Flucht aus Lager 14
Die Geschichte des Shin Dong-hyuk, der im nordkoreanischen Gulag geboren wurde und entkam
Ein erschütternder Bericht aus der Hölle Nordkorea
Das diktatorisch regierte Nordkorea ist fast völlig isoliert, aggressiv und bettelarm. Und es hält rund 150.000 seiner Bürger in Lagern gefangen, die vergleichbar sind mit...
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Produktinformationen zu „Flucht aus Lager 14 “
Ein erschütternder Bericht aus der Hölle Nordkorea
Das diktatorisch regierte Nordkorea ist fast völlig isoliert, aggressiv und bettelarm. Und es hält rund 150.000 seiner Bürger in Lagern gefangen, die vergleichbar sind mit NS-Konzentrationslagern oder dem Gulag. Da die Lager seit Jahrzehnten existieren, gibt es inzwischen Tausende, die dort aufgewachsen sind. Einer von ihnen ist Shin Dong-hyuk.
Blaine Harden erzählt die Geschichte des 1982 im sogenannten Lager 14 geborenen Shin, der bis zu seiner Flucht nie etwas anderes kennengelernt hatte als die grausame und primitive Lagerwelt. Menschlichkeit, Vertrauen, Wärme, Zuneigung und jegliche Errungenschaften der Zivilisation waren ihm unbekannt, Hunger, Misstrauen und brutale Züchtigungen hingegen Alltag. Shins Zeugenbericht gibt einen tiefen Einblick in die unmenschlichen Lebensverhältnisse, die in dieser Lagerhölle herrschen, und schildert das berührende Schicksal eines jungen Mannes, dem wie durch ein Wunder die Flucht in die Freiheit gelang.
Klappentext zu „Flucht aus Lager 14 “
Ein erschütternder Bericht aus der Hölle NordkoreaDas diktatorisch regierte Nordkorea ist fast völlig isoliert, aggressiv und bettelarm. Und es hält rund 150.000 seiner Bürger in Lagern gefangen, die vergleichbar sind mit NS-Konzentrationslagern oder dem Gulag. Da die Lager seit Jahrzehnten existieren, gibt es inzwischen Tausende, die dort aufgewachsen sind. Einer von ihnen ist Shin Dong-hyuk.
Blaine Harden erzählt die Geschichte des 1982 im sogenannten Lager 14 geborenen Shin, der bis zu seiner Flucht nie etwas anderes kennengelernt hatte als die grausame und primitive Lagerwelt. Menschlichkeit, Vertrauen, Wärme, Zuneigung und jegliche Errungenschaften der Zivilisation waren ihm unbekannt, Hunger, Misstrauen und brutale Züchtigungen hingegen Alltag. Shins Zeugenbericht gibt einen tiefen Einblick in die unmenschlichen Lebensverhältnisse, die in dieser Lagerhölle herrschen, und schildert das berührende Schicksal eines jungen Mannes, dem wie durch ein Wunder die Flucht in die Freiheit gelang.
Lese-Probe zu „Flucht aus Lager 14 “
Flucht aus Lager 14 von Blaine Harden Aus dem Englischen von Udo Rennert
Vorwort
Ein eindrücklicher Augenblick
Seine erste Erinnerung ist die an eine Hinrichtung.
Er ging mit seiner Mutter zu einem Weizenfeld in der Nähe des Flusses Taedong, auf dem die Wärter mehrere tausend Häftlinge zusammengetrieben hatten. Aufgeregt wegen der großen Menschenmenge, krabbelte der kleine Junge durch die Beine der Erwachsenen nach vorn zur ersten Reihe, von wo aus er mit ansah, wie die Wärter einen Mann an einen Pfahl banden.
Shin In Geun war vier Jahre alt, zu jung, um die Rede zu verstehen, die vor der Hinrichtung gehalten wurde. Bei Dutzenden solcher Exekutionen in den folgenden Jahren hörte er die Worte eines kommandierenden Wärters, mit denen dieser den Anwesenden mitteilte, dass der zum Tod verurteilte Häftling die Chance gehabt habe, durch harte Arbeit »erlöst« zu werden, dieses großzügige Angebot der nordkoreanischen Regierung jedoch abgelehnt habe. Um den Häftling daran zu hindern, den Staat, der ihm gleich das Leben rauben würde, zu verfluchen, stopften die Wärter seinen Mund mit Kieselsteinen und zogen ihm eine Kapuze über den Kopf.
Bei dieser ersten Hinrichtung sah Shin drei Wärter, die ihre Gewehre anlegten. Jeder feuerte dreimal. Das Krachen der Schüsse erschreckte den Jungen so heftig, dass er rücklings auf den Boden fiel. Doch kam er gerade noch rechtzeitig wieder auf die Beine, um mit anzusehen, wie die Wärter den blutigen Toten vom Pfahl lösten, in eine Decke hüllten und auf einen Karren legten.
... mehr
Im Lager 14, einem Arbeitslager für die sogenannten politischen Feinde der nordkoreanischen Regierung, waren Ansammlungen von mehr als zwei Häftlingen verboten, außer bei Hinrichtungen, bei denen alle Häftlinge zugegen sein mussten. Für die Leiter des Arbeitslagers waren die öffentlichen Hinrichtungen ein geeignetes Mittel, um allgemein Furcht einzuflößen.
