ödipales Vergnügen - Faktors erotischer Entwicklungsroman über Widerstände, Schmutz und Schönheit
Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen...
Georg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen...
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Produktinformationen zu „Georgs Sorgen um die Vergangenheit “
Klappentext zu „Georgs Sorgen um die Vergangenheit “
Ein ödipales Vergnügen - Faktors erotischer Entwicklungsroman über Widerstände, Schmutz und SchönheitGeorg wächst in der schönsten Wohngegend Prags in einem summenden Frauenhaushalt auf. Leider zur Zeit des politischen Terrors, der überirdischen Atomversuche und später des Reformversuchs von '68. Zwischen Tanten mit Kriegstraumata, dem tyrannischen Onkel ONKEL und der überstrahlend-schönen Mutter bleibt ihm nur die Flucht nach vorn.Das sozialistische Prag hat in den Jahren von Georgs Jugend seinen Glanz verloren. In einer Stadt voller gewalttätiger Müllmänner, 50-ccm-Motorradcowboys, sexbesessener Fremdgänger und vieler anderer unsozialistischer Elemente nutzt Georg alle sich bietenden Freiräume, um auszubrechen: Er experimentiert mit hochexplosiven Substanzen, verbringt die Nachmittage mit wilden Jugendcliquen und findet im Kreis der Familie schliesslich auch eine Geliebte. In einer Gesellschaft, die von den Rändern her vergammelt und sich von innen auflöst, bekommt das Körperliche eine befreiend-subversive Bedeutung. Georg mobilisiert alle Kräfte, um neben der Mutter auch dem stickig-klebrigen Vaterhaushalt zu entkommen, in dem er seine verhassten Wochenenden verbringen muss. Als er nach der Okkupation des Landes den kulturellen Niedergang miterlebt und sich der Prager Dissidentenszene nähert, wird ein geschasster Intellektueller, der sich trotz seiner Blindheit wie ein Sehender in der Stadt bewegt, zu seinem Wunschvater.Georg macht sich seit seiner frühen Kindheit Sorgen um seine Vergangenheit, seiner hellen glücklichen Zukunft ist er sich aber völlig sicher. Die Frage, ob er wirklich glücklich werden wird, beantwortet sich bei einer zufälligen, aber nicht wirklich vermeidbaren Begegnung auf der Strasse.Indem Jan Faktor Georg selbst erzählen lässt, macht er das Erzählen zu einem zweiten subversiven Akt - und führt damit den Entwicklungs- und den Gesellschaftsroman zusammen. So entstehen ein vor Witz strotzendes Psychogramm einer Familie und ein hellsichtiges
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Porträt einer Stadt.
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Lese-Probe zu „Georgs Sorgen um die Vergangenheit “
Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag von Jan Faktorwir lebten, ohne unter den klebestreifen sonderlich zu leiden
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Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir schon vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten - damals nur aus rein hygienischen Gründen. Um mit der Penisspitze nicht die Klobrille oder sogar die Innenseite der Schüssel zu berühren, griff ich beim Pinkeln mit der Hand zwischen meine Schenkel und drückte meinen Apparat senkrecht nach unten. Damit wollte ich gleichzeitig verhindern, daß der Urinstrahl durch den Spalt unterhalb der Klobrille meine heruntergelassene Hose benäßte.
- Was machst du da? fragten dann die Erzieherinnen, die die Zufluchtsorte der Aufsässigen häufig kontrollierten.
- Nichts, nichts weiter.
Offenbar konnte ich meine Lippen und meinen Unterkiefer gerade frei bewegen. Man klebte mir den Mund nur an den Tagen mit Klebeband zu, an denen ich ununterbrochen redete und nicht anders zu stoppen war. Das papierene Klebeband wurde von den Erzieherinnen immer großzügig angeleckt, und ich mußte den Mund fest verschlossen halten, um die Feuchtigkeitslinie meiner Lippen vor der klebrigen Fremdspucke zu schützen. Bald spürte ich schon, wie der Klebestreifen trocknete, sich zusammenzog und meinen Mund ein bißchen kleiner machte. Dazu muß man wissen: Wir - die Kleinen wie die Großen - lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft.
Wenn ich mir meinen Penis heute ansehe und mich kurz konzentriere, bekomme ich umgehend das Gefühl, daß es sich um ein ästhetisches Gebilde handelt. Er sieht schön aus, etliche Details im Eichelbereich finde ich sogar wunderschön. Seine Ästhetik entdeckte ich allerdings erst relativ spät, etwa ein Jahrzehnt nach seinem Erwachsenwerden, etwa dreizehn Jahre nach seiner späten Beschneidung, die meine Mutter nicht mehr aus nächster Nähe verfolgen, nicht mehr liebend begleiten konnte. Meine Mutter badete und pflegte mich in meiner Kindheit mit großer Inbrunst, strahlte dabei jedesmal intensiv - als ob sie mich gerade frisch geboren hätte. Daß ich in die Länge wuchs und immer großflächiger gesäubert und gepflegt werden mußte, störte sie überhaupt nicht. Wenn eines Tages der strenge Tantenrat nicht eingeschritten wäre, hätte meine Mutter sicher weitergemacht - und ich hätte mich heute als Mutters Pflegefall präsentieren können.
