Freiheit
Roman
Die Vorzeigeeltern Patty und Walter geben ihren Nachbarn in St. Paul plötzlich Rätsel auf: Ihr Sohn zieht zur Proleten-Familie von nebenan. Der Umweltschützer Walter schliesst einen zweifelhaften Pakt mit der Kohleindustrie, Ehefrau Patty verabschiedet sich...
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Produktinformationen zu „Freiheit “
Die Vorzeigeeltern Patty und Walter geben ihren Nachbarn in St. Paul plötzlich Rätsel auf: Ihr Sohn zieht zur Proleten-Familie von nebenan. Der Umweltschützer Walter schliesst einen zweifelhaften Pakt mit der Kohleindustrie, Ehefrau Patty verabschiedet sich vom Hausfrauendasein. Und was hat Richard
Katz, ehemaliger bester Freund und alternder Rockmusiker, mit all dem zu tun? Ein scharfsinniges Gesellschaftsportrait.
Katz, ehemaliger bester Freund und alternder Rockmusiker, mit all dem zu tun? Ein scharfsinniges Gesellschaftsportrait.
Klappentext zu „Freiheit “
Patty und Walter Berglund - Vorzeigeeltern und Umweltpioniere - geben ihren Nachbarn plötzlich Rätsel auf: Ihr halbwüchsiger Sohn zieht zur proletenhaften Familie nebenan, Walter lässt sich zum Schutz einer raren Vogelart auf einen zwielichtigen Pakt mit der Kohleindustrie ein, und Patty, Exsportlerin und Eins-a-Hausfrau, entpuppt sich als wahrlich sonderbar. Hat Walters bester Freund, der Rockmusiker Richard, damit zu tun? Auf einmal führt Patty ein Leben ohne Selbstbetrug - und ohne Rücksicht auf Verluste.
In diesem grossen Roman einer Familie erzählt Jonathan Franzen von Freiheit - dem Lebensnerv der westlichen Kulturen - und auch von deren Gegenteil.
Lese-Probe zu „Freiheit “
Freiheit von Jonathan Franzen ... mehr
Die Meldungen über Walter Berglund wurden von der Lokalpresse nicht aufgegriffen - er und Patty waren zwei Jahre zuvor nach Washington gezogen und hatten für St. Paul inzwischen keinerlei Bedeutung mehr -, aber die Bürger des aufstrebenden Viertels Ramsey Hill waren ihrer Stadt gegenüber nicht loyal genug, um nicht die New York Times zu lesen. Einem langen und wenig schmeichelhaften Artikel in der Times zufolge hatte Walter sein Berufsleben dort in der Hauptstadt ziemlich verpfuscht. Seine früheren Nachbarn hatten einige Mühe, die Eigenschaften, die ihm die Times zuschrieb («arrogant», «selbstherrlich», «moralisch korrumpiert»), mit dem großherzigen, freundlichen, rotgesichtigen 3M-Angestellten in Einklang zu bringen, den sie noch auf der Summit Avenue bei Februarschnee in die Pedale seines Pendlerfahrrads treten sahen; es schien merkwürdig, dass Walter, der doch grüner war als Greenpeace und selbst vom Land kam, nun in Schwierigkeiten stecken sollte, weil er gemeinsame Sache mit der Kohleindustrie gemacht und Landbewohner schlecht behandelt hatte. Andererseits, irgendetwas hatte mit den Berglunds ja schon immer nicht ganz gestimmt.
Walter und Patty waren die jungen Pioniere von Ramsey Hill gewesen - die ersten College-Absolventen, die sich ein Haus an der Barrier Street kauften, nachdem der alte Stadtkern von St. Paul drei Jahrzehnte zuvor auf den Hund gekommen war. Sie zahlten so gut wie nichts für die viktorianische Villa und schufteten sich dann zehn Jahre lang tot, um sie zu renovieren. Gleich am Anfang steckte irgendein sehr zielstrebiger Mensch ihre Garage in Brand und brach zweimal ihren Wagen auf, bevor sie es geschafft hatten, die Garage wieder aufzubauen. Das freie Grundstück gegenüber wurde regelmäßig von sonnenverbrannten Bikern heimgesucht, die dort Schlitz tranken, Knackwurst grillten und in den frühen Morgenstunden die Motoren aufheulen ließen, bis Patty im Jogginganzug vor die Tür trat und sagte: «Also ehrlich, Leute, wisst ihr was?» Patty machte niemandem Angst, aber sie war in der Highschool und auf dem College eine Ausnahmeathletin gewesen und so unerschrocken, wie es nur Sportler sind. Sie konnte gar nichts dagegen tun, dass sie in der Nachbarschaft vom ersten Tag an auffiel. Wenn diese große, aberwitzig junge Frau mit dem Pferdeschwanz ihren Buggy an Autowracks, zerbrochenen Bierflaschen und bekotztem Altschnee vorbeischob, hätte man meinen mögen, sie trüge jede einzelne Stunde ihres Tages in den am Buggy hängenden Einkaufsnetzen mit sich herum. Hinter ihr sah man die von Kleinkindern behinderten Vorbereitungen für einen Vormittag von Kleinkindern behinderter Besorgungen liegen; vor ihr einen Nachmittag mit öffentlichem Rundfunk, Silver Palate-Vollwertkochbuch, Stoffwindeln, Gipsmischung und Latexfarbe; dann Goodnight Moon und schließlich Zinfandel. Sie war schon ganz das, was sich für den Rest der Straße gerade erst anzubahnen begann.
In den allerersten Jahren, als man noch ohne schlechtes Gewissen einen Volvo 240 fahren konnte, bestand die kollektive Aufgabe in Ramsey Hill im Erlernen gewisser Lebenstechniken, die zu verlernen für die eigenen Eltern Grund genug gewesen war, in die Vororte zu fliehen: etwa wie man die örtliche Polizei dafür interessierte, tatsächlich ihre Arbeit zu tun, wie man sein Fahrrad vor einem hochmotivierten Dieb schützte, wann der Zeitpunkt gekommen war, einen Betrunkenen von den Terrassenmöbeln zu vertreiben, wie man Wildkatzen dazu brachte, ihre Haufen in den Sandkasten anderer Leute Kinder zu setzen, und woran man feststellte, ob eine staatliche Schule so schlecht war, dass es gar nicht erst den Versuch lohnte, sich für sie zu engagieren. Es gab auch aktuellere Fragen, etwa die, was von Stoffwindeln zu halten war. Der Mühe wert? Und stimmte es, dass man Milch immer noch in Glasflaschen geliefert bekommen konnte? Waren die Pfadfinder politisch akzeptabel? Gehörte Bulgur wirklich auf die Speisekarte? Wohin mit alten Batterien? Was tun, wenn eine mittellose Frau anderer ethnischer Herkunft einen beschuldigte, man mache ihr Wohnviertel kaputt? War es wahr, dass die Glasur von altem Fiesta-Porzellan gefährliche Mengen Blei enthielt? Wie raffiniert musste ein Küchenwasserfilter eigentlich sein? Wechselten auch andere 240er manchmal nicht in den fünften Gang, obwohl man den Overdrive-Schalter betätigt hatte? Sollte man Bettlern Essen geben oder besser gar nichts? War es möglich, beispiellos selbstbewusste, glückliche, hochintelligente Kinder großzuziehen, wenn man ganztags arbeitete? Durfte man die Bohnen für den Morgenkaffee schon am Abend vorher mahlen, oder musste das unmittelbar vor dem Frühstück geschehen? Hatte in der Geschichte St. Pauls schon mal irgendjemand gute Erfahrungen mit einem Dachdecker gemacht? Wie sah es mit einem sachkundigen Volvo-Mechaniker aus? Hatten auch andere 240er das Problem mit dem klemmenden Handbremsseil? Und dieser rätselhaft gekennzeichnete Schalter am Armaturenbrett, der so ein wohliges schwedisches Klicken erzeugte, aber mit nichts verbunden zu sein schien: Wozu diente der?
Patty Berglund war für alle Fragen ein reicher Quell, ein sonniger Überträger von soziokulturellem Pollen, eine freundliche Biene. Sie war eine der wenigen nicht-berufstätigen Mütter in Ramsey Hill und notorisch abgeneigt, gut von sich selbst oder schlecht von anderen zu sprechen. Sie sagte, sie gehe davon aus, eines Tages von einem der Schiebefenster «geköpft» zu werden, deren Gewichtsschnüre sie selber ausgewechselt habe. Ihre Kinder würden «wahrscheinlich» an Trichinose sterben, weil sie Schweinefleisch nicht immer lange genug brate. Sie fragte sich, ob ihre «Abhängigkeit» von Abbeizmitteldämpfen wohl damit in Zusammenhang stehe, dass sie «überhaupt keine» Bücher mehr lese. Sie gestand, seit dem, was beim «letzten Mal» passiert sei, habe Walter ihr «strikt verboten», seine Blumen zu düngen. Es gab Leute, bei denen diese Art der Selbstherabsetzung nicht gut ankam - die etwas Gönnerhaftes darin sahen, als versuchte Patty die Gefühle weniger vollkommener Hausfrauen allzu offensichtlich zu schonen, indem sie ihre eigenen kleinen Unzulänglichkeiten überzeichnete. Die meisten aber hielten ihre Bescheidenheit für echt oder fanden sie zumindest amüsant, und ohnehin war es schwierig, einer Frau zu widerstehen, die von allen Kindern so sehr gemocht wurde und sich nicht nur deren Geburtstage, sondern auch die der Erwachsenen merkte und mit einem Teller Kekse, einer Glückwunschkarte oder ein paar Maiglöckchen an der Terrassentür erschien, nicht ohne zu beteuern, die kleine Vase aus dem Gebrauchtwarenladen, in der die Maiglöckchen steckten, brauche man ihr nicht zurückzugeben.
