Geliebte Spionin/Gefährliches Spiel d. Versuchung/D. scharlachrote Spionin
Merlin's Maidens Reihe
- Geliebte Spionin: Ihr erster Auftrag führt die schöne Siena in einen exklusiven Kreis von Büchersammlern. Getarnt als skandalöse Kurtisane soll sie dort einen Landesverräter entlarven und...
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Produktinformationen zu „Geliebte Spionin/Gefährliches Spiel d. Versuchung/D. scharlachrote Spionin “
- Geliebte Spionin: Ihr erster Auftrag führt die schöne Siena in einen exklusiven Kreis von Büchersammlern. Getarnt als skandalöse Kurtisane soll sie dort einen Landesverräter entlarven und verführen
- Gefährliches Spiel der Versuchung
- Die scharlachrote Spionin
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Geliebte Spionin von Andrea Pickens1. Kapitel
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Stahl klirrte auf Stahl, die Klingen zuckten wie feuriges Silber in der Nachmittagssonne.
Aber diesmal würden keine Funken stieben, würden keine Flammen aufflackern. Diesmal würde der Italiener mit dem Wolfsgesicht die Stimmung nicht anheizen, bis sie explodierte . . .
»Porca miseria!« Il Lupino bewegte sich schnell hin und her, täuschte an, wich aus. Als ob er seinen Fluch bekräftigen wollte, ließ er die blitzenden Hiebe in wirrer Folge auf sie niederprasseln, so lange, bis der gegnerische Säbel auf das Kopfsteinpflaster des Innenhofs krachte. »Non, non, non, ganz falsch!«, knurrte er. »Sie müssen nach links gleiten und den Gegenangriff mit einer Punta sopramano einleiten.«
Verdammt.
»Außerdem müssen Sie tiefer und rascher zustoßen, Volpina. So zum Beispiel . . .« Es klang wie ein todbringendes Flüstern, als die Säbelspitze des Italieners durch die Luft zischte. Sanft, aber tödlich.
»Grazie.« Volpina, wie er sie nach dem italienischen Wort für Fuchs nannte, beobachtete die Spitze der Fechtwaffe, die in geschmeidigen Wellen durch die Luft zu tanzen schien.
»Wie ein Mann, der eine schöne Frau liebt.« Er schloss seine Vorführung mit einem Stoß nach vorn ab und brachte seine Waffe in die Ausgangsposition zurück. »Versuchen Sie es noch einmal. Aber ein bisschen leidenschaftlicher, wenn ich bitten darf.« Das halbmondförmige Lächeln, das seine Lippen für einen kurzen Moment umspielte, wirkte wie der spöttische Widerschein des scharf geschliffenen Stahls. Offenbar wollte er sie ganz bewusst provozieren. »Es sei denn, Sie sind zu müde, um weiterzukämpfen. «
»Verdammt unwahrscheinlich.«
Wie er es beabsichtigt hatte, jagte ihr die Herausforderung einen prickelnden Schauder über den Rücken. Es fühlte sich an, als ob tausend kleine Dolchspitzen auf ihrer zarten Haut tanzten. Einen Moment lang flammte Wut in ihr auf, angeheizt durch ihren verletzten Stolz. Aber dann rief Volpina sich die Worte ihres Meisters ins Gedächtnis.
Du musst das Feuer mit Feuer bekämpfen.
Volpina schnappte sich den am Boden liegenden Säbel. Nur für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sie die Waffen zum Gruß, bevor Volpina mit einem furiosen Angriff begann und Il Lupino bis an den Rand des Kreidekreises drängte.
Der Italiener parierte die Attacke mit Leichtigkeit. Aber als er seine Stellung behaupten und den nächsten Stoß mit gesenkter Klinge abwehren wollte, wirbelte Volpina plötzlich herum und rammte ihm das Knie in den Unterleib.
Woooof. Il Lupino krümmte sich, fiel dumpf zu Boden.
Schweigen breitete sich im Innenhof aus, mit Ausnahme des schabenden Geräuschs des Leders auf Stein.
»Bella! Bella!« Der Italiener schnappte nach Luft, bis er wieder sprechen konnte. »Magnifico,inder Tat.«
Er stieß die stählerne Spitze des Säbels von seiner Kehle fort, ordnete seine Gliedmaßen und setzte sich auf.
Die Zuschauer zuckten mitfühlend zusammen. Aber ein oder zwei unter ihnen hatten trotzdem Mühe, sich das Lachen zu verkneifen.
»Machiavelli wäre stolz auf Sie.« Seine Stimme klang rau vor Schmerz, obwohl die untergründige Ironie ihn ein wenig sanfter erschienen ließ. »Eine Lady sollte niemals zu fairen Waffen greifen. «
»Sie nehmen es mir also nicht übel, Signor Da Rimini?« Die dunkelhaarige Schöne, die nur Siena genannt wurde, stützte die behandschuhte Hand auf die Hüfte und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Es schien, als würde ihr das Feuer immer noch durch die angespannten Muskeln tanzen, bis es sich schließlich mit einem zaghaften Lächeln in die Mundwinkel einnistete. Immerhin hatte sie den bösen Wolf mit seinen eigenen Waffen geschlagen.
»Im Gegenteil. Es verschafft mir das größte Vergnügen, dass ich sehen darf, wie eine meiner Schülerinnen ihren Meister in der Kriegskunst zu übertreffen beginnt.« Das spöttische Grinsen in seinen Mundwinkeln schien sich für einen Moment zu verflüchtigen. »Ich habe den Eindruck, dass Sie mit einem angeborenen Talent gesegnet sind, Signorina Siena. Es ist meine Aufgabe, ihm den feinsten Schliff zu zu geben.«
Siena senkte den Blick und starrte auf ihren Säbel. Ihre wahre Identität hatte sie schon seit Langem in den verrufenen Straßen von St. Giles verloren. Aber wie alle Schülerinnen in Mrs. Merlin's Academy for Select Young Ladies hatte sie einen neuen Namen bekommen, als sie diese Welt betreten hatte, willkürlich ausgewählt auf dem prachtvollen Globus im Büro der Direktorin.
Ein neuer Name für ein neues Leben. Und die ruppigen Lektionen, die sie in den primitiven Slums gelernt hatte, bekamen plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Nachdem sie erst einmal hinter den Mauern des altehrwürdigen Gebäudes verschwunden war, war sie fest entschlossen gewesen, niemals wieder einen Blick auf die verwinkelten Gassen, durch die sie in ihrer Vergangenheit geirrt war, zurückzuwerfen.
»Und jetzt achten Sie bitte genau auf meine Worte und nicht auf meine männlichen Schenkel.« Da Rimini hatte seinen spöttischen Tonfall wiedergefunden und riss sie aus ihrer Grübelei. »Signorina Siena hat uns eben formvollendet vorgeführt, warum es wichtig ist, mitten im hitzigsten Gefecht einen kühlen Kopf zu bewahren. Es kommt darauf an, dass Sie alle sich auf Ihren Witz und auf Ihren Einfallsreichtum verlassen können, wenn Sie Ihren Gegner besiegen wollen - und nicht auf Körpergröße und Kraft. Sie selbst sind gerade Zeuge geworden, dass ein kluges Köpfchen eine mächtigere Waffe sein kann als die stärksten Muskeln.«
Siena streckte ihm die Hand entgegen und half ihm auf die Beine.
»Zum Teufel noch mal«, flüsterte er, »demnächst werde ich Sie an anderer Stelle empfehlen, Signorina. Jetzt, wo Sie lernen, mit dem Kopf genauso zu kämpfen wie mit dem Herzen, sind Sie zu einer tödlichen Herausforderung geworden. Gott möge Ihren Feinden beistehen.«
Heiß und kalt rann es ihr über den Rücken. War sie wirklich schon so weit, ihre Kampfkraft in der Welt da draußen zu erproben?
In der Ferne schlug eine Uhr.
»Für heute ist der Unterricht beendet«, verkündete Da Rimini.
Siena streifte sich das wattierte Wams vom Körper und schüttelte die Locken aus, die sie in ihrem Nacken zusammengebunden hatte. Aufgrund ihrer Größe, der schlanken Hüften und ihrer geschmeidigen Bewegungen hätte sie im Fechtanzug glatt als Junge durchgehen können. Aber das dünne Leinenhemd war von den Strapazen feucht geworden und gab Kurven zu erkennen, die eindeutig weiblich waren.
Da Rimini ließ den Blick anerkennend über sie schweifen, während er zusah, wie die schwarzen Locken sich über ihre Schultern ergossen. »Morgen zeige ich Ihnen, wie man den Motta dritta ausführt, einverstanden?«
»Vorausgesetzt, Sie haben genügend Kraft in der Hose, um das Schlachtfeld noch mal zu betreten«, spottete eine andere Schülerin, Shannon. In der Klasse schätzte man sie für ihren scharfen Verstand, und sie scheute nicht davor zurück, ihren Spott über andere zu ergießen. Obwohl sie selbst sich manchmal lieber auf die Zunge gebissen hätte. Denn ihr Hang, die Autoritäten zu provozieren, hatte ihr vor Kurzem eine disziplinarische Verwarnung eingebracht. Beim nächsten Mal könnte sie der Akademie verwiesen werden.
»Nonnie«, mahnte Siena, weil sie hoffte, ihrer Zimmergenossin Ärger ersparen zu können.
»Mit meiner Hose ist es wie mit meinem Schwert. Sie sind beide hart wie Stahl.« Der Italiener hob die Brauen, verengte die Augen zu einem Schlitz, starrte aber immer noch Siena an. »In der Tat, meine gesamte Ausrüstung ist wie zum Kampf geschliffen. Wie die wundervolle Volpina bald feststellen könnte, wenn sie nur meine Einladung annehmen und sich auf intimere Unterweisungen in den Feinheiten des Nahkampfs einlassen würde.«
Siena achtete nicht auf seine lüsternen Blicke, gab ihre Waffe einer älteren Schülerin und raffte die Bücher zusammen. »Mach schon, Shannon, wir müssen uns beeilen und uns umziehen. Sonst kommen wir noch zu spät zum nächsten Unterricht.«
Ihre Freundin konnte sich scharfe Widerworte jedoch nicht verkneifen. »Ach, wirklich, Signor? Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihre Ausrüstung mit der Zeit ziemlich stumpf und schlaff geworden ist. Zu selten in Gebrauch.« Mit übertriebener Gebärde schleuderte sie Il Lupino ihren Handschuh aus Gamsleder entgegen. »Vielleicht braucht sie eine gründliche Politur. Aber dafür müssen Sie schon selbst sorgen.«
Sein Gelächter klang den beiden noch in den Ohren, als sie quer über den Fechtboden zum Kiesweg im Garten eilten.
Siena warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu, als sie die hohe Ligusterhecke umrundeten. Genau wie sie war Shannon gertenschlank, hatte den gleichen federnden Schritt - und reckte das Kinn ebenso störrisch nach vorn. Eigentlich hätte man sie für Zwillinge halten können, wenn man davon absah, dass das Haar ihrer Freundin wie spätsommerlicher Weizen schimmerte und ein paar Zentimeter kürzer geschnitten war.
»Du hast Glück gehabt«, meinte Siena. »Da Rimini war heute in besserer Stimmung als gewöhnlich. Aber trotzdem ist er unberechenbar. Könnte sein, dass es das nächste Mal ein schlechteres Ende nimmt, wenn du ihn zum Kampf herausforderst.«
»Der lüsterne alte Bock«, erwiderte Shannon schulterzuckend, »eigentlich sollten wir ihn Schlange nennen und nicht Wolf. Gestern erst hat er versucht, mir mit der Hand die Röcke hochzustreichen, während ich die Pistole in meinem Waffenschrank gesäubert habe.« Sie verzog das Gesicht. »Es ist mir unbegreiflich, warum die Direktorin ihn nicht schon vor einer Ewigkeit mit einem Tritt in den Hintern aus dem Haus geworfen hat.«
»Weil er trotz seines vorgerückten Alters und seiner ungehobelten Manieren ausgezeichnete Arbeit macht«, antwortete Siena. »Ich bezweifle, dass es irgendwo in England einen begabteren Fechtmeister gibt.«
»Solange er sein Schwert stecken lässt . . .«
»Es gibt das Gerücht, dass er gezwungen war, aus Mailand zu fliehen. Wegen eines Vorfalls, der mit einem Messer zu tun hatte«, fügte Sofia hinzu, die sie gerade rechtzeitig eingeholt hatte, um die letzten Worte aufzuschnappen. Die Schülerin, die das spartanische Schlafzimmer ebenfalls mit den beiden anderen teilte, zwinkerte Shannon zu, als sie mit ihr gleichauf war. »Und außerdem noch mit einer Comtessa und einem Kardinal. Selbst wenn man bedenkt, dass Italiener zu Empörungsausbrüchen neigen, muss es ziemlich skandalös gewesen sein.«
»Es ist schließlich nicht so, dass wir uns in einer gewöhnlichen Erziehungsanstalt für höhere Töchter befinden. Es gibt niemanden hier in der Akademie, der auch nur den Hauch von Anstand besitzt. Wir selbst eingeschlossen.« Siena lächelte boshaft. Sie alle waren Waisen, die in den Slums von London für sich selbst hatten sorgen müssen. Obdachlos und allein, hatten sie schnell die wichtigste Lektion gelernt: Nur der Stärkste überlebt. Nicht dass sie Wert darauf legte, sich jene früheren Zeiten ins Gedächtnis zu rufen; es sei denn, sie wollte sich daran erinnern, dass sie zäh genug war, um mit jeder Herausforderung fertig zu werden.
