Floras Traum (Das Blumenorakel)
Eine Welt voller Gefühle
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Floras Traum (Das Blumenorakel) “
Eine Welt voller Gefühle
Klappentext zu „Floras Traum (Das Blumenorakel) “
Baden-Baden, 1871. Eigentlich sollte die junge Flora die Samenhandlung ihrer Eltern übernehmen, doch dann geht ihr grösster Traum in Erfüllung: Sie darf in der weltoffenen Kurstadt das Handwerk der Blumenbinderei erlernen. Die vornehmen Kunden sind begeistert von ihren geschmackvollen Arrangements und ihrem besonderen Verständnis von der Sprache der Blumen. Doch als Flora sich unsterblich verliebt, fordert sie das Glück heraus.
Lese-Probe zu „Floras Traum (Das Blumenorakel) “
Floras Traum von Petra Durst-BenningDie Wiesen rund um das blaugrün schillernde Wasser des Wildsees waren besonders üppig, weshalb die Hirten ihre Ziegen dort besonders gern weideten. Bedächtig zupften die Tiere die feinwürzigen Kräuter, keines kam in die Versuchung, wilde Sprünge zu machen oder davonzulaufen. Zufrieden mit der Wahl seines Weideplatzes, zog der junge Hirte seine Schalmei hervor und begann voller Hingabe zu spielen. Doch bald mischten sich in seine verträumte Melodie noch andere, viel schönere und feinere Klänge, die vom See herüberzuwehen schienen. Neugierig machte er sich zum Ufer auf und traute seinen Augen kaum, als er auf einem Felsen im See eine herrlich anzuschauende Wasserfrau mit schwarzgelocktem Haar und grün funkelnden Augen erspähte. Sie spielte auf einer goldenen Harfe und sang mit glockenklarer Stimme dazu - eine Weise, die der Hirte nicht kannte, die ihn aber sofort in ihren Bann zog. Nur einmal schaute die Nixe den Jüngling an und lächelte leise dabei, ohne ihr Spiel und den Gesang zu unterbrechen. So etwas Schönes hatte der Hirte noch nie gesehen, solch schöne Klänge nie gehört! Am liebsten wäre er für immer dort sitzen geblieben. Erst als es dunkel wurde, ging er zurück zu seinen Tieren. Fortan kam er Abend für Abend an den See, um den verzauberten Klängen zu lauschen. Sie heiße Merline, verriet die Schöne dem Jüngling eines Tages. Aber nie dürfe er sie mit diesem Namen ansprechen oder ihn ausrufen, wenn er sie nicht antreffe, denn sonst würde etwas Schlimmes geschehen.
Der Hirte nickte verwirrt.
... mehr
Eines Tageslief er auf seinem Gang zum See einem alten Pechsieder, der seit Ewigkeiten in der Gegend unterwegs war, über den Weg. Er solle achtsam sein, warnte der Mann den Hirten. Schon so manch hübscher Jüngling habe im See sein ewiges Grab gefunden, weil er den lockenden Klängen der Nixe erlegen sei.
Seine Warnungen waren vergeblich - der junge Hirte war Merline längst verfallen, und eines Abends, als er die Nixe nicht auf ihrem gewohnten Felsen sitzen sah, konnte er nicht anders, als ihren Namen zu rufen.
»Merline ...!«
Doch statt ihrer wurde er einer blutroten Rose gewahr, die aus der Wasserfläche herauswuchs und ans Ufer trieb. Als der Jüngling danach greifen wollte, fiel er ins Wasser und verfing sich im Dickicht der Schlingpflanzen. Er ruderte angstvoll mit den Armen und strampelte mit den Beinen, aber der Wildsee ließ ihn nicht mehr los, sondern zog ihn hinab in die Tiefe.
Die ganze Nacht und den nächsten Morgen blökten die Ziegen vergeblich nach ihrem Hirten. Danach verloren sie sich in den Wäldern rund um den See und waren ebenfalls nie mehr gesehen.
