Geh nicht fort
Roman. Ausgezeichnet mit dem Premio Strega 2002
Als Timoteos Tochter Angela nach einem Unfall schwerverletzt im Krankenhaus liegt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Seine Gedanken stehen Kopf und er legt eine Lebensbeichte ab. Über die Liebe zu einer Frau, die aber nicht Angelas Mutter ist.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Geh nicht fort “
Als Timoteos Tochter Angela nach einem Unfall schwerverletzt im Krankenhaus liegt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Seine Gedanken stehen Kopf und er legt eine Lebensbeichte ab. Über die Liebe zu einer Frau, die aber nicht Angelas Mutter ist.
Klappentext zu „Geh nicht fort “
Als seine Tochter Angela nach einem Unfall lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wird, gerät Timoteos Welt ins Wanken. Vor der Tür des Operationssaals überschlagen sich seine Gedanken. Er legt Rechenschaft ab - über eine verbotene Liebe zu einer Frau, die nicht Angelas Mutter ist.
Lese-Probe zu „Geh nicht fort “
Geh nicht fort von Margaret Mazzantini... mehr
Du hast das Stoppschild nicht beachtet. In der Eile bist du einfach weitergefahren, in deiner Jacke aus Webpelz, die Stöpsel des Walkman in die Ohren gepreßt. Bis vor kurzem hat es geregnet, und gleich wird es wieder losgehen. Über den letzten Platanenblättern, über den Antennen war der aschfahle Himmel voller Stare; mit ihrem Gefieder und mit ihrem Krächzen erfüllten sie die Luft, flogen als wogende schwarze Flecken aufeinander zu, ohne sich zu berühren, stoben wieder auseinander, bevor sie sich erneut zu einer Formation zusammenfanden. Unten auf der Straße hielten sich die Passanten eine Zeitung oder nur die Hände über den Kopf, um sich vor dem niederhagelnden Vogelmist zu schützen, der sich auf dem Asphalt mit dem aufgeweichten Laub vermengte und einen beklemmend süßlichen Duft verströmte, dem jeder möglichst schnell zu entkommen suchte.
Wie im Flug kamst du die Allee herauf und fuhrst auf die Kreuzung zu. Fast hattest du es geschafft, fast hatte der Mann im Auto es geschafft, dir auszuweichen. Aber der Boden war glitschig vom Mist der sich sammelnden Vögel. Auf dem schmierigen Belag kam der Wagen ins Rutschen, wenig nur, aber doch genug, um deinen Motorroller zu streifen. Du wurdest hochgeschleudert zu den Staren und fielst dann hinunter in ihren Kot, und mit dir dein Rucksack mit den Aufklebern. Zwei deiner Hefte landeten im Rinnstein in einer schwarzen Pfütze. Der Sturzhelm ditschte über die Straße wie ein ausgehöhlter Schädel, du hattest ihn nicht festgeschnallt. Augenblicklich näherten sich die Schritte eines Passanten. Deine Augen waren offen, der Mund blutverschmiert, es fehlten die Schneidezähne. Auf den Wangen waren lauter schwarze Punkte wie bei einem schlecht rasierten Mann: Teerkörner waren in die Haut gedrungen. Die Musik unterbrochen, die Stöpsel des Walkman waren in die Haare gerutscht. Der Autofahrer riß die Wagentür auf und ging auf dich zu; als er die klaffende Stirnwunde sah, kramte er in seinen Taschen nach dem Handy, doch als er es endlich gefunden hatte, fiel es ihm aus der Hand. Ein junger Mann hob es auf, und er hat dann den Krankenwagen gerufen. Inzwischen war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Das Auto stand quer auf den Schienen, und die Straßenbahn konnte nicht vorbei. Der Fahrer war ausgestiegen, viele stiegen aus und gingen auf dich zu. Leute, die du noch nie gesehen hattest, streiften dich mit ihren Blicken. Ein leises Stöhnen kam über deine Lippen, zusammen mit einem rötlichen Schaumklümpchen, als du das Bewußtsein verlorst. Es war viel Verkehr, der Krankenwagen ließ auf sich warten. Doch nun hattest du es nicht mehr eilig. Du lagst still da in deiner Webpelzjacke, wie ein Vogel ohne Aufwind.
Dann haben sie es doch geschafft, sich mit heulenden Sirenen einen Weg durch den Verkehr zu bahnen. Die Autos fuhren zur Seite, dicht an die Leitplanken, oder sie wichen auf die Bürgersteige am Flußufer aus, während die Infusionsflasche über deinem Kopf hin und her tanzte und eine Hand den blauen Ball drückte und wieder losließ, aus und ein, um dir Luft in die Lungen zu pumpen. In der Notaufnahme drückte die diensthabende Ärztin mit dem Finger auf den Schmerzpunkt zwischen Kiefer und Zungenbein. Dein Körper reagierte nur schwach. Sie nahm Verbandsstoff und wischte das Blut ab, das von deiner Stirn lief. Sie schaute in die Pupillen, sie waren starr und unterschiedlich groß. Der Atem war verlangsamt. Mit einem Guedeltubus brachte sie die Zunge, die nach hinten gerutscht war, in die richtige Position. Dann wurde die Absaugsonde eingeführt. Blut, Teer, Schleim wurden abgesaugt, dazu ein Zahn. Sie brachten den Fingerclip an, um die Sauerstoffanreicherung im Blut zu messen, der Sauerstoffgehalt des Hämoglobins war zu niedrig: fünfundachtzig Prozent. Also haben sie intubiert. Der Stab des Laryngoskops mit seinem eisigen Licht glitt in deinen Mund. Ein Pfleger kam mit dem Überwachungsmonitor für EKG und Kreislauf herein, er steckte den Stecker in die Steckdose, doch das Gerät funktionierte nicht. Er klopfte dagegen, ein leichter Schlag auf die Seite, und der Monitor leuchtete auf. Sie schoben dein T-Shirt hoch, befestigten die Saugnäpfe der Elektroden auf der Brust. Du mußtest ein wenig warten, denn der CT-Raum war nicht frei, dann haben sie dich in die Röntgenröhre geschoben. Das Trauma saß im Schläfenlappen. Die Ärztin hinter der Scheibe bat den Radiologen um mehr Schichten. Tiefe und Ausdehnung des Hämatoms waren zu sehen. Der Contrecoup, wenn es einen gab, war noch nicht sichtbar. Trotzdem verzichteten sie darauf, ein Kontrastmittel zu spritzen, weil sie Komplikationen in der Niere fürchteten. Sie riefen sofort im dritten Stock an, damit der Operationssaal vorbereitet wurde. Die Ärztin fragte: »Wer hat in der Neurochirurgie Dienst?«
Dann haben sie dich auf die Operation vorbereitet. Mit einer Schere schnitt die Schwester deine Kleider auf und zog dich langsam aus. Sie wußten nicht, wie sie die Angehörigen verständigen sollten. Sie hofften, einen Ausweis zu finden, aber du hattest keinen bei dir. Im Rucksack fanden sie nur dein Tagebuch. Die Ärztin las den Vornamen, dann den Familiennamen. Lange starrte sie auf den Familiennamen, kehrte erst dann zum Vornamen zurück. Eine Hitzewelle brachte ihr Gesicht zum Glühen, ihr stockte der Atem, und sie rang nach Luft, als hätte sie sich an einem großen Bissen verschluckt. Plötzlich hatte sie ihre blutige Aufgabe vergessen, nun sah sie dich an, wie man eine junge Frau ansieht. Forschend glitt ihr Blick über deine aufgedunsenen Gesichtszüge, in der Hoffnung, den schrecklichen Gedanken verscheuchen zu können. Aber du siehst mir ähnlich, und Ada konnte nicht umhin, diese Ähnlichkeit zu erkennen. Eine Schwester rasierte dir den Kopf, deine Haare fielen zu Boden. Besorgt griff Ada nach den herunterfallenden braunen Locken. »Vorsichtig, sei vorsichtig«, murmelte sie.