Wieder warf sie ihren Freundinnen einen Blick zu. Die drei benahmen sich eher wie Schwestern und nicht wie Schulfreundinnen. Vielleicht lag es daran, dass die gemeinsame Not sie viel enger zusammengeschweißt hatte, als Blut es jemals vermocht hätte.
Shannon ließ sich durch die Anspielung auf ihre elende Vergangenheit nicht beeindrucken. »Da hast du recht«, erklärte sie lachend, »wie viele Anstalten für höhere Töchter können schon behaupten, dass sie einen dunkelhäutigen Boxer als Erzieher beschäftigen? Oder einen verurteilten Falschspieler? Oder eine Frau, die früher als Kurtisane am Hof des Königs Carlos von Spanien gedient hat?«
»Du hast den indischen Fakir vergessen«, fügte Sofia hinzu.
»Den Fakir?«
»Ein Fachmann, der sich auf die Disziplinierung von Körper und Geist versteht. Er muss verdammt gut sein, genau wie alle anderen, die hier arbeiten. Denn als er heute Morgen eintraf, trug er nichts außer einem safrangelben Leinenkleid und zwei blutroten Rubinen in den Ohrläppchen, obwohl ein hässlicher Schneeregen vom Himmel fiel.«
»Aber wir machen doch schon eine Stunde Yoga am Tag.« Shannon blieb stehen und bückte sich, bis sie die Zehen mit der Stirn berührte. »Was wird Mrs. Merlin sich wohl als Nächstes einfallen lassen, meine Liebe?«
»Ach, wo du gerade fragst, demnächst soll eine türkische Bauchtänzerin eintreffen, um eine Klasse in der Kunst der Verführung zu unterrichten.« Siena verdrängte ihren augenblicklichen Trübsinn und zwang sich, sich in die Plauderei einzumischen. Schließlich gehörst du auch zu den Glücklichen, ermahnte sie sich. Wenn Lord Lynsley damals nicht beobachtet hätte, wie sie drei Jungen besiegt hatte, die doppelt so groß waren wie sie, nur um die goldene Uhr zu verteidigen, die sie gerade gestohlen hatte, dann würde sie sich wahrscheinlich immer noch als kleine Taschendiebin durchschlagen müssen. Oder vielleicht als Hure.
Sofia schwenkte die Hüften. »Ich habe gar nichts dagegen, meine Unschuld im Namen Englands zu verlieren, solange sie nicht erwarten, dass ich mit dem Prinzregenten ins Bett gehe. Die Grenze ist überschritten, wenn ich mit einem Mann schlafen soll, der ein Korsett trägt.«
»Es gibt keine Grenzen, Sofia. Nicht hier, in unserer Welt.« Siena machte abrupt kehrt und marschierte auf die steinernen Gebäude rund um den viereckigen Innenhof zu, in denen die Schulzimmer und die Schlafräume untergebracht waren. »Wir werden das tun, was sie von uns verlangen. Ganz gleich, ob wir einem Mann die Kehle aufschlitzen oder den Prinzen der Nacht verführen sollen.«
Der Marquis von Lynsley presste die Spitzen seiner gepflegten Finger aneinander und schaute aus dem Fenster seines Büros im Ministerium. Kalte Regentropfen trommelten auf die Scheibe, und der Sturm, der sich wie aus dem Nichts zusammengebraut hatte, schien nicht nachlassen zu wollen. Die Wolken hingen bleiern über den Türmen von Westminster, und der Nebel schien jeden Moment schwerer durch die Straßen zu wabern.
Noch schlimmer war es um die Neuigkeiten bestellt, denen er ins Auge sehen musste. Wieder senkte er den Blick auf den Bericht auf seinem Tisch. »Der Teufel soll es holen«, murmelte er und strich das zerknitterte Papier glatt, das eine weite Reise hinter sich hatte. Aber so leicht sich das Papier auch glatt streichen ließ, nichts konnte seine innere Unruhe besänftigen.
»Wie gern würde ich es zu Luzifer zurückschicken, Sir, wenn ich nur könnte.« Major Chertwell bemühte sich um ein grimmiges Lächeln. Als Offizier war er es seine Aufgabe, die Militärspionage mit den russischen Verbündeten zu koordinieren. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass eine gehörige Portion schwarzer Humor eine entscheidende Waffe im Überlebenskampf sein konnte. »Sieht aber so aus, als hätte der verdammte Kerl längst ins Gras gebissen und würde uns mit der Hölle allein lassen.«
»In der Tat, es ist die Hölle.« Lynsley erhob sich, überquerte den Teppich und presste die Handflächen auf das zweiflügelige Fensterglas. Die Kälte kroch ihm bis unter die Haut, und obwohl er mehrere Lagen maßgeschneiderter Kleidung trug, konnte er den Schauder nicht unterdrücken. »Ein Verräter? Jemand aus unseren Reihen?«
»Die Indizien lassen sich nicht von der Hand weisen, Mylord. Nur jemand, der sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegt, kann Zugang zu solchen Informationen haben.«
»Was wissen Sie? Berichten Sie noch einmal.«
»Unser Agent in Berlin ist in Napoleons östliches Spionagenetz eingedrungen. Seit knapp einem Jahr weiß er, dass immer wieder höchst sensible Informationen mitten aus dem Herzen Londons nach draußen sickern. Manchmal handelte es sich um aktuelle Regierungsdokumente, manchmal um eine Zusammenfassung der Truppenbewegungen oder um geheime Treffen mit Englands Verbündeten. Anfangs war es nur ein Rinnsal, aber inzwischen schwoll der Informationsfluss wirklich alarmierend an. Und erst jetzt hat unser Agent entlarvt, wie die Informationen aus dem Land geschmuggelt worden sind.«
Chertwell zog ein kleines, ledergebundenes Buch aus seiner Tasche und legte es neben den Brief. »Es bestätigt unseren Verdacht, dass unser Agent das versteckte Dokument hier drin entdeckt hat.« Er fuhr mit dem Daumen über den vergoldeten Buchrücken. »Das Buch ist eine sehr seltene Ausgabe von Miltons Paradise Lost. Meine Quelle hat mir versichert, dass es nur ein paar Gentlemen hier in der Stadt gibt, die über die Mittel und die Gelegenheit verfügen, einen solchen Schatz an sich zu bringen.«
»Ihre Argumente sind überzeugend.« Lynsley atmete mit einem langen Seufzer aus. »Mit anderen Worten, unser Feind ist sehr wahrscheinlich reich und adlig?«
Chertwell bedeckte den belastenden Bericht mit einem Blatt eigener Notizen. »Sir, ich habe alle Möglichkeiten aufgelistet.«
Der Marquis warf einen letzten Blick auf den nebligen Sprühregen, drehte sich um und überflog die Namen. »Verdammt noch mal.« Er dachte kurz über die Liste nach. »Ist Ihnen bewusst, was es bedeutet, die Privatangelegenheiten dieser Männer auszuforschen? «
Der Major erwiderte den ernsten Blick. »Ja, Sir. Es handelt sich um eine äußerst delikate Situation.«
»Und um eine äußerst gefährliche. Wir stecken in einem Dilemma. Denn wir sind verdammt, wenn wir etwas unternehmen. Und wir sind verdammt, wenn wir es nicht tun«, grübelte Lynsley und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Schreibtisch.
Auf den ersten Blick stach er nicht aus der Menge heraus. Mit den Jahren hatte er sich ein paar unterschwellige Tricks angewöhnt, die ihn kleiner und schlanker aussehen ließen, als er es in Wirklichkeit war. Was seine Gesichtszüge betraf, so waren sie gut geschnitten; ein selbstironisches Lächeln ließ die vornehmen Konturen weicher wirken. Das Haar, das an den Schläfen bereits silbrig zu werden begann, war weder lang noch kurz, und sein brauner Farbton fand sich in den dunklen Erdtönen seiner Kleidung wieder. Viele Menschen hielten ihn für einen faden, ziemlich langweiligen Bürokraten. Ein Umstand, mit dem er sehr einverstanden war.
Offiziell war er Sekretär des Außen-und Kriegsministers.
Aber der amtliche Titel war absichtlich allgemein formuliert, um über seine wahren Verantwortlichkeiten hinwegzutäuschen. Spionageabwehr und die Abwehr feindlicher Intrigen gehörten zu seinen Aufgaben; er hatte es mit den gefährlichsten und teuflischsten Bedrohungen der Souveränität Englands zu tun. Eigentlich zog er es vor, nur mit einem kleinen Kreis vertrauenswürdiger Verbündeter zu arbeiten. Aber inzwischen hatten die Ereignisse sich in einer Weise entwickelt, die ihm keine andere Wahl gelassen hatte, als den Major einzuweihen.
Zögernd fuhr Lynsley mit seinen Enthüllungen fort. »Wenn das Wort die Runde macht, dass wir es einem solchen Hochverräter gestattet haben, sich vor unserer Nase einzunisten, dann könnte es einen Skandal geben, über den die Regierung stürzen wird.«
»Ja, Sir. Die Angelegenheit muss mit äußerster Diskretion behandelt werden. Aber sogar dann sind wir auf ein Wunder angewiesen, um die Sache aus der Welt zu schaffen, ohne im Parlament ein Feuerwerk zu entfachen, das selbst Vauxhall in Verlegenheit bringen würde.«
»Ein Wunder.« Lynsley trommelte so heftig mit den Fingerspitzen auf die Lederunterlage, als wollte er Geister aus der Unterwelt beschwören.
»Ja. Ein Wunder.« Es klang noch düsterer, als der Major die Worte wiederholte. »Oder einen Helden aus der Artussage.«
»Merlin«, flüsterte der Marquis.
Chertwell lachte halbherzig. »Abrakadabra. Das Herz des Galahad. Das Schwert des Excalibur.«
Wenige Augenblicke später klingelte der Marquis nach seinem Sekretär. »Collins, sorgen Sie dafür, dass meine Kutsche sofort vorfährt.« Er stopfte die Liste mit den Verdächtigen in seine Westentasche und wandte sich zur Tür. »Was stehen Sie da herum, Chertwell. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Der Major räusperte sich. »Wohin fahren wir, Sir?«
Zum ersten Mal an diesem Nachmittag lächelte Lynsley. »Zum Tee bei Mrs. Merlin.«
»Wer um alles in der Welt . . .«
»Eine kleine alte Lady, die wahre Wunder vollbringt.«
»Verdammt, die Türklinke klemmt immer noch wie der Teufel. «
»Achtet auf eure Ausdrucksweise, meine Lieben! Eure Ausdrucksweise! « Weil die Hausvorsteherin Miss Clemens in dunkle Brauntöne gekleidet war, hätte sie leicht mit der hölzernen Einrichtung verwechselt werden können, wenn sie ihre Schülerinnen nicht mit durchdringender Stimme zur Ordnung gerufen hätte. »Keine Flüche! Ihr kennt die Regeln. Innerhalb dieser Mauern habt ihr euch wie gebildete junge Ladys zu benehmen. Jetzt beeilt euch - würdevoll, wenn ich bitten darf, würdevoll - und zieht euch um. Sonst kommt ihr zu spät zu Mrs. Twinings Unterricht. Etikette im Ballsaal steht auf dem Lehrplan.«
Siena lächelte. Die alte Jungfer machte zwar einen ziemlich düsteren Eindruck, war aber gar nicht so schlimm. Wie oft schon hatten sie nachts die Küche geplündert, ohne dass sie bestraft worden waren. Und manchmal, wenn man ihnen den Sieg vergällt hatte, hatten sie ihren Ärger mit einer Flasche ausgezeichneten Champagners aus Clemmies Bestand hinuntergespült.
