FIFA-Mafia
Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfussball
Seit mehr als zwanzig Jahren deckt Sportjournalist Thomas Kistner kriminelle Machenschaften im Weltsport auf. Jetzt zeichnet er auf der Basis brisanter Informationen sowie bislang unbekannter Zeugenaussagen und Dokumenten ein dramatisches Bild von den...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „FIFA-Mafia “
Seit mehr als zwanzig Jahren deckt Sportjournalist Thomas Kistner kriminelle Machenschaften im Weltsport auf. Jetzt zeichnet er auf der Basis brisanter Informationen sowie bislang unbekannter Zeugenaussagen und Dokumenten ein dramatisches Bild von den unfassbaren Zuständen bei der Fifa. Der Krimi um den weltgrößten Sportverband.
Klappentext zu „FIFA-Mafia “
"Fifa-Mafia" ist die Kriminalgeschichte des weltgrössten Sportverbandes."Fifa-Mafia" erzählt, wie unter dem Denkmäntelchen, die schönste Nebensache und alle vier Jahre das grösste Sportereignis der Welt zu den Menschen zu bringen, sich über die letzten vier Jahrzehnte eine weitgehend korrupte Clique an die Spitze dieses Verbandes gesetzt hat.
"Fifa-Mafia" zeichnet die Entstehung des Netzwerkes des aktuellen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter nach.
"Fifa-Mafia" schildert die Tricks und Durchstechereien, mit denen lukrativste Rechte verschoben, finanzielle Kickbacks ergaunert, eigene Leute bezahlt und/oder in Position gebracht worden sind.
"Fifa-Mafia" erzählt von schmutzigen Wahlkämpfen, schmutzigen WM-Vergaben, den hilflosen Sponsoren und der teils manipulativen, teils opportunistischen Politik. Der Weltfussball als ein einziger, gigantischer Interessenskonflikt.Thomas Kistner, Sportredakteur der "Süddeutschen Zeitung", berichtet seit mehr als zwanzig Jahren über die kriminellen Machenschaften im und um das Milliardenunternehmen Fifa. Sein Buch ist die Summe dieser Recherche. So dicht, so kenntnisreich, so zwingend in der Analyse, ist die dunkle Seite dieses global auf Regierungsebene agierenden Verbandes nie zuvor erzählt worden. Dieses Buch ist ein gedruckter Indizienprozess.
Thomas Kistner macht bislang unbekannte Seiten des Weltfussballs und seines Verbandes öffentlich, wie den Verlust des Bälle-Symbols der Fifa, die besondere Vernetzung dieses Verbandes nach Schweizer Vereinsrecht mit Interpol und Security-Firmen und die Entstehung eines neuen global ausgerichteten Sport-Sicherheitsdienstes in Katar. Kistner schildert erstmals die Jagd auf korrupte WM-Bewerber durch gescheiterte Konkurrenten, er berichtet von FBI-Ermittlungen rund um den Fussball und die Wettspielszene, von der Jagd auf eine CD mit sensiblen Bankdaten von hohen Fussballvertretern.
Lese-Probe zu „FIFA-Mafia “
Schafkopf von Andreas FöhrProlog
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15. Juni 2007, 22 Uhr 58:
Die Nacht war warm. Rechtsanwalt Jonas Falcking stand neben seinem silbernen Porsche. Grillen zirpten, eine Katze huschte vorbei, löste einen Bewegungsmelder aus, die Lampe über der Tür des Hauses schaltete sich ein. Im Erdgeschoss hatte das Haus grüne Fensterläden mit ausgeschnittenen Herzen in der Mitte. Im ersten Stock konnte man im Gegenlicht der Lampe undeutlich einen geschnitzten Holzbalkon erkennen. Bayerischer Landhausstil. Eine Ziertanne stand blau auf dem nächtlichen Rasen. Falcking hatte die Hände in die Hosentaschen seines Armani-Anzugs gesteckt. Der Anwalt wartete darauf, dass der Bewohner des Hauses herauskam. Von der Lampe über der Tür fiel Licht auf das Wagendach. Dort hatte die nächtliche Kühle Tau niedergeschlagen. Falcking zog eine Hand aus der Hosentasche und malte mit dem Zeigefi nger eine Zwei und dahinter fünf Nullen in den feuchten Fleck. Er betrachtete die Zahl und sog die Abendluft ein. Sie roch nach gemähtem Gras. Falcking hörte Schritte im Haus und wischte die Zahl vom Wagendach. Der Mann war Mitte fünfzig, einen Meter neunzig groß und wog einhundertdreißig Kilo. Die Sporttasche sah in seiner fleischigen Hand aus wie ein Damenhandtäschchen. In der anderen Hand hielt er eine Fernbedienung. Auf einen Knopfdruck hin rollte das Garagentor nach oben. Der Mann bedeutete Falcking, ihm zu folgen. Als sie in der Garage waren, ertönte ein Summen. Das Garagentor schloss sich wieder. »Muss net jeder zuschauen«, sagte der Dicke. »Glaubst, da ist noch jemand wach?«
»Die hocken mit'm Fernglas hinterm dunklen Fenster. « »Quatsch, oder?« Falcking lachte. »Ja ohne Schmarrn. Was glaubst du denn? Mir san hier am Land.« Der dicke Mann stellte die Sporttasche auf einer Werkbank ab und sah Falcking mit verwaschenem Blick an. Die Haut um die Augen war feucht. Aber er weinte nicht, er schwitzte. Von der Anstrengung, die jede Bewegung ihm verursachte, von dem Dutzend Obstlern, die er getrunken hatte, und auch vor Aufregung über das, was er gleich tun würde. Der dicke Mann öffnete den Reißverschluss der Sporttasche und ließ Falcking einen Blick auf den Inhalt werfen. Im dünnen Licht der Garagenlampe sah Falcking Geldscheine. Sie waren gebündelt. Nicht mit Banderolen wie in der Bank. Ein schlichter Gummi war um jedes Bündel gebrauchter Scheine gespannt worden. Falcking nahm eines der Päckchen heraus. Es war sehr dick und enthielt Fünfzigeuroscheine. »Immer hundert in einem Bündel.« Der dicke Mann holte eines mit Zwanzigern heraus und hielt es Falcking hin. »Zähl's nach.« Falcking schüttelte den Kopf, nahm dem Mann das Bündel Zwanziger aus der Hand und legte es zusammen mit dem Fünfzigerbündel in die Tasche zurück. »Hundertsechsundneunzigtausend. Dein Wort genügt mir.« Falcking machte den Reißverschluss zu. Der dicke Mann warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tasche. »Mach keinen Scheiß, hörst du? Das ist meine Rente. Und die von der Maria. Vielleicht bin ich bald nimmer da.«
Falcking legte seinen Arm um die Schulter des massigen Mannes. »Du bist noch viele Jahre da. Hörst du?« Der Dicke nickte, und die Muskeln um seinen Mund verkrampften sich. Er kämpfte mit den Tränen. »Bernd - ich kümmer mich um deine Mädels. Das hab ich dir versprochen, und das halte ich«, sagte Falcking. »Ich weiß. Bist a feiner Kerl.« Die Stimme des Mannes war belegt. Er wischte sich mit den Zeigefi ngern die Augen trocken. Falcking zog seinen Schwiegervater an sich, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und griff nach der Reisetasche. Der dicke Mann sollte sein Geld nie wiedersehen.
Zur gleichen Zeit ...
... wenige Kilometer entfernt im nächtlichen Mangfalltal. Die Temperatur fünf Grad kälter, Bodennebel in der Flusssenke. Aus dem Wirtshaus fiel Licht auf den Schotterplatz vor dem Haus. Dort standen zwei Motorräder, ein nachträglich mit Spoilern versehener Ford Escort aus den Achtzigerjahren sowie zwei weitere Altwagen. Einer davon auf Ziegelsteinen aufgebockt, verrostet, Fenster und Scheinwerfer fehlten. Schwaches Licht fiel auch auf einen Matratzenrost, zwei abgefahrene Traktorreifen, Bretter und alte Ziegelsteine, die ohne Sorgfalt neben einem Holzschuppen aufgeschichtet waren. Hinter dem Wirtshaus stapelten sich Getränkekisten, gelblich beleuchtet von einer Laterne mit zerbrochener Scheibe. Die Laterne hing über dem Hintereingang. Leises Schluchzen war zu hören, jemand weinte und zog die Nase hoch. Im gelben Schein der Vierzig-Watt-Birne konnte man sehen, dass die Nase geschwollen und mit einem weißen Pflaster überklebt war. Ebenso geschwollen war das linke Auge der jungen Frau. Susi reichte Kathrin ein Papiertaschentuch. Aber Kathrin wehrte ab. Sie konnte sich mit der gebrochenen Nase nicht schneuzen. Stattdessen zog sie den Rotz noch einmal hoch und spuckte das, was im Mund ankam, auf die Stufe vor dem Hintereingang. Es war rot. Susi hielt Kathrin eine Zigarette hin. »Das wird schon wieder.« Susi lächelte. Es war aufmunternd gemeint, wirkte aber verzweifelt. Kathrin steckte sich die Zigarette zwischen die aufgeplatzten Lippen, ließ sich von Susi Feuer geben und inhalierte gierig. Den Rauch blies sie nach oben zu der ramponierten schmiedeeisernen Laterne und scheuchte die Motten für einen Augenblick vom Licht. Kathrin schüttelte den Kopf und wischte sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Auge. »Der bringt mich um. Eines Tages bringt er mich um«, sagte sie. »Ich will nimmer.« Der letzte Satz erschreckte Susi. »Was meinst'n damit - du willst nimmer?« »Ich ... ich halt das nimmer aus. Es muss Schluss sein damit. Verstehst? Schluss. Endgültig.« Susis Unruhe wurde stärker. »Willst den Stani verlassen? « »Spinnst du?« Fassungslos versuchte Kathrin zu lachen, aber die Naht an der Nase und ihr geschwollenes Auge taten dabei weh. »Was glaubst, dass der mit mir macht, wenn ich ihn zum Teufel hau?« Susi betrachtete Kathrin mit wachsender Sorge. Was hatte ihre Freundin im Sinn? Es musste etwas so Radikales sein, dass sich Susi nicht einmal vorstellen konnte, was es sein mochte. Mit Stani Schluss zu machen war ganz sicher keine Lösung - wo er Kathrin schon jetzt so zurichtete. Was würde er ihr antun, wenn sie ihn verließ? Stani hing an Kathrin wie an nichts an derem auf der Welt. Susi biss auf ihre Unterlippe und traute sich nicht, die Frage zu stellen, die so nahelag. Im Halbdunkel an die Hauswand gelehnt stand Kathrins Fahrrad. Erst jetzt bemerkte Susi, dass neben dem Rad eine Reisetasche stand - prall gefüllt. »Du gehst weg?« »Ja. Ich hau ab.« Kathrin nickte und sah in die Nacht hinaus. »Wohin denn?« »Berlin, London, Ibiza. Keine Ahnung. Nur weit weg, wo der Stani mich net findet.« »Aber man kann net einfach ... nach Berlin oder Ibiza gehen. Wie stellst dir das vor?« »Es wird schon irgendwie gehen.« Susi schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich tät sterben vor Heimweh. Ich mein - es ist ja kein Urlaub.« »Was tätst denn vermissen? Deinen Vater? Oder deine depperten Brüder?« Susi zuckte mit den Schultern. »Den Peter.« »Dass er dich jede Woch grün und blau schlagt? Dass du dich gar nix mehr sagen traust, aus Angst, du fangst dir eine? Das tätst net vermissen. Glaub's mir.« Susi zuckte noch einmal mit den Schultern und starrte vor sich hin. Dabei verfing sich ihr Blick an Kathrins Unterarm, der ein Stück aus ihrer Lederjacke ragte. Er war blau von Blutergüssen. Kathrin hatte versucht, die Schläge abzuwehren.
»Dich tät ich vermissen«, sagte Susi leise. Kathrin sagte nichts darauf. Sie schwiegen eine Weile, und Kathrin blies Rauch in die gelbe Nacht. »Ihr müsst ein bissl aufeinander zugehen. Dann geht das schon. Du liebst ihn doch.« »Nein. Wer so was tut, den kannst du nicht lieben.« Etwas in Kathrin revoltierte plötzlich. »Schau mich an, was er mit mir gemacht hat!«, schrie sie auf Susi ein. »Siehst des net?!« Susi schossen die Tränen in die Augen. »Ich weiß, aber ...« Sie fing an zu weinen. Kathrin nahm ihre Hand, drückte sie. Susi blickte zu Boden. Endlose Sekunden, ohne etwas zu sagen. Sie schien nicht einmal zu atmen. Nur ein leichtes Zucken ging durch ihren Oberkörper. Als sie wieder zu Kathrin aufsah, war deren Gesicht verzerrt von Schmerz und Wut. Susis Kinn zitterte, ihre Wangen waren nass. »Lass mich hier net allein«, flüsterte sie. Kathrin nahm die Freundin in den Arm und drückte sie. Außer Kathrin hatte Susi niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Susis Vater und ihre Brüder sahen weg, wenn Peter sie verprügelte. Sie hatten Angst. Wenn Peter zuschlug, brachen Knochen. Er hatte übermenschliche Kräfte. Vor nicht langer Zeit war Peter noch Susis Märchenprinz gewesen. Der Ritter, der sie aus ihrem Familiengefängnis befreit hatte. Zu dieser Zeit waren auch Kathrin und Stani zusammengekommen. Ein paar Monate lang waren sie zwei Traumpaare gewesen, hatten Händchen gehalten und sich so unentwegt geküsst und aneinandergeklammert, dass es den Freunden schon zu viel war. Doch schnell kam der Alltag. Mit ihm die ersten Grobheiten, dann die erste Ohrfeige. Ein Jahr später waren Kathrin und Susi immer noch mit ihren Burschen zusammen. Aber die hatten sich mittlerweile als unbeherrscht und gewalttätig herausgestellt und ihre Mädchen mehrfach so geschlagen, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. »The fairytale gone bad«, wie es im Lied hieß. »Komm mit«, sagte Kathrin. Susi überlegte eine Weile. Dann schniefte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie weiter als bis Sterzing gefahren.« »Ja und? Du bist einundzwanzig. Dann machst mal was Neues.« »Ich kann das net. Ich hab zu viel Angst.« »Wovor?« »Vor dem ... Unbekannten.« »Ist das schlimmer, als vom Peter geschlagen werden?« »Ja«, sagte Susi mit Bestimmtheit und dachte an all das Unbekannte da draußen in der Welt, das ihr zustoßen konnte, und ihre Augen wurden ganz groß vor Entsetzen. Kathrin ließ die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie aus. »Weißt was?« Susi schüttelte den Kopf. »Ich hol dich nach, wenn ich in Berlin bin. Oder wo immer.« Susi sah sie verunsichert an. »Dann gehst du wohin, wo du schon wen kennst. Dann ist es gar nimmer schlimm, verstehst?« Kathrin legte ihre Hände auf Susis Schultern, sah ihrer Freundin in die Augen und lächelte, soweit das die gebrochene Nase zuließ. Susi nickte schließlich. »Ja. So machen wir's.« Die beiden Frauen umarmten sich. »Kannst mir a Geld leihen?«, sagte Kathrin, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten.