Dann lief sie zur Intensivstation, zum diensthabenden Neurochirurgen. »Die junge Frau, die gerade eingeliefert wurde«
»Du hast keinen Mundschutz, gehen wir raus.«
Sie verließen den aseptischen Ort, zu dem Verwandte keinen Zutritt haben, und gingen gemeinsam in den Raum, wo die Schwester dich für die Operation vorbereitete. Der Neurochirurg prüfte EKG-und Blutdruckkurven auf dem Monitor. »Sie ist hypoton«, sagte er, »könnt ihr Verletzungen im Brust- und Bauchraum ausschließen?« Dann hat er dich angesehen, flüchtig. Mit einer raschen Handbewegung schob er die Lider auseinander.
»Nun?« fragte Ada.
»Ist der Operationssaal fertig?«, fragte er die Schwester.
»Sie sind noch dabei.«
Ada ließ nicht locker. »Findest du nicht, daß sie ihm ähnlich sieht?«
Der Neurochirurg drehte sich um und hielt die CT-Aufnahmen gegen das Tageslicht, das vom Fenster einfiel: »Das Hämatom erstreckt sich zwischen Hirn und Dura mater «
Beschwörend legte Ada die Hände zusammen und hob die Stimme: »Sie sieht ihm ähnlich, nicht wahr?«
»Es könnte auch subdural sein.«
Draußen regnete es. Fröstelnd verschränkte Ada die Arme, als sie in ihrem kurzärmligen Kittel nach draußen mußte, lautlos ging sie in ihren grünen Gummiclogs den gepflasterten Verbindungsweg von der Notaufnahme zum Pavillon der Allgemeinmedizin entlang. Sie nahm nicht den Aufzug, um zur Chirurgie zu kommen, sie lief zu Fuß die Treppe hinauf. Sie mußte sich bewegen, einfach irgend etwas tun. Ich kenne Ada seit fünfundzwanzig Jahren. Vor meiner Heirat hatte ich ihr kurze Zeit den Hof gemacht, dabei aber stets zwischen Spiel und Ernst geschwankt. Sie riß die Tür weit auf. Im Aufenthaltsraum der Ärzte räumte ein Pfleger gerade die Kaffeetassen ab. Rasch nahm Ada Haube und Mundschutz aus einem Behälter, streifte sie über und kam dann herein.
Wahrscheinlich stand sie schon eine ganze Weile neben mir, doch erst als ich mich umdrehte, um der Operationsschwester die Klemmen zu geben, bemerkte ich sie. Verwundert fragte ich mich, was sie hier wollte, schließlich arbeitete sie auf der Intensivstation, und wir trafen uns nur selten, höchstens mal in der Cafeteria im Untergeschoß. Ich beachtete sie kaum, nicht einmal ein Kopfnicken zur Begrüßung, ich löste die nächste Klemme und gab sie an die Schwester weiter. Ada wartete, bis ich meine Hände aus dem Operationsfeld zurückzog. »Professore, Sie müssen kommen«, flüsterte sie nur. Die Schwester schob eine Nadel aus der sterilen Verpackung; als ich mich zu Ada umdrehte, hörte ich, wie die Kunststoffhülle aufgerissen wurde. Bisher hatte ich Ada überhaupt nicht beachtet, obwohl sie direkt neben mir stand. Zwei ungeschminkte, unruhig glitzernde Frauenaugen sahen mich an. Bevor sie zur Intensivstation wechselte, war Ada eine der besten Anästhesistinnen der Klinik, unzählige Male hatte sie bei meinen Patienten die Narkose durchgeführt. Ich habe oft erlebt, daß sie selbst in schwierigen Augenblicken die Ruhe bewahrte; ich schätzte sie ungemein, denn ich wußte, wie schwer es für sie war, alles Persönliche unter dem grünen Kittel zu verbergen.
»Wenn ich fertig bin«, sagte ich zu ihr.
»Nein, es ist dringend, Professore, bitte.«
Ihre Stimme klang entschieden, hatte eine merkwürdige Autorität. Ich glaube, ich dachte an nichts, aber plötzlich waren meine Hände schwer wie Blei. Die Schwester reichte mir den Nadelhalter. Noch nie hatte ich den OP verlassen, bevor eine Operation beendet war. Ich griff nach der Nadel und merkte, daß der Impuls verspätet kam. Meine Aufgabe war jetzt, die Hautlappen zusammenzunähen. Ich trat einen Schritt zurück und stieß mit jemandem zusammen, der hinter mir stand. »Mach du weiter«, sagte ich zu meinem Assistenten. Die Schwester reichte ihm den Nadelhalter. Ich hörte, wie das Metall auf den Handschuh klatschte, ein dumpfes Geräusch, das sich in meinen Ohren sehr laut anhörte, wie aus einem Verstärker. Alle Anwesenden warfen Ada aufmerksame Blicke zu.
