Fear - Grab des Schreckens
Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast. Thriller
Der erneute Verlust seiner Ehefrau Helen hat Special Agent Pendergast in eine tiefe Depression gestürzt. Doch sein Freund Vincent d'Agosta gibt ihn nicht auf. Als eine bizarre Mordserie New York in Atem hält, ist die Stunde für Pendergasts...
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Produktinformationen zu „Fear - Grab des Schreckens “
Der erneute Verlust seiner Ehefrau Helen hat Special Agent Pendergast in eine tiefe Depression gestürzt. Doch sein Freund Vincent d'Agosta gibt ihn nicht auf. Als eine bizarre Mordserie New York in Atem hält, ist die Stunde für Pendergasts Rückkehr gekommen: Der Killer, der provozierend in jede Überwachungskamera lächelt, fordert Pendergast heraus.
Klappentext zu „Fear - Grab des Schreckens “
Sie versuchte zu lächeln. Es tut mir leid, Aloysius. So wahnsinnig leid. Helen , flüsterte er. Mein Gott, ich habe geglaubt, du bist tot. Nur wenige Minuten dauert das ersehnte Wiedersehen mit Helen, bevor sie vor den Augen von Pendergast entführt wird! Mit unerbittlicher Härte nimmt der FBI Agent die Verfolgung auf. Doch die Täter sind ihm immer einen entscheidenden Schritt voraus. Zur selben Zeit hinterlässt ein Serienkiller an seinen Tatorten persönliche Nachrichten für Pendergast. Trotz seiner persönlichen Tragödie greift Pendergast in die Ermittlungen ein und erkennt, dass sein Wiedersehen mit Helen nur der Auftakt zu einem perfiden Komplott war. Und das ihm das Schlimmste die grausame Wahrheit noch bevorsteht.
Lese-Probe zu „Fear - Grab des Schreckens “
Fear - Grab des Schreckens von Douglas Preston Lincoln Child Aus dem Amerikanischen von Michael Benthack
Teil Eins
18.00 Uhr Die Frau mit den veilchenblauen Augen schritt langsam unter den Bäumen des Central Park dahin, die Hände tief in den Taschen ihres Trenchcoats. Neben ihr ging ihr älterer Bruder, sein ruheloser Blick nahm alles um sie herum wahr. »Wie spät ist es?«, fragte sie zum wiederholten Mal. »Punkt achtzehn Uhr.« Es war ein milder Abend Mitte November, und die untergehende Sonne warf gesprenkelte Schatten auf die weiten Grünflächen. Sie überquerten den East Drive, kamen am Standbild von Hans Christian Andersen vorbei und gingen eine leichte Anhöhe hinauf. Und dann - als hätten sie denselben Gedanken - blieben sie stehen. Direkt vor ihnen, hinter der glatten Oberfläche des Conservatory Water, stand das Kerbs Memorial Boathouse einem Spielzeughaus gleich eingerahmt von den riesigen Fassaden der Gebäude, die die Fifth Avenue säumten. Es war eine Postkartenidylle: der kleine See, in dem sich der blutorangefarbene Himmel spiegelte, die kleinen Modellbau-Yachten, die durch das stille Wasser pflügten, die freudigen Rufe der Kinder. Soeben erschien ein Vollmond in der Lücke zwischen zwei Wolkenkratzern. Ihre Kehle fühlte sich eng und trocken an, und ihre Halskette aus Süßwasserperlen kam ihr einengend vor. »Judson«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.«
... mehr
Sie spürte, wie er den brüderlichen Griff um ihren Arm beruhigend anspannte. »Es wird schon nichts passieren.« Mit pochendem Herzen blickte sie sich um und betrachtete die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete. Auf dem Podest vor dem See fiedelte ein Geiger vor sich hin. Auf einer der Parkbänke vor dem Bootshaus saß ein Liebespärchen, das nur Augen füreinander hatte. Auf der Bank daneben las ein Mann mit kurzem Haar und dem Körperbau eines Bodybuilders das Wall Street Journal. Hin und wieder kamen Pendler und Jogger vorbei. Im Schatten des Bootshauses bereitete ein Obdachloser seine Schlafstatt vor. Und da stand er vor dem See - eine schlanke Gestalt, reglos, gekleidet in einen langen, hellen Mantel von vorzüglichem Schnitt, das blonde Haar im fahlen abendlichen Licht platinhell glänzend. Die Frau holte tief Luft. »Geh nur«, sagte Judson leise. »Ich bleibe in deiner Nähe.« Er ließ ihren Arm los. Als die Frau losging, war ihr, als verschwände alles um sie herum, und sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann, der beobachtete, wie sie näher kam. Tausende Male hatte sie sich diesen Augenblick ausgemalt, hatte ihn in all seinen vielen Variationen durchgespielt, wobei er stets mit dem bitteren Gedanken endete, dass er nie wahr werden könnte, dass alles nur ein Traum bleiben würde. Und doch war er hier. Er sah älter aus, aber nicht viel: Die alabasterfarbene Haut, die feinen patrizischen Gesichtszüge, die funkelnden Augen, mit denen er sie aufmerksam betrachtete, erweckten in ihr einen Sturm der Gefühle, der Erinnerung und - selbst in dieser Zeit äußerster Gefahr - der Begierde. Ein, zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen. »Bist du's wirklich?« In seiner Frage, die er mit seinem weichen, höflichen Südstaaten-Akzent stellte, lag so viel Gefühl.