»Ich hab mein Trinkgeld gespart. Das sind neunhundert Euro.« »Ich geb's dir wieder, wenn du nach Berlin kommst. Okay?« »Schon gut.« Susi verschwand im Haus, wo ihr Freund Peter Zimbeck, der Inhaber der Gastwirtschaft, mit drei anderen Männern in der Wirtsstube Schafkopf spielte. Kathrin zündete sich noch eine Zigarette an. Ihre Nase pochte und begann stärker zu schmerzen. Die Wirkung des Mittels, das der Arzt ihr gegeben hatte, ließ nach. Als sie einen Augenblick innehielt und in die Nacht lauschte, meinte sie, ein Geräusch zu hören. Nur kurz, dann verschwand es und nur noch das Rauschen der Mangfall kam aus der Dunkelheit. Kathrin blickte durch die offene Hintertür ins Wirtshaus, um zu sehen, wo ihre Freundin blieb. Da hörte sie es wieder - das Geräusch. Diesmal war es näher. Es klang wie ein röhrendes Tier im Wald. Vielfach gebrochen hallte es durch die Nacht. Kathrin krampfte sich der Magen zusammen. Sie kannte das Geräusch, hoffte aber inständig, sich zu irren. Sie ging vor bis zur Hausecke, um besser hören zu können, was sich dem Wirtshaus näherte. Jetzt war das Geräusch so laut und klar, dass nicht der geringste Zweifel blieb: Es war das Röhren eines alten Saab Ca brio. Der Saab Cabrio des Stanislaus Kummeder, der sich dem Wirtshaus näherte.
1. Kapitel
Der Wirt der Aueralm, in gleicher Person auch Senner der Alm, blickte auf zum Morgenhimmel, der sich im Osten rosa färbte an diesem 4. Oktober des Jahres 2009. Abgesehen davon war der Himmel sehr blau und dunkel und ohne eine Wolke und kündigte einen dieser Tage an, wie es sie erst gab, seit sie die Ozonschicht kaputtgemacht hatten: mit so beißend klarem Licht und harten Farben, dass es einem vorkam, als habe jemand einen Filter vor die Landschaft gestellt, der alles Milde und Weiche aufzehrte und Schwarztöne zum Leben erweckte, wie die teuersten Plasmabildschirme sie nicht hervorbrachten. Im Norden hörte der blaue Himmel etwa auf der Höhe von Holzkirchen auf. Wie mit dem Lineal gezogen lauerte dort eine Wolkenwand darauf, nach Süden vorzustoßen. Weiter war der Föhn nicht gekommen, von dem der Senner hoffte, dass er stark genug sein und nicht im Verlauf des Tages zusammenbrechen und sich hinter die Grenze nach Tirol zurückziehen würde. Das hielten sie im Wetterbericht für möglich. Der Senner-Wirt sandte noch einen Blick in Richtung Hirschberghaus und Tegernseer Hütte. Auch dort würden sie jetzt Vorbereitungen treffen, um für den Ansturm gerüstet zu sein. Man würde Getränke einkühlen, Zapfanlagen prüfen, Vorräte zählen, Speisekarten schreiben und zum Herrgott beten, er möge die Bedienung bei Gesundheit erhalten - zumindest bis der Sonntag vorbei war. Auf der anderen Seite des Sees, tief im morgendlichen Dämmer, joggte Polizeiobermeister Leonhard Kreuthner mit zähen Sprüngen den Weg zur Galaun hinauf. Der Weg knirschte unter den neuen Laufschuhen, kalte Herbstluft mit dem Aroma von Waldboden und harzigem Holz strömte in schnellen Zügen durch die Lungen, Schweiß netzte die Lippen und rann über die Augenbrauen. Oberschenkel und Waden waren geschwollen und hart, obwohl Kreuthner erst seit sieben Minuten unterwegs war. Der erste Anstieg gleich nach dem Parkplatz war der schlimmste Teil der Strecke. Hier musste man durchhalten. Ein Stechen in der Lunge und das kaltschweißige Gefühl auf der Stirn ließen Kreuthner das Tempo drosseln, wenngleich der Spielraum hierfür gering war. Noch ein wenig langsamer, und er würde auf der Stelle traben. Kreuthner hatte sich hinreißen lassen, mit dem Sennleitner eine Wette abzumachen, derzufolge er, Kreuthner, innerhalb eines Jahres das Europäische Polizeileistungsabzeichen in Bronze machen musste, andernfalls hatte er nicht nur ein teures Entenessen in der Weißachalm auszurichten, er würde künftig auch bei der gesamten Polizei des Landkreises als Waschlappen dastehen. Der Abend, an dem man die Wette abgeschlossen hatte, war Kreuthner nur in Bruchstücken erinnerlich. Besonders der Teil nach dreiundzwanzig Uhr fehlte. Nicht hingegen fehlte es an Zeugen, deren Gedächtnis weitaus besser war, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass alle an dem Abend Anwesenden auch beim Entenessen dabei sein sollten. Er keuchte und verstand nicht, warum jede Bewegung schmerzte. Am Alkohol konnte es nicht liegen, denn Kreuthner hatte der leidigen Sauferei abgeschworen. Sechs Halbe am Abend und keinen Tropfen mehr! Da war er eisern. Vielleicht dauerte es einfach seine Zeit, bis sich die wohltätige Wirkung der Enthaltsamkeit dem Körper offenbarte. Nach dreizehn Minuten war Kreuthner am Limit. Doch jetzt wurde der Weg weniger steil, mit dem Versprechen, weiter abzufl achen. Dreizehn Minuten - so lange brauchten die Schnellsten vom Tegernseer Ruderclub, um ganz hinauf auf die Galaun zu rennen. Junge Burschen. Natürlich. Aber Kreuthner war auch erst siebenunddreißig und hatte nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich. Als er nach achtundzwanzig Minuten am Wirtshaus ankam und sich eingestehen musste, dass er die Strecke mit einem zügigen Fußmarsch in ähnlicher Zeit zurückgelegt hätte, überkam Kreuthner Panik. Für das Abzeichen musste er dreitausend Meter im Gelände in weniger als fünfzehn Minuten laufen. Freilich, das Gelände würde flacher sein. Aber fünf Minuten für den Kilometer waren schon auf der Tartanbahn ein straffes Tempo und Kreuthner Lichtjahre davon entfernt. Er blickte zu dem kapellengekrönten Felsen auf, der sich hinter dem Wirtshaus hundertvierzig Meter in den Morgenhimmel erhob, und fasste den Entschluss, sich das Letzte abzuverlangen und noch auf den Riederstein hinaufzurennen. Rechts ging es auf einem Kreuzweg zur Kapelle. Das erste Mal in seinem Leben vermochte er den Leidenspfad Jesu Christi mit Inbrunst nachzuempfi nden. Die Tafeln am Wegesrand gemahnten ihn an die eigene Passion, und nur die Aussicht auf ein Weißbier hielt ihn am Laufen. An der sechsten Station reichte die Veronika Jesu das Schweißtuch; Kreuthner wischte sich mit dem Sweatshirtärmel das Gesicht trocken. Als der Heiland an der neunten Station zum dritten Male strauchelte, brachte eine hölzerne Stufe auch Kreuthner, dessen Oberschenkel taub geworden waren, fast zu Fall. An der zwölften Station starb Jesus am Kreuz, und Kreuthner fasste Hoffnung. Nicht weil die Erlösung der sündigen Menschheit ihn erbaute, sondern weil er irrtümlich annahm, der Kreuzweg habe zwölf Stationen, und sich bereits am Ziel wähnte. Tatsächlich hatte er noch zwei Stationen bis zur Grablegung vor sich und fuhr damit noch gut. Denn in neuerer Zeit waren Kreuzwege mit fünfzehn Stationen in Mode geraten, wo sie noch die Auferstehung zeigen. Als Kreuthner, inzwischen nur mehr Fuß vor Fuß setzend, denn der Bergpfad war zur steilen Holztreppe geworden, nach vorn blickte und sah, dass sein Weg noch nicht zu Ende war, wurde ihm elend ums Herz und auch im Magen. Aber er schleppte sich weiter, heftete seinen Blick nur noch auf die im Waldboden eingelassenen Holzbohlen. Eine nach der anderen glitt vorbei, gelegentlich vom Schweiß besprenkelt, der von Kreuthners Nasenspitze tropfte. Mit einem Mal wurde es heller, und er wagte wieder aufzusehen. Er war am Ziel. Vor ihm die kleine Gipfelkapelle des Riedersteins, neben der aus nicht sogleich ersichtlichen Gründen ein Zehn-Liter-Fass Bier stand. Um die Kapelle herum ein eisernes Geländer, dahinter, tief unten, der Tegernsee. Kreuthners schweißbrennende Augen konnten auf der anderen Seite des Sees das Hirschberghaus und die Aueralm erkennen. Die Hölle würde da los sein heute. Wie die Hunnen würden die Münchner einfallen und alles zusammensaufen, was man mühsam auf den Berg geschafft hatte. Das brachte Kreuthner darauf, dass ihn unten im Berggasthaus Galaun ein Weißbier erwartete. Die Aussicht auf das Weißbier erschien überraschenderweise gar nicht so verlockend. Ganz flau war ihm im Magen. Er musste sich auf das Geländer stützen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mann mit roter Baseballkappe und gelbem T-Shirt, auf das eine Art Batman aufgedruckt war, an der Kapelle stehen. Das musste der Besitzer des Bierfasses sein. Der Bursche war groß, blond und muskulös, und als er Kreuthner das Gesicht zuwandte, sah der, dass es Stanislaus Kummeder war, ein grober Bursche, der selbst nach Kreuthners Maßstäben unmäßig soff und Schlägereien nur aus dem Weg ging, wenn er wirklich keine Zeit hatte. Kreuthner schickte Kummeder ein erschöpftes Kopf nicken. Der andere nickte zurück. »Hast den Zimbeck überholt?« Kreuthner schüttelte den Kopf und pumpte Luft in seine Lungen. Der andere wandte sich ab und schaute übers Geländer zum Wirtshaus hinab. Dann drehte er sich noch einmal dem Polizisten zu und sah ihn plötzlich feindselig an. »Falcking - schon mal gehört?«, fragte Kummeder unvermittelt. Ja. Hatte Kreuthner. War aber schon eine Weile her. »Der Anwalt?« »Genau. Der weiß, was mit der Kathi passiert ist. Den müssts ihr euch mal vorknöpfen.« »Müss ma des jetzt besprechen?«, stöhnte Kreuthner. »Der weiß was! Und gnade euch Gott, wenn sich rausstellt, dass ihr das vermasselt habts.« Kreuthner nickte gelangweilt und dachte an sein Frühstück mit Weißbier und Weißwürsten und süßem Senf, fingerdick auf die fette Wurst gestrichen. Da ihm zur gleichen Zeit die nasse Stirn kalt wurde, Punkte vor seinen Augen tanzten und sich im unteren Teil des Halses ein würgendes Gefühl einstellte, musste sich Kreuthner über das Geländer beugen, und den Bruchteil einer Sekunde später schoss ihm halbverdautes Müesli mit getrockneten Waldfrüchten durch den Rachen und klatschte auf die Felsen des Riedersteins. Kreuthner spuckte aus und wischte sich die Nase, durch die ebenfalls ein kleiner Teil des Mageninhalts seinen Weg nach draußen gefunden hatte. Das Gewürge hatte Kraft gekostet, aber jetzt war ihm wieder besser. Allerdings hatte er ein seltsam warmes Gefühl an seiner rechten Schulter. Er griff an die Stelle und hielt ein weißliches Stück Materie in der Hand, weich und glitschig, mit roten Schlieren. Und wie Kreuthner versuchte, seine Gedanken beisammenzubekommen, fi el ihm ein, dass er beim Würgen gemeint hatte, einen dumpfen Knall zu hören, allerdings eben sehr dumpf, weil ihm die Ohren zugegangen waren, als er den Unterkiefer so weit aufgerissen hatte. Auf dem Boden neben sich bemerkte Kreuthner etwas, das vor ein paar Sekunden noch nicht dagelegen hatte. Es erinnerte entfernt an ein Stück Kokosnussschale, nur waren keine braunen Fasern dran, sondern gelbliche Haare, und innen war die Schale rot verschmiert. Einen Meter weiter lag eine rote Baseballkappe. Eine Ahnung stieg in Kreuthner auf, gepaart mit Unglauben. Kreuthner drehte sich zu dem Mann um, der vorhin am Geländer gestanden war. Zuerst sah er ihn nicht, denn er stand da nicht mehr. Vielmehr sah Kreuthner die zum See gewandte Rückseite der Kapelle. Das Erscheinungsbild der schindelgetäfelten Wand hatte sich insofern verändert, als sich dort ein nass-roter Fleck von der Mitte trichterförmig nach rechts oben ausbreitete. Kreuthner senkte den Blick. Beine mit Sportschuhen kamen ins Bild, ausgestreckt auf dem Boden vor der Kapelle, im Anschluss an die Beine ein Oberkörper in gelbem T-Shirt. Ab dem Kragen bot sich ein sehr unerfreulicher Anblick. Kreuthner beugte sich über das Geländer und öffnete abermals den Mund, um die letzten im Magen verbliebenen Müeslireste dem Felsgestein zu übergeben.