Shins Wärter im Lager waren seine Lehrer - und seine Züchter. Schließlich hatten sie seine Mutter und seinen Vater zusammengeführt. Sie brachten ihm bei, dass Häftlinge, die gegen die Vorschriften des Lagers verstießen, den Tod verdient hatten. Auf einer Anhöhe in der Nähe seiner Schule hatte man eine große Inschrift angebracht: »Alles nach den Regeln und Vorschriften«. Der kleine Junge lernte die Regeln des Lagers, »die zehn Gebote«, wie er sie später nannte, auswendig und kann sie auch heute noch aufsagen. Die erste lautete: »Jeder, der bei einem Ausbruchsversuch gefasst wird, wird auf der Stelle erschossen.«
Zehn Jahre nach der ersten Hinrichtung stand Shin erneut auf demselben Feld. Auch jetzt hatten die Wärter eine große Menge von Häftlingen hierher getrieben. Auch jetzt wurde wieder ein gespitzter Pfahl in den Boden gerammt. Daneben hatte man einen behelfsmäßigen Galgen errichtet.
Shin wurde diesmal auf dem Rücksitz eines Wagens hergebracht, den ein Wärter steuerte. Shin trug Handschellen und eine Augenbinde aus Lumpen, genau wie sein Vater, der neben ihm saß.
Sie hatten acht Monate in einem innerhalb des Lagers gelegenen unterirdischen Gefängnis hinter sich und waren erst entlassen worden, als sie sich schriftlich verpflichteten, niemals mit anderen darüber zu sprechen, was sie in diesen acht Monaten erlebt hatten.
In diesem Gefängnis im Gefängnis versuchten die Wärter, aus Shin und seinem Vater durch Folter ein Geständnis zu pressen. Sie wollten Näheres über den gescheiterten Fluchtversuch von Shins Mutter und seinem einzigen Bruder wissen. Die Wärter zogen Shin aus, fesselten seine Hand- und Fußgelenke und hängten ihn an einen Haken an der Decke. Anschließend machten sie unter ihm ein Feuer und ließen ihn langsam von der Decke herab. Als seine Haut Blasen warf, fiel er ihn Ohnmacht.
Doch er gestand nichts. Er hatte nichts zu gestehen. Er hatte sich mit seiner Mutter und seinem Bruder nicht zur Flucht verabredet. Er glaubte den Drohungen der Wärter, die ihm seit seiner Geburt im Lager immer wieder eingetrichtert hatten, dass er nicht entfliehen könne und jeden anzeigen müsse, von dem er wisse, dass er eine Flucht plane. Nicht einmal im Traum hatte Shin sich ein Leben außerhalb des Lagers vorstellen können.
Die Wärter hatten ihm nie beigebracht, was jeder nordkoreanische Schuljunge draußen lernt: Die US-Amerikaner sind »Schweine«, die in ihr Heimatland einfallen und die Bevölkerung demütigen wollen. Südkorea ist der »Hund« seines amerikanischen Herrn, Nordkorea dagegen ein großes Land, dessen heldenhafte und brillante Führer den Neid der übrigen Welt auf sich ziehen. Shin wusste nicht einmal von der Existenz Südkoreas, Chinas und der Vereinigten Staaten.
Anders als seine Landsleute wuchs er nicht mit den unvermeidlichen Fotos des »Geliebten Führers« auf, wie Kim Jong Il genannt wurde. Ebenso wenig kannte er die Fotografien und Statuen von Kims Vater, Kim Il Sung, dem »Großen Führer«, der Nordkorea gegründet hatte und bis heute der »Ewige Präsident« des Landes ist, obwohl er schon 1994 verstarb.
Zwar war Shin als Häftling zu unwichtig, um ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen, wie sie den Nordkoreanern üblicherweise zuteil wird, aber man erzog ihn dazu, seine Eltern und seine Schulkameraden zu bespitzeln. Als Belohnung erhielt er zusätzliche Essensrationen, und gemeinsam mit den Wärtern verprügelte er die Kinder, die er verriet. Die wiederum ihn verpetzten und sich daran beteiligten, wenn er von den Wärtern geprügelt wurde.
Als ihm einer der Wärter die Augenbinde abnahm und er die Menge vor sich sah, den Pfahl und den Galgen, war Shin überzeugt, dass er hingerichtet werden sollte.
Doch man stopfte ihm keine Kieselsteine in den Mund. Seine Handschellen wurden ihm abgenommen, dann führte ihn ein Wärter ganz nach vorn. Er und sein Vater sollten Zuschauer sein.
Die Wärter zerrten eine Frau mittleren Alters zum Galgen und banden einen jungen Mann an den Pfahl - es waren Shins Mutter und sein älterer Bruder.
Ein Wärter legte seiner Mutter eine Schlinge um den Hals. Sie versuchte Shin in die Augen zu schauen, doch er sah zur Seite. Als ihr Körper am Ende des Seils nicht mehr zuckte, wurde Shins Bruder von drei Wärtern erschossen. Jeder gab drei Schüsse ab.
Während er mit ansah, wie die beiden starben, war Shin erleichtert, dass es nicht ihn getroffen hatte. Er war wütend auf seine Mutter und seinen Bruder, weil sie die Flucht geplant hatten. Und er wusste, dass er für ihre Hinrichtung verantwortlich war, was er jedoch in den nächsten 15 Jahren für sich behielt.
Einleitung
Im Lager hörte er nie das Wort »Liebe«
Neun Jahre nachdem seine Mutter im Lager gehängt worden war, arbeitete sich Shin durch einen Hochspannungszaun und flüchtete im Schnee nach Norden. Es war der 2. Januar 2005. Bis zu diesem Tag war noch keinem, der in einem der politischen Arbeitslager Nordkoreas geboren worden und aufgewachsen war, die Flucht gelungen. Nach allem, was man weiß, ist Shin bis heute immer noch der Einzige.
Er war 23 Jahre alt und kannte keinen Menschen außerhalb des Lagers.
Einen Monat später erreichte er die chinesische Grenze, und nach zwei Jahren traf er in Südkorea ein. Vier Jahre später lebte er in Südkalifornien und war Senior Ambassador für die Organisation Liberty in North Korea (LiNK), eine US-amerikanische Menschenrechtsgruppe.