Jeder wusste, dass Patty an der Ostküste, in einem Vorort von New York, aufgewachsen war und eines der ersten Vollstipendien für Frauen bekommen hatte, um an der University of Minnesota Basketball zu spielen, wo sie es, das ging aus einer Urkundentafel an der Wand von Walters Arbeitszimmer hervor, in ihrem zweiten Studienjahr in das virtuelle Team der zweitbesten Spielerinnen ganz Amerikas geschafft hatte. Merkwürdigerweise hatte Patty, der Familienmensch, keinerlei erkennbare Verbindung zu ihren Wurzeln. Ganze Jahreszeiten verstrichen, ohne dass sie einen Fuß aus St. Paul herausgesetzt hätte, und Besuch von der Ostküste schien sie auch noch nie empfangen zu haben, nicht einmal von ihren Eltern. Wenn man sie geradeheraus nach den Eltern fragte, antwortete sie, die beiden täten sehr vielen Menschen sehr viel Gutes, ihr Vater habe eine Anwaltskanzlei in White Plains, und ihre Mutter sei Politikerin, genau, Abgeordnete in der Parlamentskammer des Staates New York. Dann nickte sie mit großem Nachdruck und sagte: «Ja, genau, so ist das», als wäre das Thema damit erschöpft.
Man konnte sich einen Jux aus dem Versuch machen, Patty dazu zu bewegen, dass sie einem beipflichtete, wenn man jemandes Benehmen als «schlecht» bezeichnete. Als sie hörte, dass Seth und Merrie Paulsen eine große Halloween-Party für ihre Zwillinge gaben und ganz bewusst alle Kinder aus der Nachbarschaft außer Connie Monaghan dazu eingeladen hatten, sagte sie nur, das sei ja «seltsam». Die Paulsens, die sie kurze Zeit später auf der Straße traf, erklärten ihr, sie hätten den ganzen Sommer lang vergeblich versucht, Connie Monaghans Mutter Carol davon abzubringen, Zigarettenkippen aus ihrem Schlafzimmerfenster in das kleine Planschbecken der Zwillinge zu schnippen. «Wirklich seltsam», sagte Patty kopfschüttelnd, «aber dafür kann Connie doch nichts.» Die Paulsens allerdings waren nicht bereit, sich mit «seltsam» zufriedenzugeben. Sie wollten soziopathisch, sie wollten passiv-aggressiv, sie wollten schlecht. Es war unabdingbar für sie, dass Patty wenigstens eines dieser Attribute wählte und es in Übereinstimmung mit ihnen auf Carol Monaghan anwendete, aber Patty war außerstande, über «seltsam» hinauszugehen, und so blieben die Paulsens ihrerseits bei ihrer Weigerung, Connie auf die Einladungsliste zu setzen. Immerhin ärgerte sich Patty über diese Ungerechtigkeit so sehr, dass sie mit ihren Kindern plus Connie und einer Schulfreundin am Nachmittag der Party auf einer Kürbisfarm eine Heuwagenspukfahrt machte, aber im Beisein anderer sagte sie über die Paulsens schlimmstenfalls, eine solche Gemeinheit gegenüber einer Siebenjährigen sei doch seltsam.
Carol Monaghan war die einzige andere Mutter in der Barrier Street, die schon genauso lange dort wohnte wie Patty. Als ehemalige Sekretärin eines hohen Beamten im Hennepin County war sie, wenn man so will, mittels eines Protektions-Austauschprogramms in Ramsey Hill gelandet, nachdem besagter Beamte sie geschwängert hatte. Die Mutter seines unehelichen Kindes auf der Gehaltsliste des eigenen Büros stehen zu lassen: Spätestens gegen Ende der siebziger Jahre gab es in der Twin-Cities-Region nicht mehr allzu viele Gerichtsstände, in denen sich das mit kluger Politik vereinbaren ließ. Carol wurde zu einer der unkonzentrierten, Pausen machenden Angestellten der Stadtverwaltung, und im Gegenzug bekam jemand aus St. Paul, der ähnlich gute Beziehungen unterhielt, eine Stelle auf der anderen Seite des Flusses. Das Haus zur Miete in der Barrier Street, gleich neben den Berglunds, war vermutlich Teil der Abmachung gewesen; sonst war schwer zu verstehen, warum Carol eingewilligt haben sollte, in einer Gegend zu wohnen, die damals praktisch noch ein Elendsviertel war. Im Sommer fuhr einmal die Woche bei Abenddämmerung, in einem Allradfahrzeug ohne Kennzeichen, ein vor sich hin stierender Jugendlicher in der Montur des städtischen Grünanlagenamts bei ihr vor und schob einen Rasenmäher durch ihren Garten, und im Winter sah man denselben Jugendlichen mit einer Schneefräse vor ihrem Haus den Gehweg räumen.
Gegen Ende der achtziger Jahre war Carol die Einzige im ganzen Viertel, die zu dessen Verbürgerlichung nichts beitrug. Sie rauchte Parliaments, bleichte sich die Haare, machte aus ihren Nägeln grelle Krallen, gab ihrer Tochter heftigst verarbeitete Lebensmittel zu essen und war jeden Donnerstagabend sehr lange aus («Moms freier Abend», erklärte sie, als hätten alle Mütter einen), verschaffte sich dann mit einem ihr von den Berglunds ausgehändigten Schlüssel Zutritt zu deren Haus und holte die schlafende Connie ab, die Patty unter mehreren Decken auf ein Sofa gebettet hatte. Mit unnachgiebiger Großmut hatte Patty immer wieder angeboten, sich um Connie zu kümmern, wenn Carol arbeitete oder einkaufen war oder sich ihren Donnerstagabenddingen widmete, und Carol verließ sich mittlerweile sehr auf diese unzähligen kostenlosen Babysitterdienste. Es konnte Pattys Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, dass Carol ihr diese Großmut vergalt, indem sie ihre eigene Tochter Jessica ignorierte und übertrieben für ihren Sohn Joey schwärmte («Kriege ich noch ein Küsschen von meinem Herzensbrecher?») und bei Nachbarschaftstreffen, in ihren hauchdünnen Blusen und auf Cocktailkellnerinnenabsätzen, sehr dicht neben Walter stand, dessen Geschicklichkeit beim Eigenheimausbau lobte und über alles, was er sagte, vor Lachen schrie; jahrelang jedoch sagte Patty über Carol schlimmstenfalls, alleinerziehende Mütter hätten es eben schwer, und wenn Carol sich ihr gegenüber manchmal seltsam benehme, dann geschehe das vermutlich nur aus verletztem Stolz.
Für Seth Paulsen, der öfter von Patty redete, als es seiner Frau lieb war, gehörten die Berglunds zu jener Sorte hyperschuldbewusster Liberaler, die allen anderen verzeihen mussten, damit ihnen ihr eigenes Glück verziehen werden konnte; denen der Mut fehlte, zu ihrem privilegierten Leben auch zu stehen. Seths Theorie hatte allerdings einen Haken, denn die Berglunds waren gar nicht so privilegiert; soweit man wusste, war ihr einziger Vermögenswert das Haus, das sie eigenhändig restauriert hatten. Ein weiterer Haken, wie Merrie Paulsen betonte, war der, dass Patty nicht sonderlich progressiv, jedenfalls beileibe keine Feministin war (sie, die mit ihrem Geburtstagskalender zu Hause hockte und diese vermaledeiten Geburtstagskekse buk) und gegen Politik überhaupt allergisch schien. Wer sie auf eine Wahl oder einen Kandidaten ansprach, konnte erleben, wie sie sich vergebens bemühte, so froh und unbekümmert wie sonst zu sein - konnte erleben, wie sie hektisch wurde und in zu häufiges Nicken und Jajasagen verfiel. Merrie, zehn Jahre älter als Patty, und jedes einzelne davon sah man ihr an, hatte sich früher für die linke Studentenorganisation SDS in Madison engagiert und engagierte sich jetzt sehr in Sachen Beaujolais nouveau. Als Seth bei einem Abendessen Patty zum dritten oder vierten Mal erwähnte, wurde Merrie nouveau rouge im Gesicht und erklärte, Patty Berglunds vermeintlicher Nachbarschaftlichkeit liege null weitergehendes Bewusstsein, null Solidarität, null politische Substanz, null belastbare Struktur, null wahrer Gemeinschaftssinn zugrunde, das sei vielmehr alles bloß rückwärtsgewandter Hausfrauenquatsch, und sie, Merrie, glaube, wer je an der ach so netten Oberfläche kratzen würde, wäre womöglich überrascht, wie viel Härte, Egoismus, Konkurrenzdenken und Reaganismus darunter zum Vorschein kämen; es sei doch glasklar, dass für Patty einzig und allein ihre Kinder und ihr Eigenheim zählten - nicht ihre Nachbarn, nicht die Armen, nicht ihr Land, nicht ihre Eltern, ja noch nicht einmal ihr Mann.