2. Kapitel
Manfred war schon wach gewesen, als der Anruf kam. Er war jeden Tag um halb sieben auf, kochte Kaffee und heizte den Schwedenofen im Wohnzimmer ein, denn Wallner fror morgens noch mehr, als er es ohnehin den ganzen Tag tat. Wallner schlafe noch, hatte Manfred zu Kreuthner gesagt, aber er werde seinen Enkel gerne wecken. Der faule Socken müsse ja nicht wieder bis Mittag im Bett liegen, nur weil Sonntag sei. Wallner war ohnehin aufgewacht. Denn Manfred hatte die Angewohnheit, in den Telefonhörer zu schreien. Sie hätten auf dem Riederstein einen erschossen, berichtete er seinem Enkel. Wallner kam spät zum Tatort. Manfred hatte darauf bestanden, ihm ein Frühstücksei zu kochen, das Ei aber hart werden lassen, so dass er noch eins kochen musste, obwohl Wallner gesagt hatte, er werde auch das harte Ei essen. Aber mit Manfred war nicht zu reden. Ein neues Ei wurde aus dem Kühlschrank geholt, schaffte es aber nicht bis zum Kochtopf, denn Manfred war jetzt unter Druck, fi ng an zu zittern und ließ das Ei auf den Küchenboden fallen. Die anschließenden Aufräumarbeiten, weitere Diskussionen über die Notwendigkeit eines Frühstückseis sowie Zubereitung und Verzehr des dritten Eis führten dazu, dass Wallner eine halbe Stunde später als beabsichtigt das Haus verließ. Die Ermittlungsarbeiten waren schon einige Zeit im Gang, als Wallner um kurz nach acht den Parkplatz erreichte, von dem der Fußweg zum Riederstein seinen Anfang nahm. Die Polizei hatte den Parkplatz für Privatfahrzeuge gesperrt. Wallner musste seinen Wagen stehen lassen und wurde mit einem Dienstwagen zur Galaun hochgefahren. Auf dem Weg nach oben begegneten sie etlichen Wanderern, die die Polizei wieder nach unten geschickt hatte. Das Gelände um den Riederstein war großflächig abgesperrt worden, denn der Umkreis von einem Kilometer um den Berg galt als potenzieller Standort des Todesschützen. Die Wirtsleute des Gasthauses Galaun am Fuße des Riedersteins waren wenig erfreut, dass die Polizei die Gäste an einem Oktobersonntag wegschickte. Ein gewisser Ausgleich wurde dadurch geschaffen, dass die meisten der dreißig im Einsatz befi ndlichen Beamten noch nicht gefrühstückt hatten und das jetzt auf der Terrasse des Gasthauses nachholten. Als Wallner auf der Galaun ankam, waren dort mehrere Streifenwagen und Zivilfahrzeuge geparkt. Die Terrasse des Wirtshauses war voll von Beamten, die Karten studierten, telefonierten oder Laptops bedienten. Wallner trat auf die Terrasse und begrüßte einige der Beamten, die meisten kannte er beim Namen. Die junge Kripokollegin Janette stand an einem Tisch und zeichnete etwas in eine Landkarte ein. Wallner bat sie, ihm kurz zu erklären, was vorgefallen war. Doch Janette war auch erst vor zehn Minuten eingetroffen. Die Ermittlungen habe bis jetzt Mike Hanke geleitet, der hier irgendwo herumstehe. Janette wusste nur, dass jemand auf dem Riederstein erschossen worden war. Vermutlich aus großer Entfernung. Man suche gerade die Stelle, von der aus geschossen wurde. Anhand des Schusswinkels lasse sich das einigermaßen einkreisen. Es handele sich aber immer noch um ein sehr großes Gebiet, das fast vollständig mit Gebirgswald bestanden sei. Die Suche konzentriere sich im Augenblick auf die wenigen Lichtungen. Janette deutete auf farbig markierte Stellen der Landkarte. Wallner nickte und fragte, wo es Kaffee gebe. Janette sagte, sie werde ihm einen holen. Wallner sah sich um und suchte nach Mike, fand ihn aber nicht, weil ihm schwindlig wurde und er sich setzen musste. Morgens hatte er oft mit einem widerspenstigen Kreislauf zu kämpfen. Außerdem war es eisig kalt. Dreizehn, höchstens fünfzehn Grad, schätzte Wallner und zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke hoch. Das Wirtshaus lag immer noch im Schatten des Riedersteins. Warum die meisten hier kurzärmelige Hemden oder T-Shirts anhatten, war Wallner unbegreiflich. Grundsätzlich fror Wallner mehr als andere Menschen. Genauer gesagt, mehr als andere Männer. Frauen gestand man die Friererei ja ohne weiteres zu. Für einen Mann hingegen war es eher peinlich. Unmännlich, mädchenhaft. Seit Wallner allerdings eine Stellung hatte, in der er bestimmen konnte, ob Fenster aufgemacht wurden oder nicht, ging er erheblich offensiver mit seiner inneren Kälte um. Woher sie kam, blieb ihm aber weiterhin ein Rätsel. Janette stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Wallner bedankte sich, trank ein paar Schlucke und beugte sich mit dem Gesicht über die Tasse, damit der Kaffeedampf ihm das Gesicht wärmte. »Dahinten steht er«, sagte Janette und deutete zu dem Forstweg, auf dem Wallner hochgekommen war. Dort stand Mike und redete mit einer etwa dreißigjährigen Frau. Das Gespräch schien unterhaltsam zu sein. Denn die Frau und Mike lachten immer wieder. »Wer ist die Frau?«, wollte Wallner wissen. »Ich glaub, die kommt aus München und hat eine neue Kamera dabei.« Wallner sah Janette verständnislos an. »Mehr weiß ich auch nicht. Die macht heute das Video.«
Wallner begab sich - immer noch leicht schwindlig im Kopf - zu Mike und der Frau. Warum heute jemand aus München das Tatortvideo drehte, war ihm ein Rätsel. Als Wallner bis auf ein paar Meter an Mike und die Frau herangekommen war, bemerkte ihn Mike. »Kommst ja doch noch. Mir ham schon befürchtet, das bist du da oben. Aber nachdem der keine Daunenjacke angehabt hat, waren wir dann doch beruhigt.« Mike Hanke deutete zum Riederstein hoch und grinste Wallner aus dunkel geränderten Augen an. Oben bei der Kapelle bewegte sich etwas. Wallner konnte Lutz und Tina erahnen, nicht aber die Leiche sehen, denn die lag immer noch auf dem Boden. Deutlich sichtbar waren hingegen die trichterförmig angeordneten Blutspritzer an der Kapellenrückwand. Mike stellte Wallner die Frau vor. Sie hieß Vera Kampleitner und arbeitete beim LKA. Mike hatte sie auf einer Fortbildungsveranstaltung kennengelernt und dabei erfahren, dass sie von den Herstellerfi rmen mit den neuesten Kameramodellen versorgt wurde und darauf aus war, ihre Kameras unter verschiedensten Bedingungen zu testen. Sie hatte Mike gebeten, ihr Bescheid zu sagen, wenn sich ein interessanter Fall ergebe. Mike hatte sie, gleich nachdem er selbst zum Tatort gerufen worden war, angerufen und ihr den Sachverhalt geschildert. Da Vera Kampleitner schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, die Einsatzmöglichkeiten eines neuen Teleobjektivs zu testen, hatte sie sich in ihren Wagen gesetzt und war an den Tegernsee gefahren. Wallner musterte die Frau. Sie hatte sehr lockiges, langes, kastanienbraunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Sie trug eine rechteckige Hornbrille, an deren Bügeln das Dolce & Gabana-Logo angebracht war. Das Gesicht war länglich mit einem energischen Kinn, die Oberlippe dünn, die Unterlippe etwas kräftiger, darüber eine gebogene Nase, nicht hässlich, im Zusammenspiel mit Kinn und dünner Oberlippe vielmehr energisch. Ihre Augenbrauen hatte Vera Kampleitner nicht, wie viele Frauen, zu einem dünnen Strich auszupfen lassen. Sie waren gepflegt, aber mit Bedacht ein wenig kräftiger belassen, was nicht grob wirkte, sondern natürlich und - wiederum energisch. Die Frau legte offenkundig Wert auf eine dynamische Erscheinung. Dieser entschlossene Gesamteindruck wurde etwas abgemildert durch ein Paar abstehende Ohren, die, so vermutete Wallner, unter den dunklen Locken verschwanden, wenn Vera Kampleitner die Haare offen trug. Während er Vera Kampleitner taxierte, bemerkte er, dass sie das Gleiche mit ihm tat. Ein kurzer Blick auf sein Gesicht, dann glitten die Augen nach unten. Daunenjacke, quittiert mit einem Zucken der linken Augenbraue. Noch weiter unten Jeans und Bergschuhe, uninteressant. Die Augen wanderten wieder nach oben. In Vera Kampleitners Haltung und Gestik meinte Wallner Abwehr zu spüren, immer auf einen Angriff gefasst. Im Augenblick konnte eigentlich nur Wallner das Ziel dieser Kautelen sein. Er spürte, dass Ärger in der Luft lag. »Wo ist eigentlich die Irene?«, fragte er Mike und wandte sich dann an Vera Kampleitner. »Irene Scholz ist die Mitarbeiterin, die bei uns das Tatortvideo macht.« »Ja, ich weiß«, sagte Vera Kampleitner. »Die Dame macht sich bei der Spurensicherung nützlich. Ich habe ihr gesagt, dass ich das mit dem Video heute übernehme. « Wallner hatte schon so etwas geahnt. Er blickte zu Mike. Mike machte eine Geste, die in etwa »ist ja nicht so wild« besagen sollte. Wallner war anderer Ansicht. Er blickte, bemüht um größtmögliche Ruhe, Vera Kampleitner ins Gesicht. »Sie haben Frau Scholz gesagt, dass sie kein Video machen muss?« »Ich bin davon ausgegangen, dass das in Ihrem Sinn ist. Ich meine, wir müssen hier nicht zu zweit mit der Kamera rumlaufen. Und Frau Scholz kann an anderer Stelle nützlich sein.« »Oh, bestimmt. Es ist nur so, dass normalerweise ich meinen Mitarbeitern sage, was sie tun sollen und was nicht. Frau Scholz macht übrigens sehr gute Videos.« »Bei wie vielen Morden hat Frau Scholz schon gearbeitet? « »Bei fünf. Warum?« »Ich habe über sechzig Tatorte gefilmt, an denen Kapitalverbrechen begangen wurden. Sie können sich darauf verlassen, dass Sie heute keine schlechtere Arbeit bekommen als sonst.« Sie zögerte, schien zu überlegen, ob sie das nachschicken sollte, was ihr auf der Zunge lag - und schickte es dann nach: »Eher etwas bessere.« Wallner versuchte im Bauchbereich locker zu bleiben und sich nicht aufzuregen. »Das sollte mich außerordentlich freuen, wenn's denn so wäre. Hat aber nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen zu erklären versuche.« »Nämlich?« »Sie können hier filmen, was und wo Sie wollen, natürlich in Absprache mit der Spurensicherung. Alle darüber hinausgehenden Aktivitäten stimmen Sie bitte vorher mit mir ab.« Vera Kampleitner zog die Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf und lachte fassungslos. »Okay, okay. Mike sagte mir, dass hier eine lockere Atmosphäre herrscht. Aber da hat er offenbar nicht Sie gemeint.« »Nein, bestimmt nicht. Ich bin im Gegenteil ein großer Freund preußischer Korrektheit. Vor allem finde ich es hilfreich, wenn meine Mitarbeiter den vorgesehenen Dienstweg gehen.« »Ah ja. So einer sind Sie. Darf ich Ihnen eine private Frage stellen?« »Wenn's sein muss.« Vera Kampleitner kam mit ihrem Kopf näher und sagte Wallner leise ins Ohr: »Sie haben nicht zufällig Probleme mit der Größe eines Ihrer Körperteile?« Wallner lächelte sie an. »Wenn dem so wäre, würde ich das mit meinem Urologen besprechen.« Vera Kampleitner zwinkerte Wallner zu. »Dachte ich's mir doch. Viel Spaß noch beim Ermitteln.« Damit ging sie federnden Schrittes in Richtung Wirtshaus. Wallner sah Mike an, lange und schweigend. Auch Mike sagte nichts. Schließlich räusperte sich Wallner. »Ich nehme an, du hattest Gründe, die Frau herzubemühen. «
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15. Juni 2007, 22 Uhr 58:
Die Nacht war warm. Rechtsanwalt Jonas Falcking stand neben seinem silbernen Porsche. Grillen zirpten, eine Katze huschte vorbei, löste einen Bewegungsmelder aus, die Lampe über der Tür des Hauses schaltete sich ein. Im Erdgeschoss hatte das Haus grüne Fensterläden mit ausgeschnittenen Herzen in der Mitte. Im ersten Stock konnte man im Gegenlicht der Lampe undeutlich einen geschnitzten Holzbalkon erkennen. Bayerischer Landhausstil. Eine Ziertanne stand blau auf dem nächtlichen Rasen. Falcking hatte die Hände in die Hosentaschen seines Armani-Anzugs gesteckt. Der Anwalt wartete darauf, dass der Bewohner des Hauses herauskam. Von der Lampe über der Tür fiel Licht auf das Wagendach. Dort hatte die nächtliche Kühle Tau niedergeschlagen. Falcking zog eine Hand aus der Hosentasche und malte mit dem Zeigefi nger eine Zwei und dahinter fünf Nullen in den feuchten Fleck. Er betrachtete die Zahl und sog die Abendluft ein. Sie roch nach gemähtem Gras. Falcking hörte Schritte im Haus und wischte die Zahl vom Wagendach. Der Mann war Mitte fünfzig, einen Meter neunzig groß und wog einhundertdreißig Kilo. Die Sporttasche sah in seiner fleischigen Hand aus wie ein Damenhandtäschchen. In der anderen Hand hielt er eine Fernbedienung. Auf einen Knopfdruck hin rollte das Garagentor nach oben. Der Mann bedeutete Falcking, ihm zu folgen. Als sie in der Garage waren, ertönte ein Summen. Das Garagentor schloss sich wieder. »Muss net jeder zuschauen«, sagte der Dicke. »Glaubst, da ist noch jemand wach?«
»Die hocken mit'm Fernglas hinterm dunklen Fenster. « »Quatsch, oder?« Falcking lachte. »Ja ohne Schmarrn. Was glaubst du denn? Mir san hier am Land.« Der dicke Mann stellte die Sporttasche auf einer Werkbank ab und sah Falcking mit verwaschenem Blick an. Die Haut um die Augen war feucht. Aber er weinte nicht, er schwitzte. Von der Anstrengung, die jede Bewegung ihm verursachte, von dem Dutzend Obstlern, die er getrunken hatte, und auch vor Aufregung über das, was er gleich tun würde. Der dicke Mann öffnete den Reißverschluss der Sporttasche und ließ Falcking einen Blick auf den Inhalt werfen. Im dünnen Licht der Garagenlampe sah Falcking Geldscheine. Sie waren gebündelt. Nicht mit Banderolen wie in der Bank. Ein schlichter Gummi war um jedes Bündel gebrauchter Scheine gespannt worden. Falcking nahm eines der Päckchen heraus. Es war sehr dick und enthielt Fünfzigeuroscheine. »Immer hundert in einem Bündel.« Der dicke Mann holte eines mit Zwanzigern heraus und hielt es Falcking hin. »Zähl's nach.« Falcking schüttelte den Kopf, nahm dem Mann das Bündel Zwanziger aus der Hand und legte es zusammen mit dem Fünfzigerbündel in die Tasche zurück. »Hundertsechsundneunzigtausend. Dein Wort genügt mir.« Falcking machte den Reißverschluss zu. Der dicke Mann warf einen besorgten Blick auf die geschlossene Tasche. »Mach keinen Scheiß, hörst du? Das ist meine Rente. Und die von der Maria. Vielleicht bin ich bald nimmer da.«
Falcking legte seinen Arm um die Schulter des massigen Mannes. »Du bist noch viele Jahre da. Hörst du?« Der Dicke nickte, und die Muskeln um seinen Mund verkrampften sich. Er kämpfte mit den Tränen. »Bernd - ich kümmer mich um deine Mädels. Das hab ich dir versprochen, und das halte ich«, sagte Falcking. »Ich weiß. Bist a feiner Kerl.« Die Stimme des Mannes war belegt. Er wischte sich mit den Zeigefi ngern die Augen trocken. Falcking zog seinen Schwiegervater an sich, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und griff nach der Reisetasche. Der dicke Mann sollte sein Geld nie wiedersehen.