Sie versuchte zu lächeln. »Es tut mir leid, Aloysius. So wahnsinnig leid.« Er schwieg. Jetzt, nach all den Jahren, stellte sie fest, dass sie die Gedanken hinter seinen silberfarbenen Augen nicht mehr lesen konnte. Was empfand er wohl: Verrat? Groll? Liebe? Auf einer Wange hatte er eine schmale, frische Narbe. Sie hob einen Finger und berührte sie leicht. Dann deutete sie impulsiv über seine Schulter. »Schau mal«, flüsterte sie. »Nach all den Jahren bleibt uns immer noch der Mondaufgang.« Er folgte ihrem Blick über die Skyline der Fifth Avenue. Zwischen den imposanten Gebäuden war der buttergelbe Mond aufgegangen, perfekt gerahmt vor einem perlmuttartigen, pinkfarbenen Himmel, der nach oben hin in ein kühles Violett überging. Er zitterte ein wenig. Als er wieder zu ihr hinschaute, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. »Helen«, flüsterte er. »Mein Gott, ich habe geglaubt, du bist tot.« Wortlos hakte sie sich bei ihm unter und begann geistesabwesend mit ihm um den See zu gehen. »Judson sagt, dass du mich aus ... alldem hier herausholen wirst.« »Ja. Wir fahren zurück in meine Wohnung im Dakota. Und von dort gehen wir dann nach - « Mitten im Satz hielt er inne. »Je weniger darüber gesprochen wird, desto besser. Es genügt, wenn ich sage: Dort, wo wir hingehen, hast du nichts zu befürchten.« Sie umfasste seinen Arm fester. »Nichts zu befürchten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das klingt.« »Es wird Zeit, dein Leben wieder aufzunehmen.« Er schob seine Hand in die Jacketttasche und zog einen goldenen Ring mit einem großen Sternsaphir hervor. »Fangen wir also am Anfang an. Erkennst du ihn wieder?«
Sie errötete, als sie ihn betrachtete. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich ihn wiedersehen würde.« »Und ich hätte nie gedacht, dass ich die Gelegenheit bekommen würde, ihn dir wieder anzustecken. Das heißt nicht bis zu dem Zeitpunkt, als Judson mir sagte, dass du noch lebst. Ich wusste, wusste, dass er die Wahrheit sagt - auch wenn niemand sonst mir geglaubt hat.« Er fasste sie leicht am Unterarm und hob ihn an, als wollte er ihr den Ring anstecken. Seine Augen weiteten sich, als er an ihrem Handgelenk den Stumpf erblickte, an dessen Ende eine Narbe verlief. »Ah, verstehe«, sagte er schlicht. »Natürlich.« Es war, als sei der behutsame diplomatische Tanz, den sie aufgeführt hatten, plötzlich zu Ende. »Helen.« Auf einmal klang sein Tonfall ein wenig schroff. »Warum hast du bei diesem grauenvollen Plan mitgemacht? Wieso hast du mir so vieles verschwiegen? Weshalb hast du nicht ...?« »Bitte, ich möchte nicht darüber sprechen«, unterbrach sie ihn rasch. »Es gab für alles Gründe. Es ist eine schreckliche, eine schreckliche Geschichte. Ich werde sie dir erzählen - alles. Aber jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür. Also bitte - steck mir den Ring an und lass uns gehen.« Sie hob die rechte Hand, und er schob ihr den Ring auf den Finger. Gleichzeitig sah sie, wie sein Blick an ihr vorbeiging zu der hinter ihr liegenden Szenerie. Plötzlich schrak er zusammen. Einen Moment stand er, ihre Hand immer noch in der seinen, reglos da. Dann wandte er sich anscheinend ruhig dorthin, wo ihr Bruder stand, und gab ihm ein Zeichen, er solle sich ihnen hinzugesellen. »Judson«, hörte sie ihn leise sagen, »schaff Helen weg von hier - unauffällig, aber schnell.« Die Furcht, die eben erst abgeklungen war, überfiel sie von neuem. »Aloysius, was - «
Aber mit einem kurzen Kopfschütteln schnitt er ihr das Wort ab. »Bring sie ins Dakota«, sagte er zu Judson. »Ich treffe euch dann dort. Bitte geht. Sofort.« Judson griff nach Helens Hand und ging mit ihr davon, fast so, als hätte er diese Entwicklung vorhergesehen. »Was ist denn?«, fragte sie ihn. Keine Antwort. Sie blickte über die Schulter. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Aloysius eine Pistole gezogen hatte und auf einen der Modellyachtbesitzer richtete. »Stehen Sie auf«, sagte er jetzt. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.« »Judson - «, begann sie noch einmal. Aber er ging nur schneller und zog sie mit sich. Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Schuss. »Lauft!«, rief Pendergast. Im nächsten Augenblick brach über die friedvolle Szenerie die Hölle herein. Menschen liefen schreiend auseinander. Judson packte Helen fester, und sie fielen in Laufschritt. Schüsse aus automatischen Waffen knatterten. Judsons Hand wurde aus ihrer gerissen, und er stürzte. Erst glaubte sie, er sei gestolpert, dann aber sah sie, dass aus seinem Mantel Blut hervorspritzte. »Judson!«, schrie sie, blieb stehen und beugte sich über ihn. Er lag auf der Seite, blickte zu ihr hoch und wand sich vor Schmerzen. »Lauf weiter«, stieß er röchelnd hervor. »Lauf ...« Wieder Geknatter aus der automatischen Waffe, und erneut zischte eine Linie zwitschernden Todes durchs Gras, als die Kugeln sich in die Erde bohrten. Dann wurde Judson von einer weiteren Kugel getroffen, und der Aufprall schleuderte ihn auf den Rücken. »Nein!«, schrie Helen und zuckte zurück. Das Chaos steigerte sich: Schreie, Schüsse, die Laufschritte fliehender Menschen. Helen nahm nichts davon wahr. Sie sank auf die Knie und starrte erschrocken in Judsons offene, aber blicklose Augen. »Judson!«, rief sie. »Judson!« Einige Sekunden, vielleicht auch mehr, waren vergangen - Helen wusste es einfach nicht - , als sie Aloysius ihren Namen rufen hörte. Sie hob den Kopf. Er kam mit gezogener Pistole auf sie zugerannt und schoss gleichzeitig zur Seite. »Fifth Avenue!«, rief er. »Lauf zur Fifth Avenue!« Wieder fiel ein Schuss, und auch Aloysius stürzte zu Boden. Das schreckte Helen aus ihren Gedanken. Sie rappelte sich auf, ihr Trenchcoat nass vom Blut des Bruders. Aloysius war noch am Leben, er hatte es geschafft, wieder auf die Beine zu kommen, war hinter einer Bank in Deckung gegangen und feuerte nach wie vor auf das Pärchen, das kurz zuvor noch herumgeknutscht hatte.
Er gibt mir Deckung, damit ich fliehen kann.