Wie man sich dank dieser kleinen Information denken kann, war ich Mutters einziges Kind. Es ist aber nicht die ganze Wahrheit: Ich hatte um mich herum mehrere mütterliche Wesen zur Auswahl und war auf meine Mutter nicht unbedingt angewiesen. Sie fiel als Bezugsperson sowieso öfter aus. Aber sie liebte mich trotz ihrer häufigen Depressionen und trotz meiner Widerspenstigkeit über alles, und ich versuchte später, ihre Liebe mit allen Mitteln weiterzugeben. Das nötige Zeug dazu hatte ich nun mal. Wieso ich meinen Hodensack mit seinem unsichtbaren und geheimnisvollen Samenlabor - im Gegensatz zu meinem Penis - nie sonderlich schön finden konnte, beschäftigt mich bis heute. Was den dunklen Sack im Konkurrenzkampf mit der Nr. 1 so blaß aussehen läßt, ist natürlich die ihm fehlende Orgasmusfähigkeit. Das gleiche gilt allerdings auch für die zart-schönen Augenlider, die - egal, wie schnell man sie bewegt - nicht in der Lage sind, Lust zu spenden.
Die späteren Sorgen um meinen Penis betrafen in erster Linie seine angemessene Unterbringung; sie beherrschten mein Denken, überschatteten meinen Alltag, ließen mich oft wie einen sabbernden Idioten aussehen. Zum Glück konnte ich bald das erste konkrete Ziel meiner Wünsche ins Auge fassen. Als Dana einmal bei uns übernachtete, trug sie ein ziemlich durchsichtiges Nachthemd. Abends bekam ich das nicht mit. Um so intensiver erlebte ich es am nächsten Morgen. Dana kam aus dem sogenannten Gästezimmer, das indirekte Sonnenlicht beleuchtete sie schräg, und ich sah deutlich ihre steifen Brustwarzen und ihr dunkles Schamhaar. Von diesem Augenblick an war klar, daß ich eines Tages dorthin, genau an diese nämlichen Punkte, gelangen wollte. Dana war ein reizend zierliches Wesen. Problematisch war nur, daß sie viel älter war als ich. Sie war über vierzig, ich war damals sechzehn. Die nächste Schwierigkeit bestand darin, daß sie die beste Freundin einer meiner Tanten war, natürlich auch die Freundin meiner Mutter.
Lange Jahre meines Lebens empfand ich das meiste von dem, was ich erlebt habe, als so peinlich und unerträglich, daß ich froh war, es so nie wieder erleben zu müssen. Egal, wie glücklich ich in meiner Kindheit und Jugend immer wieder war, in der Regel fand ich die Umstände meiner Aufzucht fürchterlich. Leider bauten sich diese Gefühle mit der Zeit nicht ab, sie summierten und verformten sich, quetschten sich bis zur Unkenntlichkeit ineinander. Ich gewöhnte mir vorsichtshalber an, auf meine groteske Familie und auf mich mit Despektion herabzublicken. Ich sah uns wie von außen durchs Glas, ich sah uns wie durch eine kalte Wasserwand. Meine Blicke kühlten bei jeder neuen, naturgemäß oft minderwertigen Lichtbrechung weiter und weiter ab. In unserer Wohnung gab es für diese Art von Blicken etliche halberblindete Spiegel, den größten von ihnen schlug ich bei einem Wutanfall kaputt.
Der Prozeß der ständigen Herabsetzung hinterließ in mir tief eingeritzte und eingestanzte Spuren. Und weil ich diese Art Selbstbeschämung konsequent praktizierte, drohten meine Ekelgefühle mich irgendwann vollkommen auszufüllen. Sie machten ein fast hoffnungslos verschlossenes Wesen aus mir. In besonders schlimmen Kernzeiten verschlug mir meine Vergangenheit die Sprache so gründlich, daß ich es nicht einmal wagte, unverständlich zu murmeln. Ich konnte mich nur noch stumm wundern - über mich und alles, was es außerhalb von mir noch so gab. Aber auch in besseren Zeiten hielt ich lieber dicht, wenn man von mir konkrete Aussagen verlangte.
- Wie fühlst du dich?
- He? Hm.
Das hat sich grundlegend geändert. Mein Name ist Georg, und ich habe jetzt endgültig keine Probleme mehr damit, über mich und meine Vergangenheit zu sprechen. Seltsamerweise war mir auch in den schlimmsten Perioden meines Lebens klar - und es stand trotz aller Dauerqualen immer außer Zweifel -, daß mich eine helle Zukunft erwartete. Das erleichterte mir mein Vegetieren ungemein. Mein unerschütterlicher Glaube an die Zukunft bewirkte nämlich, daß meine Sorgen nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich meine Vergangenheit betrafen. Ich mußte mich andauernd schütteln, wenn ich zurückdachte. Wenn ich daran dachte, was ich gerade hinter mir gelassen, welchen Unsinn ich da und dort erzählt hatte, litt ich wie ein verstümmeltes Versuchstier. Meine Beschäftigung mit dem Vergangenen war für mich früher auch deshalb so quälend, weil ich gern zwanghaft phantasierte, was alles hätte brutal schiefgehen können in meinem Leben - noch viel schlimmer hätte ausgehen können, als es der Fall war. So graute es mir aber wirklich nur vor meiner lästigen Vorgeschichte - egal, wie realistisch oder angstverfremdet ich sie in mir aufbewahrte. An die alltäglichen Abgründe war ich dagegen gewöhnt. Außerdem war ich in meinem aktuellen, wenn auch oft reichlich abgründigen Morast aktiv zugange, war wegen seiner zähen Klebrigkeit stark geworden und konnte nebenbei zusehen, wie ich meinem vorverlagerten Glück immer näher kam.