Lautlos fiel die Tür zum Operationssaal zu, und wir standen uns im Vorraum der Anästhesie gegenüber.
»Nun?«
Adas Brust hob und senkte sich unter dem Kittel, über ihre nackten Unterarme lief eine Gänsehaut. »Bei uns unten ist ein Mädchen, Professore, mit einem Hirnschädeltrauma«
Ohne es zu merken, hatte ich die Handschuhe abgestreift. »Und weiter?«
»Ich habe ihr Tagebuch gefunden da steht Ihr Familienname drauf, Professore.«
Ich riß ihr den Mundschutz vom Gesicht.
In ihrer Stimme war kein Kampfgeist mehr, der Mut war verflogen. Nur eine ruhige, atemlose Bitte um Hilfe: »Wie heißt Ihre Tochter?«
Ich glaube, ich beugte mich vor, um sie genauer anzusehen, um in den Tiefen ihrer Augen einen Namen zu finden, bloß nicht deinen.
»Angela«, flüsterte ich und sah, wie diese Augen sich weiteten.
Dann rannte ich die Treppe hinunter, draußen durch den Regen, rannte einfach weiter, als ein heranschießender Krankenwagen zwei Schritte vor meinen Beinen bremste, rannte durch die Schwingtür der Aufnahme, durch den Aufenthaltsraum der Schwestern, rannte durch einen Raum, wo irgend jemand mit einem Knochenbruch schrie, rannte in das leere, unaufgeräumte Zimmer daneben. Dort blieb ich stehen. Auf dem Boden lagen deine Haare. Deine welligen braunen Haare, auf einem Haufen mit blutigem Verbandsstoff.
Ein Augenblick nur, und ich zerfalle zu Staub. Ich schleppe mich zur Intensivstation, den Gang entlang, bis zur Glaswand. Da liegst du, rasiert, intubiert, helle Pflaster rund um das geschwollene schwärzliche Gesicht. Du bist es. Ich gehe durch die Glastür und bin bei dir. Plötzlich bin ich ein Vater wie jeder andere, ein armer, schmerzzerrütteter Vater, mit ausgetrocknetem Mund und von kaltem Schweiß verklebten Haaren. Das kann ich nicht verkraften, es ist zuviel, es bleibt in einem vagen Entsetzen hängen. Ich bin wie betäubt, wie in einer Schmerzembolie. Ich schließe die Augen, ich will diesen Schmerz nicht. Du bist nicht hier, du bist in der Schule. Wenn ich die Augen aufmache, werde ich nicht dich vor mir haben, sondern eine andere, irgendeine, die es zufällig getroffen hat. Bloß dich nicht, Angela. Ich reiße die Augen auf, und du bist es tatsächlich, eine, die es zufällig getroffen hat.
Auf dem Boden steht ein Behälter mit der Aufschrift: Gefährliche Abfälle, ich nehme den Menschen, der ich bin, und werfe ihn hinein. Das muß ich tun, es ist meine Pflicht, das einzige, was mir noch bleibt. Ich darf dich nicht als Teil von mir betrachten. Eine Elektrode ist verrutscht, klebt ungeschickt an deiner Brustwarze, ich nehme sie ab und bringe sie dezenter an. Ich schaue auf den Monitor: vierundfünfzig Schläge. Jetzt weniger: zweiundfünfzig. Ich hebe deine Lider, die Pupillen sind anisokor, die rechte ist stark geweitet, in dieser Hirnhälfte ist die Verletzung. Du mußt sofort operiert werden, damit das Gehirn atmen kann, diese Masse, die durch das Hämatom verschoben wurde, jetzt gegen die harte Schädeldecke drückt, die Zentren lahmlegt, die den gesamten Körper versorgen, und dir mit jedem Augenblick, der vergeht, etwas von deiner Persönlichkeit raubt.
Ich drehe mich zu Ada um: »Hat sie Cortison bekommen?«
»Ja, Professore, und einen Magenschutz.«
»Hat sie noch andere Verletzungen?«
»Verdacht auf Milzriß.«
»Hämoglobin?«
»Zwölf.«
»Wer hat in der Neurochirurgie Dienst?«
»Ich, ich habe Dienst. Tag, Timoteo.«
Alfredo legt mir die Hand auf die Schulter, sein Kittel ist offen, Hände und Gesicht sind naß. »Ada hat mich angerufen, ich hatte die Klinik gerade erst verlassen.«
Alfredo ist der Beste in seiner Abteilung, wird aber von keinem so recht geschätzt, er ist oft unsicher, verschlossen, seine Vorzüge fallen nicht auf; er steht im Schatten des Oberarztes, wenn der ihn beobachtet, sackt er in sich zusammen. Vor Jahren habe ich ihm einige Ratschläge gegeben, aber er hat nicht auf mich gehört, sein Charakter kann mit seiner Begabung nicht Schritt halten. Er lebt von seiner Frau getrennt, und ich weiß, daß er einen Sohn hat, ungefähr in deinem Alter. Er hatte keine Bereitschaft, er hätte sich entziehen können, kein Chirurg operiert gern die Angehörigen eines Kollegen. Aber er, er hat sich in ein Taxi geworfen, ist mitten im dicksten Verkehr ausgestiegen und das letzte Stück im strömenden Regen zu Fuß gegangen, um schneller hier zu sein. Ich weiß nicht, ob ich das auch getan hätte.
»Ist oben alles fertig?« fragt Alfredo.
»Ja«, antwortet die Schwester.
»Dann gehen wir sofort nach oben.«
Ada koppelt dich vom Beatmungsgerät ab und schließt dich für den Transport an den Ambu-Beutel an. Als sie dich in den Aufzug schieben, sehe ich, daß ein Arm runterhängt, Ada beugt sich zu dir und legt ihn an deine Seite.
Ich bleibe mit Alfredo zurück, wir setzen uns in den Raum neben der Intensivstation. Alfredo schaltet den Leuchtkasten ein, schiebt deine CT-Aufnahmen ein und betrachtet sie von nahem. An einer Stelle hält er inne, runzelt die Stirn, sieht angestrengt hin. Ich weiß, wie es ist, wenn man auf einer Röntgenaufnahme nach einer Spur sucht, nach einem Hinweis, der einem weiterhelfen könnte.