Blitzartig drehte sie sich um und rannte los, so schnell sie konnte. Sie würde zur Fifth Avenue laufen, die Schützen in der Menge abschütteln, sich dann zum Dakota durchschlagen und dort wieder mit ihm zusammenkommen ... Weitere Schüsse und die Schreie von Menschen in Angst unterbrachen Helens angsterfüllte Gedanken. Sie rannte weiter. Vor ihr lag die Fifth Avenue, hinter dem großen Steintor zum Park. Nur noch fünfzehn Meter ... »Helen!« Aloysius' Ausruf drang aus weiter Ferne zu ihr. »Pass auf! Links von dir!« Sie blickte nach links. Im Dunkel unter den Bäumen sah sie zwei Männer in Jogginganzügen, die direkt auf sie zuspurteten. Sie bog in vollem Lauf ab, auf eine Gruppe von Platanen abseits des Hauptweges zu, und warf einen Blick nach hinten. Die Jogger folgten ihr - und kamen rasch näher. Weitere Schüsse fielen. Helen verdoppelte ihre Anstrengungen, aber immer wieder sank sie mit den Absätzen in der weichen Erde ein, was sie beim Laufen behinderte. Plötzlich spürte sie im Rücken einen fürchterlichen Aufprall, so dass sie zu Boden geschleudert wurde. Jemand packte den Kragen ihres Trenchcoats und riss sie unsanft hoch. Sie wehrte sich und schrie, doch die beiden Männer hielten sie an den Armen fest und zogen sie Richtung Fifth Avenue. Mit Entsetzen erkannte sie die Gesichter. »Aloysius!«, rief sie aus vollem Hals und blickte nach hinten über die Schulter. »Hilfe! Ich kenne diese Leute! Die sind vom Bund! Die bringen mich um! Hilf mir, bitte!« Im schwindenden Licht konnte sie ihn gerade noch erkennen. Er hatte sich aufgerappelt, blutete stark aus der Schuss- wunde am Bein und humpelte auf sie zu. Vor ihr auf der Fifth Avenue stand ein Taxi mit laufendem Motor am Bordstein, es wartete - wartete auf sie und ihre Entführer. Noch einmal schrie sie voller Verzweiflung: »Aloysius!« Die Männer stießen sie vor sich her, öffneten die hintere Tür des Taxis und stießen sie auf den Sitz. Aloysius' Kugeln prallten von der gehärteten Windschutzscheibe ab. »Los! Verschwinden wir hier!«, rief einer der Jogger auf Deutsch, während sie hinter Helen ins Taxi stiegen. »Gib Gas!«
Während Helen sich mit aller Kraft zur Wehr setzte und versuchte, mit der unverletzten Hand die Tür aufzustoßen, fuhr das Taxi vom Bordstein los. Ganz kurz sah sie ihren Mann im schummrigen Park. Er war auf die Knie gesunken und blickte noch immer in ihre Richtung. »Nein!«, rief sie, während sie sich wehrte. »Nein!« »Halt die Klappe!«, blaffte einer der Männer, holte aus und versetzte ihr einen Fausthieb an die Schläfe. Und dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Sechs Stunden später
Ein Arzt in zerknitterter OP-Kleidung steckte den Kopf ins Wartezimmer der Intensivstation des Krankenhauses Lenox Hill. »Er ist wach, Sie können jetzt zu ihm rein.« »Gott sei Dank.« Lieutenant Vincent D'Agosta von der New Yorker Polizei steckte das Notizbuch, in dem er gelesen hatte, ein und stand auf. »Wie geht es ihm?« »Keine Komplikationen.« Ein Anfl ug von Verärgerung huschte über die Gesichtszüge des Mediziners. »Allerdings sind Ärzte immer die schlimmsten Patienten.« »Aber er ist doch nicht ...«, begann D'Agosta, schwieg dann aber und folgte dem Arzt auf die Intensivstation. Special Agent Pendergast saß aufrecht im Bett, mit Schläuchen an ein halbes Dutzend Überwachungsgeräte angeschlossen. In einem Arm steckte ein Infusionsschlauch, an den Nasenflügeln war eine Nasenkanüle befestigt. Das Bett war übersät mit Blättern aus seiner Krankenakte, und er hielt gerade eine Röntgenaufnahme in der Hand. Die schon immer blasse Haut wirkte jetzt wie Porzellan. Ein Arzt beugte sich über das Krankenbett, vertieft in ein intensives Gespräch mit dem Patienten. D'Agosta konnte Pendergasts Antworten zwar kaum verstehen, es war aber deutlich, dass die beiden Männer nicht gerade einer Meinung waren. »... das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte der Arzt, als D'Agosta auf das Bett zutrat. »Wegen der Schussverletzung und des Blutverlusts stehen Sie immer noch unter Schock, und die Wunde selbst - von den beiden angebrochenen Rippen ganz zu schweigen - muss abheilen und bedarf weiterer ärztlicher Behandlung.« »Doktor«, antwortete Pendergast. Normalerweise war er der Inbegriff von Südstaatenhöflichkeit, jetzt aber hatte seine Stimme den Klang von Eisstücken, die auf Eisen prasselten. »Die Kugel hat den Wadenmuskel lediglich gestreift.
Weder das Waden- noch das Schienbein sind betroffen. Die Wunde war sauber, und es war auch keine Operation erforderlich. « »Aber der Blutverlust ...« »Ja«, unterbrach Pendergast, »der Blutverlust. Wie viele Blutkonserven habe ich bekommen?« Schweigen. Dann: »Eine.« »Eine Konserve. Wegen der Beschädigung der oberflächlichen Nebenvenen der Vena Giacomini. Eine Bagatelle.« Er schwenkte das Röntgenbild wie ein Fähnchen. »Und was die Rippen angeht, so haben Sie selbst gesagt: angebrochen, nicht gebrochen. Die sternalen Rippen fünf und sechs, an den Köpfchen, ungefähr zwei Millimeter entfernt von der Wirbelsäule. Da es sich dabei um sogenannte echte Rippen handelt, wird ihre Elastizität zu einer raschen Heilung beitragen. « Der Arzt wurde wütend. »Dr. Pendergast, ich kann es einfach nicht erlauben, dass Sie das Krankenhaus in diesem Zustand verlassen. Gerade Sie müssten doch - « »Im Gegenteil, Doktor. Sie können es nicht verhindern. Der Zustand meiner lebenswichtigen Organe liegt im akzeptablen Bereich. Meine Verletzungen sind geringfügig, und ich kann für mich selbst sorgen.« »Ich werde in Ihrer Krankenakte notieren, dass Sie das Krankenhaus entgegen meinem ausdrücklichen Rat verlassen. « »Ausgezeichnet.« Pendergast schnippte das Röntgenbild wie eine Spielkarte auf den Tisch in der Nähe. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden?« Der Arzt warf einen letzten, gereizten Blick auf Pendergast, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, gefolgt von dem Mediziner, der D'Agosta begleitet hatte. Jetzt wandte sich Pendergast D'Agosta zu, so als hätte er ihn gerade eben erst bemerkt. »Vincent.«
D'Agosta trat rasch ans Krankenbett. »Pendergast. Mein Gott. Es tut mir so leid ...« »Warum sind Sie nicht bei Constance?« »Sie ist in Sicherheit. Das Mount Mercy hat seine Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Ich musste«, er stockte, um seine Stimme im Griff zu behalten, »nach Ihnen sehen.« »Viel Lärm um nichts, aber trotzdem vielen Dank.« Pendergast entfernte die Nasenkanüle und zog die Infusionsnadel aus der Armbeuge, dann löste er die Blutdruckmanschette und das Pulsoxymeter. Er schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Seine Bewegungen wirkten langsam, fast roboterhaft. Der Mann trieb sich mit eisernem Willen an, das war unverkennbar. »Ich hoffe bloß, Sie beabsichtigen nicht tatsächlich, das Krankenhaus zu verlassen.« Als Pendergast sich umwandte und ihn wieder ansah, brachte die Heftigkeit in seinem Blick - wie glühende Kohlen in einem ansonsten leblosen Gesicht - D'Agosta augenblicklich zum Verstummen. »Und wie geht es Proctor?«, fragte Pendergast, während er die Beine über die Bettkante schwang. »Gut, laut Auskunft der Ärzte. Jedenfalls unter den Umständen. Ein paar gebrochene Rippen, dort, wo das Projektil auf die kugelsichere Weste getroffen ist.« »Judson?« D'Agosta schüttelte den Kopf. »Bringen Sie mir meine Kleidung.« Mit einem Nicken deutete Pendergast zum Kleiderschrank. D'Agosta zögerte, erkannte, dass Widerspruch zwecklos war, und brachte sie ihm. Im Aufstehen zuckte Pendergast zusammen, eine Sekunde lang schwankte er fast unmerklich, dann hatte er sich wieder im Griff. D'Agosta reichte ihm die Kleidungsstücke, Pendergast zog den Schutzvorhang zu.