Wenn ich im Zusammenhang mit meiner Vergangenheit Wörter verwende, in denen es ums »Denken« oder »Nachdenken« geht, heißt das nicht, daß ich damals über mich wirklich nachgedacht hätte. Es war höchstens ein dumpfes Brüten, wozu ich fähig war. Bei uns zu Hause war es aus Rücksicht voreinander nicht üblich, den anderen verbal zu nahe zu treten, mit entsichertem Mund Fragen zu stellen und Antworten zu verlangen. Um gar nicht in Versuchung zu kommen, andere seelenpenetrant zu belästigen, dachten also auch die Klügeren unserer Familie über sich selbst lieber nicht nach - und wegen der fehlenden Übung konnte es tatsächlich auch niemand von ihnen. Inmitten des engen häuslichen Miteinanders empfand sich sowieso kaum jemand von uns als ein ausreichend abgegrenztes Einzelwesen; man spezialisierte und reduzierte sich funktional, wie man es von Bienen oder Ameisen kennt. In meinem gedankenlosen jungen Gehirn gab es daher viele freie Kapazitäten - vielleicht ist deswegen mein Geruchssinn so hündisch hypertrophiert. Daß man Geheimnisse aus dem seelischen Unterleib überhaupt preisgeben durfte, erfuhr ich erst mit sechsundzwanzig.
Was das Nachdenken betrifft, fehlten mir also jegliche Vorbilder, jegliche Möglichkeiten der Nachahmung oder Reibung; es fehlte mir auch an Material. Ich forschte nach nichts, ich speicherte nichts - infolgedessen wußte ich fast gar nichts über mich. Als mich meine spätere Frau mit den einfachsten Gefühlsfragen konfrontierte und klare Antworten verlangte, empfand ich ihr Insistieren als einen gewagten Versuch, meinen Brustkorb bis zum Hals aufzubrechen, um anschließend an meinem Gehirn von unten zu zündeln.
Sehr früh in meiner Kindheit entdeckte ich den Zauber meines breiten Lächelns. Ich kann mich noch erinnern, in welcher Streßlage mir mein Trick zum ersten Mal gelang. Das Wohnzimmer war voller Menschen, eine breitgefächerte, mir gänzlich unbekannte Familie kam zu Besuch. Ich war winzig und mußte trotzdem frontal gegen diese unüberschaubare Seelenansammlung antreten, mich der Prüfung der doppelten Anzahl von Augen stellen. Viele Münder grinsten mich an, Nasenlöcher weiteten sich, die Luft war voller Lungendämpfe. Und jeder dieser Körper war dabei, den Raum immer weiter aufzuheizen, jedermann glühte wie eine 100-Watt-Birne. Ich entschied mich, breit zu lächeln. Ich kam, lächelte und gewann. Ich gewann trotz meiner tiefen Angst und war verblüfft, wie einfach es war. Alle Anwesenden waren von mir begeistert. Andere Kindergenossen konnten in solchen Situationen nur verkrampft grinsen, ich stellte dagegen ein naturidentisches Gesichtsprodukt her. Ich mußte nichts sagen, mein Lächeln sagte alles: Ich war ein glückliches Kind aus einer glücklichen Familie, und mir ging es gut. In meinem Leben lächelte ich auf diese Weise nach und nach Unmengen von Menschen an. Leider kam ich mir dabei, je bewußter ich es betrieb, immer mehr wie ein Trottel vor.
Was Depressionen sind, erlebte ich schon ziemlich früh. Ich war zehn oder zwölf. Aber auch Jahre später wußte ich noch nicht, was dieses Gefühl, das sich nicht mitteilen ließ, eigentlich war und wie es hieß. Traurigkeit war das nicht. Die Menge meiner Geheimnisse wucherte in mir kontinuierlich weiter. Als Kind hatte ich sowieso nicht viel Zeit zum Grübeln, ich spielte dauernd Fußball. Ich spielte jeden Tag Fußball, obwohl ich nicht besonders gut spielte und trotz des Dauertrainings kaum technische Fortschritte machte. Bei Tortreffern, die in der Regel den anderen geglückt waren, brüllte ich nie. Meine stumme Präsenz auf dem Feld war trotzdem hochgradig emotional. Schnelle Bewegung versetzte mich schon immer leicht in Trance, betäubte mich wie eine Droge.
Zu meiner Überlebensstrategie gehörte, daß ich keinen Fremdling in das Innere unseres Prager Wohnungslabyrinths hineinließ. Wenn ich überhaupt einen Besuch empfing, bestand er grundsätzlich nur aus einer oder zwei meiner Cousinen vom anderen Ende des Flurs. Wer von außerhalb kam, wurde so lange an der Tür aufgehalten und genervt, bis er wieder ging. Daß er die vielen seltsamen und so unterschiedlichen Namen an der Tür zu sehen bekam, war schon schlimm genug. Wenn ein solcher Störer vor der Türschwelle lange genug zermürbt wurde, kam er in der Regel nie wieder. Unsere Wohnung war hochgradig verunstaltet, sie war eine Mißgeburt voller Narben und häßlicher Kompromisse. Leider war kein einziges Familienmitglied in der Lage, das zu erkennen. Auch die schlimmsten Geschmacksverbrechen wurden einfach ignoriert.
- Häßlich? Wieso häßlich? So etwas ist doch nie häßlich.
Den meisten Erwachsenen fehlte aber nicht nur jeglicher Sinn für Ästhetik. Wegen der vielen divergierenden Wünsche und Bedürfnisse, die es in unserer Zwangsgemeinschaft gab, wurde die aktuelle und oft nur lächerliche Funktionalität der Einrichtung über alle Maßen idealisiert, so daß der Wille, auch geringfügigen Änderungen zuzustimmen, grundsätzlich gegen null tendierte. Mein Grauen war nicht das Grauen meiner Damen, verzweifelt waren wir aber trotzdem alle. Manche Tanten retteten sich in Putz-und Wischzwang ihrer vertrauten Teilbereiche, ein solches Ventil hatte ich nicht. Die meisten Familienmitglieder waren genügsam und freuten sich einfach, den Krieg überlebt zu haben. Über ihren fehlenden Verschönerungswillen mußte man allerdings eher froh sein.