Außerdem war Patty unbestreitbar in ihren Sohn vernarrt. Obwohl Jessica ihren Eltern viel offensichtlicher Freude machte - sie verschlang Bücher, liebte Tiere und Pflanzen, spielte sehr gut Flöte, ließ sich auf dem Fußballplatz nicht unterkriegen, war eine begehrte Babysitterin und nicht hübsch genug, um moralisch dadurch deformiert zu sein, sogar von Merrie Paulsen wurde sie bewundert -, war Joey das Kind, über das sich Patty immerzu verbreiten musste. In ihrer kicherigen, vertrauensseligen, sich selbst herabsetzenden Art spuckte sie tonnenweise ungefilterte Details über ihre und Walters Schwierigkeiten mit ihm aus. Die meisten ihrer Geschichten kamen als Klagen daher, und dennoch bezweifelte niemand, dass sie den Jungen vergötterte. Sie war wie eine Frau, die sich über ihren ganz wunderbaren Dreckskerl von Freund beklagt. Als wäre sie stolz darauf, dass er auf ihrem Herzen herumtrampelte: als wäre ihre Bereitschaft, sich von ihm auf dem Herzen herumtrampeln zu lassen, das Wichtigste, ja vielleicht das Einzige, was die Welt von ihr wissen sollte.
«Er ist ein richtiges kleines Aas», sagte sie zu den anderen Müttern während des langen Winters der Zubettgehkriege, als Joey das Recht für sich in Anspruch nahm, so lange wach zu bleiben wie Patty und Walter.
«Hat er Wutausbrüche? Weint er?», fragten die anderen Mütter.
«Ist das euer Ernst?», sagte Patty. «Schön wär's, wenn er weinen würde! Weinen wäre ja normal, und es würde auch irgendwann wieder aufhören.»
«Was macht er denn dann?», fragten die Mütter.
«Er zweifelt die Grundlage unserer Autorität an. Wir lassen ihn in seinem Zimmer das Licht ausmachen, aber sein Standpunkt ist, dass er erst dann ins Bett gehen muss, wenn wir bei uns das Licht ausmachen, weil er kein bisschen anders ist als wir. Und ich schwöre bei Gott, man kann die Uhr danach stellen, alle fünfzehn Minuten - ich schwör's euch, er liegt da und starrt auf seinen Wecker -, alle fünfzehn Minuten ruft er: ‹Bin noch wach! Ich bin noch wach!› Und zwar in so einem verächtlichen oder sarkastischen Ton, ganz seltsam. Und ich flehe Walter an, den Köder diesmal nicht zu schlucken, aber nein, schon ist es wieder Viertel vor zwölf, und Walter steht in Joeys dunklem Zimmer, und sie streiten sich zum hundertsten Mal über den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern und darüber, ob eine Familie eher eine Demokratie oder eine wohlwollende Diktatur ist, und am Ende bin ich diejenige, die die Nerven verliert, versteht ihr - bin ich es, die im Bett liegt und ‹Aufhören, aufhören› jammert.»
Merrie Paulsen konnte Pattys Geschichten nichts abgewinnen. Eines späten Abends, als sie nach einem Essen, das Seth und sie gegeben hatten, das Geschirr in die Spülmaschine räumte, sagte sie zu ihm, es sei doch kaum verwunderlich, dass Joey Schwierigkeiten habe, zwischen Kindern und Erwachsenen zu unterscheiden - schließlich scheine seine Mutter ja selbst nicht genau zu wissen, auf welche Seite sie gehöre. Sei ihm nicht auch aufgefallen, dass in Pattys Erzählungen immer Walter die Erziehungsmaßnahmen ergreife, als wäre sie selber eine belanglose Randfigur, die bloß süß zu sein habe?
«Ich frage mich, ob sie Walter eigentlich liebt oder nicht», sinnierte Seth hoffnungsfroh, während er eine letzte Flasche entkorkte. «Körperlich, meine ich.»
«Der Subtext lautet doch immer: ‹Mein Sohn ist außergewöhnlich›», sagte Merrie. «Andauernd beklagt sie sich darüber, was für eine enorm lange Aufmerksamkeitsspanne er hat.»
«Also, um fair zu sein, das passt doch gut zu seiner Sturheit», sagte Seth. «Zu der unendlichen Geduld, mit der er sich gegen Walter auflehnt.»
«Jedes Wort, das sie über ihn sagt, ist eine Art indirekte Angeberei.»
«Gibst du etwa nie an?», stichelte Seth.
«Wahrscheinlich schon», sagte Merrie, «aber wenigstens habe ich ein minimales Gespür dafür, wie sich das für andere Menschen anhört. Und mein Selbstwertgefühl hängt nicht davon ab, wie außergewöhnlich unsere Kinder sind.»
«Du bist eben die perfekte Mutter», stichelte Seth.
«Nein, das ist wohl Patty», sagte Merrie und ließ sich noch Wein nachschenken. «Ich bin lediglich sehr gut.»
Joey, klagte Patty, fliege alles nur so zu. Er war goldblond und hübsch und schien die Lösungen sämtlicher Aufgaben, die eine Schule ihm stellen konnte, von Natur aus zu kennen, so als wären ihm Multiple-Choice-Kombinationen aus As, Bs, Cs und Ds in die DNA eingeschrieben. Mit Nachbarn, die fünfmal so alt waren wie er, ging er verblüffend unbefangen um. Wenn er von der Schule oder seinem Wölflingsrudel zum Haustürverkauf von Schokoriegeln oder Lotterielosen verdonnert worden war, erzählte er freiheraus, auf was für «Gaunermethoden» er dabei zurückgriff. Er perfektionierte ein äußerst unangenehmes Lächeln der Herausforderung, wenn er bei anderen Jungen Spielsachen oder Spiele entdeckte, die Patty und Walter ihm nicht zu kaufen bereit waren. Um dieses Lächeln auszulöschen, bestanden seine Freunde darauf, ihren Besitz mit ihm zu teilen, und so wurde er zu einem Eins-a-Videospieler, obwohl seine Eltern Videospiele ablehnten, und entwickelte eine umfassende Vertrautheit mit eben jener Rockmusik, vor der sie seine präadoleszenten Ohren so unbedingt bewahren wollten. Er war nicht älter als elf oder zwölf, als er, so Patty, seinen Vater am Abendbrottisch, aus Versehen oder mit Absicht, «Bruder» nannte.
«O-ho, kam das bei Walter nicht gut an», sagte sie zu den anderen Müttern.
«So reden die Teenager heute alle miteinander», sagten die Mütter. «Das hat was mit Rap zu tun.»
«Ja, genau das hat Joey auch gesagt», erzählte Patty weiter. «Er hat gesagt, es sei nur ein Wort und nicht mal ein schlimmes. Und natürlich war Walter anderer Meinung. Und ich sitze da und denke: ‹Wal-ter, Wal-ter, lass-dich-nicht-drauf-ein, Dis-kus-sion zweck-los›, aber nein, er muss ihm erklären, warum man zum Beispiel zu einem erwachsenen Mann, vor allem zu einem Schwarzen, nicht ‹Junge› sagen darf, obwohl das auch kein schlimmes Wort ist, aber Joey weigert sich ja gerade, irgendeinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen anzuerkennen, das ist doch das Problem, und so endet es damit, dass Walter sagt, Joey bekomme keinen Nachtisch, woraufhin Joey behauptet, er wolle sowieso keinen, er möge Nachtisch gar nicht besonders, und ich sitze da und denke ‹Wal-ter, Wal-ter, lass-dich-nicht-drauf-ein›, aber Walter kann nicht anders - er muss Joey beweisen, dass er Nachtisch in Wirklichkeit liebt, aber Joey akzeptiert keinen von Walters Beweisen. Er behauptet, was natürlich eine absolut schamlose Lüge ist, dass er sich sonst nur deshalb vom Nachtisch nachgenommen hat, weil das so Sitte sei, und nicht, weil es ihm etwa gut geschmeckt habe, und der arme Walter, der es nicht erträgt, angelogen zu werden, sagt: ‹Na schön, wenn du keinen Nachtisch magst, wie wär's denn dann mit einem ganzen Monat ohne?›, und ich denke: ‹Oh, Wal-ter, Wal-ter, das-kann-nicht-gutaus-ge-hen›, denn Joeys Antwort lautet: ‹Ich komme auch ein Jahr lang ohne Nachtisch aus, ich esse nie wieder Nachtisch, höchstens aus Höflichkeit, wenn ich irgendwo eingeladen bin›, was komischerweise eine glaubhafte Drohung ist - mit seinem Dickkopf könnte er das wahrscheinlich sogar durchhalten. Also sage ich: ‹Jungs, mal halblang, Nachtisch ist ein wichtiger Ernährungsbestandteil, jetzt lasst uns mal schön auf dem Teppich bleiben›, wodurch im Handumdrehen Walters Autorität untergraben ist, und da es in der ganzen Auseinandersetzung letztlich um nichts anderes als seine Autorität ging, kriege ich es hin, alles, was er vielleicht an Positivem erreicht hat, wieder zunichtezumachen.»