»Als ob sie mir den Hintern veredeln will«, murmelte Shannon sehr zur Belustigung der anderen, »denn man braucht schon einen Vorschlaghammer und einen Meißel, um aus mir eine Skulptur zu formen, die einem feinen Fräulein ähnlich sieht. Ich bin und bleibe nun mal eine Straßengöre.«
»Dein Aussehen ist kein Problem.« Kopfschüttelnd betrachtete Sofia die üppige Figur ihrer Freundin. »Schätzchen, ich würde glatt jemanden umbringen, nur um einen Busenzubekommen wie du. Es ist allein ein Problem der Einstellung. Wenn du genau darüber nachdenkst . . .«
»Muss ich euch noch mal daran erinnern?«, warnte Miss Clemens. »Wenn ihr euch nur die geringste Unpünktlichkeit erlaubt, werdet ihr den nächsten Monat damit verbringen, den Stall auszumisten. «
»Verdammt noch mal, ich will mich lieber aufs Reiten und Fechten konzentrieren, als einen anständigen Knicks vor einem Fürsten zu machen«, grummelte Shannon, während die drei Freundinnen zwei Stufen auf einmal nahmen und zu ihren Zimmern hinaufrannten.
»Genau wie ich.« Siena streifte sich das Hemd und die Stiefel ab. »Um schlagkräftig zu sein, müssen wir uns in den subtileren Formen der Kriegskunst ausbilden lassen.«
»Du hast leicht reden«, schnappte Shannon zurück, »du scheinst ja auch eine natürliche Begabung zu besitzen. Sowohl im Schulzimmer als auch auf dem Fechtboden.« Sie verzog das Gesicht. »Du glänzt sogar in Kunstgeschichte, meine Liebe.«
»Ich finde Kunstgeschichte interessant. Du nicht?«
Shannon schüttelte den Kopf. »Nein. Es sei denn, die Gemälde zeigen geheimnisvolle Rüstungen oder Waffen aus längst vergangenen Zeiten.«
»Nonnie hat recht, Siena. Du hättest eigentlich in einem Herrenhaus geboren werden müssen«, spottete Sofia, »als feine Lady, die den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun hat, als mit Wasserfarben herumzuspritzen und unbezahlbare Gemälde zu sammeln.«
»Pass bloß auf!«, gab Siena zurück. »Noch ein Wort, und du kassierst einen Tritt in den Hintern!« Hastig wirbelte sie herum und setzte ein Lachen auf, um zu vertuschen, dass die Sticheleien einen empfindlichen Nerv getroffen hatten. Als sie nach ihrem Hemd griff, erhaschte sie einen Blick auf sich selbst im Spiegel: die Wangenknochen so spitz wie ein Säbel, die Wimpern so dunkel wie Schießpulver, der Blick so wachsam, als wollte sie die Kronjuwelen schützen. Kämpfen war ihr zur zweiten Natur geworden. Und sie beherrschte ihr Handwerk.
Shannon hatte recht. Es gab viele Dinge, die Siena leichtzufallen schienen, ganz besonders die Kunst. Sie mochte die Art, wie die Kunst sie zum Nachdenken herausforderte und wie sie angeregt wurde, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn ich solche Dinge schätze?, fragte sie sich manchmal, obwohl sie es niemals zugeben würde. Schließlich gehörte sie zu Mrs. Merlins Zöglingen. Merlin bedeutete Falke. Falken zeigten niemals ihre schwache Seite. Noch nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde.
Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht. Von der See jagten die Sturmwolken herüber, verdeckten die Sonne, und in den Innenhöfen der Schule war das ferne Donnergrollen schon zu hören. Licht und Dunkel. Manchmal blitzten unwillkürlich die Erinnerungen an das Leben vor der Akademie in ihr auf. Eine alte Prostituierte hatte ihr einst ein bunt gedrucktes Bild geschenkt, das kaum einen Penny gekostet haben mochte. Sie hatte den Fetzen Papier gehütet wie einen kostbaren Schatz.
Siena atmete tief durch, verscheuchte die seltsamen Grübeleien und konzentrierte sich wieder auf ihre Yoga-Übungen. Schließlich hatte Da Rimini ihr eingebläut, dass es gefährlich werden konnte, wenn sie sich zu sehr in ihre Tagträumereien verlor ...
»Um Himmels willen, Siena, hör auf zu träumen«, schalt Sofia, »oder legst du es darauf an, dass wir in den nächsten Wochen Pferdeäpfel schippen?«
Ihre Freundinnen hatten sich längst umgezogen und suchten sich die passenden Haarbänder aus, um ihre Toilette zu beenden.
»Du weißt doch, wie sehr unsere Grande Dame es verabscheut, sich die Finger schmutzig zu machen«, spottete Shannon und wirbelte herum, als befände sie sich gerade im Ballsaal.
»Merde!« Ein zerknüllter Handschuh aus Ziegenleder flog quer durch das Zimmer. »Nur weil ich Seide ebenso sehr liebe wie den Sattel, heißt es noch lange nicht, dass ich euch nicht beim Pferderennen besiegen kann. Ihr müsst nur sagen, wie hoch euer Einsatz ist.«
Shannon spießte das blassrote Leder mit einer Haarnadel auf und warf es zurück. »Soll das eine Herausforderung sein? Was für ein Rennen stellst du dir vor?«
»Vergesst eure Reiterspiele.« Siena griff nach ihrem indigoblauen Kleid. »Hat irgendjemand mein indisches Tuch gesehen? Oder hat es sich auf den Weg zurück nach Bombay gemacht?«
Die Freundinnen waren viel zu klug, um den scharfen Unterton in ihrer Stimme zu überhören, und wechselten irritierte Blicke.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Sofia, während sie das vermisste Tuch unter einem Paar verschmutzter Reitstiefel hervorzog. »Deine Laune ist ziemlich merkwürdig.«
Shannon nickte. »Wenn ich gerade eben Il Lupino flachgelegt hätte, würde ich in den höchsten Tönen jubeln . . .«
»Ich habe Angst, dass . . .« Höchstwahrscheinlich würden ihre Freundinnen sich den Bauch halten vor Lachen, wenn sie erfuhren, was Siena durch den Kopf gegangen war. »Ich fürchte, ich kann es nicht erklären.«
»Angst?«, schnappte Shannon. »Unsinn. Du bist die Furchtloseste von uns allen.«
Sofia schwieg, fixierte ihre Freundin aber mit einem durchdringenden Blick.
»Besser, ihr vergesst es«, murmelte sie. Plötzlich kam sie sich dumm vor, weil sie hatte durchblicken lassen, dass es einen kleinen Kratzer auf ihrer glänzenden Rüstung gab. Denn die Ausbildung in der Akademie wiederholte nur die Lektionen, die sie schon in der Gosse gelernt hatte - zeige niemals, dass du verwundbar bist.
Die Freundinnen unterbrachen ihr Gespräch, als sie Miss Clements Schritte hörten. Siena fluchte atemlos und war sich sicher, dass sie mit ernsten Vorwürfen zu rechnen hatte, zusammen mit der gefürchteten Strafe.
Aber die Hausvorsteherin schien merkwürdig verwirrt. Mit einer unbestimmten Handbewegung scheuchte sie Sofia und Shannon aus dem Zimmer. »Raus, ihr beiden. Und was Siena betrifft . . .« Sie zögerte. »Du musst dich nicht beeilen. Mrs. Merlin hat dich für den nächsten Unterricht entschuldigt. Sie wünscht dich in ihrem Büro zu sehen, sobald du dein neues smaragdgrünes Ballkleid angezogen hast. Withers wird jeden Augenblick zu dir kommen, um dir das Haar zu richten.«
Siena drehte sich um und hörte sich die Neuigkeiten mit halb geschlossenen Augen an. »Warum?«
Miss Clement hob die knochigen Schultern. »Ich bin nicht weiter eingeweiht. Aber du wirst es schon sehr bald selbst herausfinden. «
War es nur Einbildung - oder hörte sie aus den Worten tatsächlich heraus, dass die Zeit gekommen war?
»York hat berichtet, dass eine extravagante Kutsche vor knapp zehn Minuten vor Mrs. Merlins Privateingang vorgefahren ist«, fügte Miss Clement hinzu. »Zwei Gentlemen sind ausgestiegen. «
Ein prickelnder Schauder tanzte ihr über den Rücken. Wieder fühlte es sich an wie tausend kleine Dolchspitzen, und in ihren Handflächen begann es zu kribbeln. Angst. Die Plauderei mit ihren Freundinnen schwirrte ihr immer noch durch den Kopf.
Aber im Grunde genommen hatte sie nur Angst davor, dass die Schulleitung der Auffassung sein könnte, sie wäre nicht gerissen genug für einen echten Auftrag. Der Gentleman mit den eisblauen Augen würde sich, wie er es immer zu tun pflegte, freundlich, aber unmissverständlich äußern. Nur die Allerbesten, gemessen am strengen Standard der Meisterklasse der Akademie, wurden ausgewählt. Und wer die Prüfung nicht bestand, wurde in eine weniger herausfordernde Laufbahn gelenkt. In eine Laufbahn, die auf andere nützliche Aufgaben vorbereitete. Gastwirtin, Kammerzofe ...
Siena ballte die Hände zu Fäusten und reckte das Kinn. Eine Herausforderung? Sie würde sich ihrer Aufgabe gewachsen zeigen, wollte sich selbst beweisen. Schließlich gehörte sie zu Mrs. Merlins Zöglingen. Merlin bedeutete Falke.
Und Falken müssen fliegen.
2. Kapitel
Waisenkinder! Von der Straße!« Chertwell verschluckte sich an seinem Tee und hustete. »Darf ich Sie höflich daran erinnern, dass Sie der Schweigepflicht unterliegen?« Lynsley gönnte sich einen zweiten Keks.
Der Major stieß einen Fluch aus.
»Darf ich Sie außerdem daran erinnern, dass eine Lady anwesend ist?«
Chertwells Gesicht wurde beinahe so rot wie seine Uniform. »Ich bitte um Verzeihung, Madam«, erklärte er steif, »ich hatte nicht die Absicht, Sie oder Ihre Schülerinnen zu beleidigen. Aber ich fühle mich verpflichtet, Einspruch zu erheben gegen diesen . . . diesen Scherz!«
Mrs. Merlins brüske Erwiderung ließ jegliche Hoffnung aus seinem Blick schwinden. »Es ist Lord Lynsley sehr ernst. Genau wie mir.« Mrs. Merlin war Witwe. Sie wirkte federleicht und gebrechlich. Taubengraue Locken umrahmten ihr schmales Gesicht wie eine Haube. Mit den Jahren waren ihre Gesichtszüge weicher geworden, und die Spitze ihrer markanten Nase stach weniger hervor. Aber die silbrigen Augen hinter den ovalen Brillengläsern glühten immer noch so durchdringend wie bei einem Falken. »Warum probieren Sie nicht unsere Erdbeertörtchen, junger Mann? Wirklich, sie sind köstlich.«
»Ich will keine verdammten Törtchen! Ich will eine Erklärung! «, stammelte der Major und warf Lynsley einen vorwurfsvollen Blick zu. »England schwebt in größter Gefahr, während wir hier herumsitzen und Tee schlürfen!«
»Du liebe Güte, Thomas, leidet der Major unter Migräne?« Mrs. Merlin warf Lynsley einen Blick zu. »Soll ich das Essigfläschchen holen? Oder Hirschhornsalz?«
Sekundenlang stand Chertwell der Mund offen. Er schwieg, aber das hinderte ihn nicht, laut zu stöhnen.
»Ausgezeichnet. Wie ich sehe, können wir auf das Hirschhornsalz verzichten und das Problem stattdessen mit einer gesunden Prise Vernunft aus der Welt schaffen.« Mrs. Merlin bewegte sich so flink und geschickt, dass es ihr süßliches Lächeln Lügen strafte, und öffnete eine Dokumentenmappe. Nur ein einziges Mal musste sie mit den Papieren in der Mappe auf den Tisch klopfen, um die Kanten auf eine gerade Linie zu bringen. »Aber bevor wir uns um die Geschäfte kümmern, sollten Sie vielleicht mit Ihren Erläuterungen fortfahren.«
»Danke, Charlotte. Wie immer ist es ausgesprochen lehrreich, mit Ihnen zu plaudern.« Lynsley lehnte sich in die Sofakissen zurück. Die Falten um seine Augenwinkel wirkten tiefer, sein Blick schattenhaft. »Wie ich bereits erklärt habe, Chertwell, stammen die Zöglinge aus Mrs. Merlin's Academy for Select Young Ladies aus den Heerscharen von Waisenkindern, die in den verrufenen Vierteln Londons herumstromern. Bedauerlicherweise muss ich eingestehen, dass es ganze Heerscharen sind.« Er starrte auf seinen Tee. »Die Zöglinge der Akademie sind handverlesen. Ich selbst suche sie aus. Ich achte darauf, dass sie klug und mutig sind. Und auf das Aussehen. Schönheit kann in sich selbst eine Waffe sein.«
»Um es auf den Punkt zu bringen«, murmelte der Major mit zusammengebissenen Zähnen, »Sie wühlen in den zwielichtigen Gassen Londons nach dreckigen Waisenkindern und formen eine besondere Kampftruppe aus ihnen?«
Der Marquis gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Englands schlagkräftigste Geheimwaffe.«
»Gott schütze den König.« Der strenge Blick der Direktorin brachte Chertwell dazu, sich seinen Sarkasmus zu verkneifen.