1. Kapitel Januar 1871
Baden-Baden! Ich weiß jetzt schon, dass ich die Stadt nicht mögen werde.« Mürrisch starrte Flora aus dem Zugfenster. Der schwarze Kohlequalm der Dampflokomotive mischte sich mit dem lautlos fallenden Schnee zu einem unappetitlich aussehenden Schleier. Man konnte die Umgebung nur noch als graue Schatten wahrnehmen. Die wenigen Menschen, die unterwegs waren, versteckten ihre Nasen hinter den Mantelkragen oder Taschentüchern, um der schlechten Luft zu entgehen. Flora wies am Bahnhofsgebäude vorbei auf ein riesiges Banner, das von einem Hotelfenster herabhing. »Bayerischer Hof - schau nur, wie protzig sie ihre Speisen und Getränke anpreisen! « »Keine Sorge, unser Hotel liegt viel weiter in der Stadt und es ist gewiss nicht so vornehm.« Hannah Kerner, die neben Flora saß, seufzte. Das Letzte, was sie im Moment brauchen konnte, waren die Nörgeleien ihrer Tochter. »Na, da bin ich aber froh. Brrr! Wie düster hier alles wirkt! Und irgendwie verlassen. Hier sollen wir also gute Geschäfte machen? Kuckucksspucke ist das, mehr nicht ...« Dass ihre eigene Miene mindestens so düster und unfreundlich wirkte wie Baden-Baden an diesem Wintertag, schien Flora gar nicht zu merken. Unwillkürlich warf auch Hannah einen skeptischen Blick auf die verschneite Stadt. Keine Soldaten weit und breit - sie wusste nicht, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Noch herrschte Krieg, Frankreich hatte offiziell noch nicht kapituliert, auch wenn die Zeitungen voll waren mit Berichten vom deutschen Sieg über die Franzosen. Offenbar hatte sich König Wilhelm schon vor ein paar Tagen im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser erklären lassen, von einer Geste »absoluter Unterwerfung« war in den Zeitungen die Rede gewesen. Ein deutscher Kaiser in Versailles - das war doch was! Helmut, Hannahs Mann, und die anderen Männer aus dem Dorf hatten den neuen Kaiser mit viel Bier und Schnaps hochleben lassen.
Aber was wäre, wenn sich die Franzosen gar nicht »absolut unterworfen« fühlten? Womöglich stand Frankreich kurz davor zurückzuschlagen? Falls ja, befänden sich Flora und sie hier in Baden-Baden an einem äußerst unsicheren Ort ...
Obwohl Hannah die Stadt von früheren Fahrten her recht gut kannte und schätzte, war ihr diesmal mehr als ein wenig mulmig zumute. Ganz gewiss gab es bessere Zeiten für eine Reise nach Baden-Baden als ausgerechnet den Januar dieses Jahres. Umso mehr bemühte sich Hannah, gegenüber Flora Zuversicht und Sorglosigkeit auszustrahlen. Es tat nicht not, dass ihre Tochter neben all dem Unwillen, den sie eh schon hegte, auch noch Angst verspürte.
In den letzten Tagen vor ihrer Abreise hatte Helmut jeden, der zuvor auch nur in die Nähe von Baden-Baden gekommen war, über die politische Lage befragt, doch keiner der Reisenden hatte etwas von Kämpfen oder gefährlichen Situationen berichtet. Also könnten auch Frau und Tochter ruhig losziehen, hatte Helmut gemeint. Hannah hatte nichts dagegen gesagt. Was auch? Sie konnten es sich nicht leisten, zu Hause auf bessere Tage zu warten! Sie mussten sich bei der Kundschaft zeigen, bevor die sich umorientierte.
Und ausgerechnet in dieser besonderen Situation musste es Hannah gelingen, der Tochter das Reisen und den Handel schmackhaft zu machen. Bisher war sie darin nicht sehr erfolgreich gewesen ...
Inzwischen stand der Zug. Die Tür des Abteils wurde aufgerissen, kalte Luft schwappte herein, die Schonzeit war vorüber.