In Kalifornien fuhr er mit seinem Fahrrad zur Arbeit, wurde Anhänger des Baseballteams Cleveland Indians (da dort ein Südkoreaner namens Shin-Soo Choo der Star der Mannschaft war) und aß zwei- bis dreimal in der Woche im In-N-Out Burger, weil es dort die seiner Ansicht nach besten Burger gab.
Sein Name ist Shin Dong-hyuk. So nennt er sich, seit er in Südkorea angekommen ist, damit versuchte er, sich als einen freien Menschen neu zu erfinden. Er sieht gut aus und hat lebendige, wache Augen. Ein Zahnarzt in Los Angeles hat sich seiner Zähne angenommen, die er im Lager nicht pflegen konnte. Seine physische Verfassung ist insgesamt sehr zufriedenstellend, sein Körper ist jedoch gezeichnet vom harten Leben in einem der Zwangsarbeitslager, deren Existenz die nordkoreanische Regierung bis heute beharrlich bestreitet.
Wegen der unzureichenden Ernährung im Lager ist Shin eher klein und mager - er misst 1,67 Meter und ist knapp 55 Kilogramm schwer. Seine Arme sind infolge der Kinderarbeit gekrümmt, der untere Teil seines Rückens und das Gesäß übersät mit Brandmalen, die ihm seine Peiniger zugefügt haben. In der Haut über seinem Schambein ist die Stichnarbe von einem Haken zu sehen, mit dem er über dem Feuer festgehalten wurde. Seine Knöchel zeigen die Spuren der Abschürfungen durch die Fußfesseln, an denen man ihn aufhängte. Am Mittelfinger seiner rechten Hand fehlt das erste Glied. Ein Wärter schnitt es ihm ab, weil ihm in einer Textilfabrik eine Nähmaschine aus der Hand gerutscht und auf den Boden gefallen war. Seine beiden Schienbeine weisen von den Knöcheln bis zu den Knien Narben auf, Folgen der Verbrennungen, die er sich bei seiner Flucht durch den Hochspannungszaun zugezogen hat.
Shin ist etwa so alt wie Kim Jong Un, der pummelige dritte Sohn von Kim Jong Il, der nach dem Tod seines Vaters 2011 dessen Platz als Führer einnahm. Als Altersgenossen repräsentieren sie die Antipoden von Privileg und Armut in Nordkorea, einer angeblich klassenlosen Gesellschaft, in der tatsächlich allein die Herkunft und der Zugang zu Bildung über das Schicksal des Einzelnen bestimmen.
Kim Jong Un wurde als kommunistischer Prinz geboren und wuchs in den Mauern eines Palasts auf. Seine höhere Bildung erhielt er unter einem anderen Namen in der Schweiz, bevor er wieder nach Nordkorea zurückkehrte, um dort an jener Eliteuniversität zu studieren, die den Namen seines Großvaters trägt. Aufgrund seiner Abstammung steht er über dem Gesetz, alles ist möglich für ihn. So wurde er 2010 zum Vier-Sterne-General der nordkoreanischen Volksarmee ernannt, obwohl ihm jegliche militärische Erfahrung fehlte. Ein Jahr nachdem sein Vater an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben war, schilderten ihn die staatlichen Medien Nordkoreas als »einen weiteren Führer, den der Himmel geschickt hat«. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass man ihn zwingt, seine irdische diktatorische Macht mit Verwandten und Militärführern zu teilen.
Shin dagegen wurde als Sklave geboren und wuchs hinter einem unter Hochspannung stehenden Stacheldrahtzaun auf. Unterrichtet wurde er in einer Schule im Lager, wo er rudimentär lesen, schreiben und rechnen lernte. Da seine Abstammung durch die »Verbrechen« der Brüder seines Vaters einen Makel hatte, genoss er nicht den Schutz des Gesetzes. Für ihn standen keinerlei Möglichkeiten offen. Was der Staat für seinen Lebensweg vorbestimmt hatte, waren schwere Arbeit und ein vorzeitiger Tod, verursacht durch Krankheiten, die ein durch Hunger geschwächter Körper nicht abwehren kann - das alles ohne eine Anklage, ein Gerichtsverfahren oder die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Und alles im Geheimen.
Die Geschichten vom Überleben in deutschen Konzentrationslagern haben einen konventionellen Erzählverlauf: SS-Männer entreißen den Protagonisten Familie und Heim. Um zu überleben, gibt er seine moralischen Grundsätze auf, unterdrückt seine Gefühle für andere und ist schließlich kein zivilisiertes menschliches Wesen mehr.
In der vielleicht berühmtesten dieser Geschichten, Die Nacht des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel, verdeutlicht ein 13-jähriger Junge seine Qualen durch die Schilderung des normalen Lebens, das er und seine Familie geführt hatten, bevor sie alle in einen Güterzug gepfercht wurden, dessen Ziel ein deutsches Todeslager war. Der junge Wiesel hatte bis dahin täglich im Talmud gelesen, sein Vater besaß ein Handelsgeschäft und war in der jüdischen Gemeinde in einem Siebenbürger Städtchen hoch geachtet. Sein Großvater war an den jüdischen Feiertagen stets anwesend. Doch nachdem seine ganze Familie in den Todeslagern umgekommen war, fühlte sich Wiesel »allein, furchtbar allein in einer Welt ohne Gott, ohne Menschen. Ohne Liebe oder Mitgefühl«.
Die Geschichte von Shins Überleben verlief anders.
Seine Mutter schlug ihn, und er sah in ihr eine Rivalin um die Essensrationen. Sein Vater, dem die Aufseher nur fünfmal im Jahr erlaubten, eine Nacht bei seiner Frau zu verbringen, schenkte ihm keinerlei Beachtung, sein Bruder war für ihn ein Fremder. Den Kindern im Lager konnte man grundsätzlich nicht trauen, und sie misshandelten sich gegenseitig. Bevor man ihm überhaupt etwas beibrachte, lernte Shin zu überleben, indem er alle anderen denunzierte.