Lynsley fuhr fort, als wäre er nie unterbrochen worden. »Ich konnte die Regierung überzeugen, uns dieses alte Gelände zu überlassen. Früher wurde es als Weideland für die Kavallerie genutzt. Die laufenden Kosten zahle ich aus eigener Tasche, und Mrs. Merlin kümmert sich um die Pflichten des Alltags. Der Einfall ist mir gekommen, als ich ein Buch über Hasan-I-Sabah gelesen habe, einen muslimischen Kalifen, der in seiner Festung in den Bergen geheime Kriegstruppen ausgebildet hat. Seine Männer waren bekannt für ihre tödliche Kampfkunst und ihre fanatische Treue. Der Kalif hat sie nur eingesetzt, wenn sich seine Macht in größter Gefahr befand. Es heißt, dass sie bei keinem einzigen Auftrag versagt haben. Und es reichte schon, dass man die Hashishim . . . die Attentäter bei ihrem Namen nennt, um die Feinde ihres Herrn in Angst und Schrecken zu versetzen. «
»Attentäter?« Irritiert kniff Chertwell die Augen zusammen. »Sicher wollen Sie nicht behaupten, dass diese Mädchen . . .«
». . . für tödliche Einsätze ausgebildet sind.« Mrs. Merlin blies sich einen Hauch Puderzucker von den Lippen. »Aber selbstverständlich. «
»Merlins Zöglinge erhalten auf vielen verschiedenen Gebieten eine erstklassige Ausbildung«, erklärte Lynsley. »Waffengebrauch ist nur ein Teil des Lehrplans. Sie werden auch in den gesellschaftlichen Fächern unterrichtet. Zum Beispiel lernen sie, ein gutes Gespräch zu führen, sie lernen Manieren, und ihre Fähigkeiten in Musik, Kunst und Tanz sind unübertroffen. Wenn es notwendig ist, können sie sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegen. «
»In der Tat, unsere Mädchen werden nach dem gleichen Lehrplan unterrichtet wie auf irgendeiner beliebigen anderen Schule für hochgeborene junge Ladys aus den feinen Salons«, fügte Mrs. Merlin hinzu. Inmitten einer farbenfrohen Blütenpracht und zartem Porzellan aus Sèvres sah die ältliche Dame aus wie der Inbegriff von Sitte und Anstand. Abgesehen von dem Dolch, der ihr aus dem Ärmelaufschlag rutschte, als sie die Unterlagen durchsah. »Wir legen Wert darauf, dass Gewalt nur als letzter Ausweg in Betracht kommt.«
»Es klingt . . .«, der Major rutschte auf dem Sofa hin und her, ». . . absurd, möchte ich sagen, aber ich befürchte, dass Sie dann meine Leber mit der Klinge filetieren.«
Mrs. Merlin zog den Musselin über dem messerscharfen Stahl glatt. »Ich kann Ihnen versichern, dass unsere Schülerinnen sehr sorgfältig ausgewählt worden sind. Sobald sie bei uns eintreffen, werden sie einer harten Ausbildung und ständigen Prüfungen unterworfen. Wer die Prüfungen nicht besteht, wird in eine passendere Ausbildung verwiesen.« Als sie ihre Brille auf der Nase nach oben schob, funkelte das Kerzenlicht auf den Gläsern. Unter weniger ernsten Umständen hätte es auch als Zwinkern durchgehen können. »Sie sehen, Major, anders als beim Militär können weder Reichtum noch Intrigen einen Platz in unserer Akademie erkaufen. Merlins Zöglinge gewinnen ihren Ruhm allein durch Verdienst.«
Chertwell dachte einen Moment nach. »Warum Mädchen?«
»Kluge Frage.« Lynsley ließ den Blick auf das Gemälde über dem Kaminsims schweifen. Es zeigte Boudicca, die uralte britannische Königin, in vollem Ornat. »Weil weibliche Wesen strategisch und taktisch erheblich flexibler sind. Sie können die Kriegskunst genauso gut erlernen wie ein Mann. Dagegen ist es Männern unmöglich, in bestimmte weibliche Disziplinen einzudringen. Manche Türen werden uns Männern auf ewig verschlossen bleiben.«
»Raffiniert«, gestand der Major ein, »ich begreife langsam, dass das Geschlecht eine nützlichere Waffe sein kann als Stahl.« Er tippte sich ans Kinn. »Trotzdem, abstrakte Theorien sind eine Sache, praktische Anwendungen dagegen eine ganz andere. Haben Sie Ihre teuflischen Heldinnen schon jemals auf eine echte Mission geschickt?«
»Arthur Wellesley wäre heute nicht mehr unter uns, wenn nicht einer der Anführer des Mahratta-Aufstands in Indien auf der Tigerjagd viel zu früh das Zeitliche gesegnet hätte. Ein Pfeil durchbohrte seine Kehle, wenn ich mich recht erinnere . . .« Lynsley fuhr fort, noch mehr Orte und Namen herunterzubeten.
»Gott schütze unseren König«, murmelte der Major wieder, klang diesmal aber nicht sarkastisch, sondern ehrfürchtig.
Mrs. Merlin stellte das Tablett mit dem Tee auf das chinesische Beistelltischen. »Nachdem ich Ihre Anforderungen durchgesehen hatte, habe ich eine Schülerin ausgewählt, die für den Auftrag höchst qualifiziert sein dürfte.«
»Wen?«
»Siena.«
Er presste die Fingerspitzen aneinander und betrachtete gedankenverloren seine Uhrenkette. Es verging ein Moment, bevor er wieder das Wort ergriff. »Eine interessante Wahl.«
»Der Einsatz ist von außerordentlich schwieriger Natur«, erwiderte die Direktorin, »unsere Agentin muss sehr charakterfest sein, wenn sie es mit den Gentlemen aufnehmen soll, die Sie auszuforschen wünschen.«
»In der Tat. Ich stimme zu, dass sie zu unseren besten Schülerinnen gehört.« Lynsley fingerte an seiner Taschenuhr herum. »Trotzdem muss ich gestehen, dass ich sie nicht ganz durchblickt habe. Sie hat etwas an sich, das mir nach wie vor ein Geheimnis geblieben ist.«
»Unter der stahlharten Oberfläche verbirgt sich die sehr empfindliche Seite ihres Wesens. Was sie nur noch reizvoller macht. Außerdem liegt ihre Begabung nicht nur im Umgang mit den verschiedensten Waffen. Ihre Kunstkenntnisse werden in diesem Fall sehr nützlich sein.« Mrs. Merlin hielt seinen Blick fest. »Ich setze großes Vertrauen in meine Wahl. Aber ich habe keinen Zweifel, dass Sie beide sich gern selbst überzeugen möchten. Sollen wir sie hereinrufen?«
Sanft und sinnlich raschelte die Seide über ihre Haut, als sie sich von dem Stuhl mit der geraden Lehne erhob. Siena strich die Rüschen an ihrem Mieder glatt und fuhr mit den Fingerspitzen über die Perlenreihe, die ihr tief ausgeschnittenes Dekolleté schmückte. Schon eine Hand voll Perlen hätte gereicht, um sich in St. Giles ein Jahr lang zu ernähren. Aber hier waren sie nichts als unbedeutender Tand, winzige Fleckchen in einer golddurchwirkten Pracht aus Smaragd. Das Kleid war eine sündhaft teure Extravaganz, an Busen und Hüfte anschmiegsam geschnitten, während die elfenbeinfarbene Seide sich wellenförmig bis zu den goldenen Fransen am Saum erstreckte.
Es passte viel besser zu einer Märchenprinzessin als zu einem Waisenkind ohne einen Penny in der Tasche, wie Siena hastig bemerkt hatte. Aber Mrs. Merlin hatte ihr nur ein zufriedenes Lächeln zugeworfen und die Kosten auf dem Konto der Schule verbucht. Außerdem hatte sie Siena eine Lektion erteilt: Es war von größter Bedeutung, dass sie begriff, wie trügerisch der Schein sein konnte.
Als Siena das vertraute kleine Wartezimmer betrat, stieg unwillkürlich die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit Mrs. Merlin in ihr auf. Sie hatte nichts als Lumpen am Leib getragen, und ihre dünnen verschmutzten Gliedmaßen waren von blauen Flecken übersät gewesen. Weil die merkwürdige neue Umgebung sie bis ins Mark erschreckt hatte, hatte sie Mrs. Merlins sanften Worten zuerst nur mit einem unflätigen Fluch begegnen können.
Aber ihr Fluch war weder mit Schlägen noch mit Stößen beantwortet worden; stattdessen hatte man ihr Erdbeertörtchen und Tee angeboten. Zum ersten Mal erfuhr sie, wie wahre Freundlichkeit schmeckte. Und echte Geduld. Dabei war es keine leichte Aufgabe, das Vertrauen einer gerissenen Straßengöre zu gewinnen. Siena war es schwergefallen zu begreifen, dass ein richtiges Bett, saubere Kleidung und regelmäßige Mahlzeiten nichts mit faulen Tricks zu tun hatten, die sie nur besänftigen sollten, um ihr den tödlichen Schlag erträglicher zu machen.
Es ist nicht leicht, alte Zöpfe abzuschneiden. Sogar jetzt noch merkte sie, wie sie im hintersten Winkel ihres Herzens ängstlich und aufmerksam blieb.
»Sie erwarten dich«, flüsterte die Sekretärin.
Disziplin. Pflicht. Verlangen.
Entschlossen verscheuchte Siena die launischen Gedanken, raffte ihre Röcke hoch und glitt würdevoll über die Türschwelle.
»Wie entzückend, dass Sie uns Gesellschaft leisten können, meine Liebe.« Mrs.Merlin gab durch und durch die gnädige Gastgeberin und deutete auf die beiden Männer. »Ich nehme an, Sie sind mit Lord Lynsley bekannt?«
Siena vollführte einen perfekten Knicks und gestattete es dem Gentleman, ihre Hand zu seinen Lippen zu führen. »Es ist mir ein große Ehre, Sie wiedersehen zu dürfen, Mylord.«
»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Miss Siena. Ich darf annehmen, dass Sie mit Ihrer Ausbildung zufrieden sind?«
»Sehr zufrieden, vielen Dank.« Mit jungfräulicher Bescheidenheit senkte sie den Blick und antwortete ganz wie erwartet im leichten Plauderton. Aber unter den flatternden Lidern blieb sie alarmiert. Natürlich wusste sie, dass ihre Fähigkeiten gerade geprüft wurden, und sie hatte die Absicht, diese Prüfung glänzend zu bestehen. »Das Wetter ist in letzter Zeit ausgesprochen erbärmlich gewesen, nicht wahr?«
Nachdem sie ein paar höfliche Worte über das Wetter gewechselt hatten, deutete der Marquis auf seine Begleitung. »Gestatten Sie, dass ich Ihnen Major Chertwell vorstelle, der sich gerade im Urlaub von seinem Posten in Preußen befindet.«
Der Major starrte sie mit eisigem Entsetzen an. Wie das Kaninchen vor der Schlange, dachte sie, irgendwie muss ich ihm beibringen, dass ich ihn nicht verschlingen werde.
Mit einem schmelzenden Blick. Mit einem Hauch von Bewunderung. Mit einer zärtlichen Berührung ihres Fächers. Die berüchtigte spanische Kurtisane namens La Paloma hatte den Schülerinnen der Akademie zahllose Kniffe verraten, mit denen sie den Gentlemen in ihrer Gegenwart die Nervosität nehmen konnte. »Das klingt schrecklich wichtig, Sir«, bemerkte Siena, »gehören Sie zum diplomatischen Korps oder zur Armee?« Ihr gebildeter Tonfall verriet nicht die Spur, dass sie früher nichts als eine schmutzige Straßengöre gewesen war. Zwar beherrschte sie die ruppige Sprache der Gosse immer noch, aber wenn es sein musste, konnte sie auch auf Französisch Konversation betreiben.
»Äh . . . weder noch.«
»Major Chertwell dient als Verbindungsglied zwischen beiden «, murmelte Lynsley.
Schmeicheleien waren das oberste Gebot im Salon, dicht gefolgt von kaum wahrnehmbaren Tändeleien. Siena seufzte lautlos. Die höheren Töchter aus den feinen Salons waren wirklich nicht zu beneiden. Schließlich kostete es viel Anstrengung, so unerhört dumme Bemerkungen von sich zu geben. Und Übung.
Aber die Anstrengung wurde rasch belohnt. Wie La Paloma versprochen hatte, waren Männer ziemlich berechenbar. Nachdem sie ihn mit ein paar Fragen und einem samtigen Lächeln ermutigt hatte, war Chertwell so entspannt, dass er eine zusammenhängende Unterhaltung führen konnte.