Der andere Mensch, der Joey über die Maßen liebte, war das Monaghan-Mädchen, Connie. Sie war eine ernste und schweigsame kleine Person, die einen irritierend ungerührt ansehen konnte, so als hätte man nichts mit ihr gemeinsam. Sie gehörte zum festen nachmittäglichen Inventar von Pattys Küche, wo sie hart daran arbeitete, Keksteig zu geometrisch vollkommenen Kugeln zu formen, bis die Butter flüssig wurde und den Teig dunkel glänzen ließ. In der Zeit, die sie für eine Kugel brauchte, formte Patty elf, und wenn sie alle aus dem Ofen kamen, versäumte Patty es nie, Connie zu fragen, ob sie den einen «wirklich perfekt gelungenen» (kleineren, flacheren, härteren) Keks essen dürfe. Jessica, die ein Jahr älter war als Connie, schien nichts dagegen zu haben, die Küche dem Nachbarsmädchen zu überlassen, während sie Bücher las oder sich mit ihren Terrarien beschäftigte. Für einen so vielseitigen Menschen wie sie stellte Connie keine Bedrohung dar. Connie wusste nichts von Ganzheit - hatte nur Tiefe, keine Breite. Wenn sie Bilder ausmalte, verlor sie sich darin, eine oder zwei Flächen mit einem einzigen Filzstift zu tränken, ließ den Rest weiß und überhörte Pattys Ermunterungen, doch auch einmal andere Farben auszuprobieren.
Connies ausgeprägte Fixierung auf Joey war für jede Mutter aus dem Viertel schon früh offensichtlich, außer für Patty, so schien es, was vielleicht daran lag, dass sie selbst so auf ihn fixiert war. In Linwood Park, wo Patty manchmal Sportveranstaltungen für die Kinder organisierte, saß Connie allein auf dem Rasen, flocht Kleeblumenkränze für niemanden und ließ die Minuten an sich vorüberrinnen, bis Joey zum Baseballabschlag ging oder mit dem Fußball über das Feld dribbelte und ihr Interesse einen Moment lang auf sich zog. Sie hatte etwas von einer Phantasiefreundin an sich, die eben sichtbar war. Dank seiner frühreifen Selbstbeherrschung hatte Joey es selten nötig, vor seinen Freunden gemein zu ihr zu sein, und sobald sich abzeichnete, dass die Jungs einfach mal unter sich sein wollten, war Connie wiederum klug genug, das Feld zu räumen und sich ohne Vorwurf oder Theater in Luft aufzulösen. Es gab ja immer noch den nächsten Tag. Lange Zeit hatte es außerdem immer noch Patty gegeben, auf Knien in ihren Gemüsebeeten oder im bekleckerten Wollhemd auf der Leiter, wo sie sich der Sisyphosarbeit widmete, den viktorianischen Anstrich in Schuss zu halten. Wenn Connie nicht bei Joey sein konnte, wollte sie ihm wenigstens nützlich sein, indem sie seiner Mutter Gesellschaft leistete, solange er nicht da war. «Wie sieht's mit deinen Hausaufgaben aus?», fragte Patty dann von der Leiter herab. «Brauchst du Hilfe?»
«Meine Mutter hilft mir, wenn sie nach Hause kommt.»
«Sie wird müde sein, so spät, wie es dann ist. Du könntest sie überraschen und dich jetzt gleich dransetzen. Willst du das nicht machen?»
«Nein, ich warte lieber.»
Wann genau Connie und Joey zu vögeln anfingen, war nicht bekannt. Seth Paulsen behauptete gern -- ohne jeden Beweis, nur um die Leute aus der Fassung zu bringen -, Joey sei elf gewesen und Connie zwölf. Seine Vermutung gründete auf den Rückzugsmöglichkeiten, die das Baumhaus bot, das Joey sich mit Walters Hilfe in einem alten Holzapfelbaum auf dem freien Grundstück gebaut hatte. Als Joeys achtes Schuljahr vorbei war, fiel in den Antworten der Nachbarsjungen auf die bemüht beiläufigen elterlichen Fragen nach dem Sexualverhalten ihrer Schulfreunde immer häufiger sein Name, und später sah es so aus, als habe Jessica gegen Ende desselben Sommers etwas gemerkt - ohne zu sagen, warum, begegnete sie sowohl Connie wie ihrem Bruder plötzlich mit schneidender Verachtung. Aber niemand sah die beiden tatsächlich je zu zweit, bis sie im darauffolgenden Winter anfingen, gemeinsame Geschäfte zu machen.
Nach Pattys Auffassung hatte Joey aus seinen ständigen Streitereien mit Walter die Lehre gezogen, dass Kinder Eltern deshalb gehorchen müssten, weil Eltern im Besitz des Geldes seien. Daraus wurde ein weiteres Beispiel für seine Außergewöhnlichkeit: Während die anderen Mütter das Anspruchsdenken beklagten, mit dem ihre Kinder Geld einforderten, karikierte Patty lachend den Verdruss, den es Joey bereitete, Walter um finanzielle Unterstützung zu bitten. Die Nachbarn, die ihm manchmal Jobs gaben, kannten ihn als erstaunlich eifrigen Schneeschaufler oder Laubharker, aber Patty sagte, er ärgere sich insgeheim über die schlechte Bezahlung und finde, die Einfahrt eines Erwachsenen frei zu schaufeln bringe ihn diesem Erwachsenen gegenüber in eine missliche Position. Die lächerlichen Ideen zum Geldverdienen, die in Pfadfindermagazinen vorgeschlagen wurden - Zeitschriftenabonnements an der Haustür verkaufen, Zaubertricks erlernen und dann für die Darbietungen Eintritt nehmen, sich mit Taxidermie-Utensilien ausrüsten und die preisgekrönten Glasaugenbarsche der Nachbarn ausstopfen -, rochen allesamt entweder nach Vasallentum («Ich bin der Taxidermist der herrschenden Klasse») oder, schlimmer noch, nach Wohltätigkeit. Und so zog es ihn in seinem Bestreben, sich von Walter zu befreien, unweigerlich zum Unternehmertum.
Irgendjemand, vielleicht sogar Carol Monaghan selbst, zahlte die Gebühren für Connies kleine katholische Privatschule, St. Catherine's, auf der die Mädchen Uniformen trugen und außer einem Ring («schlicht, nur Metall»), einer Armbanduhr («schlicht, keine Steine») und zwei Ohrringen («schlicht, nur Metall, höchstens ein Zentimeter im Durchmesser») kein Schmuck erlaubt war. Da traf es sich gut, dass eine der umschwärmten Neuntklässlerinnen aus Joeys Schule, der Central High, von einem Familienausflug nach New York mit einer in der großen Pause weithin bewunderten billigen Uhr zurückgekommen war, in deren gelbes Armband, das aussah, als ob man es kauen könnte, ein Canal-Street-Händler im Thermoverfahren kleine bonbonrosa Plastikbuchstaben eingeprägt hatte, die eine Pearl-Jam-Songtextzeile ergaben, DON'T CALL ME DAUGHTER, so hatte das Mädchen es gewünscht. Wie Joey in seinen Bewerbungsessays fürs College später selbst berichten sollte, hatte er sofort die Initiative ergriffen und die Großhandelsquelle dieser Uhr sowie den Preis eines Thermodruckers ausfindig gemacht. Er steckte vierhundert Dollar von seinen eigenen Ersparnissen in die Ausrüstung und stellte ein Musterplastikarmband für Connie her (READY FOR THE PUSH stand darauf), damit sie es in ihrer Schule herumzeigen konnte, und dann verkaufte er, mit Connie als Kurier, individuell gestaltete Armbanduhren zu dreißig Dollar das Stück an nicht weniger als ein Viertel ihrer Mitschülerinnen, bevor die Nonnen es spitzkriegten und die Kleidervorschriften um das Verbot von Uhrenarmbändern mit eingeprägtem Text ergänzten. Was Joey natürlich - erzählte Patty den anderen Müttern - für einen Skandal hielt.
«Es ist kein Skandal», sagte Walter zu ihm. «Du hast von einer künstlichen Handelsbeschränkung profitiert. Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich über die Regeln beklagt hättest, solange sie für dich von Vorteil waren.»
«Ich habe Geld investiert. Ich bin ein Risiko eingegangen.»
«Du hast ein Schlupfloch ausgenutzt, und das haben sie jetzt gestopft. Hättest du das nicht vorhersehen können?»
«Na ja, warum hast du mich nicht gewarnt?»
«Das habe ich doch.»
«Du hast bloß gesagt, ich könnte Geld verlieren.»