»Liebe«, »Mitgefühl« und »Familie« waren für Shin Wörter ohne Bedeutung. Gott war nicht verschwunden oder tot. Shin hatte nie von ihm gehört.
Im Vorwort zu einer englischen Ausgabe von »Die Nacht« schrieb Wiesel, das Wissen eines Heranwachsenden über den Tod und das Böse solle sich auf das beschränken, was man in der Literatur entdecke.
Im Lager 14 wusste Shin nicht einmal, dass es Literatur gab oder was der Begriff überhaupt bedeutete. Das einzige Buch, das er im Lager jemals sah, war eine koreanische Grammatik in den Händen eines Lehrers, der die Uniform eines Aufsehers und einen Revolver an der Hüfte trug und eine seiner Mitschülerinnen in der Grundstufe zu Tode prügelte.
Im Unterschied zu all jenen, die ein Konzentrationslager überlebt haben, wurde Shin nicht aus einem zivilisierten Leben herausgerissen und gezwungen, in eine Hölle hinabzusteigen. Er wurde bereits in der Hölle geboren und aufgezogen. Er akzeptierte ihre Werte. Für ihn war sie sein Zuhause.
Die nordkoreanischen Zwangsarbeitslager existieren inzwischen doppelt so lange wie der sowjetische Gulag und rund zwölfmal so lange wie die deutschen Konzentrationslager. Es steht außer Frage, wo sie sich befinden. Hochauflösende Satellitenfotos, die über Google Earth jedem zugänglich sind, der über eine Internetverbindung verfügt, zeigen ausgedehnte eingezäunte Lager, die sich über die zerklüfteten Berge Nordkoreas erstrecken.
Die südkoreanische Regierung schätzt, dass dort etwa 154 000 Häftlinge festgehalten werden, während das US-Außenministerium und etliche Menschenrechtsgruppen von 200 000 Gefangenen ausgehen. Nach der Auswertung von Satellitenfotos aus einem Zeitraum von zehn Jahren hat Amnesty International 2011 in den Camps neue Bauten gefunden und befürchtet daher, dass die Zahl der Häftlinge zunimmt. Möglicherweise um Unruhen vorzubeugen, da die Macht inzwischen von Kim Jong Il auf seinen jungen und unerfahrenen Sohn übergegangen ist.1
Schätzungen des südkoreanischen Geheimdienstes und von Menschenrechtsgruppen zufolge gibt es sechs solcher Lager. Das größte ist rund 50 Kilometer lang und 40 Kilometer breit, seine Fläche ist größer als die von Los Angeles. Hochspannungszäune - unterbrochen von Wachttürmen und von bewaffneten Wachen kontrolliert - bilden zum größten Teil die Grenzen der Lager. In zwei dieser Lager, Nr. 15 und Nr. 18, gibt es Umerziehungszonen, in denen eine kleine Zahl glücklicher Häftlinge in Förderkursen in den Lehren von Kim Jong Il und Kim Il Sung unterrichtet wird. Wenn sie die Lehren zufriedenstellend auswendig gelernt und die Aufseher von ihrer Loyalität überzeugt haben, können sie freigelassen werden, stehen jedoch für den Rest ihres Lebens unter der Aufsicht des Geheimdienstes.
Die übrigen Lager sind »Bezirke unter absoluter Kontrolle«, in denen die Häftlinge, die als »nicht verbesserungsfähig«2 bezeichnet werden, durch Arbeit zu Tode gebracht werden.
Shins Lager, Nr. 14, ist solch ein »Bezirk unter absoluter Kontrolle«. Es gilt wegen seiner besonders brutalen Arbeitsbedingungen, der Wachsamkeit seiner Wärter und der unversöhnlichen Einstellung des Staates zur Schwere der Verbrechen, die den Häftlingen vorgeworfen werden, als das schlimmste Lager in Nordkorea. Bei den Gefangenen handelt es sich vielfach um »gesäuberte« ehemalige Beamte der herrschenden Partei, der Regierung und des Militärs samt ihren Familienangehörigen. Das Lager wurde 1959 in Zentralnordkorea - Landkreis Gaecheon, Provinz Hamgyeong - errichtet, umfasst 15 000 Häftlinge und erstreckt sich über eine Fläche von 280 Quadratkilometern. Auf diesem Gelände befinden sich landwirtschaftliche Betriebe, Bergwerke und Fabriken, verteilt auf fünf Bergtäler.
Zwar ist Shin der einzige in einem dieser Arbeitslager Geborene, dem die Flucht gelang, so dass er seine Geschichte erzählen kann, doch gibt es mindestens 26 weitere Augenzeugen aus den Arbeitslagern, die sich heute in der freien Welt aufhalten.3 Darunter sind mindestens 15 Nordkoreaner, die im Lager 15 einer Förderung für würdig befunden worden waren, sich bewährten, schließlich entlassen wurden und später in Südkorea auftauchten. Kim Yong, ein ehemaliger nordkoreanischer Oberstleutnant aus einer privilegierten Familie in Pjöngjang, verbrachte sechs Jahre in zwei Lagern, bevor ihm in einem Kohlengüterzug die Flucht gelang.