»Sieh mal«, sagt er, »das hier ist das Haupthämatom, direkt über der Dura mater, es ist gut zugänglich. Ich muß zuerst feststellen, wie stark das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde, das kann ich nicht abschätzen. Hier ist noch eine Stelle, weiter innen, ich weiß nicht, vielleicht ist das ein Bluterguß durch Contrecoup.«
In dem fahlen Licht, gefiltert durch dein Gehirn, sehen wir uns an. Wir wissen, daß es keinen Sinn hat, uns etwas vorzumachen.
»Es könnten Komplikationen auftreten, vielleicht liegt schon Ischämie vor«, flüstere ich.
»Ich muß erst mal aufmachen, dann sehen wir weiter.«
»Sie ist fünfzehn.«
»Gut, dann ist das Herz stark.«
»Sie ist nicht stark, sie ist klein.«
Ich ging in die Knie, ich weinte hemmungslos, vergrub das Gesicht in den Händen: »Sie wird sterben, nicht wahr? Wir wissen es beide, ihr Kopf ist überwässert.«
»Wir wissen gar nichts, Timoteo.«
Er beugte sich zu mir, packte mich an den Armen und schüttelte mich, als müsse er sich selbst aufrütteln: »Jetzt machen wir erst mal auf. Ich sauge das Hämatom ab, beatme das Gehirn, und wir sehen, was passiert.«
Er richtete sich auf. »Du kommst doch mit, nicht wahr?«
Bevor ich aufstand, wischte ich mir mit dem Arm über Nase und Augen. Ein glänzender Schleimstreifen blieb auf dem Unterarm zurück. »Nein, ich hab alles vergessen, mit dem Gehirn kenne ich mich nicht aus, ich wär dir keine große Hilfe.«
Unbeeindruckt starrte Alfredo mich an, er wußte, daß ich log.
Im Aufzug schweigen wir, starren auf die Leuchtziffern, die uns anzeigen, daß die Stockwerke vorbeirauschen. Ohne ein Wort, ohne uns zu berühren, trennen wir uns. Ich gehe ein paar Schritte und setze mich in den Aufenthaltsraum der Ärzte. Alfredo bereitet sich vor. In Gedanken folge ich seinen Bewegungen, diesem Ritual, das ich so gut kenne. Bis zum Ellbogen gleiten die Arme in das große Metallbecken, die Hände packen den desinfizierten Schwamm aus, in der Nase habe ich den Geruch von Ammonium. Die Schwester reicht ihm Bauchtücher zum Abtrocknen, die Operationsschwester bindet ihm den Kittel zu. Um mich herum herrscht Stille, plötzlich sind alle verstummt. An der offenen Tür geht ein Pfleger vorbei, den ich kenne, unsere Blicke kreuzen sich: rasch schaut er zu Boden, auf seine Gummischuhe. Jetzt steht Ada an der Tür. Ada, die nie geheiratet hat und in einer Erdgeschoßwohnung mit Garten wohnt, wo oft Wäschestücke aus den oberen Etagen landen.
»Wir fangen jetzt an, sind Sie sicher, daß Sie nicht mitkommen wollen?«
»Ja.«
»Brauchen Sie noch etwas?«
»Nein.«
Sie nickt, versucht zu lächeln.
»Hören Sie, Ada«, sage ich.
»Ja, Professore?«
»Wenn es dazu kommt, sorgen Sie dafür, daß alle hinausgehen; und nehmen Sie ihr das Beatmungsgerät ab, bevor Sie mich rufen, schalten Sie alles ab, decken Sie sie zu. Sie wissen schon, sie soll ihre Würde behalten.«
Jetzt hat Alfredo die Schleuse passiert, mit erhobenen Armen betritt er den Operationssaal, der Assistent geht ihm entgegen, um ihm die Handschuhe überzustreifen. Du liegst unter der Operationsleuchte. Für mich kommt nun das Schlimmste: Ich muß deiner Mutter Bescheid sagen. Du weißt ja, daß sie heute morgen nach London geflogen ist, um ein Interview zu machen, mit einem Minister, glaube ich, jedenfalls war sie furchtbar aufgeregt. Kurz vor dir ist sie mit dem Taxi abgefahren. Ich habe euch noch im Badezimmer diskutieren hören. Am Samstag bist du zu spät nach Hause gekommen, um Viertel nach zwölf, ausgemacht war aber um zwölf; wegen dieser Viertelstunde war sie sehr verärgert, bei bestimmten Dingen kennt sie kein Pardon, solche Verstöße kann sie nicht ertragen, die bringen sie völlig aus der Fassung. Eigentlich ist sie eine nette Mutter, trotz ihrer Strenge, für sie ist diese Strenge ein Schutz, aber, das kannst du mir glauben, auch eine Bürde. Ich weiß, daß du nichts Verbotenes tust, du triffst dich mit deinen Freunden vor der Schule. Da steht ihr dann und redet, im Dunkeln, in der Kälte, vor dem großen Wandbild, vor den Graffiti, die Pulloverärmel über die Hände gezogen. Ich habe dich immer gewähren lassen, ich vertraue dir, auch deinen Fehlern. Ich kenne dich so, wie du zu Hause bist, in den wenigen Augenblicken, die wir zusammen verbringen, aber ich weiß nicht, wie du dich bei anderen verhältst. Ich weiß, daß du ein großes Herz hast, dich in großartigen Freundschaften verausgabst. Ich finde das gut, es ist der Funke, der das Leben lebenswert macht. Aber deine Mutter denkt da anders, sie meint, daß du zu wenig lernst, daß du deine Energien verschwendest und deshalb in der Schule Probleme bekommen wirst.
Manchmal geht ihr einen Block zu Fuß, du und deine Freunde, und verschwindet im Pub an der Ecke, einem verbrauchten Loch unter der Erde. Einmal habe ich einen Blick hineingeworfen, durch die Fenster im Souterrain, ich hab gesehen, wie ihr lacht, euch umarmt, die Kippen im Aschenbecher ausdrückt. Da stand ich, ein gutgekleideter Mann von fünfundfünfzig, der nachts spazierenging, und ihr dort unten hinter vergitterten Fenstern, an denen sonst die Hunde schnüffeln, ihr wart so jung, so innig verbunden. Ihr seid wunderschön, Angela, das wollte ich dir sagen. Wunderschön.