Mrs. Merlin überließ das Spiel zwischen den beiden ein paar Minuten seinem Lauf und schlug dann vor, sich der Musik zuzuwenden. »Ich weiß, dass Lord Lynsley das Pianoforte sehr schätzt. Ganz bestimmt wäre er überaus erfreut, Sie spielen zu hören.«
Siena setzte sich an das Instrument. »Was möchten Sie am liebsten hören, Mylord?«
»Ich überlasse Ihnen die Wahl.«
Aus dem amerikanischen Englisch von Jutta Nickel
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Stahl klirrte auf Stahl, die Klingen zuckten wie feuriges Silber in der Nachmittagssonne.
Aber diesmal würden keine Funken stieben, würden keine Flammen aufflackern. Diesmal würde der Italiener mit dem Wolfsgesicht die Stimmung nicht anheizen, bis sie explodierte . . .
»Porca miseria!« Il Lupino bewegte sich schnell hin und her, täuschte an, wich aus. Als ob er seinen Fluch bekräftigen wollte, ließ er die blitzenden Hiebe in wirrer Folge auf sie niederprasseln, so lange, bis der gegnerische Säbel auf das Kopfsteinpflaster des Innenhofs krachte. »Non, non, non, ganz falsch!«, knurrte er. »Sie müssen nach links gleiten und den Gegenangriff mit einer Punta sopramano einleiten.«
Verdammt.
»Außerdem müssen Sie tiefer und rascher zustoßen, Volpina. So zum Beispiel . . .« Es klang wie ein todbringendes Flüstern, als die Säbelspitze des Italieners durch die Luft zischte. Sanft, aber tödlich.
»Grazie.« Volpina, wie er sie nach dem italienischen Wort für Fuchs nannte, beobachtete die Spitze der Fechtwaffe, die in geschmeidigen Wellen durch die Luft zu tanzen schien.
»Wie ein Mann, der eine schöne Frau liebt.« Er schloss seine Vorführung mit einem Stoß nach vorn ab und brachte seine Waffe in die Ausgangsposition zurück. »Versuchen Sie es noch einmal. Aber ein bisschen leidenschaftlicher, wenn ich bitten darf.« Das halbmondförmige Lächeln, das seine Lippen für einen kurzen Moment umspielte, wirkte wie der spöttische Widerschein des scharf geschliffenen Stahls. Offenbar wollte er sie ganz bewusst provozieren. »Es sei denn, Sie sind zu müde, um weiterzukämpfen. «
»Verdammt unwahrscheinlich.«
Wie er es beabsichtigt hatte, jagte ihr die Herausforderung einen prickelnden Schauder über den Rücken. Es fühlte sich an, als ob tausend kleine Dolchspitzen auf ihrer zarten Haut tanzten. Einen Moment lang flammte Wut in ihr auf, angeheizt durch ihren verletzten Stolz. Aber dann rief Volpina sich die Worte ihres Meisters ins Gedächtnis.
Du musst das Feuer mit Feuer bekämpfen.
Volpina schnappte sich den am Boden liegenden Säbel. Nur für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sie die Waffen zum Gruß, bevor Volpina mit einem furiosen Angriff begann und Il Lupino bis an den Rand des Kreidekreises drängte.
Der Italiener parierte die Attacke mit Leichtigkeit. Aber als er seine Stellung behaupten und den nächsten Stoß mit gesenkter Klinge abwehren wollte, wirbelte Volpina plötzlich herum und rammte ihm das Knie in den Unterleib.
Woooof. Il Lupino krümmte sich, fiel dumpf zu Boden.
Schweigen breitete sich im Innenhof aus, mit Ausnahme des schabenden Geräuschs des Leders auf Stein.
»Bella! Bella!« Der Italiener schnappte nach Luft, bis er wieder sprechen konnte. »Magnifico,inder Tat.«
Er stieß die stählerne Spitze des Säbels von seiner Kehle fort, ordnete seine Gliedmaßen und setzte sich auf.
Die Zuschauer zuckten mitfühlend zusammen. Aber ein oder zwei unter ihnen hatten trotzdem Mühe, sich das Lachen zu verkneifen.
»Machiavelli wäre stolz auf Sie.« Seine Stimme klang rau vor Schmerz, obwohl die untergründige Ironie ihn ein wenig sanfter erschienen ließ. »Eine Lady sollte niemals zu fairen Waffen greifen. «
»Sie nehmen es mir also nicht übel, Signor Da Rimini?« Die dunkelhaarige Schöne, die nur Siena genannt wurde, stützte die behandschuhte Hand auf die Hüfte und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Es schien, als würde ihr das Feuer immer noch durch die angespannten Muskeln tanzen, bis es sich schließlich mit einem zaghaften Lächeln in die Mundwinkel einnistete. Immerhin hatte sie den bösen Wolf mit seinen eigenen Waffen geschlagen.
»Im Gegenteil. Es verschafft mir das größte Vergnügen, dass ich sehen darf, wie eine meiner Schülerinnen ihren Meister in der Kriegskunst zu übertreffen beginnt.« Das spöttische Grinsen in seinen Mundwinkeln schien sich für einen Moment zu verflüchtigen. »Ich habe den Eindruck, dass Sie mit einem angeborenen Talent gesegnet sind, Signorina Siena. Es ist meine Aufgabe, ihm den feinsten Schliff zu zu geben.«
Siena senkte den Blick und starrte auf ihren Säbel. Ihre wahre Identität hatte sie schon seit Langem in den verrufenen Straßen von St. Giles verloren. Aber wie alle Schülerinnen in Mrs. Merlin's Academy for Select Young Ladies hatte sie einen neuen Namen bekommen, als sie diese Welt betreten hatte, willkürlich ausgewählt auf dem prachtvollen Globus im Büro der Direktorin.
Ein neuer Name für ein neues Leben. Und die ruppigen Lektionen, die sie in den primitiven Slums gelernt hatte, bekamen plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Nachdem sie erst einmal hinter den Mauern des altehrwürdigen Gebäudes verschwunden war, war sie fest entschlossen gewesen, niemals wieder einen Blick auf die verwinkelten Gassen, durch die sie in ihrer Vergangenheit geirrt war, zurückzuwerfen.
»Und jetzt achten Sie bitte genau auf meine Worte und nicht auf meine männlichen Schenkel.« Da Rimini hatte seinen spöttischen Tonfall wiedergefunden und riss sie aus ihrer Grübelei. »Signorina Siena hat uns eben formvollendet vorgeführt, warum es wichtig ist, mitten im hitzigsten Gefecht einen kühlen Kopf zu bewahren. Es kommt darauf an, dass Sie alle sich auf Ihren Witz und auf Ihren Einfallsreichtum verlassen können, wenn Sie Ihren Gegner besiegen wollen - und nicht auf Körpergröße und Kraft. Sie selbst sind gerade Zeuge geworden, dass ein kluges Köpfchen eine mächtigere Waffe sein kann als die stärksten Muskeln.«
Siena streckte ihm die Hand entgegen und half ihm auf die Beine.
»Zum Teufel noch mal«, flüsterte er, »demnächst werde ich Sie an anderer Stelle empfehlen, Signorina. Jetzt, wo Sie lernen, mit dem Kopf genauso zu kämpfen wie mit dem Herzen, sind Sie zu einer tödlichen Herausforderung geworden. Gott möge Ihren Feinden beistehen.«
Heiß und kalt rann es ihr über den Rücken. War sie wirklich schon so weit, ihre Kampfkraft in der Welt da draußen zu erproben?
In der Ferne schlug eine Uhr.
»Für heute ist der Unterricht beendet«, verkündete Da Rimini.
Siena streifte sich das wattierte Wams vom Körper und schüttelte die Locken aus, die sie in ihrem Nacken zusammengebunden hatte. Aufgrund ihrer Größe, der schlanken Hüften und ihrer geschmeidigen Bewegungen hätte sie im Fechtanzug glatt als Junge durchgehen können. Aber das dünne Leinenhemd war von den Strapazen feucht geworden und gab Kurven zu erkennen, die eindeutig weiblich waren.
Da Rimini ließ den Blick anerkennend über sie schweifen, während er zusah, wie die schwarzen Locken sich über ihre Schultern ergossen. »Morgen zeige ich Ihnen, wie man den Motta dritta ausführt, einverstanden?«
»Vorausgesetzt, Sie haben genügend Kraft in der Hose, um das Schlachtfeld noch mal zu betreten«, spottete eine andere Schülerin, Shannon. In der Klasse schätzte man sie für ihren scharfen Verstand, und sie scheute nicht davor zurück, ihren Spott über andere zu ergießen. Obwohl sie selbst sich manchmal lieber auf die Zunge gebissen hätte. Denn ihr Hang, die Autoritäten zu provozieren, hatte ihr vor Kurzem eine disziplinarische Verwarnung eingebracht. Beim nächsten Mal könnte sie der Akademie verwiesen werden.
»Nonnie«, mahnte Siena, weil sie hoffte, ihrer Zimmergenossin Ärger ersparen zu können.
»Mit meiner Hose ist es wie mit meinem Schwert. Sie sind beide hart wie Stahl.« Der Italiener hob die Brauen, verengte die Augen zu einem Schlitz, starrte aber immer noch Siena an. »In der Tat, meine gesamte Ausrüstung ist wie zum Kampf geschliffen. Wie die wundervolle Volpina bald feststellen könnte, wenn sie nur meine Einladung annehmen und sich auf intimere Unterweisungen in den Feinheiten des Nahkampfs einlassen würde.«
Siena achtete nicht auf seine lüsternen Blicke, gab ihre Waffe einer älteren Schülerin und raffte die Bücher zusammen. »Mach schon, Shannon, wir müssen uns beeilen und uns umziehen. Sonst kommen wir noch zu spät zum nächsten Unterricht.«
Ihre Freundin konnte sich scharfe Widerworte jedoch nicht verkneifen. »Ach, wirklich, Signor? Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihre Ausrüstung mit der Zeit ziemlich stumpf und schlaff geworden ist. Zu selten in Gebrauch.« Mit übertriebener Gebärde schleuderte sie Il Lupino ihren Handschuh aus Gamsleder entgegen. »Vielleicht braucht sie eine gründliche Politur. Aber dafür müssen Sie schon selbst sorgen.«
Sein Gelächter klang den beiden noch in den Ohren, als sie quer über den Fechtboden zum Kiesweg im Garten eilten.
Siena warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu, als sie die hohe Ligusterhecke umrundeten. Genau wie sie war Shannon gertenschlank, hatte den gleichen federnden Schritt - und reckte das Kinn ebenso störrisch nach vorn. Eigentlich hätte man sie für Zwillinge halten können, wenn man davon absah, dass das Haar ihrer Freundin wie spätsommerlicher Weizen schimmerte und ein paar Zentimeter kürzer geschnitten war.
»Du hast Glück gehabt«, meinte Siena. »Da Rimini war heute in besserer Stimmung als gewöhnlich. Aber trotzdem ist er unberechenbar. Könnte sein, dass es das nächste Mal ein schlechteres Ende nimmt, wenn du ihn zum Kampf herausforderst.«
»Der lüsterne alte Bock«, erwiderte Shannon schulterzuckend, »eigentlich sollten wir ihn Schlange nennen und nicht Wolf. Gestern erst hat er versucht, mir mit der Hand die Röcke hochzustreichen, während ich die Pistole in meinem Waffenschrank gesäubert habe.« Sie verzog das Gesicht. »Es ist mir unbegreiflich, warum die Direktorin ihn nicht schon vor einer Ewigkeit mit einem Tritt in den Hintern aus dem Haus geworfen hat.«
»Weil er trotz seines vorgerückten Alters und seiner ungehobelten Manieren ausgezeichnete Arbeit macht«, antwortete Siena. »Ich bezweifle, dass es irgendwo in England einen begabteren Fechtmeister gibt.«
»Solange er sein Schwert stecken lässt . . .«
»Es gibt das Gerücht, dass er gezwungen war, aus Mailand zu fliehen. Wegen eines Vorfalls, der mit einem Messer zu tun hatte«, fügte Sofia hinzu, die sie gerade rechtzeitig eingeholt hatte, um die letzten Worte aufzuschnappen. Die Schülerin, die das spartanische Schlafzimmer ebenfalls mit den beiden anderen teilte, zwinkerte Shannon zu, als sie mit ihr gleichauf war. »Und außerdem noch mit einer Comtessa und einem Kardinal. Selbst wenn man bedenkt, dass Italiener zu Empörungsausbrüchen neigen, muss es ziemlich skandalös gewesen sein.«
»Es ist schließlich nicht so, dass wir uns in einer gewöhnlichen Erziehungsanstalt für höhere Töchter befinden. Es gibt niemanden hier in der Akademie, der auch nur den Hauch von Anstand besitzt. Wir selbst eingeschlossen.« Siena lächelte boshaft. Sie alle waren Waisen, die in den Slums von London für sich selbst hatten sorgen müssen. Obdachlos und allein, hatten sie schnell die wichtigste Lektion gelernt: Nur der Stärkste überlebt. Nicht dass sie Wert darauf legte, sich jene früheren Zeiten ins Gedächtnis zu rufen; es sei denn, sie wollte sich daran erinnern, dass sie zäh genug war, um mit jeder Herausforderung fertig zu werden.