»Jetzt hör auf zu schmollen!«, sagte Hannah an Flora gewandt. »Nimm die Leinentasche mit dem Essen und den Gastgeschenken, ich trage den Zwerchsack und den Koffer.« Noch während sie sprach, warf sie sich ihren warmen Umhang aus grünem Filz über, betrachtete prüfend ihr Spiegelbild in der beschlagenen Fensterscheibe, rückte den Filzhut zurecht und war zufrieden mit dem, was sie sah: Das Dunkelgrün von Hut und Umhang brachte ihr fast schwarzes Haar zur Geltung und passte genauso gut zu ihren dunklen Augen. Eine Tracht im eigentlichen Sinne konnte man den Umhang und das kleine Hütchen nicht nennen, aber beides waren Erkennungsmerkmale dafür, dass es sich bei der Trägerin um eine Gönninger Samenhändlerin handelte, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Handel von Blumen-und Gemüsesamen und Tulpenzwiebeln verdiente. Nicht allen Frauen aus Hannahs Dorf stand diese Kleidung so gut wie ihr. Sie war mit ihren 39 Jahren noch immer eine attraktive Frau.
Auch Flora trug das Gönninger Dunkelgrün. Allerdings schien es, als würde sie mit dem Filzumhang eine tonnenschwere Last auf ihren Schultern tragen.
Ach Mädchen, so schlimm ist das Leben einer Samenhändlerin doch gar nicht, dachte Hannah bei sich.
Wenige Minuten später saßen die beiden Frauen in einer Kutsche und waren auf dem Weg in Richtung Innenstadt. Hannah wollte zuerst in ihrem Gasthof das Gepäck loswerden, bevor sie die ersten Kunden aufsuchten.
Während der Wagen auf der festgefahrenen Schneedecke durch die Lange Straße fuhr, zeigte Hannah hier auf ein Palais, da auf ein Landhaus oder auf ein Hotel - allesamt Domizile ihrer verehrten Baden-Badener Kundschaft. Flora tat weiterhin betont teilnahmslos. Die verehrte Kundschaft interessierte sie herzlich wenig - das war die Aussage, die Hannah hinter ihrem Schweigen laut und deutlich hören konnte. Doch statt sich über Floras Benehmen zu ärgern, brach es Hannah fast das Herz, die Tochter so unglücklich zu sehen.
Wie sehr sie dieses Kind liebte! Natürlich lagen ihr die Zwillinge, die zwei Jahre jünger waren als Flora, ebenso sehr am Herzen. Aber die Tochter war halt eine ganz besondere Person.
Flora ...
Es war nicht nur die Tatsache, dass sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war: dieselbe dunkle, leicht krause Mähne - bei Hannah allerdings von immer mehr Silberfäden durchzogen -, derselbe kräftige und hohe Wuchs, für eine Frau vielleicht ein wenig stattlich, aber immerhin kein dünnes Stängelchen, das vom ersten Windhauch umgeweht wurde. Mutter und Tochter hatten beide braune Augen, doch während Hannahs wie Kohlesteine funkelten, glich Floras Augenfarbe dem Braun eines Stücks Schokolade. Hannah fand ihre Tochter hübsch, wusste jedoch, dass sie keine atemberaubende Schönheit war. Dafür aber ein liebes Mädchen. Meistens jedenfalls ...
Wenn sie die Tochter damals, vor einundzwanzig Jahren, nicht unter dem Herzen getragen hätte, hätte sie sich nie auf den Weg von Nürnberg nach Gönningen gemacht, an den Rand der Schwäbischen Alb. Womöglich wäre sie ihr Leben lang eine Magd im elterlichen Gasthof geblieben. Oder sie hätte irgendeinen fränkischen Griesgram geheiratet. Ohne dieses Kind hätte sie Helmut nicht bekommen! Den Mann, den sie so sehr liebte, dass es manchmal fast wehtat. Begeistert war er allerdings nicht gewesen, als sie mit einem Koffer in der Hand an einem kalten DezembertaginGönningen ankamundihmdie»froheBotschaft« ihrer Schwangerschaft mitteilte. Er hatte jedoch getan, was ein Ehrenmann in dieser Situation tun musste: Er hatte sie geheiratet. Die große Liebe war es damals weiß Gott noch nicht gewesen. Die war erst im Laufe der Jahre gewachsen. Heute aber konnte sich Hannah ein Leben ohne Helmut nicht mehr vorstellen. Ein anderes Leben als das einer Samenhändlerin in Gönningen auch nicht. Und ihre Tochter sollte dasselbe Glück erleben.