© btb Verlag
Übersetzung: Petra Kaiser
Du hast das Stoppschild nicht beachtet. In der Eile bist du einfach weitergefahren, in deiner Jacke aus Webpelz, die Stöpsel des Walkman in die Ohren gepreßt. Bis vor kurzem hat es geregnet, und gleich wird es wieder losgehen. Über den letzten Platanenblättern, über den Antennen war der aschfahle Himmel voller Stare; mit ihrem Gefieder und mit ihrem Krächzen erfüllten sie die Luft, flogen als wogende schwarze Flecken aufeinander zu, ohne sich zu berühren, stoben wieder auseinander, bevor sie sich erneut zu einer Formation zusammenfanden. Unten auf der Straße hielten sich die Passanten eine Zeitung oder nur die Hände über den Kopf, um sich vor dem niederhagelnden Vogelmist zu schützen, der sich auf dem Asphalt mit dem aufgeweichten Laub vermengte und einen beklemmend süßlichen Duft verströmte, dem jeder möglichst schnell zu entkommen suchte.
Wie im Flug kamst du die Allee herauf und fuhrst auf die Kreuzung zu. Fast hattest du es geschafft, fast hatte der Mann im Auto es geschafft, dir auszuweichen. Aber der Boden war glitschig vom Mist der sich sammelnden Vögel. Auf dem schmierigen Belag kam der Wagen ins Rutschen, wenig nur, aber doch genug, um deinen Motorroller zu streifen. Du wurdest hochgeschleudert zu den Staren und fielst dann hinunter in ihren Kot, und mit dir dein Rucksack mit den Aufklebern. Zwei deiner Hefte landeten im Rinnstein in einer schwarzen Pfütze. Der Sturzhelm ditschte über die Straße wie ein ausgehöhlter Schädel, du hattest ihn nicht festgeschnallt. Augenblicklich näherten sich die Schritte eines Passanten. Deine Augen waren offen, der Mund blutverschmiert, es fehlten die Schneidezähne. Auf den Wangen waren lauter schwarze Punkte wie bei einem schlecht rasierten Mann: Teerkörner waren in die Haut gedrungen. Die Musik unterbrochen, die Stöpsel des Walkman waren in die Haare gerutscht. Der Autofahrer riß die Wagentür auf und ging auf dich zu; als er die klaffende Stirnwunde sah, kramte er in seinen Taschen nach dem Handy, doch als er es endlich gefunden hatte, fiel es ihm aus der Hand. Ein junger Mann hob es auf, und er hat dann den Krankenwagen gerufen. Inzwischen war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Das Auto stand quer auf den Schienen, und die Straßenbahn konnte nicht vorbei. Der Fahrer war ausgestiegen, viele stiegen aus und gingen auf dich zu. Leute, die du noch nie gesehen hattest, streiften dich mit ihren Blicken. Ein leises Stöhnen kam über deine Lippen, zusammen mit einem rötlichen Schaumklümpchen, als du das Bewußtsein verlorst. Es war viel Verkehr, der Krankenwagen ließ auf sich warten. Doch nun hattest du es nicht mehr eilig. Du lagst still da in deiner Webpelzjacke, wie ein Vogel ohne Aufwind.
Dann haben sie es doch geschafft, sich mit heulenden Sirenen einen Weg durch den Verkehr zu bahnen. Die Autos fuhren zur Seite, dicht an die Leitplanken, oder sie wichen auf die Bürgersteige am Flußufer aus, während die Infusionsflasche über deinem Kopf hin und her tanzte und eine Hand den blauen Ball drückte und wieder losließ, aus und ein, um dir Luft in die Lungen zu pumpen. In der Notaufnahme drückte die diensthabende Ärztin mit dem Finger auf den Schmerzpunkt zwischen Kiefer und Zungenbein. Dein Körper reagierte nur schwach. Sie nahm Verbandsstoff und wischte das Blut ab, das von deiner Stirn lief. Sie schaute in die Pupillen, sie waren starr und unterschiedlich groß. Der Atem war verlangsamt. Mit einem Guedeltubus brachte sie die Zunge, die nach hinten gerutscht war, in die richtige Position. Dann wurde die Absaugsonde eingeführt. Blut, Teer, Schleim wurden abgesaugt, dazu ein Zahn. Sie brachten den Fingerclip an, um die Sauerstoffanreicherung im Blut zu messen, der Sauerstoffgehalt des Hämoglobins war zu niedrig: fünfundachtzig Prozent. Also haben sie intubiert. Der Stab des Laryngoskops mit seinem eisigen Licht glitt in deinen Mund. Ein Pfleger kam mit dem Überwachungsmonitor für EKG und Kreislauf herein, er steckte den Stecker in die Steckdose, doch das Gerät funktionierte nicht. Er klopfte dagegen, ein leichter Schlag auf die Seite, und der Monitor leuchtete auf. Sie schoben dein T-Shirt hoch, befestigten die Saugnäpfe der Elektroden auf der Brust. Du mußtest ein wenig warten, denn der CT-Raum war nicht frei, dann haben sie dich in die Röntgenröhre geschoben. Das Trauma saß im Schläfenlappen. Die Ärztin hinter der Scheibe bat den Radiologen um mehr Schichten. Tiefe und Ausdehnung des Hämatoms waren zu sehen. Der Contrecoup, wenn es einen gab, war noch nicht sichtbar. Trotzdem verzichteten sie darauf, ein Kontrastmittel zu spritzen, weil sie Komplikationen in der Niere fürchteten. Sie riefen sofort im dritten Stock an, damit der Operationssaal vorbereitet wurde. Die Ärztin fragte: »Wer hat in der Neurochirurgie Dienst?«
Dann haben sie dich auf die Operation vorbereitet. Mit einer Schere schnitt die Schwester deine Kleider auf und zog dich langsam aus. Sie wußten nicht, wie sie die Angehörigen verständigen sollten. Sie hofften, einen Ausweis zu finden, aber du hattest keinen bei dir. Im Rucksack fanden sie nur dein Tagebuch. Die Ärztin las den Vornamen, dann den Familiennamen. Lange starrte sie auf den Familiennamen, kehrte erst dann zum Vornamen zurück. Eine Hitzewelle brachte ihr Gesicht zum Glühen, ihr stockte der Atem, und sie rang nach Luft, als hätte sie sich an einem großen Bissen verschluckt. Plötzlich hatte sie ihre blutige Aufgabe vergessen, nun sah sie dich an, wie man eine junge Frau ansieht. Forschend glitt ihr Blick über deine aufgedunsenen Gesichtszüge, in der Hoffnung, den schrecklichen Gedanken verscheuchen zu können. Aber du siehst mir ähnlich, und Ada konnte nicht umhin, diese Ähnlichkeit zu erkennen. Eine Schwester rasierte dir den Kopf, deine Haare fielen zu Boden. Besorgt griff Ada nach den herunterfallenden braunen Locken. »Vorsichtig, sei vorsichtig«, murmelte sie.