Wieder warf sie ihren Freundinnen einen Blick zu. Die drei benahmen sich eher wie Schwestern und nicht wie Schulfreundinnen. Vielleicht lag es daran, dass die gemeinsame Not sie viel enger zusammengeschweißt hatte, als Blut es jemals vermocht hätte.
Shannon ließ sich durch die Anspielung auf ihre elende Vergangenheit nicht beeindrucken. »Da hast du recht«, erklärte sie lachend, »wie viele Anstalten für höhere Töchter können schon behaupten, dass sie einen dunkelhäutigen Boxer als Erzieher beschäftigen? Oder einen verurteilten Falschspieler? Oder eine Frau, die früher als Kurtisane am Hof des Königs Carlos von Spanien gedient hat?«
»Du hast den indischen Fakir vergessen«, fügte Sofia hinzu.
»Den Fakir?«
»Ein Fachmann, der sich auf die Disziplinierung von Körper und Geist versteht. Er muss verdammt gut sein, genau wie alle anderen, die hier arbeiten. Denn als er heute Morgen eintraf, trug er nichts außer einem safrangelben Leinenkleid und zwei blutroten Rubinen in den Ohrläppchen, obwohl ein hässlicher Schneeregen vom Himmel fiel.«
»Aber wir machen doch schon eine Stunde Yoga am Tag.« Shannon blieb stehen und bückte sich, bis sie die Zehen mit der Stirn berührte. »Was wird Mrs. Merlin sich wohl als Nächstes einfallen lassen, meine Liebe?«
»Ach, wo du gerade fragst, demnächst soll eine türkische Bauchtänzerin eintreffen, um eine Klasse in der Kunst der Verführung zu unterrichten.« Siena verdrängte ihren augenblicklichen Trübsinn und zwang sich, sich in die Plauderei einzumischen. Schließlich gehörst du auch zu den Glücklichen, ermahnte sie sich. Wenn Lord Lynsley damals nicht beobachtet hätte, wie sie drei Jungen besiegt hatte, die doppelt so groß waren wie sie, nur um die goldene Uhr zu verteidigen, die sie gerade gestohlen hatte, dann würde sie sich wahrscheinlich immer noch als kleine Taschendiebin durchschlagen müssen. Oder vielleicht als Hure.
Sofia schwenkte die Hüften. »Ich habe gar nichts dagegen, meine Unschuld im Namen Englands zu verlieren, solange sie nicht erwarten, dass ich mit dem Prinzregenten ins Bett gehe. Die Grenze ist überschritten, wenn ich mit einem Mann schlafen soll, der ein Korsett trägt.«
»Es gibt keine Grenzen, Sofia. Nicht hier, in unserer Welt.« Siena machte abrupt kehrt und marschierte auf die steinernen Gebäude rund um den viereckigen Innenhof zu, in denen die Schulzimmer und die Schlafräume untergebracht waren. »Wir werden das tun, was sie von uns verlangen. Ganz gleich, ob wir einem Mann die Kehle aufschlitzen oder den Prinzen der Nacht verführen sollen.«
Der Marquis von Lynsley presste die Spitzen seiner gepflegten Finger aneinander und schaute aus dem Fenster seines Büros im Ministerium. Kalte Regentropfen trommelten auf die Scheibe, und der Sturm, der sich wie aus dem Nichts zusammengebraut hatte, schien nicht nachlassen zu wollen. Die Wolken hingen bleiern über den Türmen von Westminster, und der Nebel schien jeden Moment schwerer durch die Straßen zu wabern.
Noch schlimmer war es um die Neuigkeiten bestellt, denen er ins Auge sehen musste. Wieder senkte er den Blick auf den Bericht auf seinem Tisch. »Der Teufel soll es holen«, murmelte er und strich das zerknitterte Papier glatt, das eine weite Reise hinter sich hatte. Aber so leicht sich das Papier auch glatt streichen ließ, nichts konnte seine innere Unruhe besänftigen.
»Wie gern würde ich es zu Luzifer zurückschicken, Sir, wenn ich nur könnte.« Major Chertwell bemühte sich um ein grimmiges Lächeln. Als Offizier war er es seine Aufgabe, die Militärspionage mit den russischen Verbündeten zu koordinieren. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass eine gehörige Portion schwarzer Humor eine entscheidende Waffe im Überlebenskampf sein konnte. »Sieht aber so aus, als hätte der verdammte Kerl längst ins Gras gebissen und würde uns mit der Hölle allein lassen.«
»In der Tat, es ist die Hölle.« Lynsley erhob sich, überquerte den Teppich und presste die Handflächen auf das zweiflügelige Fensterglas. Die Kälte kroch ihm bis unter die Haut, und obwohl er mehrere Lagen maßgeschneiderter Kleidung trug, konnte er den Schauder nicht unterdrücken. »Ein Verräter? Jemand aus unseren Reihen?«
»Die Indizien lassen sich nicht von der Hand weisen, Mylord. Nur jemand, der sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegt, kann Zugang zu solchen Informationen haben.«
»Was wissen Sie? Berichten Sie noch einmal.«
»Unser Agent in Berlin ist in Napoleons östliches Spionagenetz eingedrungen. Seit knapp einem Jahr weiß er, dass immer wieder höchst sensible Informationen mitten aus dem Herzen Londons nach draußen sickern. Manchmal handelte es sich um aktuelle Regierungsdokumente, manchmal um eine Zusammenfassung der Truppenbewegungen oder um geheime Treffen mit Englands Verbündeten. Anfangs war es nur ein Rinnsal, aber inzwischen schwoll der Informationsfluss wirklich alarmierend an. Und erst jetzt hat unser Agent entlarvt, wie die Informationen aus dem Land geschmuggelt worden sind.«
Chertwell zog ein kleines, ledergebundenes Buch aus seiner Tasche und legte es neben den Brief. »Es bestätigt unseren Verdacht, dass unser Agent das versteckte Dokument hier drin entdeckt hat.« Er fuhr mit dem Daumen über den vergoldeten Buchrücken. »Das Buch ist eine sehr seltene Ausgabe von Miltons Paradise Lost. Meine Quelle hat mir versichert, dass es nur ein paar Gentlemen hier in der Stadt gibt, die über die Mittel und die Gelegenheit verfügen, einen solchen Schatz an sich zu bringen.«
»Ihre Argumente sind überzeugend.« Lynsley atmete mit einem langen Seufzer aus. »Mit anderen Worten, unser Feind ist sehr wahrscheinlich reich und adlig?«
Chertwell bedeckte den belastenden Bericht mit einem Blatt eigener Notizen. »Sir, ich habe alle Möglichkeiten aufgelistet.«
Der Marquis warf einen letzten Blick auf den nebligen Sprühregen, drehte sich um und überflog die Namen. »Verdammt noch mal.« Er dachte kurz über die Liste nach. »Ist Ihnen bewusst, was es bedeutet, die Privatangelegenheiten dieser Männer auszuforschen? «
Der Major erwiderte den ernsten Blick. »Ja, Sir. Es handelt sich um eine äußerst delikate Situation.«
»Und um eine äußerst gefährliche. Wir stecken in einem Dilemma. Denn wir sind verdammt, wenn wir etwas unternehmen. Und wir sind verdammt, wenn wir es nicht tun«, grübelte Lynsley und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Schreibtisch.
Auf den ersten Blick stach er nicht aus der Menge heraus. Mit den Jahren hatte er sich ein paar unterschwellige Tricks angewöhnt, die ihn kleiner und schlanker aussehen ließen, als er es in Wirklichkeit war. Was seine Gesichtszüge betraf, so waren sie gut geschnitten; ein selbstironisches Lächeln ließ die vornehmen Konturen weicher wirken. Das Haar, das an den Schläfen bereits silbrig zu werden begann, war weder lang noch kurz, und sein brauner Farbton fand sich in den dunklen Erdtönen seiner Kleidung wieder. Viele Menschen hielten ihn für einen faden, ziemlich langweiligen Bürokraten. Ein Umstand, mit dem er sehr einverstanden war.
Offiziell war er Sekretär des Außen-und Kriegsministers.
Aber der amtliche Titel war absichtlich allgemein formuliert, um über seine wahren Verantwortlichkeiten hinwegzutäuschen. Spionageabwehr und die Abwehr feindlicher Intrigen gehörten zu seinen Aufgaben; er hatte es mit den gefährlichsten und teuflischsten Bedrohungen der Souveränität Englands zu tun. Eigentlich zog er es vor, nur mit einem kleinen Kreis vertrauenswürdiger Verbündeter zu arbeiten. Aber inzwischen hatten die Ereignisse sich in einer Weise entwickelt, die ihm keine andere Wahl gelassen hatte, als den Major einzuweihen.
Zögernd fuhr Lynsley mit seinen Enthüllungen fort. »Wenn das Wort die Runde macht, dass wir es einem solchen Hochverräter gestattet haben, sich vor unserer Nase einzunisten, dann könnte es einen Skandal geben, über den die Regierung stürzen wird.«
»Ja, Sir. Die Angelegenheit muss mit äußerster Diskretion behandelt werden. Aber sogar dann sind wir auf ein Wunder angewiesen, um die Sache aus der Welt zu schaffen, ohne im Parlament ein Feuerwerk zu entfachen, das selbst Vauxhall in Verlegenheit bringen würde.«
»Ein Wunder.« Lynsley trommelte so heftig mit den Fingerspitzen auf die Lederunterlage, als wollte er Geister aus der Unterwelt beschwören.
»Ja. Ein Wunder.« Es klang noch düsterer, als der Major die Worte wiederholte. »Oder einen Helden aus der Artussage.«
»Merlin«, flüsterte der Marquis.
Chertwell lachte halbherzig. »Abrakadabra. Das Herz des Galahad. Das Schwert des Excalibur.«
Wenige Augenblicke später klingelte der Marquis nach seinem Sekretär. »Collins, sorgen Sie dafür, dass meine Kutsche sofort vorfährt.« Er stopfte die Liste mit den Verdächtigen in seine Westentasche und wandte sich zur Tür. »Was stehen Sie da herum, Chertwell. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Der Major räusperte sich. »Wohin fahren wir, Sir?«
Zum ersten Mal an diesem Nachmittag lächelte Lynsley. »Zum Tee bei Mrs. Merlin.«
»Wer um alles in der Welt . . .«
»Eine kleine alte Lady, die wahre Wunder vollbringt.«
»Verdammt, die Türklinke klemmt immer noch wie der Teufel. «
»Achtet auf eure Ausdrucksweise, meine Lieben! Eure Ausdrucksweise! « Weil die Hausvorsteherin Miss Clemens in dunkle Brauntöne gekleidet war, hätte sie leicht mit der hölzernen Einrichtung verwechselt werden können, wenn sie ihre Schülerinnen nicht mit durchdringender Stimme zur Ordnung gerufen hätte. »Keine Flüche! Ihr kennt die Regeln. Innerhalb dieser Mauern habt ihr euch wie gebildete junge Ladys zu benehmen. Jetzt beeilt euch - würdevoll, wenn ich bitten darf, würdevoll - und zieht euch um. Sonst kommt ihr zu spät zu Mrs. Twinings Unterricht. Etikette im Ballsaal steht auf dem Lehrplan.«
Siena lächelte. Die alte Jungfer machte zwar einen ziemlich düsteren Eindruck, war aber gar nicht so schlimm. Wie oft schon hatten sie nachts die Küche geplündert, ohne dass sie bestraft worden waren. Und manchmal, wenn man ihnen den Sieg vergällt hatte, hatten sie ihren Ärger mit einer Flasche ausgezeichneten Champagners aus Clemmies Bestand hinuntergespült.
»Als ob sie mir den Hintern veredeln will«, murmelte Shannon sehr zur Belustigung der anderen, »denn man braucht schon einen Vorschlaghammer und einen Meißel, um aus mir eine Skulptur zu formen, die einem feinen Fräulein ähnlich sieht. Ich bin und bleibe nun mal eine Straßengöre.«
»Dein Aussehen ist kein Problem.« Kopfschüttelnd betrachtete Sofia die üppige Figur ihrer Freundin. »Schätzchen, ich würde glatt jemanden umbringen, nur um einen Busenzubekommen wie du. Es ist allein ein Problem der Einstellung. Wenn du genau darüber nachdenkst . . .«
»Muss ich euch noch mal daran erinnern?«, warnte Miss Clemens. »Wenn ihr euch nur die geringste Unpünktlichkeit erlaubt, werdet ihr den nächsten Monat damit verbringen, den Stall auszumisten. «
»Verdammt noch mal, ich will mich lieber aufs Reiten und Fechten konzentrieren, als einen anständigen Knicks vor einem Fürsten zu machen«, grummelte Shannon, während die drei Freundinnen zwei Stufen auf einmal nahmen und zu ihren Zimmern hinaufrannten.