Zur gleichen Zeit ...
... wenige Kilometer entfernt im nächtlichen Mangfalltal. Die Temperatur fünf Grad kälter, Bodennebel in der Flusssenke. Aus dem Wirtshaus fiel Licht auf den Schotterplatz vor dem Haus. Dort standen zwei Motorräder, ein nachträglich mit Spoilern versehener Ford Escort aus den Achtzigerjahren sowie zwei weitere Altwagen. Einer davon auf Ziegelsteinen aufgebockt, verrostet, Fenster und Scheinwerfer fehlten. Schwaches Licht fiel auch auf einen Matratzenrost, zwei abgefahrene Traktorreifen, Bretter und alte Ziegelsteine, die ohne Sorgfalt neben einem Holzschuppen aufgeschichtet waren. Hinter dem Wirtshaus stapelten sich Getränkekisten, gelblich beleuchtet von einer Laterne mit zerbrochener Scheibe. Die Laterne hing über dem Hintereingang. Leises Schluchzen war zu hören, jemand weinte und zog die Nase hoch. Im gelben Schein der Vierzig-Watt-Birne konnte man sehen, dass die Nase geschwollen und mit einem weißen Pflaster überklebt war. Ebenso geschwollen war das linke Auge der jungen Frau. Susi reichte Kathrin ein Papiertaschentuch. Aber Kathrin wehrte ab. Sie konnte sich mit der gebrochenen Nase nicht schneuzen. Stattdessen zog sie den Rotz noch einmal hoch und spuckte das, was im Mund ankam, auf die Stufe vor dem Hintereingang. Es war rot. Susi hielt Kathrin eine Zigarette hin. »Das wird schon wieder.« Susi lächelte. Es war aufmunternd gemeint, wirkte aber verzweifelt. Kathrin steckte sich die Zigarette zwischen die aufgeplatzten Lippen, ließ sich von Susi Feuer geben und inhalierte gierig. Den Rauch blies sie nach oben zu der ramponierten schmiedeeisernen Laterne und scheuchte die Motten für einen Augenblick vom Licht. Kathrin schüttelte den Kopf und wischte sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Auge. »Der bringt mich um. Eines Tages bringt er mich um«, sagte sie. »Ich will nimmer.« Der letzte Satz erschreckte Susi. »Was meinst'n damit - du willst nimmer?« »Ich ... ich halt das nimmer aus. Es muss Schluss sein damit. Verstehst? Schluss. Endgültig.« Susis Unruhe wurde stärker. »Willst den Stani verlassen? « »Spinnst du?« Fassungslos versuchte Kathrin zu lachen, aber die Naht an der Nase und ihr geschwollenes Auge taten dabei weh. »Was glaubst, dass der mit mir macht, wenn ich ihn zum Teufel hau?« Susi betrachtete Kathrin mit wachsender Sorge. Was hatte ihre Freundin im Sinn? Es musste etwas so Radikales sein, dass sich Susi nicht einmal vorstellen konnte, was es sein mochte. Mit Stani Schluss zu machen war ganz sicher keine Lösung - wo er Kathrin schon jetzt so zurichtete. Was würde er ihr antun, wenn sie ihn verließ? Stani hing an Kathrin wie an nichts an derem auf der Welt. Susi biss auf ihre Unterlippe und traute sich nicht, die Frage zu stellen, die so nahelag. Im Halbdunkel an die Hauswand gelehnt stand Kathrins Fahrrad. Erst jetzt bemerkte Susi, dass neben dem Rad eine Reisetasche stand - prall gefüllt. »Du gehst weg?« »Ja. Ich hau ab.« Kathrin nickte und sah in die Nacht hinaus. »Wohin denn?« »Berlin, London, Ibiza. Keine Ahnung. Nur weit weg, wo der Stani mich net findet.« »Aber man kann net einfach ... nach Berlin oder Ibiza gehen. Wie stellst dir das vor?« »Es wird schon irgendwie gehen.« Susi schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich tät sterben vor Heimweh. Ich mein - es ist ja kein Urlaub.« »Was tätst denn vermissen? Deinen Vater? Oder deine depperten Brüder?« Susi zuckte mit den Schultern. »Den Peter.« »Dass er dich jede Woch grün und blau schlagt? Dass du dich gar nix mehr sagen traust, aus Angst, du fangst dir eine? Das tätst net vermissen. Glaub's mir.« Susi zuckte noch einmal mit den Schultern und starrte vor sich hin. Dabei verfing sich ihr Blick an Kathrins Unterarm, der ein Stück aus ihrer Lederjacke ragte. Er war blau von Blutergüssen. Kathrin hatte versucht, die Schläge abzuwehren.
»Dich tät ich vermissen«, sagte Susi leise. Kathrin sagte nichts darauf. Sie schwiegen eine Weile, und Kathrin blies Rauch in die gelbe Nacht. »Ihr müsst ein bissl aufeinander zugehen. Dann geht das schon. Du liebst ihn doch.« »Nein. Wer so was tut, den kannst du nicht lieben.« Etwas in Kathrin revoltierte plötzlich. »Schau mich an, was er mit mir gemacht hat!«, schrie sie auf Susi ein. »Siehst des net?!« Susi schossen die Tränen in die Augen. »Ich weiß, aber ...« Sie fing an zu weinen. Kathrin nahm ihre Hand, drückte sie. Susi blickte zu Boden. Endlose Sekunden, ohne etwas zu sagen. Sie schien nicht einmal zu atmen. Nur ein leichtes Zucken ging durch ihren Oberkörper. Als sie wieder zu Kathrin aufsah, war deren Gesicht verzerrt von Schmerz und Wut. Susis Kinn zitterte, ihre Wangen waren nass. »Lass mich hier net allein«, flüsterte sie. Kathrin nahm die Freundin in den Arm und drückte sie. Außer Kathrin hatte Susi niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Susis Vater und ihre Brüder sahen weg, wenn Peter sie verprügelte. Sie hatten Angst. Wenn Peter zuschlug, brachen Knochen. Er hatte übermenschliche Kräfte. Vor nicht langer Zeit war Peter noch Susis Märchenprinz gewesen. Der Ritter, der sie aus ihrem Familiengefängnis befreit hatte. Zu dieser Zeit waren auch Kathrin und Stani zusammengekommen. Ein paar Monate lang waren sie zwei Traumpaare gewesen, hatten Händchen gehalten und sich so unentwegt geküsst und aneinandergeklammert, dass es den Freunden schon zu viel war. Doch schnell kam der Alltag. Mit ihm die ersten Grobheiten, dann die erste Ohrfeige. Ein Jahr später waren Kathrin und Susi immer noch mit ihren Burschen zusammen. Aber die hatten sich mittlerweile als unbeherrscht und gewalttätig herausgestellt und ihre Mädchen mehrfach so geschlagen, dass sie ärztlich behandelt werden mussten. »The fairytale gone bad«, wie es im Lied hieß. »Komm mit«, sagte Kathrin. Susi überlegte eine Weile. Dann schniefte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nie weiter als bis Sterzing gefahren.« »Ja und? Du bist einundzwanzig. Dann machst mal was Neues.« »Ich kann das net. Ich hab zu viel Angst.« »Wovor?« »Vor dem ... Unbekannten.« »Ist das schlimmer, als vom Peter geschlagen werden?« »Ja«, sagte Susi mit Bestimmtheit und dachte an all das Unbekannte da draußen in der Welt, das ihr zustoßen konnte, und ihre Augen wurden ganz groß vor Entsetzen. Kathrin ließ die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie aus. »Weißt was?« Susi schüttelte den Kopf. »Ich hol dich nach, wenn ich in Berlin bin. Oder wo immer.« Susi sah sie verunsichert an. »Dann gehst du wohin, wo du schon wen kennst. Dann ist es gar nimmer schlimm, verstehst?« Kathrin legte ihre Hände auf Susis Schultern, sah ihrer Freundin in die Augen und lächelte, soweit das die gebrochene Nase zuließ. Susi nickte schließlich. »Ja. So machen wir's.« Die beiden Frauen umarmten sich. »Kannst mir a Geld leihen?«, sagte Kathrin, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten.
»Ich hab mein Trinkgeld gespart. Das sind neunhundert Euro.« »Ich geb's dir wieder, wenn du nach Berlin kommst. Okay?« »Schon gut.« Susi verschwand im Haus, wo ihr Freund Peter Zimbeck, der Inhaber der Gastwirtschaft, mit drei anderen Männern in der Wirtsstube Schafkopf spielte. Kathrin zündete sich noch eine Zigarette an. Ihre Nase pochte und begann stärker zu schmerzen. Die Wirkung des Mittels, das der Arzt ihr gegeben hatte, ließ nach. Als sie einen Augenblick innehielt und in die Nacht lauschte, meinte sie, ein Geräusch zu hören. Nur kurz, dann verschwand es und nur noch das Rauschen der Mangfall kam aus der Dunkelheit. Kathrin blickte durch die offene Hintertür ins Wirtshaus, um zu sehen, wo ihre Freundin blieb. Da hörte sie es wieder - das Geräusch. Diesmal war es näher. Es klang wie ein röhrendes Tier im Wald. Vielfach gebrochen hallte es durch die Nacht. Kathrin krampfte sich der Magen zusammen. Sie kannte das Geräusch, hoffte aber inständig, sich zu irren. Sie ging vor bis zur Hausecke, um besser hören zu können, was sich dem Wirtshaus näherte. Jetzt war das Geräusch so laut und klar, dass nicht der geringste Zweifel blieb: Es war das Röhren eines alten Saab Ca brio. Der Saab Cabrio des Stanislaus Kummeder, der sich dem Wirtshaus näherte.