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Die Meldungen über Walter Berglund wurden von der Lokalpresse nicht aufgegriffen - er und Patty waren zwei Jahre zuvor nach Washington gezogen und hatten für St. Paul inzwischen keinerlei Bedeutung mehr -, aber die Bürger des aufstrebenden Viertels Ramsey Hill waren ihrer Stadt gegenüber nicht loyal genug, um nicht die New York Times zu lesen. Einem langen und wenig schmeichelhaften Artikel in der Times zufolge hatte Walter sein Berufsleben dort in der Hauptstadt ziemlich verpfuscht. Seine früheren Nachbarn hatten einige Mühe, die Eigenschaften, die ihm die Times zuschrieb («arrogant», «selbstherrlich», «moralisch korrumpiert»), mit dem großherzigen, freundlichen, rotgesichtigen 3M-Angestellten in Einklang zu bringen, den sie noch auf der Summit Avenue bei Februarschnee in die Pedale seines Pendlerfahrrads treten sahen; es schien merkwürdig, dass Walter, der doch grüner war als Greenpeace und selbst vom Land kam, nun in Schwierigkeiten stecken sollte, weil er gemeinsame Sache mit der Kohleindustrie gemacht und Landbewohner schlecht behandelt hatte. Andererseits, irgendetwas hatte mit den Berglunds ja schon immer nicht ganz gestimmt.
Walter und Patty waren die jungen Pioniere von Ramsey Hill gewesen - die ersten College-Absolventen, die sich ein Haus an der Barrier Street kauften, nachdem der alte Stadtkern von St. Paul drei Jahrzehnte zuvor auf den Hund gekommen war. Sie zahlten so gut wie nichts für die viktorianische Villa und schufteten sich dann zehn Jahre lang tot, um sie zu renovieren. Gleich am Anfang steckte irgendein sehr zielstrebiger Mensch ihre Garage in Brand und brach zweimal ihren Wagen auf, bevor sie es geschafft hatten, die Garage wieder aufzubauen. Das freie Grundstück gegenüber wurde regelmäßig von sonnenverbrannten Bikern heimgesucht, die dort Schlitz tranken, Knackwurst grillten und in den frühen Morgenstunden die Motoren aufheulen ließen, bis Patty im Jogginganzug vor die Tür trat und sagte: «Also ehrlich, Leute, wisst ihr was?» Patty machte niemandem Angst, aber sie war in der Highschool und auf dem College eine Ausnahmeathletin gewesen und so unerschrocken, wie es nur Sportler sind. Sie konnte gar nichts dagegen tun, dass sie in der Nachbarschaft vom ersten Tag an auffiel. Wenn diese große, aberwitzig junge Frau mit dem Pferdeschwanz ihren Buggy an Autowracks, zerbrochenen Bierflaschen und bekotztem Altschnee vorbeischob, hätte man meinen mögen, sie trüge jede einzelne Stunde ihres Tages in den am Buggy hängenden Einkaufsnetzen mit sich herum. Hinter ihr sah man die von Kleinkindern behinderten Vorbereitungen für einen Vormittag von Kleinkindern behinderter Besorgungen liegen; vor ihr einen Nachmittag mit öffentlichem Rundfunk, Silver Palate-Vollwertkochbuch, Stoffwindeln, Gipsmischung und Latexfarbe; dann Goodnight Moon und schließlich Zinfandel. Sie war schon ganz das, was sich für den Rest der Straße gerade erst anzubahnen begann.
In den allerersten Jahren, als man noch ohne schlechtes Gewissen einen Volvo 240 fahren konnte, bestand die kollektive Aufgabe in Ramsey Hill im Erlernen gewisser Lebenstechniken, die zu verlernen für die eigenen Eltern Grund genug gewesen war, in die Vororte zu fliehen: etwa wie man die örtliche Polizei dafür interessierte, tatsächlich ihre Arbeit zu tun, wie man sein Fahrrad vor einem hochmotivierten Dieb schützte, wann der Zeitpunkt gekommen war, einen Betrunkenen von den Terrassenmöbeln zu vertreiben, wie man Wildkatzen dazu brachte, ihre Haufen in den Sandkasten anderer Leute Kinder zu setzen, und woran man feststellte, ob eine staatliche Schule so schlecht war, dass es gar nicht erst den Versuch lohnte, sich für sie zu engagieren. Es gab auch aktuellere Fragen, etwa die, was von Stoffwindeln zu halten war. Der Mühe wert? Und stimmte es, dass man Milch immer noch in Glasflaschen geliefert bekommen konnte? Waren die Pfadfinder politisch akzeptabel? Gehörte Bulgur wirklich auf die Speisekarte? Wohin mit alten Batterien? Was tun, wenn eine mittellose Frau anderer ethnischer Herkunft einen beschuldigte, man mache ihr Wohnviertel kaputt? War es wahr, dass die Glasur von altem Fiesta-Porzellan gefährliche Mengen Blei enthielt? Wie raffiniert musste ein Küchenwasserfilter eigentlich sein? Wechselten auch andere 240er manchmal nicht in den fünften Gang, obwohl man den Overdrive-Schalter betätigt hatte? Sollte man Bettlern Essen geben oder besser gar nichts? War es möglich, beispiellos selbstbewusste, glückliche, hochintelligente Kinder großzuziehen, wenn man ganztags arbeitete? Durfte man die Bohnen für den Morgenkaffee schon am Abend vorher mahlen, oder musste das unmittelbar vor dem Frühstück geschehen? Hatte in der Geschichte St. Pauls schon mal irgendjemand gute Erfahrungen mit einem Dachdecker gemacht? Wie sah es mit einem sachkundigen Volvo-Mechaniker aus? Hatten auch andere 240er das Problem mit dem klemmenden Handbremsseil? Und dieser rätselhaft gekennzeichnete Schalter am Armaturenbrett, der so ein wohliges schwedisches Klicken erzeugte, aber mit nichts verbunden zu sein schien: Wozu diente der?
Patty Berglund war für alle Fragen ein reicher Quell, ein sonniger Überträger von soziokulturellem Pollen, eine freundliche Biene. Sie war eine der wenigen nicht-berufstätigen Mütter in Ramsey Hill und notorisch abgeneigt, gut von sich selbst oder schlecht von anderen zu sprechen. Sie sagte, sie gehe davon aus, eines Tages von einem der Schiebefenster «geköpft» zu werden, deren Gewichtsschnüre sie selber ausgewechselt habe. Ihre Kinder würden «wahrscheinlich» an Trichinose sterben, weil sie Schweinefleisch nicht immer lange genug brate. Sie fragte sich, ob ihre «Abhängigkeit» von Abbeizmitteldämpfen wohl damit in Zusammenhang stehe, dass sie «überhaupt keine» Bücher mehr lese. Sie gestand, seit dem, was beim «letzten Mal» passiert sei, habe Walter ihr «strikt verboten», seine Blumen zu düngen. Es gab Leute, bei denen diese Art der Selbstherabsetzung nicht gut ankam - die etwas Gönnerhaftes darin sahen, als versuchte Patty die Gefühle weniger vollkommener Hausfrauen allzu offensichtlich zu schonen, indem sie ihre eigenen kleinen Unzulänglichkeiten überzeichnete. Die meisten aber hielten ihre Bescheidenheit für echt oder fanden sie zumindest amüsant, und ohnehin war es schwierig, einer Frau zu widerstehen, die von allen Kindern so sehr gemocht wurde und sich nicht nur deren Geburtstage, sondern auch die der Erwachsenen merkte und mit einem Teller Kekse, einer Glückwunschkarte oder ein paar Maiglöckchen an der Terrassentür erschien, nicht ohne zu beteuern, die kleine Vase aus dem Gebrauchtwarenladen, in der die Maiglöckchen steckten, brauche man ihr nicht zurückzugeben.
Jeder wusste, dass Patty an der Ostküste, in einem Vorort von New York, aufgewachsen war und eines der ersten Vollstipendien für Frauen bekommen hatte, um an der University of Minnesota Basketball zu spielen, wo sie es, das ging aus einer Urkundentafel an der Wand von Walters Arbeitszimmer hervor, in ihrem zweiten Studienjahr in das virtuelle Team der zweitbesten Spielerinnen ganz Amerikas geschafft hatte. Merkwürdigerweise hatte Patty, der Familienmensch, keinerlei erkennbare Verbindung zu ihren Wurzeln. Ganze Jahreszeiten verstrichen, ohne dass sie einen Fuß aus St. Paul herausgesetzt hätte, und Besuch von der Ostküste schien sie auch noch nie empfangen zu haben, nicht einmal von ihren Eltern. Wenn man sie geradeheraus nach den Eltern fragte, antwortete sie, die beiden täten sehr vielen Menschen sehr viel Gutes, ihr Vater habe eine Anwaltskanzlei in White Plains, und ihre Mutter sei Politikerin, genau, Abgeordnete in der Parlamentskammer des Staates New York. Dann nickte sie mit großem Nachdruck und sagte: «Ja, genau, so ist das», als wäre das Thema damit erschöpft.