»Genau wie ich.« Siena streifte sich das Hemd und die Stiefel ab. »Um schlagkräftig zu sein, müssen wir uns in den subtileren Formen der Kriegskunst ausbilden lassen.«
»Du hast leicht reden«, schnappte Shannon zurück, »du scheinst ja auch eine natürliche Begabung zu besitzen. Sowohl im Schulzimmer als auch auf dem Fechtboden.« Sie verzog das Gesicht. »Du glänzt sogar in Kunstgeschichte, meine Liebe.«
»Ich finde Kunstgeschichte interessant. Du nicht?«
Shannon schüttelte den Kopf. »Nein. Es sei denn, die Gemälde zeigen geheimnisvolle Rüstungen oder Waffen aus längst vergangenen Zeiten.«
»Nonnie hat recht, Siena. Du hättest eigentlich in einem Herrenhaus geboren werden müssen«, spottete Sofia, »als feine Lady, die den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun hat, als mit Wasserfarben herumzuspritzen und unbezahlbare Gemälde zu sammeln.«
»Pass bloß auf!«, gab Siena zurück. »Noch ein Wort, und du kassierst einen Tritt in den Hintern!« Hastig wirbelte sie herum und setzte ein Lachen auf, um zu vertuschen, dass die Sticheleien einen empfindlichen Nerv getroffen hatten. Als sie nach ihrem Hemd griff, erhaschte sie einen Blick auf sich selbst im Spiegel: die Wangenknochen so spitz wie ein Säbel, die Wimpern so dunkel wie Schießpulver, der Blick so wachsam, als wollte sie die Kronjuwelen schützen. Kämpfen war ihr zur zweiten Natur geworden. Und sie beherrschte ihr Handwerk.
Shannon hatte recht. Es gab viele Dinge, die Siena leichtzufallen schienen, ganz besonders die Kunst. Sie mochte die Art, wie die Kunst sie zum Nachdenken herausforderte und wie sie angeregt wurde, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ist es ein Zeichen von Schwäche, wenn ich solche Dinge schätze?, fragte sie sich manchmal, obwohl sie es niemals zugeben würde. Schließlich gehörte sie zu Mrs. Merlins Zöglingen. Merlin bedeutete Falke. Falken zeigten niemals ihre schwache Seite. Noch nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde.
Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht. Von der See jagten die Sturmwolken herüber, verdeckten die Sonne, und in den Innenhöfen der Schule war das ferne Donnergrollen schon zu hören. Licht und Dunkel. Manchmal blitzten unwillkürlich die Erinnerungen an das Leben vor der Akademie in ihr auf. Eine alte Prostituierte hatte ihr einst ein bunt gedrucktes Bild geschenkt, das kaum einen Penny gekostet haben mochte. Sie hatte den Fetzen Papier gehütet wie einen kostbaren Schatz.
Siena atmete tief durch, verscheuchte die seltsamen Grübeleien und konzentrierte sich wieder auf ihre Yoga-Übungen. Schließlich hatte Da Rimini ihr eingebläut, dass es gefährlich werden konnte, wenn sie sich zu sehr in ihre Tagträumereien verlor ...
»Um Himmels willen, Siena, hör auf zu träumen«, schalt Sofia, »oder legst du es darauf an, dass wir in den nächsten Wochen Pferdeäpfel schippen?«
Ihre Freundinnen hatten sich längst umgezogen und suchten sich die passenden Haarbänder aus, um ihre Toilette zu beenden.
»Du weißt doch, wie sehr unsere Grande Dame es verabscheut, sich die Finger schmutzig zu machen«, spottete Shannon und wirbelte herum, als befände sie sich gerade im Ballsaal.
»Merde!« Ein zerknüllter Handschuh aus Ziegenleder flog quer durch das Zimmer. »Nur weil ich Seide ebenso sehr liebe wie den Sattel, heißt es noch lange nicht, dass ich euch nicht beim Pferderennen besiegen kann. Ihr müsst nur sagen, wie hoch euer Einsatz ist.«
Shannon spießte das blassrote Leder mit einer Haarnadel auf und warf es zurück. »Soll das eine Herausforderung sein? Was für ein Rennen stellst du dir vor?«
»Vergesst eure Reiterspiele.« Siena griff nach ihrem indigoblauen Kleid. »Hat irgendjemand mein indisches Tuch gesehen? Oder hat es sich auf den Weg zurück nach Bombay gemacht?«
Die Freundinnen waren viel zu klug, um den scharfen Unterton in ihrer Stimme zu überhören, und wechselten irritierte Blicke.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Sofia, während sie das vermisste Tuch unter einem Paar verschmutzter Reitstiefel hervorzog. »Deine Laune ist ziemlich merkwürdig.«
Shannon nickte. »Wenn ich gerade eben Il Lupino flachgelegt hätte, würde ich in den höchsten Tönen jubeln . . .«
»Ich habe Angst, dass . . .« Höchstwahrscheinlich würden ihre Freundinnen sich den Bauch halten vor Lachen, wenn sie erfuhren, was Siena durch den Kopf gegangen war. »Ich fürchte, ich kann es nicht erklären.«
»Angst?«, schnappte Shannon. »Unsinn. Du bist die Furchtloseste von uns allen.«
Sofia schwieg, fixierte ihre Freundin aber mit einem durchdringenden Blick.
»Besser, ihr vergesst es«, murmelte sie. Plötzlich kam sie sich dumm vor, weil sie hatte durchblicken lassen, dass es einen kleinen Kratzer auf ihrer glänzenden Rüstung gab. Denn die Ausbildung in der Akademie wiederholte nur die Lektionen, die sie schon in der Gosse gelernt hatte - zeige niemals, dass du verwundbar bist.
Die Freundinnen unterbrachen ihr Gespräch, als sie Miss Clements Schritte hörten. Siena fluchte atemlos und war sich sicher, dass sie mit ernsten Vorwürfen zu rechnen hatte, zusammen mit der gefürchteten Strafe.
Aber die Hausvorsteherin schien merkwürdig verwirrt. Mit einer unbestimmten Handbewegung scheuchte sie Sofia und Shannon aus dem Zimmer. »Raus, ihr beiden. Und was Siena betrifft . . .« Sie zögerte. »Du musst dich nicht beeilen. Mrs. Merlin hat dich für den nächsten Unterricht entschuldigt. Sie wünscht dich in ihrem Büro zu sehen, sobald du dein neues smaragdgrünes Ballkleid angezogen hast. Withers wird jeden Augenblick zu dir kommen, um dir das Haar zu richten.«
Siena drehte sich um und hörte sich die Neuigkeiten mit halb geschlossenen Augen an. »Warum?«
Miss Clement hob die knochigen Schultern. »Ich bin nicht weiter eingeweiht. Aber du wirst es schon sehr bald selbst herausfinden. «
War es nur Einbildung - oder hörte sie aus den Worten tatsächlich heraus, dass die Zeit gekommen war?
»York hat berichtet, dass eine extravagante Kutsche vor knapp zehn Minuten vor Mrs. Merlins Privateingang vorgefahren ist«, fügte Miss Clement hinzu. »Zwei Gentlemen sind ausgestiegen. «
Ein prickelnder Schauder tanzte ihr über den Rücken. Wieder fühlte es sich an wie tausend kleine Dolchspitzen, und in ihren Handflächen begann es zu kribbeln. Angst. Die Plauderei mit ihren Freundinnen schwirrte ihr immer noch durch den Kopf.
Aber im Grunde genommen hatte sie nur Angst davor, dass die Schulleitung der Auffassung sein könnte, sie wäre nicht gerissen genug für einen echten Auftrag. Der Gentleman mit den eisblauen Augen würde sich, wie er es immer zu tun pflegte, freundlich, aber unmissverständlich äußern. Nur die Allerbesten, gemessen am strengen Standard der Meisterklasse der Akademie, wurden ausgewählt. Und wer die Prüfung nicht bestand, wurde in eine weniger herausfordernde Laufbahn gelenkt. In eine Laufbahn, die auf andere nützliche Aufgaben vorbereitete. Gastwirtin, Kammerzofe ...
Siena ballte die Hände zu Fäusten und reckte das Kinn. Eine Herausforderung? Sie würde sich ihrer Aufgabe gewachsen zeigen, wollte sich selbst beweisen. Schließlich gehörte sie zu Mrs. Merlins Zöglingen. Merlin bedeutete Falke.
Und Falken müssen fliegen.
2. Kapitel
Waisenkinder! Von der Straße!« Chertwell verschluckte sich an seinem Tee und hustete. »Darf ich Sie höflich daran erinnern, dass Sie der Schweigepflicht unterliegen?« Lynsley gönnte sich einen zweiten Keks.
Der Major stieß einen Fluch aus.
»Darf ich Sie außerdem daran erinnern, dass eine Lady anwesend ist?«
Chertwells Gesicht wurde beinahe so rot wie seine Uniform. »Ich bitte um Verzeihung, Madam«, erklärte er steif, »ich hatte nicht die Absicht, Sie oder Ihre Schülerinnen zu beleidigen. Aber ich fühle mich verpflichtet, Einspruch zu erheben gegen diesen . . . diesen Scherz!«
Mrs. Merlins brüske Erwiderung ließ jegliche Hoffnung aus seinem Blick schwinden. »Es ist Lord Lynsley sehr ernst. Genau wie mir.« Mrs. Merlin war Witwe. Sie wirkte federleicht und gebrechlich. Taubengraue Locken umrahmten ihr schmales Gesicht wie eine Haube. Mit den Jahren waren ihre Gesichtszüge weicher geworden, und die Spitze ihrer markanten Nase stach weniger hervor. Aber die silbrigen Augen hinter den ovalen Brillengläsern glühten immer noch so durchdringend wie bei einem Falken. »Warum probieren Sie nicht unsere Erdbeertörtchen, junger Mann? Wirklich, sie sind köstlich.«
»Ich will keine verdammten Törtchen! Ich will eine Erklärung! «, stammelte der Major und warf Lynsley einen vorwurfsvollen Blick zu. »England schwebt in größter Gefahr, während wir hier herumsitzen und Tee schlürfen!«
»Du liebe Güte, Thomas, leidet der Major unter Migräne?« Mrs. Merlin warf Lynsley einen Blick zu. »Soll ich das Essigfläschchen holen? Oder Hirschhornsalz?«
Sekundenlang stand Chertwell der Mund offen. Er schwieg, aber das hinderte ihn nicht, laut zu stöhnen.
»Ausgezeichnet. Wie ich sehe, können wir auf das Hirschhornsalz verzichten und das Problem stattdessen mit einer gesunden Prise Vernunft aus der Welt schaffen.« Mrs. Merlin bewegte sich so flink und geschickt, dass es ihr süßliches Lächeln Lügen strafte, und öffnete eine Dokumentenmappe. Nur ein einziges Mal musste sie mit den Papieren in der Mappe auf den Tisch klopfen, um die Kanten auf eine gerade Linie zu bringen. »Aber bevor wir uns um die Geschäfte kümmern, sollten Sie vielleicht mit Ihren Erläuterungen fortfahren.«
»Danke, Charlotte. Wie immer ist es ausgesprochen lehrreich, mit Ihnen zu plaudern.« Lynsley lehnte sich in die Sofakissen zurück. Die Falten um seine Augenwinkel wirkten tiefer, sein Blick schattenhaft. »Wie ich bereits erklärt habe, Chertwell, stammen die Zöglinge aus Mrs. Merlin's Academy for Select Young Ladies aus den Heerscharen von Waisenkindern, die in den verrufenen Vierteln Londons herumstromern. Bedauerlicherweise muss ich eingestehen, dass es ganze Heerscharen sind.« Er starrte auf seinen Tee. »Die Zöglinge der Akademie sind handverlesen. Ich selbst suche sie aus. Ich achte darauf, dass sie klug und mutig sind. Und auf das Aussehen. Schönheit kann in sich selbst eine Waffe sein.«
»Um es auf den Punkt zu bringen«, murmelte der Major mit zusammengebissenen Zähnen, »Sie wühlen in den zwielichtigen Gassen Londons nach dreckigen Waisenkindern und formen eine besondere Kampftruppe aus ihnen?«
Der Marquis gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Englands schlagkräftigste Geheimwaffe.«
»Gott schütze den König.« Der strenge Blick der Direktorin brachte Chertwell dazu, sich seinen Sarkasmus zu verkneifen.