Flora, die Göttin der Blumen - die keine Samenhändlerin werden wollte, sondern von etwas ganz anderem träumte. Die immer nur ihre Blumen im Kopf hatte. Ob diese Narretei tatsächlich etwas mit ihrem Namen zu tun hatte? So mancher im Dorf behauptete das. »Hättet ihr halt eine Waltraud oder eine Edelgard aus ihr gemacht!« So ähnlich hieß es dann. Im Stillen meinten die Leute damit, dass es nicht recht sei, mit der alten Sitte, den Namen des Paten an das Kind weiterzugeben, zu brechen.
Dabei hatte Helmut den ungewöhnlichen Namen vorgeschlagen. »Ein Kind, das mitten in der Natur zur Welt kommt, kann doch gar keinen anderen Namen erhalten als den der Blumengöttin «, hatte er gesagt. Hannah war alles recht gewesen, sie hatte in jenen Tagen kaum einen klaren Gedanken fassen können. Mitten auf dem Acker war die Fruchtblase geplatzt - man stelle sich das nur vor! Von ihrer überstürzten Ankunft einmal abgesehen, hatte Flora ihnen jedoch keine Mühe gemacht. Sie war ein liebreizendes Kind gewesen, und alle im Dorf hatten stets ein freundliches Wort für das kleine Mädchen mit seinen Blumensträußen übrig gehabt.
Die Erinnerungen ließen Hannah lächeln, doch schon im nächsten Moment seufzte sie erneut auf.
Liebreizend konnte man Flora in letzter Zeit gewiss nicht mehr nennen. Und jetzt saß sie mit einer Miene neben ihr, als würde sie zum Schafott gefahren!
»Es reicht, mein Kind.« Der Kopf des Kutschers fuhr herum, doch Hannah kümmerte es nicht. Es gab Dinge, die einfach gesagt werden mussten.
»Ich weiß, dass du immer noch davon träumst, Blumenbinderin zu werden. Aber Träume sind nun einmal Schäume. Dir hat es in der Gärtnerei Gruber in Reutlingen doch überhaupt nicht gefallen! Du warst eine Magd, hast für andere Leute geackert, während ich daheim vor lauter Arbeit nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Dass dein Vater und ich dich zur Frau Gruber haben gehen lassen, war ein großes Zugeständnis.
Du wolltest etwas lernen - da mochten wir dir nicht im Wege stehen. Aber was ist dabei herausgekommen? Dir hat es vor der Arbeit gegraut! Regelrecht angebettelt hast du den Vater, damit du nicht mehr hinmusst ... Bitte halten Sie an!«, wandte sie sich plötzlich an den Fahrer.
»Hier? Aber ich dachte, sie wollten in die Tausend-Seelen- Gass?« Mürrisch schüttelte der Mann den Kopf, half Hannah aber dabei, ihr Gepäck auszuladen.
»Das war ja auch gar kein richtiger Blumenladen, viel eher ein Bauernhof! Anderswo hätte ich sicher mehr übers Blumenbinden gelernt ...«, murrte Flora und kratzte mit ihrer Schuhspitze ein Loch in den Schnee.
Am liebsten hätte Hannah sie in den Arm genommen. Stattdessen sagte sie: »Wie dem auch sei - jetzt ist es an der Zeit, dass du bei uns mitarbeitest, so, wie deine Freundinnen es bei ihren Eltern auch tun. Nicht, dass es allen dabei so gut ergeht wie dir ... Schau dir zum Beispiel Suse an, die mit ihrer Mutter im südlichen Schwarzwald fast nur arme Leute als Kundschaft hat. Baden-Baden dagegen ... So einen feinen Samenstrich hat kaum einer!« Wenn Flora erst einmal sah, wie prunkvoll die Stadt war, würde sie bestimmt auch begeistert sein, dachte Hannah voller Hoffnung.