Man konnte sich einen Jux aus dem Versuch machen, Patty dazu zu bewegen, dass sie einem beipflichtete, wenn man jemandes Benehmen als «schlecht» bezeichnete. Als sie hörte, dass Seth und Merrie Paulsen eine große Halloween-Party für ihre Zwillinge gaben und ganz bewusst alle Kinder aus der Nachbarschaft außer Connie Monaghan dazu eingeladen hatten, sagte sie nur, das sei ja «seltsam». Die Paulsens, die sie kurze Zeit später auf der Straße traf, erklärten ihr, sie hätten den ganzen Sommer lang vergeblich versucht, Connie Monaghans Mutter Carol davon abzubringen, Zigarettenkippen aus ihrem Schlafzimmerfenster in das kleine Planschbecken der Zwillinge zu schnippen. «Wirklich seltsam», sagte Patty kopfschüttelnd, «aber dafür kann Connie doch nichts.» Die Paulsens allerdings waren nicht bereit, sich mit «seltsam» zufriedenzugeben. Sie wollten soziopathisch, sie wollten passiv-aggressiv, sie wollten schlecht. Es war unabdingbar für sie, dass Patty wenigstens eines dieser Attribute wählte und es in Übereinstimmung mit ihnen auf Carol Monaghan anwendete, aber Patty war außerstande, über «seltsam» hinauszugehen, und so blieben die Paulsens ihrerseits bei ihrer Weigerung, Connie auf die Einladungsliste zu setzen. Immerhin ärgerte sich Patty über diese Ungerechtigkeit so sehr, dass sie mit ihren Kindern plus Connie und einer Schulfreundin am Nachmittag der Party auf einer Kürbisfarm eine Heuwagenspukfahrt machte, aber im Beisein anderer sagte sie über die Paulsens schlimmstenfalls, eine solche Gemeinheit gegenüber einer Siebenjährigen sei doch seltsam.
Carol Monaghan war die einzige andere Mutter in der Barrier Street, die schon genauso lange dort wohnte wie Patty. Als ehemalige Sekretärin eines hohen Beamten im Hennepin County war sie, wenn man so will, mittels eines Protektions-Austauschprogramms in Ramsey Hill gelandet, nachdem besagter Beamte sie geschwängert hatte. Die Mutter seines unehelichen Kindes auf der Gehaltsliste des eigenen Büros stehen zu lassen: Spätestens gegen Ende der siebziger Jahre gab es in der Twin-Cities-Region nicht mehr allzu viele Gerichtsstände, in denen sich das mit kluger Politik vereinbaren ließ. Carol wurde zu einer der unkonzentrierten, Pausen machenden Angestellten der Stadtverwaltung, und im Gegenzug bekam jemand aus St. Paul, der ähnlich gute Beziehungen unterhielt, eine Stelle auf der anderen Seite des Flusses. Das Haus zur Miete in der Barrier Street, gleich neben den Berglunds, war vermutlich Teil der Abmachung gewesen; sonst war schwer zu verstehen, warum Carol eingewilligt haben sollte, in einer Gegend zu wohnen, die damals praktisch noch ein Elendsviertel war. Im Sommer fuhr einmal die Woche bei Abenddämmerung, in einem Allradfahrzeug ohne Kennzeichen, ein vor sich hin stierender Jugendlicher in der Montur des städtischen Grünanlagenamts bei ihr vor und schob einen Rasenmäher durch ihren Garten, und im Winter sah man denselben Jugendlichen mit einer Schneefräse vor ihrem Haus den Gehweg räumen.
Gegen Ende der achtziger Jahre war Carol die Einzige im ganzen Viertel, die zu dessen Verbürgerlichung nichts beitrug. Sie rauchte Parliaments, bleichte sich die Haare, machte aus ihren Nägeln grelle Krallen, gab ihrer Tochter heftigst verarbeitete Lebensmittel zu essen und war jeden Donnerstagabend sehr lange aus («Moms freier Abend», erklärte sie, als hätten alle Mütter einen), verschaffte sich dann mit einem ihr von den Berglunds ausgehändigten Schlüssel Zutritt zu deren Haus und holte die schlafende Connie ab, die Patty unter mehreren Decken auf ein Sofa gebettet hatte. Mit unnachgiebiger Großmut hatte Patty immer wieder angeboten, sich um Connie zu kümmern, wenn Carol arbeitete oder einkaufen war oder sich ihren Donnerstagabenddingen widmete, und Carol verließ sich mittlerweile sehr auf diese unzähligen kostenlosen Babysitterdienste. Es konnte Pattys Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, dass Carol ihr diese Großmut vergalt, indem sie ihre eigene Tochter Jessica ignorierte und übertrieben für ihren Sohn Joey schwärmte («Kriege ich noch ein Küsschen von meinem Herzensbrecher?») und bei Nachbarschaftstreffen, in ihren hauchdünnen Blusen und auf Cocktailkellnerinnenabsätzen, sehr dicht neben Walter stand, dessen Geschicklichkeit beim Eigenheimausbau lobte und über alles, was er sagte, vor Lachen schrie; jahrelang jedoch sagte Patty über Carol schlimmstenfalls, alleinerziehende Mütter hätten es eben schwer, und wenn Carol sich ihr gegenüber manchmal seltsam benehme, dann geschehe das vermutlich nur aus verletztem Stolz.
Für Seth Paulsen, der öfter von Patty redete, als es seiner Frau lieb war, gehörten die Berglunds zu jener Sorte hyperschuldbewusster Liberaler, die allen anderen verzeihen mussten, damit ihnen ihr eigenes Glück verziehen werden konnte; denen der Mut fehlte, zu ihrem privilegierten Leben auch zu stehen. Seths Theorie hatte allerdings einen Haken, denn die Berglunds waren gar nicht so privilegiert; soweit man wusste, war ihr einziger Vermögenswert das Haus, das sie eigenhändig restauriert hatten. Ein weiterer Haken, wie Merrie Paulsen betonte, war der, dass Patty nicht sonderlich progressiv, jedenfalls beileibe keine Feministin war (sie, die mit ihrem Geburtstagskalender zu Hause hockte und diese vermaledeiten Geburtstagskekse buk) und gegen Politik überhaupt allergisch schien. Wer sie auf eine Wahl oder einen Kandidaten ansprach, konnte erleben, wie sie sich vergebens bemühte, so froh und unbekümmert wie sonst zu sein - konnte erleben, wie sie hektisch wurde und in zu häufiges Nicken und Jajasagen verfiel. Merrie, zehn Jahre älter als Patty, und jedes einzelne davon sah man ihr an, hatte sich früher für die linke Studentenorganisation SDS in Madison engagiert und engagierte sich jetzt sehr in Sachen Beaujolais nouveau. Als Seth bei einem Abendessen Patty zum dritten oder vierten Mal erwähnte, wurde Merrie nouveau rouge im Gesicht und erklärte, Patty Berglunds vermeintlicher Nachbarschaftlichkeit liege null weitergehendes Bewusstsein, null Solidarität, null politische Substanz, null belastbare Struktur, null wahrer Gemeinschaftssinn zugrunde, das sei vielmehr alles bloß rückwärtsgewandter Hausfrauenquatsch, und sie, Merrie, glaube, wer je an der ach so netten Oberfläche kratzen würde, wäre womöglich überrascht, wie viel Härte, Egoismus, Konkurrenzdenken und Reaganismus darunter zum Vorschein kämen; es sei doch glasklar, dass für Patty einzig und allein ihre Kinder und ihr Eigenheim zählten - nicht ihre Nachbarn, nicht die Armen, nicht ihr Land, nicht ihre Eltern, ja noch nicht einmal ihr Mann.
Außerdem war Patty unbestreitbar in ihren Sohn vernarrt. Obwohl Jessica ihren Eltern viel offensichtlicher Freude machte - sie verschlang Bücher, liebte Tiere und Pflanzen, spielte sehr gut Flöte, ließ sich auf dem Fußballplatz nicht unterkriegen, war eine begehrte Babysitterin und nicht hübsch genug, um moralisch dadurch deformiert zu sein, sogar von Merrie Paulsen wurde sie bewundert -, war Joey das Kind, über das sich Patty immerzu verbreiten musste. In ihrer kicherigen, vertrauensseligen, sich selbst herabsetzenden Art spuckte sie tonnenweise ungefilterte Details über ihre und Walters Schwierigkeiten mit ihm aus. Die meisten ihrer Geschichten kamen als Klagen daher, und dennoch bezweifelte niemand, dass sie den Jungen vergötterte. Sie war wie eine Frau, die sich über ihren ganz wunderbaren Dreckskerl von Freund beklagt. Als wäre sie stolz darauf, dass er auf ihrem Herzen herumtrampelte: als wäre ihre Bereitschaft, sich von ihm auf dem Herzen herumtrampeln zu lassen, das Wichtigste, ja vielleicht das Einzige, was die Welt von ihr wissen sollte.
«Er ist ein richtiges kleines Aas», sagte sie zu den anderen Müttern während des langen Winters der Zubettgehkriege, als Joey das Recht für sich in Anspruch nahm, so lange wach zu bleiben wie Patty und Walter.