Die Zusammenfassung ihrer Berichte durch die Korean Bar Association (Koreanische Anwaltskammer) in Seoul gibt ein detailliertes Bild vom täglichen Leben in diesen Lagern: Jedes Jahr werden einige Häftlinge vor den Augen der übrigen hingerichtet. Andere werden zu Tode geprügelt oder heimlich ermordet von Wärtern, die nahezu schrankenlose Freiheiten haben, Häftlinge zu misshandeln oder zu vergewaltigen. Die meisten Häftlinge arbeiten in der Landwirtschaft oder in Kohlenbergwerken, nähen Militäruniformen oder stellen Zement her, während sie sich von viel zu kleinen Portionen Mais, Kohl und Salz ernähren müssen. Ihnen fallen mit der Zeit die Zähne aus, ihr Zahnfleisch wird schwarz, ihre Knochen bilden sich zurück, und wenn sie die vierzig überschritten haben, krümmt sich ihr Oberkörper nach vorn. Ein- oder zweimal im Jahr erhalten sie Kleidung, sie arbeiten und schlafen in schmutzigen Lumpen, leben ohne Seife, Socken, Handschuhe, Unterwäsche oder Toilettenpapier. Tag für Tag müssen sie zwölf bis fünfzehn Stunden arbeiten, bis sie sterben, gewöhnlich an den Folgen der Unterernährung und noch bevor sie fünfzig Jahre alt sind.4 Auch wenn wir keine genauen Zahlen ermitteln können, gibt es Schätzungen westlicher Regierungen und Menschenrechtsgruppen, dass in diesen Lagern Hunderttausende umgekommen sind.
Die meisten Nordkoreaner, die in ein Lager geschickt werden, sind nicht einmal vor ein Gericht gestellt worden. Viele sterben dort, ohne jemals zu erfahren, aus welchem Grund sie interniert wurden. Mitarbeiter der Bowibu, der Nationalen Sicherheitsbehörde, holen sie - gewöhnlich in der Nacht - zu Hause ab. Teil der nordkoreanischen Rechtsauffassung ist, dass man kraft Verbindung oder Verwandtschaft schuldig wird, und so wird ein Übeltäter häufig zusammen mit seinen Eltern und Kindern ins Gefängnis eingeliefert. Kim Il Sung hat dazu 1958 folgendes Gesetz formuliert: »Klassenfeinde müssen ohne Ansehung der Person bis ins dritte Glied ausgemerzt werden.«
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Im Lager 14, einem Arbeitslager für die sogenannten politischen Feinde der nordkoreanischen Regierung, waren Ansammlungen von mehr als zwei Häftlingen verboten, außer bei Hinrichtungen, bei denen alle Häftlinge zugegen sein mussten. Für die Leiter des Arbeitslagers waren die öffentlichen Hinrichtungen ein geeignetes Mittel, um allgemein Furcht einzuflößen.
Shins Wärter im Lager waren seine Lehrer - und seine Züchter. Schließlich hatten sie seine Mutter und seinen Vater zusammengeführt. Sie brachten ihm bei, dass Häftlinge, die gegen die Vorschriften des Lagers verstießen, den Tod verdient hatten. Auf einer Anhöhe in der Nähe seiner Schule hatte man eine große Inschrift angebracht: »Alles nach den Regeln und Vorschriften«. Der kleine Junge lernte die Regeln des Lagers, »die zehn Gebote«, wie er sie später nannte, auswendig und kann sie auch heute noch aufsagen. Die erste lautete: »Jeder, der bei einem Ausbruchsversuch gefasst wird, wird auf der Stelle erschossen.«
Zehn Jahre nach der ersten Hinrichtung stand Shin erneut auf demselben Feld. Auch jetzt hatten die Wärter eine große Menge von Häftlingen hierher getrieben. Auch jetzt wurde wieder ein gespitzter Pfahl in den Boden gerammt. Daneben hatte man einen behelfsmäßigen Galgen errichtet.
Shin wurde diesmal auf dem Rücksitz eines Wagens hergebracht, den ein Wärter steuerte. Shin trug Handschellen und eine Augenbinde aus Lumpen, genau wie sein Vater, der neben ihm saß.
Sie hatten acht Monate in einem innerhalb des Lagers gelegenen unterirdischen Gefängnis hinter sich und waren erst entlassen worden, als sie sich schriftlich verpflichteten, niemals mit anderen darüber zu sprechen, was sie in diesen acht Monaten erlebt hatten.
In diesem Gefängnis im Gefängnis versuchten die Wärter, aus Shin und seinem Vater durch Folter ein Geständnis zu pressen. Sie wollten Näheres über den gescheiterten Fluchtversuch von Shins Mutter und seinem einzigen Bruder wissen. Die Wärter zogen Shin aus, fesselten seine Hand- und Fußgelenke und hängten ihn an einen Haken an der Decke. Anschließend machten sie unter ihm ein Feuer und ließen ihn langsam von der Decke herab. Als seine Haut Blasen warf, fiel er ihn Ohnmacht.
Doch er gestand nichts. Er hatte nichts zu gestehen. Er hatte sich mit seiner Mutter und seinem Bruder nicht zur Flucht verabredet. Er glaubte den Drohungen der Wärter, die ihm seit seiner Geburt im Lager immer wieder eingetrichtert hatten, dass er nicht entfliehen könne und jeden anzeigen müsse, von dem er wisse, dass er eine Flucht plane. Nicht einmal im Traum hatte Shin sich ein Leben außerhalb des Lagers vorstellen können.
Die Wärter hatten ihm nie beigebracht, was jeder nordkoreanische Schuljunge draußen lernt: Die US-Amerikaner sind »Schweine«, die in ihr Heimatland einfallen und die Bevölkerung demütigen wollen. Südkorea ist der »Hund« seines amerikanischen Herrn, Nordkorea dagegen ein großes Land, dessen heldenhafte und brillante Führer den Neid der übrigen Welt auf sich ziehen. Shin wusste nicht einmal von der Existenz Südkoreas, Chinas und der Vereinigten Staaten.
Anders als seine Landsleute wuchs er nicht mit den unvermeidlichen Fotos des »Geliebten Führers« auf, wie Kim Jong Il genannt wurde. Ebenso wenig kannte er die Fotografien und Statuen von Kims Vater, Kim Il Sung, dem »Großen Führer«, der Nordkorea gegründet hatte und bis heute der »Ewige Präsident« des Landes ist, obwohl er schon 1994 verstarb.