Dann lief sie zur Intensivstation, zum diensthabenden Neurochirurgen. »Die junge Frau, die gerade eingeliefert wurde«
»Du hast keinen Mundschutz, gehen wir raus.«
Sie verließen den aseptischen Ort, zu dem Verwandte keinen Zutritt haben, und gingen gemeinsam in den Raum, wo die Schwester dich für die Operation vorbereitete. Der Neurochirurg prüfte EKG-und Blutdruckkurven auf dem Monitor. »Sie ist hypoton«, sagte er, »könnt ihr Verletzungen im Brust- und Bauchraum ausschließen?« Dann hat er dich angesehen, flüchtig. Mit einer raschen Handbewegung schob er die Lider auseinander.
»Nun?« fragte Ada.
»Ist der Operationssaal fertig?«, fragte er die Schwester.
»Sie sind noch dabei.«
Ada ließ nicht locker. »Findest du nicht, daß sie ihm ähnlich sieht?«
Der Neurochirurg drehte sich um und hielt die CT-Aufnahmen gegen das Tageslicht, das vom Fenster einfiel: »Das Hämatom erstreckt sich zwischen Hirn und Dura mater «
Beschwörend legte Ada die Hände zusammen und hob die Stimme: »Sie sieht ihm ähnlich, nicht wahr?«
»Es könnte auch subdural sein.«
Draußen regnete es. Fröstelnd verschränkte Ada die Arme, als sie in ihrem kurzärmligen Kittel nach draußen mußte, lautlos ging sie in ihren grünen Gummiclogs den gepflasterten Verbindungsweg von der Notaufnahme zum Pavillon der Allgemeinmedizin entlang. Sie nahm nicht den Aufzug, um zur Chirurgie zu kommen, sie lief zu Fuß die Treppe hinauf. Sie mußte sich bewegen, einfach irgend etwas tun. Ich kenne Ada seit fünfundzwanzig Jahren. Vor meiner Heirat hatte ich ihr kurze Zeit den Hof gemacht, dabei aber stets zwischen Spiel und Ernst geschwankt. Sie riß die Tür weit auf. Im Aufenthaltsraum der Ärzte räumte ein Pfleger gerade die Kaffeetassen ab. Rasch nahm Ada Haube und Mundschutz aus einem Behälter, streifte sie über und kam dann herein.
Wahrscheinlich stand sie schon eine ganze Weile neben mir, doch erst als ich mich umdrehte, um der Operationsschwester die Klemmen zu geben, bemerkte ich sie. Verwundert fragte ich mich, was sie hier wollte, schließlich arbeitete sie auf der Intensivstation, und wir trafen uns nur selten, höchstens mal in der Cafeteria im Untergeschoß. Ich beachtete sie kaum, nicht einmal ein Kopfnicken zur Begrüßung, ich löste die nächste Klemme und gab sie an die Schwester weiter. Ada wartete, bis ich meine Hände aus dem Operationsfeld zurückzog. »Professore, Sie müssen kommen«, flüsterte sie nur. Die Schwester schob eine Nadel aus der sterilen Verpackung; als ich mich zu Ada umdrehte, hörte ich, wie die Kunststoffhülle aufgerissen wurde. Bisher hatte ich Ada überhaupt nicht beachtet, obwohl sie direkt neben mir stand. Zwei ungeschminkte, unruhig glitzernde Frauenaugen sahen mich an. Bevor sie zur Intensivstation wechselte, war Ada eine der besten Anästhesistinnen der Klinik, unzählige Male hatte sie bei meinen Patienten die Narkose durchgeführt. Ich habe oft erlebt, daß sie selbst in schwierigen Augenblicken die Ruhe bewahrte; ich schätzte sie ungemein, denn ich wußte, wie schwer es für sie war, alles Persönliche unter dem grünen Kittel zu verbergen.
»Wenn ich fertig bin«, sagte ich zu ihr.
»Nein, es ist dringend, Professore, bitte.«
Ihre Stimme klang entschieden, hatte eine merkwürdige Autorität. Ich glaube, ich dachte an nichts, aber plötzlich waren meine Hände schwer wie Blei. Die Schwester reichte mir den Nadelhalter. Noch nie hatte ich den OP verlassen, bevor eine Operation beendet war. Ich griff nach der Nadel und merkte, daß der Impuls verspätet kam. Meine Aufgabe war jetzt, die Hautlappen zusammenzunähen. Ich trat einen Schritt zurück und stieß mit jemandem zusammen, der hinter mir stand. »Mach du weiter«, sagte ich zu meinem Assistenten. Die Schwester reichte ihm den Nadelhalter. Ich hörte, wie das Metall auf den Handschuh klatschte, ein dumpfes Geräusch, das sich in meinen Ohren sehr laut anhörte, wie aus einem Verstärker. Alle Anwesenden warfen Ada aufmerksame Blicke zu.
Lautlos fiel die Tür zum Operationssaal zu, und wir standen uns im Vorraum der Anästhesie gegenüber.
»Nun?«
Adas Brust hob und senkte sich unter dem Kittel, über ihre nackten Unterarme lief eine Gänsehaut. »Bei uns unten ist ein Mädchen, Professore, mit einem Hirnschädeltrauma«
Ohne es zu merken, hatte ich die Handschuhe abgestreift. »Und weiter?«
»Ich habe ihr Tagebuch gefunden da steht Ihr Familienname drauf, Professore.«
Ich riß ihr den Mundschutz vom Gesicht.
In ihrer Stimme war kein Kampfgeist mehr, der Mut war verflogen. Nur eine ruhige, atemlose Bitte um Hilfe: »Wie heißt Ihre Tochter?«
Ich glaube, ich beugte mich vor, um sie genauer anzusehen, um in den Tiefen ihrer Augen einen Namen zu finden, bloß nicht deinen.
»Angela«, flüsterte ich und sah, wie diese Augen sich weiteten.