»Wohin gehen wir eigentlich? Ich wäre lieber weitergefahren ...«
Hannah lächelte. »Ich möchte dir ein wenig von der Stadt zeigen. So anstrengend war die Zugfahrt nicht, als dass wir nicht ein paar Minuten zu Fuß gehen könnten, oder?«
»Wenns sein muss ...« Seufzend packte Flora Leinentasche und Zwerchsack, Hannah nahm den Koffer, und dann stapften sie über eine der Brücken, die über die Oos führten.
»Das hier ist das sogenannte Conversationshaus.« Hannah zeigte auf ein großes Gebäude zu ihrer Seite. »Hier ist die berühmte Spielbank untergebracht, aber es gibt darin wohl auch Tanzsäle, ein feines Restaurant und was weiß ich noch.«
Flora verzog den Mund. »Ziemlich pompös, oder?«
© List TB Verlag
Eines Tageslief er auf seinem Gang zum See einem alten Pechsieder, der seit Ewigkeiten in der Gegend unterwegs war, über den Weg. Er solle achtsam sein, warnte der Mann den Hirten. Schon so manch hübscher Jüngling habe im See sein ewiges Grab gefunden, weil er den lockenden Klängen der Nixe erlegen sei.
Seine Warnungen waren vergeblich - der junge Hirte war Merline längst verfallen, und eines Abends, als er die Nixe nicht auf ihrem gewohnten Felsen sitzen sah, konnte er nicht anders, als ihren Namen zu rufen.
»Merline ...!«
Doch statt ihrer wurde er einer blutroten Rose gewahr, die aus der Wasserfläche herauswuchs und ans Ufer trieb. Als der Jüngling danach greifen wollte, fiel er ins Wasser und verfing sich im Dickicht der Schlingpflanzen. Er ruderte angstvoll mit den Armen und strampelte mit den Beinen, aber der Wildsee ließ ihn nicht mehr los, sondern zog ihn hinab in die Tiefe.
Die ganze Nacht und den nächsten Morgen blökten die Ziegen vergeblich nach ihrem Hirten. Danach verloren sie sich in den Wäldern rund um den See und waren ebenfalls nie mehr gesehen.
1. Kapitel Januar 1871
Baden-Baden! Ich weiß jetzt schon, dass ich die Stadt nicht mögen werde.« Mürrisch starrte Flora aus dem Zugfenster. Der schwarze Kohlequalm der Dampflokomotive mischte sich mit dem lautlos fallenden Schnee zu einem unappetitlich aussehenden Schleier. Man konnte die Umgebung nur noch als graue Schatten wahrnehmen. Die wenigen Menschen, die unterwegs waren, versteckten ihre Nasen hinter den Mantelkragen oder Taschentüchern, um der schlechten Luft zu entgehen. Flora wies am Bahnhofsgebäude vorbei auf ein riesiges Banner, das von einem Hotelfenster herabhing. »Bayerischer Hof - schau nur, wie protzig sie ihre Speisen und Getränke anpreisen! « »Keine Sorge, unser Hotel liegt viel weiter in der Stadt und es ist gewiss nicht so vornehm.« Hannah Kerner, die neben Flora saß, seufzte. Das Letzte, was sie im Moment brauchen konnte, waren die Nörgeleien ihrer Tochter. »Na, da bin ich aber froh. Brrr! Wie düster hier alles wirkt! Und irgendwie verlassen. Hier sollen wir also gute Geschäfte machen? Kuckucksspucke ist das, mehr nicht ...« Dass ihre eigene Miene mindestens so düster und unfreundlich wirkte wie Baden-Baden an diesem Wintertag, schien Flora gar nicht zu merken. Unwillkürlich warf auch Hannah einen skeptischen Blick auf die verschneite Stadt. Keine Soldaten weit und breit - sie wusste nicht, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Noch herrschte Krieg, Frankreich hatte offiziell noch nicht kapituliert, auch wenn die Zeitungen voll waren mit Berichten vom deutschen Sieg über die Franzosen. Offenbar hatte sich König Wilhelm schon vor ein paar Tagen im Spiegelsaal von Versailles zum Kaiser erklären lassen, von einer Geste »absoluter Unterwerfung« war in den Zeitungen die Rede gewesen. Ein deutscher Kaiser in Versailles - das war doch was! Helmut, Hannahs Mann, und die anderen Männer aus dem Dorf hatten den neuen Kaiser mit viel Bier und Schnaps hochleben lassen.