Zwar war Shin als Häftling zu unwichtig, um ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen, wie sie den Nordkoreanern üblicherweise zuteil wird, aber man erzog ihn dazu, seine Eltern und seine Schulkameraden zu bespitzeln. Als Belohnung erhielt er zusätzliche Essensrationen, und gemeinsam mit den Wärtern verprügelte er die Kinder, die er verriet. Die wiederum ihn verpetzten und sich daran beteiligten, wenn er von den Wärtern geprügelt wurde.
Als ihm einer der Wärter die Augenbinde abnahm und er die Menge vor sich sah, den Pfahl und den Galgen, war Shin überzeugt, dass er hingerichtet werden sollte.
Doch man stopfte ihm keine Kieselsteine in den Mund. Seine Handschellen wurden ihm abgenommen, dann führte ihn ein Wärter ganz nach vorn. Er und sein Vater sollten Zuschauer sein.
Die Wärter zerrten eine Frau mittleren Alters zum Galgen und banden einen jungen Mann an den Pfahl - es waren Shins Mutter und sein älterer Bruder.
Ein Wärter legte seiner Mutter eine Schlinge um den Hals. Sie versuchte Shin in die Augen zu schauen, doch er sah zur Seite. Als ihr Körper am Ende des Seils nicht mehr zuckte, wurde Shins Bruder von drei Wärtern erschossen. Jeder gab drei Schüsse ab.
Während er mit ansah, wie die beiden starben, war Shin erleichtert, dass es nicht ihn getroffen hatte. Er war wütend auf seine Mutter und seinen Bruder, weil sie die Flucht geplant hatten. Und er wusste, dass er für ihre Hinrichtung verantwortlich war, was er jedoch in den nächsten 15 Jahren für sich behielt.
Einleitung
Im Lager hörte er nie das Wort »Liebe«
Neun Jahre nachdem seine Mutter im Lager gehängt worden war, arbeitete sich Shin durch einen Hochspannungszaun und flüchtete im Schnee nach Norden. Es war der 2. Januar 2005. Bis zu diesem Tag war noch keinem, der in einem der politischen Arbeitslager Nordkoreas geboren worden und aufgewachsen war, die Flucht gelungen. Nach allem, was man weiß, ist Shin bis heute immer noch der Einzige.
Er war 23 Jahre alt und kannte keinen Menschen außerhalb des Lagers.
Einen Monat später erreichte er die chinesische Grenze, und nach zwei Jahren traf er in Südkorea ein. Vier Jahre später lebte er in Südkalifornien und war Senior Ambassador für die Organisation Liberty in North Korea (LiNK), eine US-amerikanische Menschenrechtsgruppe.
In Kalifornien fuhr er mit seinem Fahrrad zur Arbeit, wurde Anhänger des Baseballteams Cleveland Indians (da dort ein Südkoreaner namens Shin-Soo Choo der Star der Mannschaft war) und aß zwei- bis dreimal in der Woche im In-N-Out Burger, weil es dort die seiner Ansicht nach besten Burger gab.
Sein Name ist Shin Dong-hyuk. So nennt er sich, seit er in Südkorea angekommen ist, damit versuchte er, sich als einen freien Menschen neu zu erfinden. Er sieht gut aus und hat lebendige, wache Augen. Ein Zahnarzt in Los Angeles hat sich seiner Zähne angenommen, die er im Lager nicht pflegen konnte. Seine physische Verfassung ist insgesamt sehr zufriedenstellend, sein Körper ist jedoch gezeichnet vom harten Leben in einem der Zwangsarbeitslager, deren Existenz die nordkoreanische Regierung bis heute beharrlich bestreitet.
Wegen der unzureichenden Ernährung im Lager ist Shin eher klein und mager - er misst 1,67 Meter und ist knapp 55 Kilogramm schwer. Seine Arme sind infolge der Kinderarbeit gekrümmt, der untere Teil seines Rückens und das Gesäß übersät mit Brandmalen, die ihm seine Peiniger zugefügt haben. In der Haut über seinem Schambein ist die Stichnarbe von einem Haken zu sehen, mit dem er über dem Feuer festgehalten wurde. Seine Knöchel zeigen die Spuren der Abschürfungen durch die Fußfesseln, an denen man ihn aufhängte. Am Mittelfinger seiner rechten Hand fehlt das erste Glied. Ein Wärter schnitt es ihm ab, weil ihm in einer Textilfabrik eine Nähmaschine aus der Hand gerutscht und auf den Boden gefallen war. Seine beiden Schienbeine weisen von den Knöcheln bis zu den Knien Narben auf, Folgen der Verbrennungen, die er sich bei seiner Flucht durch den Hochspannungszaun zugezogen hat.
Shin ist etwa so alt wie Kim Jong Un, der pummelige dritte Sohn von Kim Jong Il, der nach dem Tod seines Vaters 2011 dessen Platz als Führer einnahm. Als Altersgenossen repräsentieren sie die Antipoden von Privileg und Armut in Nordkorea, einer angeblich klassenlosen Gesellschaft, in der tatsächlich allein die Herkunft und der Zugang zu Bildung über das Schicksal des Einzelnen bestimmen.
Kim Jong Un wurde als kommunistischer Prinz geboren und wuchs in den Mauern eines Palasts auf. Seine höhere Bildung erhielt er unter einem anderen Namen in der Schweiz, bevor er wieder nach Nordkorea zurückkehrte, um dort an jener Eliteuniversität zu studieren, die den Namen seines Großvaters trägt. Aufgrund seiner Abstammung steht er über dem Gesetz, alles ist möglich für ihn. So wurde er 2010 zum Vier-Sterne-General der nordkoreanischen Volksarmee ernannt, obwohl ihm jegliche militärische Erfahrung fehlte. Ein Jahr nachdem sein Vater an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben war, schilderten ihn die staatlichen Medien Nordkoreas als »einen weiteren Führer, den der Himmel geschickt hat«. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass man ihn zwingt, seine irdische diktatorische Macht mit Verwandten und Militärführern zu teilen.