Dann rannte ich die Treppe hinunter, draußen durch den Regen, rannte einfach weiter, als ein heranschießender Krankenwagen zwei Schritte vor meinen Beinen bremste, rannte durch die Schwingtür der Aufnahme, durch den Aufenthaltsraum der Schwestern, rannte durch einen Raum, wo irgend jemand mit einem Knochenbruch schrie, rannte in das leere, unaufgeräumte Zimmer daneben. Dort blieb ich stehen. Auf dem Boden lagen deine Haare. Deine welligen braunen Haare, auf einem Haufen mit blutigem Verbandsstoff.
Ein Augenblick nur, und ich zerfalle zu Staub. Ich schleppe mich zur Intensivstation, den Gang entlang, bis zur Glaswand. Da liegst du, rasiert, intubiert, helle Pflaster rund um das geschwollene schwärzliche Gesicht. Du bist es. Ich gehe durch die Glastür und bin bei dir. Plötzlich bin ich ein Vater wie jeder andere, ein armer, schmerzzerrütteter Vater, mit ausgetrocknetem Mund und von kaltem Schweiß verklebten Haaren. Das kann ich nicht verkraften, es ist zuviel, es bleibt in einem vagen Entsetzen hängen. Ich bin wie betäubt, wie in einer Schmerzembolie. Ich schließe die Augen, ich will diesen Schmerz nicht. Du bist nicht hier, du bist in der Schule. Wenn ich die Augen aufmache, werde ich nicht dich vor mir haben, sondern eine andere, irgendeine, die es zufällig getroffen hat. Bloß dich nicht, Angela. Ich reiße die Augen auf, und du bist es tatsächlich, eine, die es zufällig getroffen hat.
Auf dem Boden steht ein Behälter mit der Aufschrift: Gefährliche Abfälle, ich nehme den Menschen, der ich bin, und werfe ihn hinein. Das muß ich tun, es ist meine Pflicht, das einzige, was mir noch bleibt. Ich darf dich nicht als Teil von mir betrachten. Eine Elektrode ist verrutscht, klebt ungeschickt an deiner Brustwarze, ich nehme sie ab und bringe sie dezenter an. Ich schaue auf den Monitor: vierundfünfzig Schläge. Jetzt weniger: zweiundfünfzig. Ich hebe deine Lider, die Pupillen sind anisokor, die rechte ist stark geweitet, in dieser Hirnhälfte ist die Verletzung. Du mußt sofort operiert werden, damit das Gehirn atmen kann, diese Masse, die durch das Hämatom verschoben wurde, jetzt gegen die harte Schädeldecke drückt, die Zentren lahmlegt, die den gesamten Körper versorgen, und dir mit jedem Augenblick, der vergeht, etwas von deiner Persönlichkeit raubt.
Ich drehe mich zu Ada um: »Hat sie Cortison bekommen?«
»Ja, Professore, und einen Magenschutz.«
»Hat sie noch andere Verletzungen?«
»Verdacht auf Milzriß.«
»Hämoglobin?«
»Zwölf.«
»Wer hat in der Neurochirurgie Dienst?«
»Ich, ich habe Dienst. Tag, Timoteo.«
Alfredo legt mir die Hand auf die Schulter, sein Kittel ist offen, Hände und Gesicht sind naß. »Ada hat mich angerufen, ich hatte die Klinik gerade erst verlassen.«
Alfredo ist der Beste in seiner Abteilung, wird aber von keinem so recht geschätzt, er ist oft unsicher, verschlossen, seine Vorzüge fallen nicht auf; er steht im Schatten des Oberarztes, wenn der ihn beobachtet, sackt er in sich zusammen. Vor Jahren habe ich ihm einige Ratschläge gegeben, aber er hat nicht auf mich gehört, sein Charakter kann mit seiner Begabung nicht Schritt halten. Er lebt von seiner Frau getrennt, und ich weiß, daß er einen Sohn hat, ungefähr in deinem Alter. Er hatte keine Bereitschaft, er hätte sich entziehen können, kein Chirurg operiert gern die Angehörigen eines Kollegen. Aber er, er hat sich in ein Taxi geworfen, ist mitten im dicksten Verkehr ausgestiegen und das letzte Stück im strömenden Regen zu Fuß gegangen, um schneller hier zu sein. Ich weiß nicht, ob ich das auch getan hätte.
»Ist oben alles fertig?« fragt Alfredo.
»Ja«, antwortet die Schwester.
»Dann gehen wir sofort nach oben.«
Ada koppelt dich vom Beatmungsgerät ab und schließt dich für den Transport an den Ambu-Beutel an. Als sie dich in den Aufzug schieben, sehe ich, daß ein Arm runterhängt, Ada beugt sich zu dir und legt ihn an deine Seite.
Ich bleibe mit Alfredo zurück, wir setzen uns in den Raum neben der Intensivstation. Alfredo schaltet den Leuchtkasten ein, schiebt deine CT-Aufnahmen ein und betrachtet sie von nahem. An einer Stelle hält er inne, runzelt die Stirn, sieht angestrengt hin. Ich weiß, wie es ist, wenn man auf einer Röntgenaufnahme nach einer Spur sucht, nach einem Hinweis, der einem weiterhelfen könnte.
»Sieh mal«, sagt er, »das hier ist das Haupthämatom, direkt über der Dura mater, es ist gut zugänglich. Ich muß zuerst feststellen, wie stark das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde, das kann ich nicht abschätzen. Hier ist noch eine Stelle, weiter innen, ich weiß nicht, vielleicht ist das ein Bluterguß durch Contrecoup.«
In dem fahlen Licht, gefiltert durch dein Gehirn, sehen wir uns an. Wir wissen, daß es keinen Sinn hat, uns etwas vorzumachen.
»Es könnten Komplikationen auftreten, vielleicht liegt schon Ischämie vor«, flüstere ich.
»Ich muß erst mal aufmachen, dann sehen wir weiter.«
»Sie ist fünfzehn.«
»Gut, dann ist das Herz stark.«
»Sie ist nicht stark, sie ist klein.«
Ich ging in die Knie, ich weinte hemmungslos, vergrub das Gesicht in den Händen: »Sie wird sterben, nicht wahr? Wir wissen es beide, ihr Kopf ist überwässert.«
»Wir wissen gar nichts, Timoteo.«
Er beugte sich zu mir, packte mich an den Armen und schüttelte mich, als müsse er sich selbst aufrütteln: »Jetzt machen wir erst mal auf. Ich sauge das Hämatom ab, beatme das Gehirn, und wir sehen, was passiert.«
Er richtete sich auf. »Du kommst doch mit, nicht wahr?«
Bevor ich aufstand, wischte ich mir mit dem Arm über Nase und Augen. Ein glänzender Schleimstreifen blieb auf dem Unterarm zurück. »Nein, ich hab alles vergessen, mit dem Gehirn kenne ich mich nicht aus, ich wär dir keine große Hilfe.«
Unbeeindruckt starrte Alfredo mich an, er wußte, daß ich log.