Unsere Wohnung war voll von dunklen Möbelstücken reicher und 1945 nach Österreich geflohener Deutscher. Diese Einrichtung war zwar nicht nur häßlich - vor allem im Zimmer meiner Mutter gab es einige originelle Prachtexemplare -, alle verrückbaren Einzelteile der Einrichtung waren aber trotzdem gefühllos, nur nach fragwürdig praktischen Gesichtspunkten zusammengestellt; das heißt - zusammengeschoben, aufeinandergetürmt oder ineinander verkeilt. Die klobigsten, unmöglichsten Monster standen meiner Meinung nach in meinem Zimmer, und die Atmosphäre, die sie ausstrahlten, hätte vielleicht einer verarmten Witwe entsprochen, nicht mir. Jedes einzelne Stück, das die Großfamilie besaß, schien uns allen überaus kostbar; und irgendwann leuchtete es auch mir ein, daß ich mich von bestimmten Dingen nie im Leben würde trennen dürfen. Mit einigen besonderen, besonders gut riechenden Möbelstükken freundete ich mich mit der Zeit trotz allem an. Manche davon waren mir zeitweise näher als meine Mutter.
In unserem Teil der Wohnung änderte sich jahrzehntelang nur wenig; und wenn, dann geschah es zu seinem Nachteil. Meistens bekamen wir nach einer Wohnungsauflösung - auch als Erinnerung an den Toten, den wir persönlich gekannt hatten - irgendein dunkles, zu unserer Einrichtung nicht passendes Einzelstück geschenkt. Aber auch neue helle Möbel aus modernen sozialistischen Möbelbetrieben wären für die Melange in unserer Behausung eine Katastrophe gewesen. Für solche Neuanschaffungen hatten wir zum Glück nie genug Geld. Tagsüber hielten sich diejenigen, die sich vertrugen, gern in dem gemütlichen Zimmer meiner arbeitenden Mutter auf. Mein Zimmer verkam schon sehr früh zu einem reinen Schlafzimmer, zu einer Kleider-, Wäsche- und Vorratskammer. Vorräte hielten sich in diesem sonnenfreien Nordzimmer neben dem Treppenhaus sehr gut, weil wir dort praktisch nie heizten.
In der Wohnung gab es nicht nur zu viel Häßliches, das ich vor Außenstehenden verborgen halten mußte, es gab dort vor allem Dinge, die ausgesprochen häßliche Fragen aufwerfen konnten. Und man traf dort Frauen, die seltsame Dinge erzählten - wohlgemerkt mit einem ausländischen Akzent; eine von ihnen machte dabei sogar grobe grammatikalische Fehler. Außerdem stritten sich diese Personen untereinander oft auf Deutsch oder Ungarisch. Dank meines Isolationismus dachte ich in meiner Kindheit eine ganze Weile, die meisten älteren Frauen mit weißen Haaren würden das Tschechische aus Altersschwäche nicht beherrschen.
Nicht alle diese wunderlichen Menschen, die sich bei uns tagsüber aufhielten, wohnten auch tatsächlich da. Dummerweise fehlte in der Wohnung auch so etwas wie mein Vater. Klein und dick, wie er war, war er zwar kein Ausstellungsstück, sein Auslagerungszustand war aber definitiv und wäre schwer zu bestreiten gewesen. In Mutters Zimmer befanden sich viele unterschiedliche Polstersessel, es stand dort aber nie ein Doppelbett. In meinem Zimmer schlief mein Vater auch nicht, dafür schlief dort meine Hauptgroßmutter Lizzy. Daß in meinem »Kinderzimmer« zwei Betten standen, war - jetzt schüttelt es mich wieder - im Grunde noch geheimer als das Getrenntsein meiner Eltern.
Aus Sehnsucht nach weiblichen Wesen, die sich kraft ihres Amtes um einen bemühen mußten, ging ich gern in diejenigen Geschäfte, die von warmblütigen Frauen dominiert wurden. Abscheulich fand ich dagegen solche, in denen ein unbarmherziges männliches Kommandoregime eingeführt worden war. Zum Glück gab es solche Läden damals kaum. Kühlgeschäftige und meist von Männern befehligte Selbstbedienungsläden tauchten in unserer Nähe erst sehr spät auf. Ich bin sowieso in einer Entwicklungsphase des Sozialismus groß geworden, in der sich relativ viele Menschen feuerbeständige Illusionen über ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven machen konnten. Deshalb war die Stimmung vielerorts im Lande zwar nicht die allerbeste, sie war im allgemeinen aber zufriedenstellend und definitiv um viele Qualitätsgrade besser, als es später nach dem Einmarsch der Russen der Fall war. In Zeiten meiner Kindheit und Jugend gab es außerhalb unserer Wohnung also - ich bin bis heute glücklich darüber - noch wirkliche Inseln des Glücks und des Optimismus. Eine davon war ein Stoffladen, ein Ort voller gepflegter, duftender Damen und unterschwelliger Erotik. Und natürlich auch voller überwiegend häßlicher Stoffe, die man in einem solchen Laden irgendwann auch kaufen mußte, wenn man sich dort länger aufhalten wollte.