1. Kapitel
Der Wirt der Aueralm, in gleicher Person auch Senner der Alm, blickte auf zum Morgenhimmel, der sich im Osten rosa färbte an diesem 4. Oktober des Jahres 2009. Abgesehen davon war der Himmel sehr blau und dunkel und ohne eine Wolke und kündigte einen dieser Tage an, wie es sie erst gab, seit sie die Ozonschicht kaputtgemacht hatten: mit so beißend klarem Licht und harten Farben, dass es einem vorkam, als habe jemand einen Filter vor die Landschaft gestellt, der alles Milde und Weiche aufzehrte und Schwarztöne zum Leben erweckte, wie die teuersten Plasmabildschirme sie nicht hervorbrachten. Im Norden hörte der blaue Himmel etwa auf der Höhe von Holzkirchen auf. Wie mit dem Lineal gezogen lauerte dort eine Wolkenwand darauf, nach Süden vorzustoßen. Weiter war der Föhn nicht gekommen, von dem der Senner hoffte, dass er stark genug sein und nicht im Verlauf des Tages zusammenbrechen und sich hinter die Grenze nach Tirol zurückziehen würde. Das hielten sie im Wetterbericht für möglich. Der Senner-Wirt sandte noch einen Blick in Richtung Hirschberghaus und Tegernseer Hütte. Auch dort würden sie jetzt Vorbereitungen treffen, um für den Ansturm gerüstet zu sein. Man würde Getränke einkühlen, Zapfanlagen prüfen, Vorräte zählen, Speisekarten schreiben und zum Herrgott beten, er möge die Bedienung bei Gesundheit erhalten - zumindest bis der Sonntag vorbei war. Auf der anderen Seite des Sees, tief im morgendlichen Dämmer, joggte Polizeiobermeister Leonhard Kreuthner mit zähen Sprüngen den Weg zur Galaun hinauf. Der Weg knirschte unter den neuen Laufschuhen, kalte Herbstluft mit dem Aroma von Waldboden und harzigem Holz strömte in schnellen Zügen durch die Lungen, Schweiß netzte die Lippen und rann über die Augenbrauen. Oberschenkel und Waden waren geschwollen und hart, obwohl Kreuthner erst seit sieben Minuten unterwegs war. Der erste Anstieg gleich nach dem Parkplatz war der schlimmste Teil der Strecke. Hier musste man durchhalten. Ein Stechen in der Lunge und das kaltschweißige Gefühl auf der Stirn ließen Kreuthner das Tempo drosseln, wenngleich der Spielraum hierfür gering war. Noch ein wenig langsamer, und er würde auf der Stelle traben. Kreuthner hatte sich hinreißen lassen, mit dem Sennleitner eine Wette abzumachen, derzufolge er, Kreuthner, innerhalb eines Jahres das Europäische Polizeileistungsabzeichen in Bronze machen musste, andernfalls hatte er nicht nur ein teures Entenessen in der Weißachalm auszurichten, er würde künftig auch bei der gesamten Polizei des Landkreises als Waschlappen dastehen. Der Abend, an dem man die Wette abgeschlossen hatte, war Kreuthner nur in Bruchstücken erinnerlich. Besonders der Teil nach dreiundzwanzig Uhr fehlte. Nicht hingegen fehlte es an Zeugen, deren Gedächtnis weitaus besser war, was möglicherweise damit zu tun hatte, dass alle an dem Abend Anwesenden auch beim Entenessen dabei sein sollten. Er keuchte und verstand nicht, warum jede Bewegung schmerzte. Am Alkohol konnte es nicht liegen, denn Kreuthner hatte der leidigen Sauferei abgeschworen. Sechs Halbe am Abend und keinen Tropfen mehr! Da war er eisern. Vielleicht dauerte es einfach seine Zeit, bis sich die wohltätige Wirkung der Enthaltsamkeit dem Körper offenbarte. Nach dreizehn Minuten war Kreuthner am Limit. Doch jetzt wurde der Weg weniger steil, mit dem Versprechen, weiter abzufl achen. Dreizehn Minuten - so lange brauchten die Schnellsten vom Tegernseer Ruderclub, um ganz hinauf auf die Galaun zu rennen. Junge Burschen. Natürlich. Aber Kreuthner war auch erst siebenunddreißig und hatte nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich. Als er nach achtundzwanzig Minuten am Wirtshaus ankam und sich eingestehen musste, dass er die Strecke mit einem zügigen Fußmarsch in ähnlicher Zeit zurückgelegt hätte, überkam Kreuthner Panik. Für das Abzeichen musste er dreitausend Meter im Gelände in weniger als fünfzehn Minuten laufen. Freilich, das Gelände würde flacher sein. Aber fünf Minuten für den Kilometer waren schon auf der Tartanbahn ein straffes Tempo und Kreuthner Lichtjahre davon entfernt. Er blickte zu dem kapellengekrönten Felsen auf, der sich hinter dem Wirtshaus hundertvierzig Meter in den Morgenhimmel erhob, und fasste den Entschluss, sich das Letzte abzuverlangen und noch auf den Riederstein hinaufzurennen. Rechts ging es auf einem Kreuzweg zur Kapelle. Das erste Mal in seinem Leben vermochte er den Leidenspfad Jesu Christi mit Inbrunst nachzuempfi nden. Die Tafeln am Wegesrand gemahnten ihn an die eigene Passion, und nur die Aussicht auf ein Weißbier hielt ihn am Laufen. An der sechsten Station reichte die Veronika Jesu das Schweißtuch; Kreuthner wischte sich mit dem Sweatshirtärmel das Gesicht trocken. Als der Heiland an der neunten Station zum dritten Male strauchelte, brachte eine hölzerne Stufe auch Kreuthner, dessen Oberschenkel taub geworden waren, fast zu Fall. An der zwölften Station starb Jesus am Kreuz, und Kreuthner fasste Hoffnung. Nicht weil die Erlösung der sündigen Menschheit ihn erbaute, sondern weil er irrtümlich annahm, der Kreuzweg habe zwölf Stationen, und sich bereits am Ziel wähnte. Tatsächlich hatte er noch zwei Stationen bis zur Grablegung vor sich und fuhr damit noch gut. Denn in neuerer Zeit waren Kreuzwege mit fünfzehn Stationen in Mode geraten, wo sie noch die Auferstehung zeigen. Als Kreuthner, inzwischen nur mehr Fuß vor Fuß setzend, denn der Bergpfad war zur steilen Holztreppe geworden, nach vorn blickte und sah, dass sein Weg noch nicht zu Ende war, wurde ihm elend ums Herz und auch im Magen. Aber er schleppte sich weiter, heftete seinen Blick nur noch auf die im Waldboden eingelassenen Holzbohlen. Eine nach der anderen glitt vorbei, gelegentlich vom Schweiß besprenkelt, der von Kreuthners Nasenspitze tropfte. Mit einem Mal wurde es heller, und er wagte wieder aufzusehen. Er war am Ziel. Vor ihm die kleine Gipfelkapelle des Riedersteins, neben der aus nicht sogleich ersichtlichen Gründen ein Zehn-Liter-Fass Bier stand. Um die Kapelle herum ein eisernes Geländer, dahinter, tief unten, der Tegernsee. Kreuthners schweißbrennende Augen konnten auf der anderen Seite des Sees das Hirschberghaus und die Aueralm erkennen. Die Hölle würde da los sein heute. Wie die Hunnen würden die Münchner einfallen und alles zusammensaufen, was man mühsam auf den Berg geschafft hatte. Das brachte Kreuthner darauf, dass ihn unten im Berggasthaus Galaun ein Weißbier erwartete. Die Aussicht auf das Weißbier erschien überraschenderweise gar nicht so verlockend. Ganz flau war ihm im Magen. Er musste sich auf das Geländer stützen. Aus dem Augenwinkel sah er einen Mann mit roter Baseballkappe und gelbem T-Shirt, auf das eine Art Batman aufgedruckt war, an der Kapelle stehen. Das musste der Besitzer des Bierfasses sein. Der Bursche war groß, blond und muskulös, und als er Kreuthner das Gesicht zuwandte, sah der, dass es Stanislaus Kummeder war, ein grober Bursche, der selbst nach Kreuthners Maßstäben unmäßig soff und Schlägereien nur aus dem Weg ging, wenn er wirklich keine Zeit hatte. Kreuthner schickte Kummeder ein erschöpftes Kopf nicken. Der andere nickte zurück. »Hast den Zimbeck überholt?« Kreuthner schüttelte den Kopf und pumpte Luft in seine Lungen. Der andere wandte sich ab und schaute übers Geländer zum Wirtshaus hinab. Dann drehte er sich noch einmal dem Polizisten zu und sah ihn plötzlich feindselig an. »Falcking - schon mal gehört?«, fragte Kummeder unvermittelt. Ja. Hatte Kreuthner. War aber schon eine Weile her. »Der Anwalt?« »Genau. Der weiß, was mit der Kathi passiert ist. Den müssts ihr euch mal vorknöpfen.« »Müss ma des jetzt besprechen?«, stöhnte Kreuthner. »Der weiß was! Und gnade euch Gott, wenn sich rausstellt, dass ihr das vermasselt habts.« Kreuthner nickte gelangweilt und dachte an sein Frühstück mit Weißbier und Weißwürsten und süßem Senf, fingerdick auf die fette Wurst gestrichen. Da ihm zur gleichen Zeit die nasse Stirn kalt wurde, Punkte vor seinen Augen tanzten und sich im unteren Teil des Halses ein würgendes Gefühl einstellte, musste sich Kreuthner über das Geländer beugen, und den Bruchteil einer Sekunde später schoss ihm halbverdautes Müesli mit getrockneten Waldfrüchten durch den Rachen und klatschte auf die Felsen des Riedersteins. Kreuthner spuckte aus und wischte sich die Nase, durch die ebenfalls ein kleiner Teil des Mageninhalts seinen Weg nach draußen gefunden hatte. Das Gewürge hatte Kraft gekostet, aber jetzt war ihm wieder besser. Allerdings hatte er ein seltsam warmes Gefühl an seiner rechten Schulter. Er griff an die Stelle und hielt ein weißliches Stück Materie in der Hand, weich und glitschig, mit roten Schlieren. Und wie Kreuthner versuchte, seine Gedanken beisammenzubekommen, fi el ihm ein, dass er beim Würgen gemeint hatte, einen dumpfen Knall zu hören, allerdings eben sehr dumpf, weil ihm die Ohren zugegangen waren, als er den Unterkiefer so weit aufgerissen hatte. Auf dem Boden neben sich bemerkte Kreuthner etwas, das vor ein paar Sekunden noch nicht dagelegen hatte. Es erinnerte entfernt an ein Stück Kokosnussschale, nur waren keine braunen Fasern dran, sondern gelbliche Haare, und innen war die Schale rot verschmiert. Einen Meter weiter lag eine rote Baseballkappe. Eine Ahnung stieg in Kreuthner auf, gepaart mit Unglauben. Kreuthner drehte sich zu dem Mann um, der vorhin am Geländer gestanden war. Zuerst sah er ihn nicht, denn er stand da nicht mehr. Vielmehr sah Kreuthner die zum See gewandte Rückseite der Kapelle. Das Erscheinungsbild der schindelgetäfelten Wand hatte sich insofern verändert, als sich dort ein nass-roter Fleck von der Mitte trichterförmig nach rechts oben ausbreitete. Kreuthner senkte den Blick. Beine mit Sportschuhen kamen ins Bild, ausgestreckt auf dem Boden vor der Kapelle, im Anschluss an die Beine ein Oberkörper in gelbem T-Shirt. Ab dem Kragen bot sich ein sehr unerfreulicher Anblick. Kreuthner beugte sich über das Geländer und öffnete abermals den Mund, um die letzten im Magen verbliebenen Müeslireste dem Felsgestein zu übergeben.
2. Kapitel
Manfred war schon wach gewesen, als der Anruf kam. Er war jeden Tag um halb sieben auf, kochte Kaffee und heizte den Schwedenofen im Wohnzimmer ein, denn Wallner fror morgens noch mehr, als er es ohnehin den ganzen Tag tat. Wallner schlafe noch, hatte Manfred zu Kreuthner gesagt, aber er werde seinen Enkel gerne wecken. Der faule Socken müsse ja nicht wieder bis Mittag im Bett liegen, nur weil Sonntag sei. Wallner war ohnehin aufgewacht. Denn Manfred hatte die Angewohnheit, in den Telefonhörer zu schreien. Sie hätten auf dem Riederstein einen erschossen, berichtete er seinem Enkel. Wallner kam spät zum Tatort. Manfred hatte darauf bestanden, ihm ein Frühstücksei zu kochen, das Ei aber hart werden lassen, so dass er noch eins kochen musste, obwohl Wallner gesagt hatte, er werde auch das harte Ei essen. Aber mit Manfred war nicht zu reden. Ein neues Ei wurde aus dem Kühlschrank geholt, schaffte es aber nicht bis zum Kochtopf, denn Manfred war jetzt unter Druck, fi ng an zu zittern und ließ das Ei auf den Küchenboden fallen. Die anschließenden Aufräumarbeiten, weitere Diskussionen über die Notwendigkeit eines Frühstückseis sowie Zubereitung und Verzehr des dritten Eis führten dazu, dass Wallner eine halbe Stunde später als beabsichtigt das Haus verließ. Die Ermittlungsarbeiten waren schon einige Zeit im Gang, als Wallner um kurz nach acht den Parkplatz erreichte, von dem der Fußweg zum Riederstein seinen Anfang nahm. Die Polizei hatte den Parkplatz für Privatfahrzeuge gesperrt. Wallner musste seinen Wagen stehen lassen und wurde mit einem Dienstwagen zur Galaun hochgefahren. Auf dem Weg nach oben begegneten sie etlichen Wanderern, die die Polizei wieder nach unten geschickt hatte. Das Gelände um den Riederstein war großflächig abgesperrt worden, denn der Umkreis von einem Kilometer um den Berg galt als potenzieller Standort des Todesschützen. Die Wirtsleute des Gasthauses Galaun am Fuße des Riedersteins waren wenig erfreut, dass die Polizei die Gäste an einem Oktobersonntag wegschickte. Ein gewisser Ausgleich wurde dadurch geschaffen, dass die meisten der dreißig im Einsatz befi ndlichen Beamten noch nicht gefrühstückt hatten und das jetzt auf der Terrasse des Gasthauses nachholten. Als Wallner auf der Galaun ankam, waren dort mehrere Streifenwagen und Zivilfahrzeuge geparkt. Die Terrasse des Wirtshauses war voll von Beamten, die Karten studierten, telefonierten oder Laptops bedienten. Wallner trat auf die Terrasse und begrüßte einige der Beamten, die meisten kannte er beim Namen. Die junge Kripokollegin Janette stand an einem Tisch und zeichnete etwas in eine Landkarte ein. Wallner bat sie, ihm kurz zu erklären, was vorgefallen war. Doch Janette war auch erst vor zehn Minuten eingetroffen. Die Ermittlungen habe bis jetzt Mike Hanke geleitet, der hier irgendwo herumstehe. Janette wusste nur, dass jemand auf dem Riederstein erschossen worden war. Vermutlich aus großer Entfernung. Man suche gerade die Stelle, von der aus geschossen wurde. Anhand des Schusswinkels lasse sich das einigermaßen einkreisen. Es handele sich aber immer noch um ein sehr großes Gebiet, das fast vollständig mit Gebirgswald bestanden sei. Die Suche konzentriere sich im Augenblick auf die wenigen Lichtungen. Janette deutete auf farbig markierte Stellen der Landkarte. Wallner nickte und fragte, wo es Kaffee gebe. Janette sagte, sie werde ihm einen holen. Wallner sah sich um und suchte nach Mike, fand ihn aber nicht, weil ihm schwindlig wurde und er sich setzen musste. Morgens hatte er oft mit einem widerspenstigen Kreislauf zu kämpfen. Außerdem war es eisig kalt. Dreizehn, höchstens fünfzehn Grad, schätzte Wallner und zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke hoch. Das Wirtshaus lag immer noch im Schatten des Riedersteins. Warum die meisten hier kurzärmelige Hemden oder T-Shirts anhatten, war Wallner unbegreiflich. Grundsätzlich fror Wallner mehr als andere Menschen. Genauer gesagt, mehr als andere Männer. Frauen gestand man die Friererei ja ohne weiteres zu. Für einen Mann hingegen war es eher peinlich. Unmännlich, mädchenhaft. Seit Wallner allerdings eine Stellung hatte, in der er bestimmen konnte, ob Fenster aufgemacht wurden oder nicht, ging er erheblich offensiver mit seiner inneren Kälte um. Woher sie kam, blieb ihm aber weiterhin ein Rätsel. Janette stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Wallner bedankte sich, trank ein paar Schlucke und beugte sich mit dem Gesicht über die Tasse, damit der Kaffeedampf ihm das Gesicht wärmte. »Dahinten steht er«, sagte Janette und deutete zu dem Forstweg, auf dem Wallner hochgekommen war. Dort stand Mike und redete mit einer etwa dreißigjährigen Frau. Das Gespräch schien unterhaltsam zu sein. Denn die Frau und Mike lachten immer wieder. »Wer ist die Frau?«, wollte Wallner wissen. »Ich glaub, die kommt aus München und hat eine neue Kamera dabei.« Wallner sah Janette verständnislos an. »Mehr weiß ich auch nicht. Die macht heute das Video.«