Aber was wäre, wenn sich die Franzosen gar nicht »absolut unterworfen« fühlten? Womöglich stand Frankreich kurz davor zurückzuschlagen? Falls ja, befänden sich Flora und sie hier in Baden-Baden an einem äußerst unsicheren Ort ...
Obwohl Hannah die Stadt von früheren Fahrten her recht gut kannte und schätzte, war ihr diesmal mehr als ein wenig mulmig zumute. Ganz gewiss gab es bessere Zeiten für eine Reise nach Baden-Baden als ausgerechnet den Januar dieses Jahres. Umso mehr bemühte sich Hannah, gegenüber Flora Zuversicht und Sorglosigkeit auszustrahlen. Es tat nicht not, dass ihre Tochter neben all dem Unwillen, den sie eh schon hegte, auch noch Angst verspürte.
In den letzten Tagen vor ihrer Abreise hatte Helmut jeden, der zuvor auch nur in die Nähe von Baden-Baden gekommen war, über die politische Lage befragt, doch keiner der Reisenden hatte etwas von Kämpfen oder gefährlichen Situationen berichtet. Also könnten auch Frau und Tochter ruhig losziehen, hatte Helmut gemeint. Hannah hatte nichts dagegen gesagt. Was auch? Sie konnten es sich nicht leisten, zu Hause auf bessere Tage zu warten! Sie mussten sich bei der Kundschaft zeigen, bevor die sich umorientierte.
Und ausgerechnet in dieser besonderen Situation musste es Hannah gelingen, der Tochter das Reisen und den Handel schmackhaft zu machen. Bisher war sie darin nicht sehr erfolgreich gewesen ...
Inzwischen stand der Zug. Die Tür des Abteils wurde aufgerissen, kalte Luft schwappte herein, die Schonzeit war vorüber.
»Jetzt hör auf zu schmollen!«, sagte Hannah an Flora gewandt. »Nimm die Leinentasche mit dem Essen und den Gastgeschenken, ich trage den Zwerchsack und den Koffer.« Noch während sie sprach, warf sie sich ihren warmen Umhang aus grünem Filz über, betrachtete prüfend ihr Spiegelbild in der beschlagenen Fensterscheibe, rückte den Filzhut zurecht und war zufrieden mit dem, was sie sah: Das Dunkelgrün von Hut und Umhang brachte ihr fast schwarzes Haar zur Geltung und passte genauso gut zu ihren dunklen Augen. Eine Tracht im eigentlichen Sinne konnte man den Umhang und das kleine Hütchen nicht nennen, aber beides waren Erkennungsmerkmale dafür, dass es sich bei der Trägerin um eine Gönninger Samenhändlerin handelte, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Handel von Blumen-und Gemüsesamen und Tulpenzwiebeln verdiente. Nicht allen Frauen aus Hannahs Dorf stand diese Kleidung so gut wie ihr. Sie war mit ihren 39 Jahren noch immer eine attraktive Frau.
Auch Flora trug das Gönninger Dunkelgrün. Allerdings schien es, als würde sie mit dem Filzumhang eine tonnenschwere Last auf ihren Schultern tragen.
Ach Mädchen, so schlimm ist das Leben einer Samenhändlerin doch gar nicht, dachte Hannah bei sich.
Wenige Minuten später saßen die beiden Frauen in einer Kutsche und waren auf dem Weg in Richtung Innenstadt. Hannah wollte zuerst in ihrem Gasthof das Gepäck loswerden, bevor sie die ersten Kunden aufsuchten.