Shin dagegen wurde als Sklave geboren und wuchs hinter einem unter Hochspannung stehenden Stacheldrahtzaun auf. Unterrichtet wurde er in einer Schule im Lager, wo er rudimentär lesen, schreiben und rechnen lernte. Da seine Abstammung durch die »Verbrechen« der Brüder seines Vaters einen Makel hatte, genoss er nicht den Schutz des Gesetzes. Für ihn standen keinerlei Möglichkeiten offen. Was der Staat für seinen Lebensweg vorbestimmt hatte, waren schwere Arbeit und ein vorzeitiger Tod, verursacht durch Krankheiten, die ein durch Hunger geschwächter Körper nicht abwehren kann - das alles ohne eine Anklage, ein Gerichtsverfahren oder die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Und alles im Geheimen.
Die Geschichten vom Überleben in deutschen Konzentrationslagern haben einen konventionellen Erzählverlauf: SS-Männer entreißen den Protagonisten Familie und Heim. Um zu überleben, gibt er seine moralischen Grundsätze auf, unterdrückt seine Gefühle für andere und ist schließlich kein zivilisiertes menschliches Wesen mehr.
In der vielleicht berühmtesten dieser Geschichten, Die Nacht des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel, verdeutlicht ein 13-jähriger Junge seine Qualen durch die Schilderung des normalen Lebens, das er und seine Familie geführt hatten, bevor sie alle in einen Güterzug gepfercht wurden, dessen Ziel ein deutsches Todeslager war. Der junge Wiesel hatte bis dahin täglich im Talmud gelesen, sein Vater besaß ein Handelsgeschäft und war in der jüdischen Gemeinde in einem Siebenbürger Städtchen hoch geachtet. Sein Großvater war an den jüdischen Feiertagen stets anwesend. Doch nachdem seine ganze Familie in den Todeslagern umgekommen war, fühlte sich Wiesel »allein, furchtbar allein in einer Welt ohne Gott, ohne Menschen. Ohne Liebe oder Mitgefühl«.
Die Geschichte von Shins Überleben verlief anders.
Seine Mutter schlug ihn, und er sah in ihr eine Rivalin um die Essensrationen. Sein Vater, dem die Aufseher nur fünfmal im Jahr erlaubten, eine Nacht bei seiner Frau zu verbringen, schenkte ihm keinerlei Beachtung, sein Bruder war für ihn ein Fremder. Den Kindern im Lager konnte man grundsätzlich nicht trauen, und sie misshandelten sich gegenseitig. Bevor man ihm überhaupt etwas beibrachte, lernte Shin zu überleben, indem er alle anderen denunzierte.
»Liebe«, »Mitgefühl« und »Familie« waren für Shin Wörter ohne Bedeutung. Gott war nicht verschwunden oder tot. Shin hatte nie von ihm gehört.
Im Vorwort zu einer englischen Ausgabe von »Die Nacht« schrieb Wiesel, das Wissen eines Heranwachsenden über den Tod und das Böse solle sich auf das beschränken, was man in der Literatur entdecke.
Im Lager 14 wusste Shin nicht einmal, dass es Literatur gab oder was der Begriff überhaupt bedeutete. Das einzige Buch, das er im Lager jemals sah, war eine koreanische Grammatik in den Händen eines Lehrers, der die Uniform eines Aufsehers und einen Revolver an der Hüfte trug und eine seiner Mitschülerinnen in der Grundstufe zu Tode prügelte.
Im Unterschied zu all jenen, die ein Konzentrationslager überlebt haben, wurde Shin nicht aus einem zivilisierten Leben herausgerissen und gezwungen, in eine Hölle hinabzusteigen. Er wurde bereits in der Hölle geboren und aufgezogen. Er akzeptierte ihre Werte. Für ihn war sie sein Zuhause.
Die nordkoreanischen Zwangsarbeitslager existieren inzwischen doppelt so lange wie der sowjetische Gulag und rund zwölfmal so lange wie die deutschen Konzentrationslager. Es steht außer Frage, wo sie sich befinden. Hochauflösende Satellitenfotos, die über Google Earth jedem zugänglich sind, der über eine Internetverbindung verfügt, zeigen ausgedehnte eingezäunte Lager, die sich über die zerklüfteten Berge Nordkoreas erstrecken.
Die südkoreanische Regierung schätzt, dass dort etwa 154 000 Häftlinge festgehalten werden, während das US-Außenministerium und etliche Menschenrechtsgruppen von 200 000 Gefangenen ausgehen. Nach der Auswertung von Satellitenfotos aus einem Zeitraum von zehn Jahren hat Amnesty International 2011 in den Camps neue Bauten gefunden und befürchtet daher, dass die Zahl der Häftlinge zunimmt. Möglicherweise um Unruhen vorzubeugen, da die Macht inzwischen von Kim Jong Il auf seinen jungen und unerfahrenen Sohn übergegangen ist.1
Schätzungen des südkoreanischen Geheimdienstes und von Menschenrechtsgruppen zufolge gibt es sechs solcher Lager. Das größte ist rund 50 Kilometer lang und 40 Kilometer breit, seine Fläche ist größer als die von Los Angeles. Hochspannungszäune - unterbrochen von Wachttürmen und von bewaffneten Wachen kontrolliert - bilden zum größten Teil die Grenzen der Lager. In zwei dieser Lager, Nr. 15 und Nr. 18, gibt es Umerziehungszonen, in denen eine kleine Zahl glücklicher Häftlinge in Förderkursen in den Lehren von Kim Jong Il und Kim Il Sung unterrichtet wird. Wenn sie die Lehren zufriedenstellend auswendig gelernt und die Aufseher von ihrer Loyalität überzeugt haben, können sie freigelassen werden, stehen jedoch für den Rest ihres Lebens unter der Aufsicht des Geheimdienstes.