Lynsley fuhr fort, als wäre er nie unterbrochen worden. »Ich konnte die Regierung überzeugen, uns dieses alte Gelände zu überlassen. Früher wurde es als Weideland für die Kavallerie genutzt. Die laufenden Kosten zahle ich aus eigener Tasche, und Mrs. Merlin kümmert sich um die Pflichten des Alltags. Der Einfall ist mir gekommen, als ich ein Buch über Hasan-I-Sabah gelesen habe, einen muslimischen Kalifen, der in seiner Festung in den Bergen geheime Kriegstruppen ausgebildet hat. Seine Männer waren bekannt für ihre tödliche Kampfkunst und ihre fanatische Treue. Der Kalif hat sie nur eingesetzt, wenn sich seine Macht in größter Gefahr befand. Es heißt, dass sie bei keinem einzigen Auftrag versagt haben. Und es reichte schon, dass man die Hashishim . . . die Attentäter bei ihrem Namen nennt, um die Feinde ihres Herrn in Angst und Schrecken zu versetzen. «
»Attentäter?« Irritiert kniff Chertwell die Augen zusammen. »Sicher wollen Sie nicht behaupten, dass diese Mädchen . . .«
». . . für tödliche Einsätze ausgebildet sind.« Mrs. Merlin blies sich einen Hauch Puderzucker von den Lippen. »Aber selbstverständlich. «
»Merlins Zöglinge erhalten auf vielen verschiedenen Gebieten eine erstklassige Ausbildung«, erklärte Lynsley. »Waffengebrauch ist nur ein Teil des Lehrplans. Sie werden auch in den gesellschaftlichen Fächern unterrichtet. Zum Beispiel lernen sie, ein gutes Gespräch zu führen, sie lernen Manieren, und ihre Fähigkeiten in Musik, Kunst und Tanz sind unübertroffen. Wenn es notwendig ist, können sie sich in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegen. «
»In der Tat, unsere Mädchen werden nach dem gleichen Lehrplan unterrichtet wie auf irgendeiner beliebigen anderen Schule für hochgeborene junge Ladys aus den feinen Salons«, fügte Mrs. Merlin hinzu. Inmitten einer farbenfrohen Blütenpracht und zartem Porzellan aus Sèvres sah die ältliche Dame aus wie der Inbegriff von Sitte und Anstand. Abgesehen von dem Dolch, der ihr aus dem Ärmelaufschlag rutschte, als sie die Unterlagen durchsah. »Wir legen Wert darauf, dass Gewalt nur als letzter Ausweg in Betracht kommt.«
»Es klingt . . .«, der Major rutschte auf dem Sofa hin und her, ». . . absurd, möchte ich sagen, aber ich befürchte, dass Sie dann meine Leber mit der Klinge filetieren.«
Mrs. Merlin zog den Musselin über dem messerscharfen Stahl glatt. »Ich kann Ihnen versichern, dass unsere Schülerinnen sehr sorgfältig ausgewählt worden sind. Sobald sie bei uns eintreffen, werden sie einer harten Ausbildung und ständigen Prüfungen unterworfen. Wer die Prüfungen nicht besteht, wird in eine passendere Ausbildung verwiesen.« Als sie ihre Brille auf der Nase nach oben schob, funkelte das Kerzenlicht auf den Gläsern. Unter weniger ernsten Umständen hätte es auch als Zwinkern durchgehen können. »Sie sehen, Major, anders als beim Militär können weder Reichtum noch Intrigen einen Platz in unserer Akademie erkaufen. Merlins Zöglinge gewinnen ihren Ruhm allein durch Verdienst.«
Chertwell dachte einen Moment nach. »Warum Mädchen?«
»Kluge Frage.« Lynsley ließ den Blick auf das Gemälde über dem Kaminsims schweifen. Es zeigte Boudicca, die uralte britannische Königin, in vollem Ornat. »Weil weibliche Wesen strategisch und taktisch erheblich flexibler sind. Sie können die Kriegskunst genauso gut erlernen wie ein Mann. Dagegen ist es Männern unmöglich, in bestimmte weibliche Disziplinen einzudringen. Manche Türen werden uns Männern auf ewig verschlossen bleiben.«
»Raffiniert«, gestand der Major ein, »ich begreife langsam, dass das Geschlecht eine nützlichere Waffe sein kann als Stahl.« Er tippte sich ans Kinn. »Trotzdem, abstrakte Theorien sind eine Sache, praktische Anwendungen dagegen eine ganz andere. Haben Sie Ihre teuflischen Heldinnen schon jemals auf eine echte Mission geschickt?«
»Arthur Wellesley wäre heute nicht mehr unter uns, wenn nicht einer der Anführer des Mahratta-Aufstands in Indien auf der Tigerjagd viel zu früh das Zeitliche gesegnet hätte. Ein Pfeil durchbohrte seine Kehle, wenn ich mich recht erinnere . . .« Lynsley fuhr fort, noch mehr Orte und Namen herunterzubeten.
»Gott schütze unseren König«, murmelte der Major wieder, klang diesmal aber nicht sarkastisch, sondern ehrfürchtig.
Mrs. Merlin stellte das Tablett mit dem Tee auf das chinesische Beistelltischen. »Nachdem ich Ihre Anforderungen durchgesehen hatte, habe ich eine Schülerin ausgewählt, die für den Auftrag höchst qualifiziert sein dürfte.«
»Wen?«
»Siena.«
Er presste die Fingerspitzen aneinander und betrachtete gedankenverloren seine Uhrenkette. Es verging ein Moment, bevor er wieder das Wort ergriff. »Eine interessante Wahl.«
»Der Einsatz ist von außerordentlich schwieriger Natur«, erwiderte die Direktorin, »unsere Agentin muss sehr charakterfest sein, wenn sie es mit den Gentlemen aufnehmen soll, die Sie auszuforschen wünschen.«
»In der Tat. Ich stimme zu, dass sie zu unseren besten Schülerinnen gehört.« Lynsley fingerte an seiner Taschenuhr herum. »Trotzdem muss ich gestehen, dass ich sie nicht ganz durchblickt habe. Sie hat etwas an sich, das mir nach wie vor ein Geheimnis geblieben ist.«
»Unter der stahlharten Oberfläche verbirgt sich die sehr empfindliche Seite ihres Wesens. Was sie nur noch reizvoller macht. Außerdem liegt ihre Begabung nicht nur im Umgang mit den verschiedensten Waffen. Ihre Kunstkenntnisse werden in diesem Fall sehr nützlich sein.« Mrs. Merlin hielt seinen Blick fest. »Ich setze großes Vertrauen in meine Wahl. Aber ich habe keinen Zweifel, dass Sie beide sich gern selbst überzeugen möchten. Sollen wir sie hereinrufen?«
Sanft und sinnlich raschelte die Seide über ihre Haut, als sie sich von dem Stuhl mit der geraden Lehne erhob. Siena strich die Rüschen an ihrem Mieder glatt und fuhr mit den Fingerspitzen über die Perlenreihe, die ihr tief ausgeschnittenes Dekolleté schmückte. Schon eine Hand voll Perlen hätte gereicht, um sich in St. Giles ein Jahr lang zu ernähren. Aber hier waren sie nichts als unbedeutender Tand, winzige Fleckchen in einer golddurchwirkten Pracht aus Smaragd. Das Kleid war eine sündhaft teure Extravaganz, an Busen und Hüfte anschmiegsam geschnitten, während die elfenbeinfarbene Seide sich wellenförmig bis zu den goldenen Fransen am Saum erstreckte.
Es passte viel besser zu einer Märchenprinzessin als zu einem Waisenkind ohne einen Penny in der Tasche, wie Siena hastig bemerkt hatte. Aber Mrs. Merlin hatte ihr nur ein zufriedenes Lächeln zugeworfen und die Kosten auf dem Konto der Schule verbucht. Außerdem hatte sie Siena eine Lektion erteilt: Es war von größter Bedeutung, dass sie begriff, wie trügerisch der Schein sein konnte.
Als Siena das vertraute kleine Wartezimmer betrat, stieg unwillkürlich die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit Mrs. Merlin in ihr auf. Sie hatte nichts als Lumpen am Leib getragen, und ihre dünnen verschmutzten Gliedmaßen waren von blauen Flecken übersät gewesen. Weil die merkwürdige neue Umgebung sie bis ins Mark erschreckt hatte, hatte sie Mrs. Merlins sanften Worten zuerst nur mit einem unflätigen Fluch begegnen können.
Aber ihr Fluch war weder mit Schlägen noch mit Stößen beantwortet worden; stattdessen hatte man ihr Erdbeertörtchen und Tee angeboten. Zum ersten Mal erfuhr sie, wie wahre Freundlichkeit schmeckte. Und echte Geduld. Dabei war es keine leichte Aufgabe, das Vertrauen einer gerissenen Straßengöre zu gewinnen. Siena war es schwergefallen zu begreifen, dass ein richtiges Bett, saubere Kleidung und regelmäßige Mahlzeiten nichts mit faulen Tricks zu tun hatten, die sie nur besänftigen sollten, um ihr den tödlichen Schlag erträglicher zu machen.
Es ist nicht leicht, alte Zöpfe abzuschneiden. Sogar jetzt noch merkte sie, wie sie im hintersten Winkel ihres Herzens ängstlich und aufmerksam blieb.
»Sie erwarten dich«, flüsterte die Sekretärin.
Disziplin. Pflicht. Verlangen.
Entschlossen verscheuchte Siena die launischen Gedanken, raffte ihre Röcke hoch und glitt würdevoll über die Türschwelle.
»Wie entzückend, dass Sie uns Gesellschaft leisten können, meine Liebe.« Mrs.Merlin gab durch und durch die gnädige Gastgeberin und deutete auf die beiden Männer. »Ich nehme an, Sie sind mit Lord Lynsley bekannt?«
Siena vollführte einen perfekten Knicks und gestattete es dem Gentleman, ihre Hand zu seinen Lippen zu führen. »Es ist mir ein große Ehre, Sie wiedersehen zu dürfen, Mylord.«
»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Miss Siena. Ich darf annehmen, dass Sie mit Ihrer Ausbildung zufrieden sind?«
»Sehr zufrieden, vielen Dank.« Mit jungfräulicher Bescheidenheit senkte sie den Blick und antwortete ganz wie erwartet im leichten Plauderton. Aber unter den flatternden Lidern blieb sie alarmiert. Natürlich wusste sie, dass ihre Fähigkeiten gerade geprüft wurden, und sie hatte die Absicht, diese Prüfung glänzend zu bestehen. »Das Wetter ist in letzter Zeit ausgesprochen erbärmlich gewesen, nicht wahr?«
Nachdem sie ein paar höfliche Worte über das Wetter gewechselt hatten, deutete der Marquis auf seine Begleitung. »Gestatten Sie, dass ich Ihnen Major Chertwell vorstelle, der sich gerade im Urlaub von seinem Posten in Preußen befindet.«
Der Major starrte sie mit eisigem Entsetzen an. Wie das Kaninchen vor der Schlange, dachte sie, irgendwie muss ich ihm beibringen, dass ich ihn nicht verschlingen werde.
Mit einem schmelzenden Blick. Mit einem Hauch von Bewunderung. Mit einer zärtlichen Berührung ihres Fächers. Die berüchtigte spanische Kurtisane namens La Paloma hatte den Schülerinnen der Akademie zahllose Kniffe verraten, mit denen sie den Gentlemen in ihrer Gegenwart die Nervosität nehmen konnte. »Das klingt schrecklich wichtig, Sir«, bemerkte Siena, »gehören Sie zum diplomatischen Korps oder zur Armee?« Ihr gebildeter Tonfall verriet nicht die Spur, dass sie früher nichts als eine schmutzige Straßengöre gewesen war. Zwar beherrschte sie die ruppige Sprache der Gosse immer noch, aber wenn es sein musste, konnte sie auch auf Französisch Konversation betreiben.
»Äh . . . weder noch.«
»Major Chertwell dient als Verbindungsglied zwischen beiden «, murmelte Lynsley.
Schmeicheleien waren das oberste Gebot im Salon, dicht gefolgt von kaum wahrnehmbaren Tändeleien. Siena seufzte lautlos. Die höheren Töchter aus den feinen Salons waren wirklich nicht zu beneiden. Schließlich kostete es viel Anstrengung, so unerhört dumme Bemerkungen von sich zu geben. Und Übung.
Aber die Anstrengung wurde rasch belohnt. Wie La Paloma versprochen hatte, waren Männer ziemlich berechenbar. Nachdem sie ihn mit ein paar Fragen und einem samtigen Lächeln ermutigt hatte, war Chertwell so entspannt, dass er eine zusammenhängende Unterhaltung führen konnte.
Mrs. Merlin überließ das Spiel zwischen den beiden ein paar Minuten seinem Lauf und schlug dann vor, sich der Musik zuzuwenden. »Ich weiß, dass Lord Lynsley das Pianoforte sehr schätzt. Ganz bestimmt wäre er überaus erfreut, Sie spielen zu hören.«
Siena setzte sich an das Instrument. »Was möchten Sie am liebsten hören, Mylord?«
»Ich überlasse Ihnen die Wahl.«
Aus dem amerikanischen Englisch von Jutta Nickel
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Pickens
- 2013, 1, 1184 Seiten, Masse: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655451
- ISBN-13: 9783863655457
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