«Hat er Wutausbrüche? Weint er?», fragten die anderen Mütter.
«Ist das euer Ernst?», sagte Patty. «Schön wär's, wenn er weinen würde! Weinen wäre ja normal, und es würde auch irgendwann wieder aufhören.»
«Was macht er denn dann?», fragten die Mütter.
«Er zweifelt die Grundlage unserer Autorität an. Wir lassen ihn in seinem Zimmer das Licht ausmachen, aber sein Standpunkt ist, dass er erst dann ins Bett gehen muss, wenn wir bei uns das Licht ausmachen, weil er kein bisschen anders ist als wir. Und ich schwöre bei Gott, man kann die Uhr danach stellen, alle fünfzehn Minuten - ich schwör's euch, er liegt da und starrt auf seinen Wecker -, alle fünfzehn Minuten ruft er: ‹Bin noch wach! Ich bin noch wach!› Und zwar in so einem verächtlichen oder sarkastischen Ton, ganz seltsam. Und ich flehe Walter an, den Köder diesmal nicht zu schlucken, aber nein, schon ist es wieder Viertel vor zwölf, und Walter steht in Joeys dunklem Zimmer, und sie streiten sich zum hundertsten Mal über den Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern und darüber, ob eine Familie eher eine Demokratie oder eine wohlwollende Diktatur ist, und am Ende bin ich diejenige, die die Nerven verliert, versteht ihr - bin ich es, die im Bett liegt und ‹Aufhören, aufhören› jammert.»
Merrie Paulsen konnte Pattys Geschichten nichts abgewinnen. Eines späten Abends, als sie nach einem Essen, das Seth und sie gegeben hatten, das Geschirr in die Spülmaschine räumte, sagte sie zu ihm, es sei doch kaum verwunderlich, dass Joey Schwierigkeiten habe, zwischen Kindern und Erwachsenen zu unterscheiden - schließlich scheine seine Mutter ja selbst nicht genau zu wissen, auf welche Seite sie gehöre. Sei ihm nicht auch aufgefallen, dass in Pattys Erzählungen immer Walter die Erziehungsmaßnahmen ergreife, als wäre sie selber eine belanglose Randfigur, die bloß süß zu sein habe?
«Ich frage mich, ob sie Walter eigentlich liebt oder nicht», sinnierte Seth hoffnungsfroh, während er eine letzte Flasche entkorkte. «Körperlich, meine ich.»
«Der Subtext lautet doch immer: ‹Mein Sohn ist außergewöhnlich›», sagte Merrie. «Andauernd beklagt sie sich darüber, was für eine enorm lange Aufmerksamkeitsspanne er hat.»
«Also, um fair zu sein, das passt doch gut zu seiner Sturheit», sagte Seth. «Zu der unendlichen Geduld, mit der er sich gegen Walter auflehnt.»
«Jedes Wort, das sie über ihn sagt, ist eine Art indirekte Angeberei.»
«Gibst du etwa nie an?», stichelte Seth.
«Wahrscheinlich schon», sagte Merrie, «aber wenigstens habe ich ein minimales Gespür dafür, wie sich das für andere Menschen anhört. Und mein Selbstwertgefühl hängt nicht davon ab, wie außergewöhnlich unsere Kinder sind.»
«Du bist eben die perfekte Mutter», stichelte Seth.
«Nein, das ist wohl Patty», sagte Merrie und ließ sich noch Wein nachschenken. «Ich bin lediglich sehr gut.»
Joey, klagte Patty, fliege alles nur so zu. Er war goldblond und hübsch und schien die Lösungen sämtlicher Aufgaben, die eine Schule ihm stellen konnte, von Natur aus zu kennen, so als wären ihm Multiple-Choice-Kombinationen aus As, Bs, Cs und Ds in die DNA eingeschrieben. Mit Nachbarn, die fünfmal so alt waren wie er, ging er verblüffend unbefangen um. Wenn er von der Schule oder seinem Wölflingsrudel zum Haustürverkauf von Schokoriegeln oder Lotterielosen verdonnert worden war, erzählte er freiheraus, auf was für «Gaunermethoden» er dabei zurückgriff. Er perfektionierte ein äußerst unangenehmes Lächeln der Herausforderung, wenn er bei anderen Jungen Spielsachen oder Spiele entdeckte, die Patty und Walter ihm nicht zu kaufen bereit waren. Um dieses Lächeln auszulöschen, bestanden seine Freunde darauf, ihren Besitz mit ihm zu teilen, und so wurde er zu einem Eins-a-Videospieler, obwohl seine Eltern Videospiele ablehnten, und entwickelte eine umfassende Vertrautheit mit eben jener Rockmusik, vor der sie seine präadoleszenten Ohren so unbedingt bewahren wollten. Er war nicht älter als elf oder zwölf, als er, so Patty, seinen Vater am Abendbrottisch, aus Versehen oder mit Absicht, «Bruder» nannte.
«O-ho, kam das bei Walter nicht gut an», sagte sie zu den anderen Müttern.
«So reden die Teenager heute alle miteinander», sagten die Mütter. «Das hat was mit Rap zu tun.»
«Ja, genau das hat Joey auch gesagt», erzählte Patty weiter. «Er hat gesagt, es sei nur ein Wort und nicht mal ein schlimmes. Und natürlich war Walter anderer Meinung. Und ich sitze da und denke: ‹Wal-ter, Wal-ter, lass-dich-nicht-drauf-ein, Dis-kus-sion zweck-los›, aber nein, er muss ihm erklären, warum man zum Beispiel zu einem erwachsenen Mann, vor allem zu einem Schwarzen, nicht ‹Junge› sagen darf, obwohl das auch kein schlimmes Wort ist, aber Joey weigert sich ja gerade, irgendeinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen anzuerkennen, das ist doch das Problem, und so endet es damit, dass Walter sagt, Joey bekomme keinen Nachtisch, woraufhin Joey behauptet, er wolle sowieso keinen, er möge Nachtisch gar nicht besonders, und ich sitze da und denke ‹Wal-ter, Wal-ter, lass-dich-nicht-drauf-ein›, aber Walter kann nicht anders - er muss Joey beweisen, dass er Nachtisch in Wirklichkeit liebt, aber Joey akzeptiert keinen von Walters Beweisen. Er behauptet, was natürlich eine absolut schamlose Lüge ist, dass er sich sonst nur deshalb vom Nachtisch nachgenommen hat, weil das so Sitte sei, und nicht, weil es ihm etwa gut geschmeckt habe, und der arme Walter, der es nicht erträgt, angelogen zu werden, sagt: ‹Na schön, wenn du keinen Nachtisch magst, wie wär's denn dann mit einem ganzen Monat ohne?›, und ich denke: ‹Oh, Wal-ter, Wal-ter, das-kann-nicht-gutaus-ge-hen›, denn Joeys Antwort lautet: ‹Ich komme auch ein Jahr lang ohne Nachtisch aus, ich esse nie wieder Nachtisch, höchstens aus Höflichkeit, wenn ich irgendwo eingeladen bin›, was komischerweise eine glaubhafte Drohung ist - mit seinem Dickkopf könnte er das wahrscheinlich sogar durchhalten. Also sage ich: ‹Jungs, mal halblang, Nachtisch ist ein wichtiger Ernährungsbestandteil, jetzt lasst uns mal schön auf dem Teppich bleiben›, wodurch im Handumdrehen Walters Autorität untergraben ist, und da es in der ganzen Auseinandersetzung letztlich um nichts anderes als seine Autorität ging, kriege ich es hin, alles, was er vielleicht an Positivem erreicht hat, wieder zunichtezumachen.»
Der andere Mensch, der Joey über die Maßen liebte, war das Monaghan-Mädchen, Connie. Sie war eine ernste und schweigsame kleine Person, die einen irritierend ungerührt ansehen konnte, so als hätte man nichts mit ihr gemeinsam. Sie gehörte zum festen nachmittäglichen Inventar von Pattys Küche, wo sie hart daran arbeitete, Keksteig zu geometrisch vollkommenen Kugeln zu formen, bis die Butter flüssig wurde und den Teig dunkel glänzen ließ. In der Zeit, die sie für eine Kugel brauchte, formte Patty elf, und wenn sie alle aus dem Ofen kamen, versäumte Patty es nie, Connie zu fragen, ob sie den einen «wirklich perfekt gelungenen» (kleineren, flacheren, härteren) Keks essen dürfe. Jessica, die ein Jahr älter war als Connie, schien nichts dagegen zu haben, die Küche dem Nachbarsmädchen zu überlassen, während sie Bücher las oder sich mit ihren Terrarien beschäftigte. Für einen so vielseitigen Menschen wie sie stellte Connie keine Bedrohung dar. Connie wusste nichts von Ganzheit - hatte nur Tiefe, keine Breite. Wenn sie Bilder ausmalte, verlor sie sich darin, eine oder zwei Flächen mit einem einzigen Filzstift zu tränken, ließ den Rest weiß und überhörte Pattys Ermunterungen, doch auch einmal andere Farben auszuprobieren.