»Haben Sie eine Ahnung, was zum Teufel da im Park abgelaufen ist?«, fragte D'Agosta. »Die Nachrichten bringen fast nicht anderes mehr. Fünf Tote, das Morddezernat ist völlig aus dem Häuschen.« »Ich habe keine Zeit für Erklärungen.« »Tut mir leid, aber Sie kommen hier nicht raus, ohne mir zu erklären, was da passiert ist.« Er zückte sein Notizbuch. »Also gut. Ich rede mit Ihnen, so lange wie ich zum Ankleiden brauche. Und dann gehe ich hier raus.« D'Agosta zuckte mit den Schultern. Am besten nahm er, was er kriegen konnte. »Es handelt sich um eine sorgfältig - außerordentlich sorgfältig - geplante Entführung. Diese Leute haben Judson ermordet und meine Frau entführt.« »Diese Leute? Wer sind die?« »Eine undurchsichtige Gruppe von Nazis oder Nachkommen von Nazis, die sich Der Bund nennt.« »Nazis? Verdammt, was wollen die?« »Die Motive dieser Leute sind mir ein Rätsel.« »Ich benötige Details über den genauen Ablauf der Ereignisse. « Hinter dem Schutzvorhang sagte Pendergast: »Ich hatte mich mit Judson und Helen am Bootshaus verabredet, um Helen vor dieser Gruppe in Sicherheit zu bringen. Helen ist wie vereinbart um sechs eingetroffen. Mir wurde schnell klar, dass man uns in eine Falle gelockt hatte. Einer der Modellyachtbesitzer verhielt sich verdächtig. Er kannte sich überhaupt nicht mit Schiffen aus und war ängstlich und nervös - er schwitzte, obwohl es kühl war. Ich habe meine Waffe gezogen und ihn aufgefordert aufzustehen. Dann ging's los.« D'Agosta machte sich Notizen. »Wie viele Beteiligte?« Pendergast hielt kurz inne. »Sieben, mindestens. Der Modellyachtbesitzer. Ein Liebespaar auf einer der Parkbänke - die haben Judson erschossen. Ein vermeintlicher Obdachloser, der Proctor angeschossen hat. Ihre Tatortermittler haben die Abfolge des Schusswechsels wahrscheinlich schon rekonstruiert. Es waren mindestens noch drei weitere Personen beteiligt: zwei Jogger, die Helen entführt haben, als sie zu fliehen versuchte, und der Fahrer des Taxis, in das sie Helen hineindrängt haben.« Pendergast trat hinter dem Schutzvorhang hervor. Sein normalerweise makelloser Anzug sah furchtbar aus: das Jackett voller Grasflecken, der untere Teil eines Hosenbeins eingerissen und voll getrockneten Bluts. Er band sich die Krawatte und sah dabei D'Agosta an. »Adieu, Vincent.« »Warten Sie. Wieso wusste dieser ... Bund von Ihrer Verabredung mit Helen?« »Eine ganz ausgezeichnete Frage.« Pendergast griff nach einem metallenen Gehstock und wandte sich ab. D'Agosta packte ihn am Arm. »Das ist doch verrückt, dass Sie das Krankenhaus verlassen, einfach so. Kann ich Ihnen denn nicht auf irgendeine Weise helfen?« »Doch.« Pendergast nahm D'Agosta das Notizbuch samt Schreiber aus der Hand, schlug es auf und schrieb rasch etwas hinein. »Das ist das Kennzeichen des Taxis, in dem Helen entführt worden ist. Die letzten beiden Ziffern konnte ich nicht erkennen. Setzen Sie alles daran, das Kennzeichen zu identifizieren. Und das ist die Nummer des Taxis, aber die ist wertlos, nehme ich an.« D'Agosta nahm das Notizbuch wieder an sich. »Garantiert.« »Geben Sie eine Fahndung nach Helen heraus. Das könnte zwar kompliziert sein, da sie offi ziell ja als tot gilt, aber machen Sie's trotzdem. Ich besorge Ihnen ein Foto - es wird fünfzehn Jahre alt sein, die Forensiker sollen sie mit ihren Bildbearbeitungsprogrammen älter machen.« »Sonst noch was?« Pendergast schüttelte brüsk den Kopf, nur einmal. »Finden Sie einfach nur das Taxi.« Und damit verließ er das Krankenzimmer und humpelte den Flur hinunter, wobei er seinen Gang beschleunigte.