Von außen betrachtet ging es mir in der innenarchitektonischen Hölle unserer Wohnung mehr als prächtig. Ich wurde umgarnt, bewundert und gepriesen. Ich wurde über alles geliebt. Daher ist es nur logisch, daß mein Leben eine permanente Geschichte des Verliebtseins geworden ist. Ich konnte mich blitzschnell auch in rein materielle Dinge wie Elektrokabel verlieben. Aber davon lieber später.
© 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln
Die ersten Sorgen um meinen Penis machte ich mir schon vor etwa fünfzig Jahren im Kindergarten - damals nur aus rein hygienischen Gründen. Um mit der Penisspitze nicht die Klobrille oder sogar die Innenseite der Schüssel zu berühren, griff ich beim Pinkeln mit der Hand zwischen meine Schenkel und drückte meinen Apparat senkrecht nach unten. Damit wollte ich gleichzeitig verhindern, daß der Urinstrahl durch den Spalt unterhalb der Klobrille meine heruntergelassene Hose benäßte.
- Was machst du da? fragten dann die Erzieherinnen, die die Zufluchtsorte der Aufsässigen häufig kontrollierten.
- Nichts, nichts weiter.
Offenbar konnte ich meine Lippen und meinen Unterkiefer gerade frei bewegen. Man klebte mir den Mund nur an den Tagen mit Klebeband zu, an denen ich ununterbrochen redete und nicht anders zu stoppen war. Das papierene Klebeband wurde von den Erzieherinnen immer großzügig angeleckt, und ich mußte den Mund fest verschlossen halten, um die Feuchtigkeitslinie meiner Lippen vor der klebrigen Fremdspucke zu schützen. Bald spürte ich schon, wie der Klebestreifen trocknete, sich zusammenzog und meinen Mund ein bißchen kleiner machte. Dazu muß man wissen: Wir - die Kleinen wie die Großen - lebten damals in Prag, ohne darunter sonderlich zu leiden, in einer totalitären Gesellschaft.
Wenn ich mir meinen Penis heute ansehe und mich kurz konzentriere, bekomme ich umgehend das Gefühl, daß es sich um ein ästhetisches Gebilde handelt. Er sieht schön aus, etliche Details im Eichelbereich finde ich sogar wunderschön. Seine Ästhetik entdeckte ich allerdings erst relativ spät, etwa ein Jahrzehnt nach seinem Erwachsenwerden, etwa dreizehn Jahre nach seiner späten Beschneidung, die meine Mutter nicht mehr aus nächster Nähe verfolgen, nicht mehr liebend begleiten konnte. Meine Mutter badete und pflegte mich in meiner Kindheit mit großer Inbrunst, strahlte dabei jedesmal intensiv - als ob sie mich gerade frisch geboren hätte. Daß ich in die Länge wuchs und immer großflächiger gesäubert und gepflegt werden mußte, störte sie überhaupt nicht. Wenn eines Tages der strenge Tantenrat nicht eingeschritten wäre, hätte meine Mutter sicher weitergemacht - und ich hätte mich heute als Mutters Pflegefall präsentieren können.
Wie man sich dank dieser kleinen Information denken kann, war ich Mutters einziges Kind. Es ist aber nicht die ganze Wahrheit: Ich hatte um mich herum mehrere mütterliche Wesen zur Auswahl und war auf meine Mutter nicht unbedingt angewiesen. Sie fiel als Bezugsperson sowieso öfter aus. Aber sie liebte mich trotz ihrer häufigen Depressionen und trotz meiner Widerspenstigkeit über alles, und ich versuchte später, ihre Liebe mit allen Mitteln weiterzugeben. Das nötige Zeug dazu hatte ich nun mal. Wieso ich meinen Hodensack mit seinem unsichtbaren und geheimnisvollen Samenlabor - im Gegensatz zu meinem Penis - nie sonderlich schön finden konnte, beschäftigt mich bis heute. Was den dunklen Sack im Konkurrenzkampf mit der Nr. 1 so blaß aussehen läßt, ist natürlich die ihm fehlende Orgasmusfähigkeit. Das gleiche gilt allerdings auch für die zart-schönen Augenlider, die - egal, wie schnell man sie bewegt - nicht in der Lage sind, Lust zu spenden.
Die späteren Sorgen um meinen Penis betrafen in erster Linie seine angemessene Unterbringung; sie beherrschten mein Denken, überschatteten meinen Alltag, ließen mich oft wie einen sabbernden Idioten aussehen. Zum Glück konnte ich bald das erste konkrete Ziel meiner Wünsche ins Auge fassen. Als Dana einmal bei uns übernachtete, trug sie ein ziemlich durchsichtiges Nachthemd. Abends bekam ich das nicht mit. Um so intensiver erlebte ich es am nächsten Morgen. Dana kam aus dem sogenannten Gästezimmer, das indirekte Sonnenlicht beleuchtete sie schräg, und ich sah deutlich ihre steifen Brustwarzen und ihr dunkles Schamhaar. Von diesem Augenblick an war klar, daß ich eines Tages dorthin, genau an diese nämlichen Punkte, gelangen wollte. Dana war ein reizend zierliches Wesen. Problematisch war nur, daß sie viel älter war als ich. Sie war über vierzig, ich war damals sechzehn. Die nächste Schwierigkeit bestand darin, daß sie die beste Freundin einer meiner Tanten war, natürlich auch die Freundin meiner Mutter.