Connies ausgeprägte Fixierung auf Joey war für jede Mutter aus dem Viertel schon früh offensichtlich, außer für Patty, so schien es, was vielleicht daran lag, dass sie selbst so auf ihn fixiert war. In Linwood Park, wo Patty manchmal Sportveranstaltungen für die Kinder organisierte, saß Connie allein auf dem Rasen, flocht Kleeblumenkränze für niemanden und ließ die Minuten an sich vorüberrinnen, bis Joey zum Baseballabschlag ging oder mit dem Fußball über das Feld dribbelte und ihr Interesse einen Moment lang auf sich zog. Sie hatte etwas von einer Phantasiefreundin an sich, die eben sichtbar war. Dank seiner frühreifen Selbstbeherrschung hatte Joey es selten nötig, vor seinen Freunden gemein zu ihr zu sein, und sobald sich abzeichnete, dass die Jungs einfach mal unter sich sein wollten, war Connie wiederum klug genug, das Feld zu räumen und sich ohne Vorwurf oder Theater in Luft aufzulösen. Es gab ja immer noch den nächsten Tag. Lange Zeit hatte es außerdem immer noch Patty gegeben, auf Knien in ihren Gemüsebeeten oder im bekleckerten Wollhemd auf der Leiter, wo sie sich der Sisyphosarbeit widmete, den viktorianischen Anstrich in Schuss zu halten. Wenn Connie nicht bei Joey sein konnte, wollte sie ihm wenigstens nützlich sein, indem sie seiner Mutter Gesellschaft leistete, solange er nicht da war. «Wie sieht's mit deinen Hausaufgaben aus?», fragte Patty dann von der Leiter herab. «Brauchst du Hilfe?»
«Meine Mutter hilft mir, wenn sie nach Hause kommt.»
«Sie wird müde sein, so spät, wie es dann ist. Du könntest sie überraschen und dich jetzt gleich dransetzen. Willst du das nicht machen?»
«Nein, ich warte lieber.»
Wann genau Connie und Joey zu vögeln anfingen, war nicht bekannt. Seth Paulsen behauptete gern -- ohne jeden Beweis, nur um die Leute aus der Fassung zu bringen -, Joey sei elf gewesen und Connie zwölf. Seine Vermutung gründete auf den Rückzugsmöglichkeiten, die das Baumhaus bot, das Joey sich mit Walters Hilfe in einem alten Holzapfelbaum auf dem freien Grundstück gebaut hatte. Als Joeys achtes Schuljahr vorbei war, fiel in den Antworten der Nachbarsjungen auf die bemüht beiläufigen elterlichen Fragen nach dem Sexualverhalten ihrer Schulfreunde immer häufiger sein Name, und später sah es so aus, als habe Jessica gegen Ende desselben Sommers etwas gemerkt - ohne zu sagen, warum, begegnete sie sowohl Connie wie ihrem Bruder plötzlich mit schneidender Verachtung. Aber niemand sah die beiden tatsächlich je zu zweit, bis sie im darauffolgenden Winter anfingen, gemeinsame Geschäfte zu machen.
Nach Pattys Auffassung hatte Joey aus seinen ständigen Streitereien mit Walter die Lehre gezogen, dass Kinder Eltern deshalb gehorchen müssten, weil Eltern im Besitz des Geldes seien. Daraus wurde ein weiteres Beispiel für seine Außergewöhnlichkeit: Während die anderen Mütter das Anspruchsdenken beklagten, mit dem ihre Kinder Geld einforderten, karikierte Patty lachend den Verdruss, den es Joey bereitete, Walter um finanzielle Unterstützung zu bitten. Die Nachbarn, die ihm manchmal Jobs gaben, kannten ihn als erstaunlich eifrigen Schneeschaufler oder Laubharker, aber Patty sagte, er ärgere sich insgeheim über die schlechte Bezahlung und finde, die Einfahrt eines Erwachsenen frei zu schaufeln bringe ihn diesem Erwachsenen gegenüber in eine missliche Position. Die lächerlichen Ideen zum Geldverdienen, die in Pfadfindermagazinen vorgeschlagen wurden - Zeitschriftenabonnements an der Haustür verkaufen, Zaubertricks erlernen und dann für die Darbietungen Eintritt nehmen, sich mit Taxidermie-Utensilien ausrüsten und die preisgekrönten Glasaugenbarsche der Nachbarn ausstopfen -, rochen allesamt entweder nach Vasallentum («Ich bin der Taxidermist der herrschenden Klasse») oder, schlimmer noch, nach Wohltätigkeit. Und so zog es ihn in seinem Bestreben, sich von Walter zu befreien, unweigerlich zum Unternehmertum.
Irgendjemand, vielleicht sogar Carol Monaghan selbst, zahlte die Gebühren für Connies kleine katholische Privatschule, St. Catherine's, auf der die Mädchen Uniformen trugen und außer einem Ring («schlicht, nur Metall»), einer Armbanduhr («schlicht, keine Steine») und zwei Ohrringen («schlicht, nur Metall, höchstens ein Zentimeter im Durchmesser») kein Schmuck erlaubt war. Da traf es sich gut, dass eine der umschwärmten Neuntklässlerinnen aus Joeys Schule, der Central High, von einem Familienausflug nach New York mit einer in der großen Pause weithin bewunderten billigen Uhr zurückgekommen war, in deren gelbes Armband, das aussah, als ob man es kauen könnte, ein Canal-Street-Händler im Thermoverfahren kleine bonbonrosa Plastikbuchstaben eingeprägt hatte, die eine Pearl-Jam-Songtextzeile ergaben, DON'T CALL ME DAUGHTER, so hatte das Mädchen es gewünscht. Wie Joey in seinen Bewerbungsessays fürs College später selbst berichten sollte, hatte er sofort die Initiative ergriffen und die Großhandelsquelle dieser Uhr sowie den Preis eines Thermodruckers ausfindig gemacht. Er steckte vierhundert Dollar von seinen eigenen Ersparnissen in die Ausrüstung und stellte ein Musterplastikarmband für Connie her (READY FOR THE PUSH stand darauf), damit sie es in ihrer Schule herumzeigen konnte, und dann verkaufte er, mit Connie als Kurier, individuell gestaltete Armbanduhren zu dreißig Dollar das Stück an nicht weniger als ein Viertel ihrer Mitschülerinnen, bevor die Nonnen es spitzkriegten und die Kleidervorschriften um das Verbot von Uhrenarmbändern mit eingeprägtem Text ergänzten. Was Joey natürlich - erzählte Patty den anderen Müttern - für einen Skandal hielt.
«Es ist kein Skandal», sagte Walter zu ihm. «Du hast von einer künstlichen Handelsbeschränkung profitiert. Ich kann mich nicht erinnern, dass du dich über die Regeln beklagt hättest, solange sie für dich von Vorteil waren.»
«Ich habe Geld investiert. Ich bin ein Risiko eingegangen.»
«Du hast ein Schlupfloch ausgenutzt, und das haben sie jetzt gestopft. Hättest du das nicht vorhersehen können?»
«Na ja, warum hast du mich nicht gewarnt?»
«Das habe ich doch.»
«Du hast bloß gesagt, ich könnte Geld verlieren.»
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Autoren-Porträt von Jonathan Franzen
Jonathan Franzen, 1959 geboren, erhielt für seinen Weltbestseller «Die Korrekturen» 2001 den National Book Award. Er veröffentlichte ausserdem die Romane «Die 27ste Stadt», «Schweres Beben», «Freiheit» und «Unschuld», das autobiographische Buch «Die Unruhezone», die Essaysammlungen «Anleitung zum Alleinsein», «Weiter weg» und «Das Ende vom Ende der Welt» sowie «Das Kraus-Projekt» und den Klima-Essay «Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen». Er ist Mitglied der amerikanischen Academy of Arts and Letters, der Berliner Akademie der Künste und des französischen Ordre des Arts et des Lettres. 2013 wurde ihm für sein Gesamtwerk der WELT-Literaturpreis verliehen, 2022 der Thomas-Mann-Preis. 2015 erhielt er für seinen Einsatz zum Schutz der Wildvögel den EuroNatur-Preis. Er lebt in Santa Cruz, Kalifornien. Bettina Abarbanell, geboren in Hamburg, lebt als Übersetzerin - u.a. von Jonathan Franzen, Denis Johnson, Rachel Kushner, Elizabeth Taylor und F. Scott Fitzgerald - in Potsdam. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, etwa mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis. Eike Schönfeld, geboren 1949 in Rheinsberg, promovierte über Oscar Wilde, lebt als freier Übersetzer, Lektor und Autor in Hamburg. Er übersetzte u.a. J. D. Salinger, Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Christoph-Martin-Wieland-Preis 2013 und dem Hermann-Hesse-Preis 2014.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jonathan Franzen
- 2017, 6. Aufl., 736 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Bettina Abarbanell, Eike Schönfeld
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499252546
- ISBN-13: 9783499252549
- Erscheinungsdatum: 20.03.2012
Rezension zu „Freiheit “
Ein grosser Familienroman, ein gültiges Porträt unserer Zeit. Ein Buch, das den Leser gänzlich in seinen Bann zieht. FAZ.NET
Pressezitat
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