Im Aufzug schweigen wir, starren auf die Leuchtziffern, die uns anzeigen, daß die Stockwerke vorbeirauschen. Ohne ein Wort, ohne uns zu berühren, trennen wir uns. Ich gehe ein paar Schritte und setze mich in den Aufenthaltsraum der Ärzte. Alfredo bereitet sich vor. In Gedanken folge ich seinen Bewegungen, diesem Ritual, das ich so gut kenne. Bis zum Ellbogen gleiten die Arme in das große Metallbecken, die Hände packen den desinfizierten Schwamm aus, in der Nase habe ich den Geruch von Ammonium. Die Schwester reicht ihm Bauchtücher zum Abtrocknen, die Operationsschwester bindet ihm den Kittel zu. Um mich herum herrscht Stille, plötzlich sind alle verstummt. An der offenen Tür geht ein Pfleger vorbei, den ich kenne, unsere Blicke kreuzen sich: rasch schaut er zu Boden, auf seine Gummischuhe. Jetzt steht Ada an der Tür. Ada, die nie geheiratet hat und in einer Erdgeschoßwohnung mit Garten wohnt, wo oft Wäschestücke aus den oberen Etagen landen.
»Wir fangen jetzt an, sind Sie sicher, daß Sie nicht mitkommen wollen?«
»Ja.«
»Brauchen Sie noch etwas?«
»Nein.«
Sie nickt, versucht zu lächeln.
»Hören Sie, Ada«, sage ich.
»Ja, Professore?«
»Wenn es dazu kommt, sorgen Sie dafür, daß alle hinausgehen; und nehmen Sie ihr das Beatmungsgerät ab, bevor Sie mich rufen, schalten Sie alles ab, decken Sie sie zu. Sie wissen schon, sie soll ihre Würde behalten.«
Jetzt hat Alfredo die Schleuse passiert, mit erhobenen Armen betritt er den Operationssaal, der Assistent geht ihm entgegen, um ihm die Handschuhe überzustreifen. Du liegst unter der Operationsleuchte. Für mich kommt nun das Schlimmste: Ich muß deiner Mutter Bescheid sagen. Du weißt ja, daß sie heute morgen nach London geflogen ist, um ein Interview zu machen, mit einem Minister, glaube ich, jedenfalls war sie furchtbar aufgeregt. Kurz vor dir ist sie mit dem Taxi abgefahren. Ich habe euch noch im Badezimmer diskutieren hören. Am Samstag bist du zu spät nach Hause gekommen, um Viertel nach zwölf, ausgemacht war aber um zwölf; wegen dieser Viertelstunde war sie sehr verärgert, bei bestimmten Dingen kennt sie kein Pardon, solche Verstöße kann sie nicht ertragen, die bringen sie völlig aus der Fassung. Eigentlich ist sie eine nette Mutter, trotz ihrer Strenge, für sie ist diese Strenge ein Schutz, aber, das kannst du mir glauben, auch eine Bürde. Ich weiß, daß du nichts Verbotenes tust, du triffst dich mit deinen Freunden vor der Schule. Da steht ihr dann und redet, im Dunkeln, in der Kälte, vor dem großen Wandbild, vor den Graffiti, die Pulloverärmel über die Hände gezogen. Ich habe dich immer gewähren lassen, ich vertraue dir, auch deinen Fehlern. Ich kenne dich so, wie du zu Hause bist, in den wenigen Augenblicken, die wir zusammen verbringen, aber ich weiß nicht, wie du dich bei anderen verhältst. Ich weiß, daß du ein großes Herz hast, dich in großartigen Freundschaften verausgabst. Ich finde das gut, es ist der Funke, der das Leben lebenswert macht. Aber deine Mutter denkt da anders, sie meint, daß du zu wenig lernst, daß du deine Energien verschwendest und deshalb in der Schule Probleme bekommen wirst.
Manchmal geht ihr einen Block zu Fuß, du und deine Freunde, und verschwindet im Pub an der Ecke, einem verbrauchten Loch unter der Erde. Einmal habe ich einen Blick hineingeworfen, durch die Fenster im Souterrain, ich hab gesehen, wie ihr lacht, euch umarmt, die Kippen im Aschenbecher ausdrückt. Da stand ich, ein gutgekleideter Mann von fünfundfünfzig, der nachts spazierenging, und ihr dort unten hinter vergitterten Fenstern, an denen sonst die Hunde schnüffeln, ihr wart so jung, so innig verbunden. Ihr seid wunderschön, Angela, das wollte ich dir sagen. Wunderschön.
© btb Verlag
Übersetzung: Petra Kaiser
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Autoren-Porträt von Margaret Mazzantini
Mazzantini, MargaretMargaret Mazzantini wurde 1961 in Dublin als Tochter eines italienischen Vaters und einer irischen Mutter geboren. Ihre Karriere begann sie als Theaterschauspielerin. Ihre Romane 'Die Zinkwanne' und 'Geh nicht fort' (DuMont 2010) wurden zu internationalen Bestsellern. Allein 'Geh nicht fort' wurde in Italien über 1,5 Millionen Mal verkauft, in 32 Sprachen übersetzt und 2004 mit Penélope Cruz verfilmt. 'Das schönste Wort der Welt' wurde mit dem Premio Campiello 2009 ausgezeichnet. Margaret Mazzan
Kaiser, Petra
Übersetzerin Margaret Mazzantini (TB Geh nicht fort)
Bibliographische Angaben
- Autor: Margaret Mazzantini
- 2018, 4. Aufl., 318 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Kaiser, Petra
- Übersetzer: Petra Kaiser
- Verlag: DuMont Buchverlag
- ISBN-10: 3832161309
- ISBN-13: 9783832161309
Rezension zu „Geh nicht fort “
"Das vielschichtige Porträt eines Mannes, der zu spät zu sich selbst findet." Elle
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