Lange Jahre meines Lebens empfand ich das meiste von dem, was ich erlebt habe, als so peinlich und unerträglich, daß ich froh war, es so nie wieder erleben zu müssen. Egal, wie glücklich ich in meiner Kindheit und Jugend immer wieder war, in der Regel fand ich die Umstände meiner Aufzucht fürchterlich. Leider bauten sich diese Gefühle mit der Zeit nicht ab, sie summierten und verformten sich, quetschten sich bis zur Unkenntlichkeit ineinander. Ich gewöhnte mir vorsichtshalber an, auf meine groteske Familie und auf mich mit Despektion herabzublicken. Ich sah uns wie von außen durchs Glas, ich sah uns wie durch eine kalte Wasserwand. Meine Blicke kühlten bei jeder neuen, naturgemäß oft minderwertigen Lichtbrechung weiter und weiter ab. In unserer Wohnung gab es für diese Art von Blicken etliche halberblindete Spiegel, den größten von ihnen schlug ich bei einem Wutanfall kaputt.
Der Prozeß der ständigen Herabsetzung hinterließ in mir tief eingeritzte und eingestanzte Spuren. Und weil ich diese Art Selbstbeschämung konsequent praktizierte, drohten meine Ekelgefühle mich irgendwann vollkommen auszufüllen. Sie machten ein fast hoffnungslos verschlossenes Wesen aus mir. In besonders schlimmen Kernzeiten verschlug mir meine Vergangenheit die Sprache so gründlich, daß ich es nicht einmal wagte, unverständlich zu murmeln. Ich konnte mich nur noch stumm wundern - über mich und alles, was es außerhalb von mir noch so gab. Aber auch in besseren Zeiten hielt ich lieber dicht, wenn man von mir konkrete Aussagen verlangte.
- Wie fühlst du dich?
- He? Hm.
Das hat sich grundlegend geändert. Mein Name ist Georg, und ich habe jetzt endgültig keine Probleme mehr damit, über mich und meine Vergangenheit zu sprechen. Seltsamerweise war mir auch in den schlimmsten Perioden meines Lebens klar - und es stand trotz aller Dauerqualen immer außer Zweifel -, daß mich eine helle Zukunft erwartete. Das erleichterte mir mein Vegetieren ungemein. Mein unerschütterlicher Glaube an die Zukunft bewirkte nämlich, daß meine Sorgen nicht vorrangig die jeweilige Gegenwart, sondern fast ausschließlich meine Vergangenheit betrafen. Ich mußte mich andauernd schütteln, wenn ich zurückdachte. Wenn ich daran dachte, was ich gerade hinter mir gelassen, welchen Unsinn ich da und dort erzählt hatte, litt ich wie ein verstümmeltes Versuchstier. Meine Beschäftigung mit dem Vergangenen war für mich früher auch deshalb so quälend, weil ich gern zwanghaft phantasierte, was alles hätte brutal schiefgehen können in meinem Leben - noch viel schlimmer hätte ausgehen können, als es der Fall war. So graute es mir aber wirklich nur vor meiner lästigen Vorgeschichte - egal, wie realistisch oder angstverfremdet ich sie in mir aufbewahrte. An die alltäglichen Abgründe war ich dagegen gewöhnt. Außerdem war ich in meinem aktuellen, wenn auch oft reichlich abgründigen Morast aktiv zugange, war wegen seiner zähen Klebrigkeit stark geworden und konnte nebenbei zusehen, wie ich meinem vorverlagerten Glück immer näher kam.
Wenn ich im Zusammenhang mit meiner Vergangenheit Wörter verwende, in denen es ums »Denken« oder »Nachdenken« geht, heißt das nicht, daß ich damals über mich wirklich nachgedacht hätte. Es war höchstens ein dumpfes Brüten, wozu ich fähig war. Bei uns zu Hause war es aus Rücksicht voreinander nicht üblich, den anderen verbal zu nahe zu treten, mit entsichertem Mund Fragen zu stellen und Antworten zu verlangen. Um gar nicht in Versuchung zu kommen, andere seelenpenetrant zu belästigen, dachten also auch die Klügeren unserer Familie über sich selbst lieber nicht nach - und wegen der fehlenden Übung konnte es tatsächlich auch niemand von ihnen. Inmitten des engen häuslichen Miteinanders empfand sich sowieso kaum jemand von uns als ein ausreichend abgegrenztes Einzelwesen; man spezialisierte und reduzierte sich funktional, wie man es von Bienen oder Ameisen kennt. In meinem gedankenlosen jungen Gehirn gab es daher viele freie Kapazitäten - vielleicht ist deswegen mein Geruchssinn so hündisch hypertrophiert. Daß man Geheimnisse aus dem seelischen Unterleib überhaupt preisgeben durfte, erfuhr ich erst mit sechsundzwanzig.
Was das Nachdenken betrifft, fehlten mir also jegliche Vorbilder, jegliche Möglichkeiten der Nachahmung oder Reibung; es fehlte mir auch an Material. Ich forschte nach nichts, ich speicherte nichts - infolgedessen wußte ich fast gar nichts über mich. Als mich meine spätere Frau mit den einfachsten Gefühlsfragen konfrontierte und klare Antworten verlangte, empfand ich ihr Insistieren als einen gewagten Versuch, meinen Brustkorb bis zum Hals aufzubrechen, um anschließend an meinem Gehirn von unten zu zündeln.