Während der Wagen auf der festgefahrenen Schneedecke durch die Lange Straße fuhr, zeigte Hannah hier auf ein Palais, da auf ein Landhaus oder auf ein Hotel - allesamt Domizile ihrer verehrten Baden-Badener Kundschaft. Flora tat weiterhin betont teilnahmslos. Die verehrte Kundschaft interessierte sie herzlich wenig - das war die Aussage, die Hannah hinter ihrem Schweigen laut und deutlich hören konnte. Doch statt sich über Floras Benehmen zu ärgern, brach es Hannah fast das Herz, die Tochter so unglücklich zu sehen.
Wie sehr sie dieses Kind liebte! Natürlich lagen ihr die Zwillinge, die zwei Jahre jünger waren als Flora, ebenso sehr am Herzen. Aber die Tochter war halt eine ganz besondere Person.
Flora ...
Es war nicht nur die Tatsache, dass sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war: dieselbe dunkle, leicht krause Mähne - bei Hannah allerdings von immer mehr Silberfäden durchzogen -, derselbe kräftige und hohe Wuchs, für eine Frau vielleicht ein wenig stattlich, aber immerhin kein dünnes Stängelchen, das vom ersten Windhauch umgeweht wurde. Mutter und Tochter hatten beide braune Augen, doch während Hannahs wie Kohlesteine funkelten, glich Floras Augenfarbe dem Braun eines Stücks Schokolade. Hannah fand ihre Tochter hübsch, wusste jedoch, dass sie keine atemberaubende Schönheit war. Dafür aber ein liebes Mädchen. Meistens jedenfalls ...
Wenn sie die Tochter damals, vor einundzwanzig Jahren, nicht unter dem Herzen getragen hätte, hätte sie sich nie auf den Weg von Nürnberg nach Gönningen gemacht, an den Rand der Schwäbischen Alb. Womöglich wäre sie ihr Leben lang eine Magd im elterlichen Gasthof geblieben. Oder sie hätte irgendeinen fränkischen Griesgram geheiratet. Ohne dieses Kind hätte sie Helmut nicht bekommen! Den Mann, den sie so sehr liebte, dass es manchmal fast wehtat. Begeistert war er allerdings nicht gewesen, als sie mit einem Koffer in der Hand an einem kalten DezembertaginGönningen ankamundihmdie»froheBotschaft« ihrer Schwangerschaft mitteilte. Er hatte jedoch getan, was ein Ehrenmann in dieser Situation tun musste: Er hatte sie geheiratet. Die große Liebe war es damals weiß Gott noch nicht gewesen. Die war erst im Laufe der Jahre gewachsen. Heute aber konnte sich Hannah ein Leben ohne Helmut nicht mehr vorstellen. Ein anderes Leben als das einer Samenhändlerin in Gönningen auch nicht. Und ihre Tochter sollte dasselbe Glück erleben.
Flora, die Göttin der Blumen - die keine Samenhändlerin werden wollte, sondern von etwas ganz anderem träumte. Die immer nur ihre Blumen im Kopf hatte. Ob diese Narretei tatsächlich etwas mit ihrem Namen zu tun hatte? So mancher im Dorf behauptete das. »Hättet ihr halt eine Waltraud oder eine Edelgard aus ihr gemacht!« So ähnlich hieß es dann. Im Stillen meinten die Leute damit, dass es nicht recht sei, mit der alten Sitte, den Namen des Paten an das Kind weiterzugeben, zu brechen.
Dabei hatte Helmut den ungewöhnlichen Namen vorgeschlagen. »Ein Kind, das mitten in der Natur zur Welt kommt, kann doch gar keinen anderen Namen erhalten als den der Blumengöttin «, hatte er gesagt. Hannah war alles recht gewesen, sie hatte in jenen Tagen kaum einen klaren Gedanken fassen können. Mitten auf dem Acker war die Fruchtblase geplatzt - man stelle sich das nur vor! Von ihrer überstürzten Ankunft einmal abgesehen, hatte Flora ihnen jedoch keine Mühe gemacht. Sie war ein liebreizendes Kind gewesen, und alle im Dorf hatten stets ein freundliches Wort für das kleine Mädchen mit seinen Blumensträußen übrig gehabt.