Wallner begab sich - immer noch leicht schwindlig im Kopf - zu Mike und der Frau. Warum heute jemand aus München das Tatortvideo drehte, war ihm ein Rätsel. Als Wallner bis auf ein paar Meter an Mike und die Frau herangekommen war, bemerkte ihn Mike. »Kommst ja doch noch. Mir ham schon befürchtet, das bist du da oben. Aber nachdem der keine Daunenjacke angehabt hat, waren wir dann doch beruhigt.« Mike Hanke deutete zum Riederstein hoch und grinste Wallner aus dunkel geränderten Augen an. Oben bei der Kapelle bewegte sich etwas. Wallner konnte Lutz und Tina erahnen, nicht aber die Leiche sehen, denn die lag immer noch auf dem Boden. Deutlich sichtbar waren hingegen die trichterförmig angeordneten Blutspritzer an der Kapellenrückwand. Mike stellte Wallner die Frau vor. Sie hieß Vera Kampleitner und arbeitete beim LKA. Mike hatte sie auf einer Fortbildungsveranstaltung kennengelernt und dabei erfahren, dass sie von den Herstellerfi rmen mit den neuesten Kameramodellen versorgt wurde und darauf aus war, ihre Kameras unter verschiedensten Bedingungen zu testen. Sie hatte Mike gebeten, ihr Bescheid zu sagen, wenn sich ein interessanter Fall ergebe. Mike hatte sie, gleich nachdem er selbst zum Tatort gerufen worden war, angerufen und ihr den Sachverhalt geschildert. Da Vera Kampleitner schon lange auf eine Gelegenheit gewartet hatte, die Einsatzmöglichkeiten eines neuen Teleobjektivs zu testen, hatte sie sich in ihren Wagen gesetzt und war an den Tegernsee gefahren. Wallner musterte die Frau. Sie hatte sehr lockiges, langes, kastanienbraunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Sie trug eine rechteckige Hornbrille, an deren Bügeln das Dolce & Gabana-Logo angebracht war. Das Gesicht war länglich mit einem energischen Kinn, die Oberlippe dünn, die Unterlippe etwas kräftiger, darüber eine gebogene Nase, nicht hässlich, im Zusammenspiel mit Kinn und dünner Oberlippe vielmehr energisch. Ihre Augenbrauen hatte Vera Kampleitner nicht, wie viele Frauen, zu einem dünnen Strich auszupfen lassen. Sie waren gepflegt, aber mit Bedacht ein wenig kräftiger belassen, was nicht grob wirkte, sondern natürlich und - wiederum energisch. Die Frau legte offenkundig Wert auf eine dynamische Erscheinung. Dieser entschlossene Gesamteindruck wurde etwas abgemildert durch ein Paar abstehende Ohren, die, so vermutete Wallner, unter den dunklen Locken verschwanden, wenn Vera Kampleitner die Haare offen trug. Während er Vera Kampleitner taxierte, bemerkte er, dass sie das Gleiche mit ihm tat. Ein kurzer Blick auf sein Gesicht, dann glitten die Augen nach unten. Daunenjacke, quittiert mit einem Zucken der linken Augenbraue. Noch weiter unten Jeans und Bergschuhe, uninteressant. Die Augen wanderten wieder nach oben. In Vera Kampleitners Haltung und Gestik meinte Wallner Abwehr zu spüren, immer auf einen Angriff gefasst. Im Augenblick konnte eigentlich nur Wallner das Ziel dieser Kautelen sein. Er spürte, dass Ärger in der Luft lag. »Wo ist eigentlich die Irene?«, fragte er Mike und wandte sich dann an Vera Kampleitner. »Irene Scholz ist die Mitarbeiterin, die bei uns das Tatortvideo macht.« »Ja, ich weiß«, sagte Vera Kampleitner. »Die Dame macht sich bei der Spurensicherung nützlich. Ich habe ihr gesagt, dass ich das mit dem Video heute übernehme. « Wallner hatte schon so etwas geahnt. Er blickte zu Mike. Mike machte eine Geste, die in etwa »ist ja nicht so wild« besagen sollte. Wallner war anderer Ansicht. Er blickte, bemüht um größtmögliche Ruhe, Vera Kampleitner ins Gesicht. »Sie haben Frau Scholz gesagt, dass sie kein Video machen muss?« »Ich bin davon ausgegangen, dass das in Ihrem Sinn ist. Ich meine, wir müssen hier nicht zu zweit mit der Kamera rumlaufen. Und Frau Scholz kann an anderer Stelle nützlich sein.« »Oh, bestimmt. Es ist nur so, dass normalerweise ich meinen Mitarbeitern sage, was sie tun sollen und was nicht. Frau Scholz macht übrigens sehr gute Videos.« »Bei wie vielen Morden hat Frau Scholz schon gearbeitet? « »Bei fünf. Warum?« »Ich habe über sechzig Tatorte gefilmt, an denen Kapitalverbrechen begangen wurden. Sie können sich darauf verlassen, dass Sie heute keine schlechtere Arbeit bekommen als sonst.« Sie zögerte, schien zu überlegen, ob sie das nachschicken sollte, was ihr auf der Zunge lag - und schickte es dann nach: »Eher etwas bessere.« Wallner versuchte im Bauchbereich locker zu bleiben und sich nicht aufzuregen. »Das sollte mich außerordentlich freuen, wenn's denn so wäre. Hat aber nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen zu erklären versuche.« »Nämlich?« »Sie können hier filmen, was und wo Sie wollen, natürlich in Absprache mit der Spurensicherung. Alle darüber hinausgehenden Aktivitäten stimmen Sie bitte vorher mit mir ab.« Vera Kampleitner zog die Augenbrauen hoch, schüttelte den Kopf und lachte fassungslos. »Okay, okay. Mike sagte mir, dass hier eine lockere Atmosphäre herrscht. Aber da hat er offenbar nicht Sie gemeint.« »Nein, bestimmt nicht. Ich bin im Gegenteil ein großer Freund preußischer Korrektheit. Vor allem finde ich es hilfreich, wenn meine Mitarbeiter den vorgesehenen Dienstweg gehen.« »Ah ja. So einer sind Sie. Darf ich Ihnen eine private Frage stellen?« »Wenn's sein muss.« Vera Kampleitner kam mit ihrem Kopf näher und sagte Wallner leise ins Ohr: »Sie haben nicht zufällig Probleme mit der Größe eines Ihrer Körperteile?« Wallner lächelte sie an. »Wenn dem so wäre, würde ich das mit meinem Urologen besprechen.« Vera Kampleitner zwinkerte Wallner zu. »Dachte ich's mir doch. Viel Spaß noch beim Ermitteln.« Damit ging sie federnden Schrittes in Richtung Wirtshaus. Wallner sah Mike an, lange und schweigend. Auch Mike sagte nichts. Schließlich räusperte sich Wallner. »Ich nehme an, du hattest Gründe, die Frau herzubemühen. «
Knaur Taschenbuch © 2010 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Thomas Kistner
Thomas Kistner, geboren 1958, ist Redakteur der Süddeutschen Zeitung und zuständig für Sportpolitik. Er wurde unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet, war 2006 "Sportjournalist des Jahres" und ist international einer der renommiertesten investigativen Journalisten im Bereich Sportpolitik und organisierte Kriminalität im Sport. Kistner kommentiert regelmässig auf Deutschlandfunk und ist mit den Themen Doping und Korruption im Sport gefragter Gast in TV-Talk-Shows.
Autoren-Interview mit Thomas Kistner
Interview mit Thomas Kistner zu Fifa-MafiaIhre Karriere als Sportjournalist - geben Sie uns Stichworte Ihrer Karriere?
Verkürztes Volontariat bei den Badischen Neuesten Nachrichten in Karlsruhe, 1986 Wechsel zur Abendzeitung München, seit 1990 bei der Süddeutschen Zeitung. Theodor-Wolff-Preis 2008, Sportjournalist des Jahres 2006, hier weitere Nominierungen unter die besten Drei sowie für den Goldenen Prometheus. Allerlei weitere Preise in den diversen Kategorien des Verbandes Deutscher Sportjournalisten, dazu den Fairplay-Preis 1996.
Wie lange arbeiten Sie schon an dem Thema Fifa?
Konzentriert seit etwa Mitte der 90er Jahre.
Wie haben Sie recherchiert, wie sind Sie an Ihre Quellen und Belege gekommen?
Wie recherchiert man? Sich möglichst alles zugänglich machen, was offiziell und vor allem inoffiziell verfügbar ist. Dokumente helfen am meisten. Zudem lassen große Organisationen mit fragwürdigen Personalnetzen wie die Fifa viele Ex-Mitarbeiter, Geschäftspartner und sonstige Begleiter am Wegesrand zurück, die reale Einblicke in die Vorgänge erhielten - und diese zuweilen mit den (leider viel zu) wenigen kritischen Geistern teilen, die es im Sportjournalismus gibt. Für mich ist es wesentlich, die Motivlage der jeweils handelnden Personen zu ergründen. Ich will begreifen, worin der Antrieb für die Personen liegt, die ich beschreibe. Die Psychologie von Menschen, die es über den Sport ins Rampenlicht drängt, und die von Menschen, die es über den Sport zwar nicht ins Rampenlicht, aber an wirtschaftspolitische Schaltstellen drängt, wäre für sich genommen ein spannendes Thema. Voll aus dem Leben.
Wie reagiert die Fifa auf Ihre Arbeit und seit wann weiß sie davon?
... mehr
Sie weiß spätestens seit Januar davon, als der Verlag, dann bald auch ich selbst, von der Fifa angefragt wurde, ob ich dem Verband das Manuskript vorab selbst vorlegen möchte. Andernfalls werde man Wege finden, rechtzeitig vor der Veröffentlichung daran zu kommen.
Grundsätzlich zähle ich zu den drei, vier Journalisten, die bei der Fifa auf dem Index stehen. Sepp Blatter selbst hat diese aus seiner Sicht bedrohlichen Leute Ende 2010 namentlich in einem Schweizer Interview benannt. Und so ist bei manchen Fifa-nahen Leuten die Angst davor, mit mir in Verbindung gebracht zu werden, gar als ein Gesprächspartner, mit Händen zu greifen. Zuweilen wird diese Furcht auch offen formuliert. Zu den Standardfragen mir gegenüber gehört bspw. mittlerweile, ob ich sicher sei, dass mein Telefon nicht abgehört werde. Ich habe keine Hinweise darauf, dass dem so wäre. Keine Ahnung, ob das Paranoia ist - die Sorge einer wachsenden Anzahl von ehemaligen oder Immer-noch-Insidern jedenfalls ist Fakt. Und ein englischer Kollege hat schon 2006 ausführlich darüber berichtet, wie während seiner Buchrecherchen für ein Fifa-kritisches Buch die britische Telekom herausfand, dass irgendjemand seinen Telefongesprächen nachgespürt hatte. Aber klar, auch hier gilt: Der Sachverhalt ist so, doch wer wirklich hinter der Aktion steckte, wurde nie herausgefunden.
Wie ist die Bestechungspolitik gegenüber Journalisten?
Nähe korrumpiert bekanntlich häufig, und wir reden hier von Sportjournalisten. Die Erfahrung auf diese Berufsgruppe bezogen lehrt, dass viele Sportjournalisten sich gewissermaßen schon selbst korrumpieren - beispielsweise über das Glücksgefühl, dass sie in diesem Job und damit ihren Helden des Sports so nahe sein zu dürfen. Wer seinen Fußball- oder Olympiahelden statt der Autogrammkarte das Mikro hinhalten darf, braucht gar nicht mehr im herkömmlichen Sinne bestochen zu werden - der kommt oft erst gar nicht auf dumme Gedanken. Zum Beispiel auf den dummen Gedanken, sich einmal die gnadenlosen Polit- und Wirtschaftsmechanismen hinter dieser wundervoll geschmierten Industrieshow mit den perfektionierten Leibern genauer anzusehen. Huch: Da könnten ja die Fan- und Konsumenten-Träume platzen! Aber man braucht gar nicht so tief in die internationale Sportpolitik eindringen - es genügt ja schon zu beobachten, wie der Sportjournalismus mit der endemisch verbreiteten Dopingproblematik umgeht.
Die höchste Verdrängungsstufe hat auch hierin der Fußballjournalismus erreicht: Dem ist nahezu unbekannt, dass es so etwas wie Doping gibt - abseits von Radsport und Gewichtheben. Dabei sind die Beweise und die verlässlichen Anzeichen dafür immens. Selbstverständlich wird gerade in dieser Highspeed-Athletiksparte mit chemischen Keulen auf Teufel komm raus getrickst. Denken wir an Juventus Turin, das - gerichtlich nachgewiesen - seine größte internationale Erfolgszeit in den Neunzigerjahren im Schatten einer Vereins-Apotheke absolvierte, die nach richterlicher Feststellung für die Ausstattung der Klinik einer mittelgroßen Kreisstadt gereicht hätte. Oder nehmen wir all die (stets reflexartig wieder abgewürgten) Bekenntnisse von Fußballprofis auch in der Bundesliga. Toni Schumacher, Peter Geyer, aber selbst Franz Beckenbauer hatten schon in den Siebzigerjahren darüber berichtet - und waren eingedenk eines immensen Drucks aus der Branche schnell verstummt.
Seither hat sich die Athletik im Fußball um mindestens 50 Prozent gesteigert - mit Apfelschorle und Müsli? Wer das glaubt, glaubt auch an den Weihnachtsmann. Oder denken wir daran, dass der berüchtigte spanische Dopingdoktor Eufemiano Fuentes nicht nur Radprofis gedopt hat, sondern seinerzeit auch die Profis von Barcelona und Real Madrid betreute. Und was war wirklich in den Spritzen, die unseren Berner Helden beim WM-Finale 1954 verabreicht worden sind? Nur Glukose - oder doch, was eindeutig näher an der Sport- und Lebensrealität liegt, das schon im Zweiten Weltkrieg gebräuchliche und von deutschen Sportärzten zu jener Zeit eingehend erforschte Aufputschmittel Pervitin? Was hat es mit der seltsamen Häufung von Leberschäden und dadurch bedingten Todesfällen unter den Berner Helden auf sich? Da rührt man an den großen Geheimnissen eines Landes, das sich im Fußball selbst neu gefunden und erfunden hat.
Angesichts solcher Aufgabenstellungen fragt sich dann mancher brave Sportjournalist eben besorgt, ob er sich mit derlei journalistischen Detektivarbeiten nicht einfach nur selbst den Ast absägt, auf dem er sitzt. Klingt vielleicht etwas derb, doch diese Sichtweise ist in der Branche sehr, sehr stark verbreitet. Genau diese Sache mit dem Ast hat mich auch selbst jemand gefragt, der zu jener Zeit intensiv mit dem Sport hierzulande befasst war: Wolfgang Schäuble, damals Innenminister. Schäuble fragte mich ernsthaft, ob wir nicht unsere Zeitungssportredaktion personell verdünnen müssten, wenn zum Beispiel Bayern München in die Zweite Liga absteigen würde.