Sehr früh in meiner Kindheit entdeckte ich den Zauber meines breiten Lächelns. Ich kann mich noch erinnern, in welcher Streßlage mir mein Trick zum ersten Mal gelang. Das Wohnzimmer war voller Menschen, eine breitgefächerte, mir gänzlich unbekannte Familie kam zu Besuch. Ich war winzig und mußte trotzdem frontal gegen diese unüberschaubare Seelenansammlung antreten, mich der Prüfung der doppelten Anzahl von Augen stellen. Viele Münder grinsten mich an, Nasenlöcher weiteten sich, die Luft war voller Lungendämpfe. Und jeder dieser Körper war dabei, den Raum immer weiter aufzuheizen, jedermann glühte wie eine 100-Watt-Birne. Ich entschied mich, breit zu lächeln. Ich kam, lächelte und gewann. Ich gewann trotz meiner tiefen Angst und war verblüfft, wie einfach es war. Alle Anwesenden waren von mir begeistert. Andere Kindergenossen konnten in solchen Situationen nur verkrampft grinsen, ich stellte dagegen ein naturidentisches Gesichtsprodukt her. Ich mußte nichts sagen, mein Lächeln sagte alles: Ich war ein glückliches Kind aus einer glücklichen Familie, und mir ging es gut. In meinem Leben lächelte ich auf diese Weise nach und nach Unmengen von Menschen an. Leider kam ich mir dabei, je bewußter ich es betrieb, immer mehr wie ein Trottel vor.
Was Depressionen sind, erlebte ich schon ziemlich früh. Ich war zehn oder zwölf. Aber auch Jahre später wußte ich noch nicht, was dieses Gefühl, das sich nicht mitteilen ließ, eigentlich war und wie es hieß. Traurigkeit war das nicht. Die Menge meiner Geheimnisse wucherte in mir kontinuierlich weiter. Als Kind hatte ich sowieso nicht viel Zeit zum Grübeln, ich spielte dauernd Fußball. Ich spielte jeden Tag Fußball, obwohl ich nicht besonders gut spielte und trotz des Dauertrainings kaum technische Fortschritte machte. Bei Tortreffern, die in der Regel den anderen geglückt waren, brüllte ich nie. Meine stumme Präsenz auf dem Feld war trotzdem hochgradig emotional. Schnelle Bewegung versetzte mich schon immer leicht in Trance, betäubte mich wie eine Droge.
Zu meiner Überlebensstrategie gehörte, daß ich keinen Fremdling in das Innere unseres Prager Wohnungslabyrinths hineinließ. Wenn ich überhaupt einen Besuch empfing, bestand er grundsätzlich nur aus einer oder zwei meiner Cousinen vom anderen Ende des Flurs. Wer von außerhalb kam, wurde so lange an der Tür aufgehalten und genervt, bis er wieder ging. Daß er die vielen seltsamen und so unterschiedlichen Namen an der Tür zu sehen bekam, war schon schlimm genug. Wenn ein solcher Störer vor der Türschwelle lange genug zermürbt wurde, kam er in der Regel nie wieder. Unsere Wohnung war hochgradig verunstaltet, sie war eine Mißgeburt voller Narben und häßlicher Kompromisse. Leider war kein einziges Familienmitglied in der Lage, das zu erkennen. Auch die schlimmsten Geschmacksverbrechen wurden einfach ignoriert.
- Häßlich? Wieso häßlich? So etwas ist doch nie häßlich.
Den meisten Erwachsenen fehlte aber nicht nur jeglicher Sinn für Ästhetik. Wegen der vielen divergierenden Wünsche und Bedürfnisse, die es in unserer Zwangsgemeinschaft gab, wurde die aktuelle und oft nur lächerliche Funktionalität der Einrichtung über alle Maßen idealisiert, so daß der Wille, auch geringfügigen Änderungen zuzustimmen, grundsätzlich gegen null tendierte. Mein Grauen war nicht das Grauen meiner Damen, verzweifelt waren wir aber trotzdem alle. Manche Tanten retteten sich in Putz-und Wischzwang ihrer vertrauten Teilbereiche, ein solches Ventil hatte ich nicht. Die meisten Familienmitglieder waren genügsam und freuten sich einfach, den Krieg überlebt zu haben. Über ihren fehlenden Verschönerungswillen mußte man allerdings eher froh sein.
Unsere Wohnung war voll von dunklen Möbelstücken reicher und 1945 nach Österreich geflohener Deutscher. Diese Einrichtung war zwar nicht nur häßlich - vor allem im Zimmer meiner Mutter gab es einige originelle Prachtexemplare -, alle verrückbaren Einzelteile der Einrichtung waren aber trotzdem gefühllos, nur nach fragwürdig praktischen Gesichtspunkten zusammengestellt; das heißt - zusammengeschoben, aufeinandergetürmt oder ineinander verkeilt. Die klobigsten, unmöglichsten Monster standen meiner Meinung nach in meinem Zimmer, und die Atmosphäre, die sie ausstrahlten, hätte vielleicht einer verarmten Witwe entsprochen, nicht mir. Jedes einzelne Stück, das die Großfamilie besaß, schien uns allen überaus kostbar; und irgendwann leuchtete es auch mir ein, daß ich mich von bestimmten Dingen nie im Leben würde trennen dürfen. Mit einigen besonderen, besonders gut riechenden Möbelstükken freundete ich mich mit der Zeit trotz allem an. Manche davon waren mir zeitweise näher als meine Mutter.
In unserem Teil der Wohnung änderte sich jahrzehntelang nur wenig; und wenn, dann geschah es zu seinem Nachteil. Meistens bekamen wir nach einer Wohnungsauflösung - auch als Erinnerung an den Toten, den wir persönlich gekannt hatten - irgendein dunkles, zu unserer Einrichtung nicht passendes Einzelstück geschenkt. Aber auch neue helle Möbel aus modernen sozialistischen Möbelbetrieben wären für die Melange in unserer Behausung eine Katastrophe gewesen. Für solche Neuanschaffungen hatten wir zum Glück nie genug Geld. Tagsüber hielten sich diejenigen, die sich vertrugen, gern in dem gemütlichen Zimmer meiner arbeitenden Mutter auf. Mein Zimmer verkam schon sehr früh zu einem reinen Schlafzimmer, zu einer Kleider-, Wäsche- und Vorratskammer. Vorräte hielten sich in diesem sonnenfreien Nordzimmer neben dem Treppenhaus sehr gut, weil wir dort praktisch nie heizten.