22 Stunden später
Auf der Fahrt von Newark nach Westen fühlte D'Agosta sich in jene Zeit zurückversetzt, als er im 41. Bezirk in der damaligen South Bronx Streife gegangen war. Die heruntergekommenen Läden, die mit geschlossenen Rollläden versehenen Gebäude, die völlig maroden Straßen - das alles erinnerte ihn an weniger glückliche Tage. Er fuhr weiter, während sich draußen vor der Windschutzscheibe immer trostlosere Bilder boten. Schon bald kam er im Zentrum der Misere an: Hier, inmitten der am dichtesten bevölkerten Megacity der USA, standen ganze Häuserblocks leer, die Gebäude ausgebrannte Hüllen oder Müllkippen. An einer Straßenecke fuhr er rechts ran, die Dienstwaffe dort, wo er schnell an sie herankommen würde. Aber dann sah er mitten in dem ganzen Verfall ein einzelnes Gebäude - es stand da wie eine einsame Blume auf einem Parkplatz - mit Gardinen hinter den Fenstern, Geranien und hell gestrichenen Fensterläden: ein Ort der Hoffnung inmitten der Stadtwüste. D'Agosta atmete tief durch. Die South Bronx hatte sich wieder erholt; dieses Viertel hier würde das ebenfalls schaffen. Er überquerte den Bürgersteig und ging über ein brachliegendes Grundstück, wobei er lose Ziegelsteine mit dem Fuß zur Seite stieß. Pendergast war bereits eingetroffen. Der Agent stand am anderen Ende der Brache neben den ausgebrannten Überresten eines Taxis und unterhielt sich mit einem uniformierten Polizisten und den Angehörigen eines kleinen Ermittlerteams. Pendergasts Rolls-Royce, der an der Straßenecke parkte, wirkte in dem ärmlichen Viertel enorm deplaziert. D'Agosta ging zu Pendergast, der ihm kurz zunickte. Bis auf die schockierende Blässe sah der FBI-Agent wieder einigermaßen hergestellt aus. Im spätnachmittäglichen Licht war zu erkennen, dass der übliche schwarze Anzug sauber und gebügelt war, das weiße Hemd frisch. Den unschönen Aluminiumgehstock hatte er gegen einen aus Elfenbein mit einem Silberknauf ausgetauscht. »... habe das Taxi vor einer Dreiviertelstunde gefunden«, sagte der Streifenpolizist soeben zu Pendergast. »Ich war gerade hinter ein paar Zwölfjährigen her, die Kupferdraht geklaut hatten.« Er schüttelte den Kopf. »Und da hab ich dieses New Yorker Taxi entdeckt. Weil das Kennzeichen mit dem in der Fahndung übereinstimmt, habe ich's gemeldet.« D'Agosta widmete sich dem Taxi. Es war kaum mehr als eine leere Hülle: Die Motorhaube war verschwunden, der Motorblock ausgeschlachtet, die Sitze fehlten, das Armaturenbrett war angesengt und teilweise geschmolzen, das Lenkrad zerbrochen. Von der anderen Seite des Fahrzeugs kam der Leiter des Spurensicherungsteams herüber. »Schon bevor sich diese Vandalen über das Taxi hergemacht haben, war es als Beweismittel kaum zu gebrauchen«, sagte er und zog die Latexhandschuhe aus. »Keinerlei Papiere oder Dokumente. Es wurde vollständig abgesaugt und abgewischt, sämtliche Fingerabdrücke wurden entfernt. Dabei wurde ein besonders aggressiver Brandbeschleuniger benutzt. Alles andere, worum die Täter sich nicht gekümmert haben, hat der Brand erledigt.« »Und das amtliche Kennzeichen?«, fragte D'Agosta. »Das haben wir. Es handelt sich um ein gestohlenes Fahrzeug. Wird uns nicht viel nützen.« Der Polizist hielt inne. »Wir schleppen es zum Lagerhaus zurück, um es dort genauer zu untersuchen, aber das Ganze riecht danach, als hätten Profis sämtliche Spuren beseitigt. Organisierte Kriminalität.« Pendergast hörte sich das an, ohne darauf einzugehen. Er blieb völlig ruhig, aber D'Agosta registrierte, dass eine gewisse Verzweifl ung, ein rücksichtsloser Tatendrang von ihm ausging. Dann zog Pendergast plötzlich ein Paar Latexhandschuhe aus der Manteltasche, streifte sie über und trat an das Fahrzeug heran. Er beugte sich über das Taxi, wobei er vor Schmerz kurz zusammenzuckte, ging einmal, zweimal um den Wagen herum und strich mit seinen schmalen Fingern ganz leicht über das versengte Metall, während er mit seinen funkelnden Augen alles genau erfasste. Unter den Blicken der anderen spähte er in den Motorraum, in das Wageninnere, vorn und hinten, den Kofferraum. Dann startete er eine dritte Umkreisung und holte dabei ein paar kleine Beweismittelbeutel, einige Teströhrchen sowie ein Skalpell aus der Tasche. Er kniete sich neben die vordere Stoßstange, wobei er vor Anstrengung kurz das Gesicht verzog, und kratzte mit dem Skalpell kleine Placken getrockneten Schlamms in einen der Beutel, den er anschließend verschloss und wieder einsteckte. Er stand auf und beendete, langsamer diesmal, die dritte Umkreisung. Am hinteren rechten Reifen blieb er stehen, kniete sich wieder hin, pflückte mit einer kleinen Zange mehrere Kieselsteinchen aus den Reifenrillen und legte sie in einen zweiten Beutel. Auch dieser verschwand schnell in seiner Tasche. »Sind das, äh, Beweismittel?«, fragte der Polizist. Pendergast stand auf und drehte sich zu dem Mann um. Er sagte nichts, aber der Polizist wich einen Schritt zurück, als der FBI-Agent ihm fest in die Augen blickte. »Okay. Halten Sie uns auf dem Laufenden, wenn Sie was herausgefunden haben«, murmelte der Cop. Pendergast schaute den Mann weiterhin durchdringend an.