Problematisch im Sportjournalismus wirken zudem diverse Zwänge, die teils für jedermann klar erkennbar sind. Etwa die Zwänge für Mitarbeiter von all jenen größeren und großen Sportmedien, die sich Verwertungsrechte an bestimmten Sportveranstaltungen teuer erkauft haben: Sollen die nun hergehen, ihr Millionenprodukt schlecht zu reden (oder zu schreiben, zu senden)? Und wenn sie´s wagten - wie würden die Chefs darauf reagieren? Es gibt branchenintern das mittlerweile ja recht gebräuchliche Wort von Sportjournalisten, die Fans sind, die es über die Absperrung geschafft haben. Darauf darf ich das Urheberrecht beanspruchen.
Die Verflechtung von Fifa-Aktivitäten und der Außenpolitik/Wirtschaftspolitik ist hochspannend. Können Sie Ihre Theorie dazu ausführen?
Das würde Stunden dauern. Jedenfalls ist eine Fußball-WM aus politischer Sicht eine Propaganda-Veranstaltung. Brot und Spiele, nichts anderes, und wehe dem Politiker, der sich öffentlich gegen eine solche Veranstaltung stellen würde. Der kann seinen Wahlkreis gleich abgeben. Die Aussicht auf Brot und Spiele schafft auch eine über Jahre anhaltende Aufbruchsstimmung im Land, die sich politisch gut nutzen lässt, von der Selbstdarstellung der politischen Elite bis hin zur Durchsetzung heikler Beschlüsse während einer WM.
Was passierte beispielsweise im deutschen Märchensommer 2006 während der Fußball-WM? Die Mehrwertsteuer im Lande wurde von 16 auf 19 Prozent erhöht. Um drei Prozent! Na und? Hat niemanden wirklich interessiert in einem delirierenden Land. Ein großer Teil war ja wochenlang völlig verzückt Fußball gucken auf den Fan-Meilen. Eine Nation im Poldi&Schweini-Rausch mit schwarzrotgolden bemalten Gesichtern. Nichts gegen die Freude am Fußball. Ich spiele selbst noch heute im Punktspielbetrieb. Aber wo sind die Grenzen? Wo sind die Grenzen, wenn demokratische Regierungen - wie es auch die unsere getan hat - einem obskuren Laden nach Schweizer Privatrecht die Befreiung von Steuer-, Arbeits- und Zollbestimmungen gewährt?
Wenn sie akzeptieren, dass sie der Fifa "zufriedenstellende Auskunft" erteilen müssen, falls sie bestimmte Personen nicht ins Land lassen wollen? Die Frage ist hier nämlich: Wen weisen demokratische Regierungen an ihren Landesgrenzen ab? Das sind in der Regel Terrorverdächtige und/oder Schwerverbrecher - mit welchem Recht aber fordert die Fifa "zufriedenstellende" Aufklärung darüber? Sollen ihr Regierungen über potentielle Terroristen referieren - der Fifa, einem aus aller Welt dahergelaufenen Haufen von Funktionären, oftmals selber höchst obskur, die sich in einer Art Hasenzüchter-Verein versammelt haben? Das ist die Lage mittlerweile. Länder wie England, Holland, Belgien, Spanien und Portugal mussten solche Vorgaben akzeptieren, als sie sich für die WM 2018 bewarben. Aber natürlich: Mit der Bevölkerung wurde das erst hinterher diskutiert, nach dem Scheitern - wenn überhaupt.
Und was die Mär vom wirtschaftlichen Mehrwert eines solchen Turniers angeht, der von den auffallend immer selben bezahlten Wirtschaftsgutachtern gern fleißig hochgerechnet wird: Den gibt es, klar. Aber nur aus Sicht des Privatsektors. Denn eine Fußball-WM ist im Kern wirtschaftlich eine milliardenschwere Umverteilung von der öffentlichen in die private Hand.
Die Schweiz und die Fifa: Sie beschreiben die eigenwillige Regelung in der Schweiz, warum es dort qua definitionem keine Sportkorruption gäbe und dass bis Ende 2011 ein Anforderungskatalog für eine Neuregelung vorliegen soll. Wie ist der Stand jetzt, im Frühjahr 2012?
Es wird jetzt tatsächlich ein wenig gearbeitet an den schreienden Missständen. Bisher ist der Standort Schweiz ja geradezu eine Einladung zur Korruption. Aber wie überall in der Politik, hat der populäre Sport auch unter Schweizer Politikern zahlreiche Lobbyisten. Und was im Steuerparadies traditionell weniger dramatisch gesehen wird als in manchem anderen Land, sind Vetternwirtschaft und gewisse finanzpolitische Durchstechereien. Was also die Schweizer Politik in den letzten ein, zwei Jahren am stärksten wachgerüttelt hat, ist der Aufstand in der Bevölkerung. Daran kommt kein Politiker vorbei. Die Bevölkerung schuf verheerende Umfragewerte für die Fifa und wählte beispielsweise den köstlichen Begriff "Fifa-Ethikkommission" sogar zum Unwort des Jahres 2010.
Und zudem war natürlich alarmierend, dass der Ruf der Schweiz allmählich in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn man dort weiterhin tatenlos den Selbstbedienungsladen Fifa gewähren lässt. Es ist letztlich wie die Problematik für die Sponsoren: Wenn man sich nicht mehr rühmen darf, Sitz (oder Partner) der größten Weltsportverbände zu sein, sondern sich dafür schämen muss, womöglich sogar vor der Kundschaft rechtfertigen, wie neuerdings Fifa-Topsponsor Emirates - erst dann ist es so weit. Erst dann kippt das Ganze ins Gegenteil um. Diese Schmerzgrenze hat die Fifa in der duldsamen Schweiz nun erreicht.
Nur um noch einmal die Größenordnungen der Deals zu klären und weil's so schön ist: Rechte an der Vermarktung einer WM wurden an den genehmsten Bewerber nicht für die größtmögliche Summe, sondern für einen Euro verkauft, schreiben Sie. In Zahlen: 1 Euro?!
Nein: Ein Dollar. Dieser satte Betrag wurde von der Fifa aufgrund des Faktendrucks sogar bestätigt. Wobei dieser genehmste Bewerber nicht irgendeine Firma, sondern ein Vorstandsmitglied der Fifa selbst war. Und zwar der Mann, der Fifa-Chef Blatter stets verlässlich bei den Präsidentenwahlen rund 35 Wählerstimmen zusichern konnte. Da verwundert doch sehr, dass es immer noch Leute gibt, von Michel Platini über Theo Zwanziger bis Gerhard Mayer-Vorfelder, die öffentlich und ungeniert beteuern, sie halten Blatter persönlich für nicht korrupt. Wie, bitteschön, definieren sie dann solche und andere Discount-Deals mit Fifa-Rechten für Funktionäre, die Blatter bei Wahlen die Stimmen besorgen? Zufall? Partieller Gedächtnisverlust? Sie glauben offenbar einfach, dass Blatter, der sonst alles weiß in seiner Fifa, nie etwas mitgekriegt hat etwa von den Ein-Dollar-Deals für seinen engen Wahlhelfer. Und wer das wirklich glaubt, der darf auch glauben, dass der Klapperstorch die Babys bringt.
Sie sprechen von der vollständigen Absenz von Strafgesetzen, was Funktionäre wie Sepp Blatter beispielsweise in der Schweiz schütze. Welche Gesetzeslücken sind das vor allem und wie müssten sie geändert werden?
Es gibt gar keine durchgreifenden Gesetze gegen die Privatbestechung. Und ein Schweizer Privatverein wie die Fifa mit ihren Funktionären ist auch über das geltende Wettbewerbsrecht bisher nicht wirklich zu greifen. Eine andere Möglichkeit wäre, das Führungspersonal des milliardenschweren Unternehmens Fifa wie das von großen Organisationen wie der UN zu behandeln. Dann wäre Bestechung von Fifa-Funktionären kein Antragsdelikt mehr, sondern müsste von Amts wegen verfolgt werden. Aber man muss da immer auch die gewachsenen Beziehungen zum Polit- und Justizapparat sehen. Und schließlich würden die Fifa-Bosse dann sicherlich gleich auf eine Art Diplomatenstatus pochen - das könnte am Ende höchst kontraproduktiv sein. Wie getreulich die Schweizer Politiker nach wie vor zu ihren anrüchigen Fußballfunktionären stehen, konnte man zuletzt am 25. April 2012 beim Straßburger Europarat sehen: Da wurde mit einer Riesenmehrheit ein ungewöhnlich scharfes Positionspapier zur Korruption in der Fifa samt Aufklärungsforderungen, speziell in Richtung Sepp Blatter, verabschiedet. Neben den 95 Ja-Stimmen im Plenum gab es ein Nein und zwei Enthaltungen. Dieser letzte Widerstand kam natürlich von Schweizer Abgeordneten.
Angesichts der erschlagenden Dichte der Verflechtungen - sehen Sie irgendeine Chance, den Korruptions-Dschungel zu aufzulösen?
Nur eine. Wir reden hier ja über Menschen. Da gibt es zwar viele korrupte, aber auch genügend aufrechte Zeitgenossen. Allerdings findet sich diese Spezies in den Sportspitzenämtern notabene kaum bis fast gar nicht. Die herrschende korrupte Kamarilla mit all ihren Schattengeflechten, mit all den Bei- und Nebensitzern im Wartestand auf den nachfolgenden Ebenen, sie muss ausgetauscht werden. Doch diese personelle Runderneuerung wird niemals über Sportwahlen erfolgen können. Im Gegenteil. Es wirken ja selbst honorige Polizeiinstitutionen oder Compliance-Experten (nebenbei: Für Riesensummen Geldes) daran mit, das System Blatter abzusichern. Ob dies bewusst oder nur bemerkenswert blauäugig geschieht, davon soll sich jeder selbst ein Bild machen. Aber eine Großreinigung des wirtschaftsethischen Vakuums Fifa kann selbstverständlich nicht über irgendwelche frommen neuen Compliance-Regeln funktionieren. Die funktionieren ja genau besehen auch in der Wirtschaft nur bedingt; sie sind hauptsächlich dazu da, die Betrügereien und Korruption ein wenig schwieriger zu machen. Nein, es kommt auf die handelnden Menschen, auf das Personal an. Und da sehe ich bei der Fifa und ihren in bald 40 Jahren des Blatterismus gewachsenen Strukturen rabenschwarz. Hier funktioniert die gründliche wirtschaftsethische Erneuerung nur über den ganz großen Crash. Auf den steuert die Fifa derzeit zu, darauf weist immerhin manches hin.
Fußball zu Beginn Ihrer journalistischen Arbeit und Fußball heute - wie ist die Entwicklung aus Ihrer Sicht? Was prägte und prägt den Sport?
Aus persönlicher Warte hat sich wenig geändert: Ich habe einst in der D-Jugend das Spiel angefangen und kicke heute noch in der oberbayerischen Senioren-Liga A. Die persönlichen Aufgeregtheiten rund um das wunderbare Spiel haben sich, das muss ich gestehen, dabei nur graduell verändert.
Im großen Rahmen aber ist das Spiel leider zu einer knallharten Handelsware verkommen - und zu einem enormen Polit-Instrument. Wir sehen ja gerade, wie die Ölprinzen vom Persischen Golf und die Oligarchen-Cliquen aus den früheren Sowjet-Staaten den Fußball an sich reißen. Auf allen Ebenen. Kein Zufall ist, dass Russland und Katar die WM-Turniere 2018 bzw. 2022 zugesprochen erhielten. Also schaun mer mal, um mit dem letzten deutschen Kaiser zu sprechen, ob eines Tages all die Argumente auf dem Tisch liegen, die die Vorstandsherren der Fifa zu diesen WM-Vergaben bewogen haben.
Sie weiß spätestens seit Januar davon, als der Verlag, dann bald auch ich selbst, von der Fifa angefragt wurde, ob ich dem Verband das Manuskript vorab selbst vorlegen möchte. Andernfalls werde man Wege finden, rechtzeitig vor der Veröffentlichung daran zu kommen.
Grundsätzlich zähle ich zu den drei, vier Journalisten, die bei der Fifa auf dem Index stehen. Sepp Blatter selbst hat diese aus seiner Sicht bedrohlichen Leute Ende 2010 namentlich in einem Schweizer Interview benannt. Und so ist bei manchen Fifa-nahen Leuten die Angst davor, mit mir in Verbindung gebracht zu werden, gar als ein Gesprächspartner, mit Händen zu greifen. Zuweilen wird diese Furcht auch offen formuliert. Zu den Standardfragen mir gegenüber gehört bspw. mittlerweile, ob ich sicher sei, dass mein Telefon nicht abgehört werde. Ich habe keine Hinweise darauf, dass dem so wäre. Keine Ahnung, ob das Paranoia ist - die Sorge einer wachsenden Anzahl von ehemaligen oder Immer-noch-Insidern jedenfalls ist Fakt. Und ein englischer Kollege hat schon 2006 ausführlich darüber berichtet, wie während seiner Buchrecherchen für ein Fifa-kritisches Buch die britische Telekom herausfand, dass irgendjemand seinen Telefongesprächen nachgespürt hatte. Aber klar, auch hier gilt: Der Sachverhalt ist so, doch wer wirklich hinter der Aktion steckte, wurde nie herausgefunden.
Wie ist die Bestechungspolitik gegenüber Journalisten?
Nähe korrumpiert bekanntlich häufig, und wir reden hier von Sportjournalisten. Die Erfahrung auf diese Berufsgruppe bezogen lehrt, dass viele Sportjournalisten sich gewissermaßen schon selbst korrumpieren - beispielsweise über das Glücksgefühl, dass sie in diesem Job und damit ihren Helden des Sports so nahe sein zu dürfen. Wer seinen Fußball- oder Olympiahelden statt der Autogrammkarte das Mikro hinhalten darf, braucht gar nicht mehr im herkömmlichen Sinne bestochen zu werden - der kommt oft erst gar nicht auf dumme Gedanken. Zum Beispiel auf den dummen Gedanken, sich einmal die gnadenlosen Polit- und Wirtschaftsmechanismen hinter dieser wundervoll geschmierten Industrieshow mit den perfektionierten Leibern genauer anzusehen. Huch: Da könnten ja die Fan- und Konsumenten-Träume platzen! Aber man braucht gar nicht so tief in die internationale Sportpolitik eindringen - es genügt ja schon zu beobachten, wie der Sportjournalismus mit der endemisch verbreiteten Dopingproblematik umgeht.