Die übrigen Lager sind »Bezirke unter absoluter Kontrolle«, in denen die Häftlinge, die als »nicht verbesserungsfähig«2 bezeichnet werden, durch Arbeit zu Tode gebracht werden.
Shins Lager, Nr. 14, ist solch ein »Bezirk unter absoluter Kontrolle«. Es gilt wegen seiner besonders brutalen Arbeitsbedingungen, der Wachsamkeit seiner Wärter und der unversöhnlichen Einstellung des Staates zur Schwere der Verbrechen, die den Häftlingen vorgeworfen werden, als das schlimmste Lager in Nordkorea. Bei den Gefangenen handelt es sich vielfach um »gesäuberte« ehemalige Beamte der herrschenden Partei, der Regierung und des Militärs samt ihren Familienangehörigen. Das Lager wurde 1959 in Zentralnordkorea - Landkreis Gaecheon, Provinz Hamgyeong - errichtet, umfasst 15 000 Häftlinge und erstreckt sich über eine Fläche von 280 Quadratkilometern. Auf diesem Gelände befinden sich landwirtschaftliche Betriebe, Bergwerke und Fabriken, verteilt auf fünf Bergtäler.
Zwar ist Shin der einzige in einem dieser Arbeitslager Geborene, dem die Flucht gelang, so dass er seine Geschichte erzählen kann, doch gibt es mindestens 26 weitere Augenzeugen aus den Arbeitslagern, die sich heute in der freien Welt aufhalten.3 Darunter sind mindestens 15 Nordkoreaner, die im Lager 15 einer Förderung für würdig befunden worden waren, sich bewährten, schließlich entlassen wurden und später in Südkorea auftauchten. Kim Yong, ein ehemaliger nordkoreanischer Oberstleutnant aus einer privilegierten Familie in Pjöngjang, verbrachte sechs Jahre in zwei Lagern, bevor ihm in einem Kohlengüterzug die Flucht gelang.
Die Zusammenfassung ihrer Berichte durch die Korean Bar Association (Koreanische Anwaltskammer) in Seoul gibt ein detailliertes Bild vom täglichen Leben in diesen Lagern: Jedes Jahr werden einige Häftlinge vor den Augen der übrigen hingerichtet. Andere werden zu Tode geprügelt oder heimlich ermordet von Wärtern, die nahezu schrankenlose Freiheiten haben, Häftlinge zu misshandeln oder zu vergewaltigen. Die meisten Häftlinge arbeiten in der Landwirtschaft oder in Kohlenbergwerken, nähen Militäruniformen oder stellen Zement her, während sie sich von viel zu kleinen Portionen Mais, Kohl und Salz ernähren müssen. Ihnen fallen mit der Zeit die Zähne aus, ihr Zahnfleisch wird schwarz, ihre Knochen bilden sich zurück, und wenn sie die vierzig überschritten haben, krümmt sich ihr Oberkörper nach vorn. Ein- oder zweimal im Jahr erhalten sie Kleidung, sie arbeiten und schlafen in schmutzigen Lumpen, leben ohne Seife, Socken, Handschuhe, Unterwäsche oder Toilettenpapier. Tag für Tag müssen sie zwölf bis fünfzehn Stunden arbeiten, bis sie sterben, gewöhnlich an den Folgen der Unterernährung und noch bevor sie fünfzig Jahre alt sind.4 Auch wenn wir keine genauen Zahlen ermitteln können, gibt es Schätzungen westlicher Regierungen und Menschenrechtsgruppen, dass in diesen Lagern Hunderttausende umgekommen sind.
Die meisten Nordkoreaner, die in ein Lager geschickt werden, sind nicht einmal vor ein Gericht gestellt worden. Viele sterben dort, ohne jemals zu erfahren, aus welchem Grund sie interniert wurden. Mitarbeiter der Bowibu, der Nationalen Sicherheitsbehörde, holen sie - gewöhnlich in der Nacht - zu Hause ab. Teil der nordkoreanischen Rechtsauffassung ist, dass man kraft Verbindung oder Verwandtschaft schuldig wird, und so wird ein Übeltäter häufig zusammen mit seinen Eltern und Kindern ins Gefängnis eingeliefert. Kim Il Sung hat dazu 1958 folgendes Gesetz formuliert: »Klassenfeinde müssen ohne Ansehung der Person bis ins dritte Glied ausgemerzt werden.«
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Blaine Harden
Harden, BlaineBlaine Harden, geboren 1952, ist Autor des »Economist« und der US-Dokumentarsendung »PBS Fronline«. Zuvor war er Korrespondent der »Washington Post« in Asien, Osteuropa und Afrika und arbeitete eine Zeitlang für die »New York Times«. Er veröffentlichte bereits zwei Bücher, darunter eines über Afrika, und lebt in Seattle.Shin Dong-hyuk, geboren 1982 im Lager 14, lebt seit seiner Flucht aus Nordkorea in Washington und Seoul.
Bibliographische Angaben
- Autor: Blaine Harden
- Nachdruck, 256 Seiten, mit Abbildungen, Masse: 14,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Rennert, Udo
- Übersetzer: Udo Rennert
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421045704
- ISBN-13: 9783421045706
- Erscheinungsdatum: 10.09.2012
Rezension zu „Flucht aus Lager 14 “
»Ein erschütterndes Buch.« DIE ZEIT, 19.09.2013
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