Die Erinnerungen ließen Hannah lächeln, doch schon im nächsten Moment seufzte sie erneut auf.
Liebreizend konnte man Flora in letzter Zeit gewiss nicht mehr nennen. Und jetzt saß sie mit einer Miene neben ihr, als würde sie zum Schafott gefahren!
»Es reicht, mein Kind.« Der Kopf des Kutschers fuhr herum, doch Hannah kümmerte es nicht. Es gab Dinge, die einfach gesagt werden mussten.
»Ich weiß, dass du immer noch davon träumst, Blumenbinderin zu werden. Aber Träume sind nun einmal Schäume. Dir hat es in der Gärtnerei Gruber in Reutlingen doch überhaupt nicht gefallen! Du warst eine Magd, hast für andere Leute geackert, während ich daheim vor lauter Arbeit nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Dass dein Vater und ich dich zur Frau Gruber haben gehen lassen, war ein großes Zugeständnis.
Du wolltest etwas lernen - da mochten wir dir nicht im Wege stehen. Aber was ist dabei herausgekommen? Dir hat es vor der Arbeit gegraut! Regelrecht angebettelt hast du den Vater, damit du nicht mehr hinmusst ... Bitte halten Sie an!«, wandte sie sich plötzlich an den Fahrer.
»Hier? Aber ich dachte, sie wollten in die Tausend-Seelen- Gass?« Mürrisch schüttelte der Mann den Kopf, half Hannah aber dabei, ihr Gepäck auszuladen.
»Das war ja auch gar kein richtiger Blumenladen, viel eher ein Bauernhof! Anderswo hätte ich sicher mehr übers Blumenbinden gelernt ...«, murrte Flora und kratzte mit ihrer Schuhspitze ein Loch in den Schnee.
Am liebsten hätte Hannah sie in den Arm genommen. Stattdessen sagte sie: »Wie dem auch sei - jetzt ist es an der Zeit, dass du bei uns mitarbeitest, so, wie deine Freundinnen es bei ihren Eltern auch tun. Nicht, dass es allen dabei so gut ergeht wie dir ... Schau dir zum Beispiel Suse an, die mit ihrer Mutter im südlichen Schwarzwald fast nur arme Leute als Kundschaft hat. Baden-Baden dagegen ... So einen feinen Samenstrich hat kaum einer!« Wenn Flora erst einmal sah, wie prunkvoll die Stadt war, würde sie bestimmt auch begeistert sein, dachte Hannah voller Hoffnung.
»Wohin gehen wir eigentlich? Ich wäre lieber weitergefahren ...«
Hannah lächelte. »Ich möchte dir ein wenig von der Stadt zeigen. So anstrengend war die Zugfahrt nicht, als dass wir nicht ein paar Minuten zu Fuß gehen könnten, oder?«
»Wenns sein muss ...« Seufzend packte Flora Leinentasche und Zwerchsack, Hannah nahm den Koffer, und dann stapften sie über eine der Brücken, die über die Oos führten.
»Das hier ist das sogenannte Conversationshaus.« Hannah zeigte auf ein großes Gebäude zu ihrer Seite. »Hier ist die berühmte Spielbank untergebracht, aber es gibt darin wohl auch Tanzsäle, ein feines Restaurant und was weiß ich noch.«
Flora verzog den Mund. »Ziemlich pompös, oder?«
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Autoren-Porträt von Petra Durst-Benning
Durst-Benning, PetraPetra Durst-Benning ist eine internationale Bestsellerautorin. Seit ihrem Debütroman begeistern ihre mutigen Frauenfiguren die Leserinnen und laden sie zu grossen Abenteuern ein. Viele ihrer Romane werden verfilmt. Petra Durst-Benning lebt mit ihrem Mann bei Stuttgart.
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Durst-Benning
- 2014, 416 Seiten, Masse: 12,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611893
- ISBN-13: 9783548611891
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
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