Die höchste Verdrängungsstufe hat auch hierin der Fußballjournalismus erreicht: Dem ist nahezu unbekannt, dass es so etwas wie Doping gibt - abseits von Radsport und Gewichtheben. Dabei sind die Beweise und die verlässlichen Anzeichen dafür immens. Selbstverständlich wird gerade in dieser Highspeed-Athletiksparte mit chemischen Keulen auf Teufel komm raus getrickst. Denken wir an Juventus Turin, das - gerichtlich nachgewiesen - seine größte internationale Erfolgszeit in den Neunzigerjahren im Schatten einer Vereins-Apotheke absolvierte, die nach richterlicher Feststellung für die Ausstattung der Klinik einer mittelgroßen Kreisstadt gereicht hätte. Oder nehmen wir all die (stets reflexartig wieder abgewürgten) Bekenntnisse von Fußballprofis auch in der Bundesliga. Toni Schumacher, Peter Geyer, aber selbst Franz Beckenbauer hatten schon in den Siebzigerjahren darüber berichtet - und waren eingedenk eines immensen Drucks aus der Branche schnell verstummt.
Seither hat sich die Athletik im Fußball um mindestens 50 Prozent gesteigert - mit Apfelschorle und Müsli? Wer das glaubt, glaubt auch an den Weihnachtsmann. Oder denken wir daran, dass der berüchtigte spanische Dopingdoktor Eufemiano Fuentes nicht nur Radprofis gedopt hat, sondern seinerzeit auch die Profis von Barcelona und Real Madrid betreute. Und was war wirklich in den Spritzen, die unseren Berner Helden beim WM-Finale 1954 verabreicht worden sind? Nur Glukose - oder doch, was eindeutig näher an der Sport- und Lebensrealität liegt, das schon im Zweiten Weltkrieg gebräuchliche und von deutschen Sportärzten zu jener Zeit eingehend erforschte Aufputschmittel Pervitin? Was hat es mit der seltsamen Häufung von Leberschäden und dadurch bedingten Todesfällen unter den Berner Helden auf sich? Da rührt man an den großen Geheimnissen eines Landes, das sich im Fußball selbst neu gefunden und erfunden hat.
Angesichts solcher Aufgabenstellungen fragt sich dann mancher brave Sportjournalist eben besorgt, ob er sich mit derlei journalistischen Detektivarbeiten nicht einfach nur selbst den Ast absägt, auf dem er sitzt. Klingt vielleicht etwas derb, doch diese Sichtweise ist in der Branche sehr, sehr stark verbreitet. Genau diese Sache mit dem Ast hat mich auch selbst jemand gefragt, der zu jener Zeit intensiv mit dem Sport hierzulande befasst war: Wolfgang Schäuble, damals Innenminister. Schäuble fragte mich ernsthaft, ob wir nicht unsere Zeitungssportredaktion personell verdünnen müssten, wenn zum Beispiel Bayern München in die Zweite Liga absteigen würde.
Problematisch im Sportjournalismus wirken zudem diverse Zwänge, die teils für jedermann klar erkennbar sind. Etwa die Zwänge für Mitarbeiter von all jenen größeren und großen Sportmedien, die sich Verwertungsrechte an bestimmten Sportveranstaltungen teuer erkauft haben: Sollen die nun hergehen, ihr Millionenprodukt schlecht zu reden (oder zu schreiben, zu senden)? Und wenn sie´s wagten - wie würden die Chefs darauf reagieren? Es gibt branchenintern das mittlerweile ja recht gebräuchliche Wort von Sportjournalisten, die Fans sind, die es über die Absperrung geschafft haben. Darauf darf ich das Urheberrecht beanspruchen.
Die Verflechtung von Fifa-Aktivitäten und der Außenpolitik/Wirtschaftspolitik ist hochspannend. Können Sie Ihre Theorie dazu ausführen?
Das würde Stunden dauern. Jedenfalls ist eine Fußball-WM aus politischer Sicht eine Propaganda-Veranstaltung. Brot und Spiele, nichts anderes, und wehe dem Politiker, der sich öffentlich gegen eine solche Veranstaltung stellen würde. Der kann seinen Wahlkreis gleich abgeben. Die Aussicht auf Brot und Spiele schafft auch eine über Jahre anhaltende Aufbruchsstimmung im Land, die sich politisch gut nutzen lässt, von der Selbstdarstellung der politischen Elite bis hin zur Durchsetzung heikler Beschlüsse während einer WM.
Was passierte beispielsweise im deutschen Märchensommer 2006 während der Fußball-WM? Die Mehrwertsteuer im Lande wurde von 16 auf 19 Prozent erhöht. Um drei Prozent! Na und? Hat niemanden wirklich interessiert in einem delirierenden Land. Ein großer Teil war ja wochenlang völlig verzückt Fußball gucken auf den Fan-Meilen. Eine Nation im Poldi&Schweini-Rausch mit schwarzrotgolden bemalten Gesichtern. Nichts gegen die Freude am Fußball. Ich spiele selbst noch heute im Punktspielbetrieb. Aber wo sind die Grenzen? Wo sind die Grenzen, wenn demokratische Regierungen - wie es auch die unsere getan hat - einem obskuren Laden nach Schweizer Privatrecht die Befreiung von Steuer-, Arbeits- und Zollbestimmungen gewährt?
Wenn sie akzeptieren, dass sie der Fifa "zufriedenstellende Auskunft" erteilen müssen, falls sie bestimmte Personen nicht ins Land lassen wollen? Die Frage ist hier nämlich: Wen weisen demokratische Regierungen an ihren Landesgrenzen ab? Das sind in der Regel Terrorverdächtige und/oder Schwerverbrecher - mit welchem Recht aber fordert die Fifa "zufriedenstellende" Aufklärung darüber? Sollen ihr Regierungen über potentielle Terroristen referieren - der Fifa, einem aus aller Welt dahergelaufenen Haufen von Funktionären, oftmals selber höchst obskur, die sich in einer Art Hasenzüchter-Verein versammelt haben? Das ist die Lage mittlerweile. Länder wie England, Holland, Belgien, Spanien und Portugal mussten solche Vorgaben akzeptieren, als sie sich für die WM 2018 bewarben. Aber natürlich: Mit der Bevölkerung wurde das erst hinterher diskutiert, nach dem Scheitern - wenn überhaupt.
Und was die Mär vom wirtschaftlichen Mehrwert eines solchen Turniers angeht, der von den auffallend immer selben bezahlten Wirtschaftsgutachtern gern fleißig hochgerechnet wird: Den gibt es, klar. Aber nur aus Sicht des Privatsektors. Denn eine Fußball-WM ist im Kern wirtschaftlich eine milliardenschwere Umverteilung von der öffentlichen in die private Hand.
Die Schweiz und die Fifa: Sie beschreiben die eigenwillige Regelung in der Schweiz, warum es dort qua definitionem keine Sportkorruption gäbe und dass bis Ende 2011 ein Anforderungskatalog für eine Neuregelung vorliegen soll. Wie ist der Stand jetzt, im Frühjahr 2012?
Es wird jetzt tatsächlich ein wenig gearbeitet an den schreienden Missständen. Bisher ist der Standort Schweiz ja geradezu eine Einladung zur Korruption. Aber wie überall in der Politik, hat der populäre Sport auch unter Schweizer Politikern zahlreiche Lobbyisten. Und was im Steuerparadies traditionell weniger dramatisch gesehen wird als in manchem anderen Land, sind Vetternwirtschaft und gewisse finanzpolitische Durchstechereien. Was also die Schweizer Politik in den letzten ein, zwei Jahren am stärksten wachgerüttelt hat, ist der Aufstand in der Bevölkerung. Daran kommt kein Politiker vorbei. Die Bevölkerung schuf verheerende Umfragewerte für die Fifa und wählte beispielsweise den köstlichen Begriff "Fifa-Ethikkommission" sogar zum Unwort des Jahres 2010.
Und zudem war natürlich alarmierend, dass der Ruf der Schweiz allmählich in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn man dort weiterhin tatenlos den Selbstbedienungsladen Fifa gewähren lässt. Es ist letztlich wie die Problematik für die Sponsoren: Wenn man sich nicht mehr rühmen darf, Sitz (oder Partner) der größten Weltsportverbände zu sein, sondern sich dafür schämen muss, womöglich sogar vor der Kundschaft rechtfertigen, wie neuerdings Fifa-Topsponsor Emirates - erst dann ist es so weit. Erst dann kippt das Ganze ins Gegenteil um. Diese Schmerzgrenze hat die Fifa in der duldsamen Schweiz nun erreicht.
Nur um noch einmal die Größenordnungen der Deals zu klären und weil's so schön ist: Rechte an der Vermarktung einer WM wurden an den genehmsten Bewerber nicht für die größtmögliche Summe, sondern für einen Euro verkauft, schreiben Sie. In Zahlen: 1 Euro?!
Nein: Ein Dollar. Dieser satte Betrag wurde von der Fifa aufgrund des Faktendrucks sogar bestätigt. Wobei dieser genehmste Bewerber nicht irgendeine Firma, sondern ein Vorstandsmitglied der Fifa selbst war. Und zwar der Mann, der Fifa-Chef Blatter stets verlässlich bei den Präsidentenwahlen rund 35 Wählerstimmen zusichern konnte. Da verwundert doch sehr, dass es immer noch Leute gibt, von Michel Platini über Theo Zwanziger bis Gerhard Mayer-Vorfelder, die öffentlich und ungeniert beteuern, sie halten Blatter persönlich für nicht korrupt. Wie, bitteschön, definieren sie dann solche und andere Discount-Deals mit Fifa-Rechten für Funktionäre, die Blatter bei Wahlen die Stimmen besorgen? Zufall? Partieller Gedächtnisverlust? Sie glauben offenbar einfach, dass Blatter, der sonst alles weiß in seiner Fifa, nie etwas mitgekriegt hat etwa von den Ein-Dollar-Deals für seinen engen Wahlhelfer. Und wer das wirklich glaubt, der darf auch glauben, dass der Klapperstorch die Babys bringt.
Sie sprechen von der vollständigen Absenz von Strafgesetzen, was Funktionäre wie Sepp Blatter beispielsweise in der Schweiz schütze. Welche Gesetzeslücken sind das vor allem und wie müssten sie geändert werden?
Es gibt gar keine durchgreifenden Gesetze gegen die Privatbestechung. Und ein Schweizer Privatverein wie die Fifa mit ihren Funktionären ist auch über das geltende Wettbewerbsrecht bisher nicht wirklich zu greifen. Eine andere Möglichkeit wäre, das Führungspersonal des milliardenschweren Unternehmens Fifa wie das von großen Organisationen wie der UN zu behandeln. Dann wäre Bestechung von Fifa-Funktionären kein Antragsdelikt mehr, sondern müsste von Amts wegen verfolgt werden. Aber man muss da immer auch die gewachsenen Beziehungen zum Polit- und Justizapparat sehen. Und schließlich würden die Fifa-Bosse dann sicherlich gleich auf eine Art Diplomatenstatus pochen - das könnte am Ende höchst kontraproduktiv sein. Wie getreulich die Schweizer Politiker nach wie vor zu ihren anrüchigen Fußballfunktionären stehen, konnte man zuletzt am 25. April 2012 beim Straßburger Europarat sehen: Da wurde mit einer Riesenmehrheit ein ungewöhnlich scharfes Positionspapier zur Korruption in der Fifa samt Aufklärungsforderungen, speziell in Richtung Sepp Blatter, verabschiedet. Neben den 95 Ja-Stimmen im Plenum gab es ein Nein und zwei Enthaltungen. Dieser letzte Widerstand kam natürlich von Schweizer Abgeordneten.
Angesichts der erschlagenden Dichte der Verflechtungen - sehen Sie irgendeine Chance, den Korruptions-Dschungel zu aufzulösen?
Nur eine. Wir reden hier ja über Menschen. Da gibt es zwar viele korrupte, aber auch genügend aufrechte Zeitgenossen. Allerdings findet sich diese Spezies in den Sportspitzenämtern notabene kaum bis fast gar nicht. Die herrschende korrupte Kamarilla mit all ihren Schattengeflechten, mit all den Bei- und Nebensitzern im Wartestand auf den nachfolgenden Ebenen, sie muss ausgetauscht werden. Doch diese personelle Runderneuerung wird niemals über Sportwahlen erfolgen können. Im Gegenteil. Es wirken ja selbst honorige Polizeiinstitutionen oder Compliance-Experten (nebenbei: Für Riesensummen Geldes) daran mit, das System Blatter abzusichern. Ob dies bewusst oder nur bemerkenswert blauäugig geschieht, davon soll sich jeder selbst ein Bild machen. Aber eine Großreinigung des wirtschaftsethischen Vakuums Fifa kann selbstverständlich nicht über irgendwelche frommen neuen Compliance-Regeln funktionieren. Die funktionieren ja genau besehen auch in der Wirtschaft nur bedingt; sie sind hauptsächlich dazu da, die Betrügereien und Korruption ein wenig schwieriger zu machen. Nein, es kommt auf die handelnden Menschen, auf das Personal an. Und da sehe ich bei der Fifa und ihren in bald 40 Jahren des Blatterismus gewachsenen Strukturen rabenschwarz. Hier funktioniert die gründliche wirtschaftsethische Erneuerung nur über den ganz großen Crash. Auf den steuert die Fifa derzeit zu, darauf weist immerhin manches hin.
Fußball zu Beginn Ihrer journalistischen Arbeit und Fußball heute - wie ist die Entwicklung aus Ihrer Sicht? Was prägte und prägt den Sport?
Aus persönlicher Warte hat sich wenig geändert: Ich habe einst in der D-Jugend das Spiel angefangen und kicke heute noch in der oberbayerischen Senioren-Liga A. Die persönlichen Aufgeregtheiten rund um das wunderbare Spiel haben sich, das muss ich gestehen, dabei nur graduell verändert.
Im großen Rahmen aber ist das Spiel leider zu einer knallharten Handelsware verkommen - und zu einem enormen Polit-Instrument. Wir sehen ja gerade, wie die Ölprinzen vom Persischen Golf und die Oligarchen-Cliquen aus den früheren Sowjet-Staaten den Fußball an sich reißen. Auf allen Ebenen. Kein Zufall ist, dass Russland und Katar die WM-Turniere 2018 bzw. 2022 zugesprochen erhielten. Also schaun mer mal, um mit dem letzten deutschen Kaiser zu sprechen, ob eines Tages all die Argumente auf dem Tisch liegen, die die Vorstandsherren der Fifa zu diesen WM-Vergaben bewogen haben.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Kistner
- 2012, 426 Seiten, Masse: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426275864
- ISBN-13: 9783426275863
Rezension zu „FIFA-Mafia “
"Bereits von 2012, aber aus aktuellem Anlass absolut empfehlenswert" Stuttgarter Zeitung, 09.12.2014
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