Er sah auch die Leute vom Spurensicherungsteam an, einen nach dem anderen, und dann schließlich D'Agosta. In seinem Blick lag etwas Anschuldigendes, als hätten sie sich eines ungenannten Vergehens schuldig gemacht. Dann drehte er sich um und ging zum Rolls, leicht humpelnd und sich auf den Gehstock stützend. D'Agosta eilte ihm hinterher. »Und was machen Sie jetzt?« Pendergast ging einfach weiter. »Helen finden.« »Werden Sie ... in offiziellem Auftrag arbeiten?« »Bitte lassen Sie meinen Status meine Sorge sein.« Der kühle Tonfall erschreckte D'Agosta ein wenig. »Fahren Sie mit den offiziellen Ermittlungen fort. Wenn Sie etwas von Interesse aufdecken, lassen Sie es mich wissen. Aber denken Sie auch daran: Das hier ist mein Kampf, nicht Ihrer.« Als D'Agosta stehen blieb, wandte sich Pendergast um; seine Stimme klang weicher, als er ihm die Hand auf den Arm legte. »Ihr Platz ist hier, Vincent. Was ich tun muss, muss ich allein tun.« D'Agosta nickte. Pendergast wandte sich erneut ab, öffnete die Tür zum Rolls und hob gleichzeitig das Handy ans Ohr. Gerade als sich die Tür schloss, hörte D'Agosta, wie er in sein Mobiltelefon sagte: »Mime? Irgendetwas? Überhaupt irgendwas?«
26 Stunden später
Horace Allerton bereitete sich gerade darauf vor, seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen - einen gemütlichen Abend mit einer Tasse Kaffee und einer guten wissenschaftlichen Zeitschrift zu verbringen - , als es an der Tür seines gepflegten Bungalows in Lawrenceville klopfte. Er stellte die Tasse ab und blickte stirnrunzelnd zur Wanduhr. Viertel nach acht. Ein Freund würde ihn derart spät nicht mehr stören. Er nahm das Fachblatt, Stratigraphy Today, zur Hand und schlug es, vor Behagen leise seufzend, auf. Wieder klopfte es, nachdrücklicher diesmal. Allerton hob den Kopf und blickte zur Tür. Vielleicht die Zeugen Jehovas oder einer von diesen nervigen Jugendlichen, die von Tür zu Tür gingen und Zeitschriftenabonnements verkauften. Ignorieren, dann würden sie schon wieder gehen. Er hatte gerade mit der Lektüre des Hauptartikels - »Die mechanische stratigraphische Analyse von Ablagerungsstrukturen «, eine in der Tat vielversprechende Abendlektüre - begonnen, als er aufblickte und den Schreck seines Lebens bekam. Mitten im Wohnzimmer stand ein Mann in elegantem schwarzem Anzug, das Gesicht weiß wie Dracula. »Was in Gottes Namen - ?«, rief Allerton und sprang auf. »Special Agent Pendergast. FBI.« Wie aus dem Nichts kamen eine Dienstmarke und ein Ausweis zum Vorschein und wurden ihm unter die Nase gehalten. »Wie ... sind Sie ins Haus gekommen? Was wollen Sie?« »Dr. Horace Allerton, der Geologe?«, fragte der Agent. Seine Stimme klang gelassen, hatte aber einen unterschwellig drohenden Tonfall. Allerton nickte und schluckte. Wortlos ging Pendergast zu einem der Sessel, und da bemerkte Allerton das Humpeln und den Gehstock mit dem Silberknauf. Der Geologe nahm wieder in seinem Ohrensessel Platz. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Dr.Allerton«, sagte der FBI-Agent und setzte sich. »Ich benötige Ihre Hilfe. Sie gelten als Fachmann, was die Untersuchung von Bodenzusammensetzungen angeht. Insbesondere Ihr Wissen über die Zusammensetzung von Gletscherböden ist mir aufgefallen.« »Und?«
Der FBI-Agent griff in seine Jacketttasche und holte zwei verschlossene Plastikbeutel hervor. Er legte beide auf den Couchtisch und schob sie auseinander. Allerton zögerte, beugte sich dann aber doch vor, um sie sich genauer anzusehen. Der eine Beutel war mit einer Probe Eisenglimmer-Lehm gefüllt, vermischt mit Erde, der andere mit kleinen Steinchen porphyrischen Granits. »Ich brauche zweierlei. Erstens hätte ich gern eine Karte der geographischen Verteilung des Lehmtyps in Probe eins.« Allerton nickte langsam. »Die Steinchen in der zweiten Probe stammen aus einem Kieswerk, nicht wahr?« Der Geologe öffnete den Beutel und nahm die Steinchen in die Hand. Sie waren rauh, scharf, die Kanten noch nicht durch Zeit, Witterung oder Gletscherschliff stumpf geworden. »Ja, richtig.« »Ich möchte wissen, woher sie stammen.« Allerton blickte von einem Beutel zum anderen. »Warum kommen Sie zu so später Stunde zu mir, schleichen sich auf diese Weise in mein Haus? Sie sollten einen Termin vereinbaren, mich in meinem Büro in Princeton aufsuchen.« Ein leichtes Zittern huschte über die scharf geschnittenen Gesichtszüge des FBI-Agenten. »Handelte es sich lediglich um eine unverbindliche Anfrage, Dr.Allerton, dann hätte ich Sie nicht zu so später Stunde gestört. Das Leben einer Frau steht auf dem Spiel.« Allerton legte die Beutel neben seine Kaffeetasse. »An was für einen, äh, Zeitrahmen dachten Sie denn?« »Es ist bekannt, dass Sie im Keller ein kleines, aber recht gut ausgestattetes Mineralogie-Labor haben.« »Soll das heißen, dass Sie die Proben sofort analysiert haben wollen?« Statt darauf zu antworten, lehnte sich Pendergast im Sessel zurück, so als wollte er es sich bequem machen.
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Sie spürte, wie er den brüderlichen Griff um ihren Arm beruhigend anspannte. »Es wird schon nichts passieren.« Mit pochendem Herzen blickte sie sich um und betrachtete die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete. Auf dem Podest vor dem See fiedelte ein Geiger vor sich hin. Auf einer der Parkbänke vor dem Bootshaus saß ein Liebespärchen, das nur Augen füreinander hatte. Auf der Bank daneben las ein Mann mit kurzem Haar und dem Körperbau eines Bodybuilders das Wall Street Journal. Hin und wieder kamen Pendler und Jogger vorbei. Im Schatten des Bootshauses bereitete ein Obdachloser seine Schlafstatt vor. Und da stand er vor dem See - eine schlanke Gestalt, reglos, gekleidet in einen langen, hellen Mantel von vorzüglichem Schnitt, das blonde Haar im fahlen abendlichen Licht platinhell glänzend. Die Frau holte tief Luft. »Geh nur«, sagte Judson leise. »Ich bleibe in deiner Nähe.« Er ließ ihren Arm los. Als die Frau losging, war ihr, als verschwände alles um sie herum, und sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann, der beobachtete, wie sie näher kam. Tausende Male hatte sie sich diesen Augenblick ausgemalt, hatte ihn in all seinen vielen Variationen durchgespielt, wobei er stets mit dem bitteren Gedanken endete, dass er nie wahr werden könnte, dass alles nur ein Traum bleiben würde. Und doch war er hier. Er sah älter aus, aber nicht viel: Die alabasterfarbene Haut, die feinen patrizischen Gesichtszüge, die funkelnden Augen, mit denen er sie aufmerksam betrachtete, erweckten in ihr einen Sturm der Gefühle, der Erinnerung und - selbst in dieser Zeit äußerster Gefahr - der Begierde. Ein, zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen. »Bist du's wirklich?« In seiner Frage, die er mit seinem weichen, höflichen Südstaaten-Akzent stellte, lag so viel Gefühl.