In der Wohnung gab es nicht nur zu viel Häßliches, das ich vor Außenstehenden verborgen halten mußte, es gab dort vor allem Dinge, die ausgesprochen häßliche Fragen aufwerfen konnten. Und man traf dort Frauen, die seltsame Dinge erzählten - wohlgemerkt mit einem ausländischen Akzent; eine von ihnen machte dabei sogar grobe grammatikalische Fehler. Außerdem stritten sich diese Personen untereinander oft auf Deutsch oder Ungarisch. Dank meines Isolationismus dachte ich in meiner Kindheit eine ganze Weile, die meisten älteren Frauen mit weißen Haaren würden das Tschechische aus Altersschwäche nicht beherrschen.
Nicht alle diese wunderlichen Menschen, die sich bei uns tagsüber aufhielten, wohnten auch tatsächlich da. Dummerweise fehlte in der Wohnung auch so etwas wie mein Vater. Klein und dick, wie er war, war er zwar kein Ausstellungsstück, sein Auslagerungszustand war aber definitiv und wäre schwer zu bestreiten gewesen. In Mutters Zimmer befanden sich viele unterschiedliche Polstersessel, es stand dort aber nie ein Doppelbett. In meinem Zimmer schlief mein Vater auch nicht, dafür schlief dort meine Hauptgroßmutter Lizzy. Daß in meinem »Kinderzimmer« zwei Betten standen, war - jetzt schüttelt es mich wieder - im Grunde noch geheimer als das Getrenntsein meiner Eltern.
Aus Sehnsucht nach weiblichen Wesen, die sich kraft ihres Amtes um einen bemühen mußten, ging ich gern in diejenigen Geschäfte, die von warmblütigen Frauen dominiert wurden. Abscheulich fand ich dagegen solche, in denen ein unbarmherziges männliches Kommandoregime eingeführt worden war. Zum Glück gab es solche Läden damals kaum. Kühlgeschäftige und meist von Männern befehligte Selbstbedienungsläden tauchten in unserer Nähe erst sehr spät auf. Ich bin sowieso in einer Entwicklungsphase des Sozialismus groß geworden, in der sich relativ viele Menschen feuerbeständige Illusionen über ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven machen konnten. Deshalb war die Stimmung vielerorts im Lande zwar nicht die allerbeste, sie war im allgemeinen aber zufriedenstellend und definitiv um viele Qualitätsgrade besser, als es später nach dem Einmarsch der Russen der Fall war. In Zeiten meiner Kindheit und Jugend gab es außerhalb unserer Wohnung also - ich bin bis heute glücklich darüber - noch wirkliche Inseln des Glücks und des Optimismus. Eine davon war ein Stoffladen, ein Ort voller gepflegter, duftender Damen und unterschwelliger Erotik. Und natürlich auch voller überwiegend häßlicher Stoffe, die man in einem solchen Laden irgendwann auch kaufen mußte, wenn man sich dort länger aufhalten wollte.
Von außen betrachtet ging es mir in der innenarchitektonischen Hölle unserer Wohnung mehr als prächtig. Ich wurde umgarnt, bewundert und gepriesen. Ich wurde über alles geliebt. Daher ist es nur logisch, daß mein Leben eine permanente Geschichte des Verliebtseins geworden ist. Ich konnte mich blitzschnell auch in rein materielle Dinge wie Elektrokabel verlieben. Aber davon lieber später.
© 2010 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Jan Faktor
Jan Faktor, 1951 in Prag geboren, arbeitete nach seinem abgebrochenem EDV-Studium in Prag und der Slowakei. Nach seinem Fernstudium war er als Programmierer beschäftigt. 1978 zog er zu seiner Frau nach Ostberlin und arbeitete als Kindergärtner, Schlosser und Übersetzer. Bis 1989 war er fast ausschliesslich in der alternativen Literaturszene engagiert. 1989 war Faktor Mitarbeiter des Rundbriefs des Neuen Forum, später Mitarbeiter der Zeitung »Die Andere«. Jan Faktors experimentelle Texte aus dieser Zeit erschienen 1989 in einem Band beim Aufbau Verlag. 1989 wurde Faktor Mitglied des Bielefelder Colloquiums Neue Poesie. 2005 erhielt er den Alfred-Döblin-Preis für seinen Roman »Schornstein«. Sein Roman »Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag« wurde 2010 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und gelangte auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Im selben Jahr erhielt er den Candide-Preis für sein bisheriges Gesamtwerk, 2018 wurde er mit dem Italo-Svevo-Preis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jan Faktor
- 2010, 4. Aufl., 640 Seiten, Masse: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462041886
- ISBN-13: 9783462041880
- Erscheinungsdatum: 17.03.2010
Rezension zu „Georgs Sorgen um die Vergangenheit “
»Kein Zweifel: [...] diese hochnotkomische Phänomenologie des sozialen Wohnens im Sozialismus, das eindringliche Porträt des Prags seiner Jugendjahre [...] ist Jan Faktors Opus magnum.« Felicitas von Lovenberg FAZ 20111031
Pressezitat
»Kein Zweifel: [...] diese hochnotkomische Phänomenologie des sozialen Wohnens im Sozialismus, das eindringliche Porträt des Prags seiner Jugendjahre [...] ist Jan Faktors Opus magnum.« Felicitas von Lovenberg FAZ 20111031
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