Sie versuchte zu lächeln. »Es tut mir leid, Aloysius. So wahnsinnig leid.« Er schwieg. Jetzt, nach all den Jahren, stellte sie fest, dass sie die Gedanken hinter seinen silberfarbenen Augen nicht mehr lesen konnte. Was empfand er wohl: Verrat? Groll? Liebe? Auf einer Wange hatte er eine schmale, frische Narbe. Sie hob einen Finger und berührte sie leicht. Dann deutete sie impulsiv über seine Schulter. »Schau mal«, flüsterte sie. »Nach all den Jahren bleibt uns immer noch der Mondaufgang.« Er folgte ihrem Blick über die Skyline der Fifth Avenue. Zwischen den imposanten Gebäuden war der buttergelbe Mond aufgegangen, perfekt gerahmt vor einem perlmuttartigen, pinkfarbenen Himmel, der nach oben hin in ein kühles Violett überging. Er zitterte ein wenig. Als er wieder zu ihr hinschaute, hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. »Helen«, flüsterte er. »Mein Gott, ich habe geglaubt, du bist tot.« Wortlos hakte sie sich bei ihm unter und begann geistesabwesend mit ihm um den See zu gehen. »Judson sagt, dass du mich aus ... alldem hier herausholen wirst.« »Ja. Wir fahren zurück in meine Wohnung im Dakota. Und von dort gehen wir dann nach - « Mitten im Satz hielt er inne. »Je weniger darüber gesprochen wird, desto besser. Es genügt, wenn ich sage: Dort, wo wir hingehen, hast du nichts zu befürchten.« Sie umfasste seinen Arm fester. »Nichts zu befürchten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das klingt.« »Es wird Zeit, dein Leben wieder aufzunehmen.« Er schob seine Hand in die Jacketttasche und zog einen goldenen Ring mit einem großen Sternsaphir hervor. »Fangen wir also am Anfang an. Erkennst du ihn wieder?«
Sie errötete, als sie ihn betrachtete. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich ihn wiedersehen würde.« »Und ich hätte nie gedacht, dass ich die Gelegenheit bekommen würde, ihn dir wieder anzustecken. Das heißt nicht bis zu dem Zeitpunkt, als Judson mir sagte, dass du noch lebst. Ich wusste, wusste, dass er die Wahrheit sagt - auch wenn niemand sonst mir geglaubt hat.« Er fasste sie leicht am Unterarm und hob ihn an, als wollte er ihr den Ring anstecken. Seine Augen weiteten sich, als er an ihrem Handgelenk den Stumpf erblickte, an dessen Ende eine Narbe verlief. »Ah, verstehe«, sagte er schlicht. »Natürlich.« Es war, als sei der behutsame diplomatische Tanz, den sie aufgeführt hatten, plötzlich zu Ende. »Helen.« Auf einmal klang sein Tonfall ein wenig schroff. »Warum hast du bei diesem grauenvollen Plan mitgemacht? Wieso hast du mir so vieles verschwiegen? Weshalb hast du nicht ...?« »Bitte, ich möchte nicht darüber sprechen«, unterbrach sie ihn rasch. »Es gab für alles Gründe. Es ist eine schreckliche, eine schreckliche Geschichte. Ich werde sie dir erzählen - alles. Aber jetzt ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür. Also bitte - steck mir den Ring an und lass uns gehen.« Sie hob die rechte Hand, und er schob ihr den Ring auf den Finger. Gleichzeitig sah sie, wie sein Blick an ihr vorbeiging zu der hinter ihr liegenden Szenerie. Plötzlich schrak er zusammen. Einen Moment stand er, ihre Hand immer noch in der seinen, reglos da. Dann wandte er sich anscheinend ruhig dorthin, wo ihr Bruder stand, und gab ihm ein Zeichen, er solle sich ihnen hinzugesellen. »Judson«, hörte sie ihn leise sagen, »schaff Helen weg von hier - unauffällig, aber schnell.« Die Furcht, die eben erst abgeklungen war, überfiel sie von neuem. »Aloysius, was - «
Aber mit einem kurzen Kopfschütteln schnitt er ihr das Wort ab. »Bring sie ins Dakota«, sagte er zu Judson. »Ich treffe euch dann dort. Bitte geht. Sofort.« Judson griff nach Helens Hand und ging mit ihr davon, fast so, als hätte er diese Entwicklung vorhergesehen. »Was ist denn?«, fragte sie ihn. Keine Antwort. Sie blickte über die Schulter. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Aloysius eine Pistole gezogen hatte und auf einen der Modellyachtbesitzer richtete. »Stehen Sie auf«, sagte er jetzt. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann.« »Judson - «, begann sie noch einmal. Aber er ging nur schneller und zog sie mit sich. Plötzlich ertönte hinter ihnen ein Schuss. »Lauft!«, rief Pendergast. Im nächsten Augenblick brach über die friedvolle Szenerie die Hölle herein. Menschen liefen schreiend auseinander. Judson packte Helen fester, und sie fielen in Laufschritt. Schüsse aus automatischen Waffen knatterten. Judsons Hand wurde aus ihrer gerissen, und er stürzte. Erst glaubte sie, er sei gestolpert, dann aber sah sie, dass aus seinem Mantel Blut hervorspritzte. »Judson!«, schrie sie, blieb stehen und beugte sich über ihn. Er lag auf der Seite, blickte zu ihr hoch und wand sich vor Schmerzen. »Lauf weiter«, stieß er röchelnd hervor. »Lauf ...« Wieder Geknatter aus der automatischen Waffe, und erneut zischte eine Linie zwitschernden Todes durchs Gras, als die Kugeln sich in die Erde bohrten. Dann wurde Judson von einer weiteren Kugel getroffen, und der Aufprall schleuderte ihn auf den Rücken. »Nein!«, schrie Helen und zuckte zurück. Das Chaos steigerte sich: Schreie, Schüsse, die Laufschritte fliehender Menschen. Helen nahm nichts davon wahr. Sie sank auf die Knie und starrte erschrocken in Judsons offene, aber blicklose Augen. »Judson!«, rief sie. »Judson!« Einige Sekunden, vielleicht auch mehr, waren vergangen - Helen wusste es einfach nicht - , als sie Aloysius ihren Namen rufen hörte. Sie hob den Kopf. Er kam mit gezogener Pistole auf sie zugerannt und schoss gleichzeitig zur Seite. »Fifth Avenue!«, rief er. »Lauf zur Fifth Avenue!« Wieder fiel ein Schuss, und auch Aloysius stürzte zu Boden. Das schreckte Helen aus ihren Gedanken. Sie rappelte sich auf, ihr Trenchcoat nass vom Blut des Bruders. Aloysius war noch am Leben, er hatte es geschafft, wieder auf die Beine zu kommen, war hinter einer Bank in Deckung gegangen und feuerte nach wie vor auf das Pärchen, das kurz zuvor noch herumgeknutscht hatte.
Er gibt mir Deckung, damit ich fliehen kann.
Blitzartig drehte sie sich um und rannte los, so schnell sie konnte. Sie würde zur Fifth Avenue laufen, die Schützen in der Menge abschütteln, sich dann zum Dakota durchschlagen und dort wieder mit ihm zusammenkommen ... Weitere Schüsse und die Schreie von Menschen in Angst unterbrachen Helens angsterfüllte Gedanken. Sie rannte weiter. Vor ihr lag die Fifth Avenue, hinter dem großen Steintor zum Park. Nur noch fünfzehn Meter ... »Helen!« Aloysius' Ausruf drang aus weiter Ferne zu ihr. »Pass auf! Links von dir!« Sie blickte nach links. Im Dunkel unter den Bäumen sah sie zwei Männer in Jogginganzügen, die direkt auf sie zuspurteten. Sie bog in vollem Lauf ab, auf eine Gruppe von Platanen abseits des Hauptweges zu, und warf einen Blick nach hinten. Die Jogger folgten ihr - und kamen rasch näher. Weitere Schüsse fielen. Helen verdoppelte ihre Anstrengungen, aber immer wieder sank sie mit den Absätzen in der weichen Erde ein, was sie beim Laufen behinderte. Plötzlich spürte sie im Rücken einen fürchterlichen Aufprall, so dass sie zu Boden geschleudert wurde. Jemand packte den Kragen ihres Trenchcoats und riss sie unsanft hoch. Sie wehrte sich und schrie, doch die beiden Männer hielten sie an den Armen fest und zogen sie Richtung Fifth Avenue. Mit Entsetzen erkannte sie die Gesichter. »Aloysius!«, rief sie aus vollem Hals und blickte nach hinten über die Schulter. »Hilfe! Ich kenne diese Leute! Die sind vom Bund! Die bringen mich um! Hilf mir, bitte!« Im schwindenden Licht konnte sie ihn gerade noch erkennen. Er hatte sich aufgerappelt, blutete stark aus der Schuss- wunde am Bein und humpelte auf sie zu. Vor ihr auf der Fifth Avenue stand ein Taxi mit laufendem Motor am Bordstein, es wartete - wartete auf sie und ihre Entführer. Noch einmal schrie sie voller Verzweiflung: »Aloysius!« Die Männer stießen sie vor sich her, öffneten die hintere Tür des Taxis und stießen sie auf den Sitz. Aloysius' Kugeln prallten von der gehärteten Windschutzscheibe ab. »Los! Verschwinden wir hier!«, rief einer der Jogger auf Deutsch, während sie hinter Helen ins Taxi stiegen. »Gib Gas!«
Während Helen sich mit aller Kraft zur Wehr setzte und versuchte, mit der unverletzten Hand die Tür aufzustoßen, fuhr das Taxi vom Bordstein los. Ganz kurz sah sie ihren Mann im schummrigen Park. Er war auf die Knie gesunken und blickte noch immer in ihre Richtung. »Nein!«, rief sie, während sie sich wehrte. »Nein!« »Halt die Klappe!«, blaffte einer der Männer, holte aus und versetzte ihr einen Fausthieb an die Schläfe. Und dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Sechs Stunden später
Ein Arzt in zerknitterter OP-Kleidung steckte den Kopf ins Wartezimmer der Intensivstation des Krankenhauses Lenox Hill. »Er ist wach, Sie können jetzt zu ihm rein.« »Gott sei Dank.« Lieutenant Vincent D'Agosta von der New Yorker Polizei steckte das Notizbuch, in dem er gelesen hatte, ein und stand auf. »Wie geht es ihm?« »Keine Komplikationen.« Ein Anfl ug von Verärgerung huschte über die Gesichtszüge des Mediziners. »Allerdings sind Ärzte immer die schlimmsten Patienten.« »Aber er ist doch nicht ...«, begann D'Agosta, schwieg dann aber und folgte dem Arzt auf die Intensivstation. Special Agent Pendergast saß aufrecht im Bett, mit Schläuchen an ein halbes Dutzend Überwachungsgeräte angeschlossen. In einem Arm steckte ein Infusionsschlauch, an den Nasenflügeln war eine Nasenkanüle befestigt. Das Bett war übersät mit Blättern aus seiner Krankenakte, und er hielt gerade eine Röntgenaufnahme in der Hand. Die schon immer blasse Haut wirkte jetzt wie Porzellan. Ein Arzt beugte sich über das Krankenbett, vertieft in ein intensives Gespräch mit dem Patienten. D'Agosta konnte Pendergasts Antworten zwar kaum verstehen, es war aber deutlich, dass die beiden Männer nicht gerade einer Meinung waren. »... das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte der Arzt, als D'Agosta auf das Bett zutrat. »Wegen der Schussverletzung und des Blutverlusts stehen Sie immer noch unter Schock, und die Wunde selbst - von den beiden angebrochenen Rippen ganz zu schweigen - muss abheilen und bedarf weiterer ärztlicher Behandlung.« »Doktor«, antwortete Pendergast. Normalerweise war er der Inbegriff von Südstaatenhöflichkeit, jetzt aber hatte seine Stimme den Klang von Eisstücken, die auf Eisen prasselten. »Die Kugel hat den Wadenmuskel lediglich gestreift.
Weder das Waden- noch das Schienbein sind betroffen. Die Wunde war sauber, und es war auch keine Operation erforderlich. « »Aber der Blutverlust ...« »Ja«, unterbrach Pendergast, »der Blutverlust. Wie viele Blutkonserven habe ich bekommen?« Schweigen. Dann: »Eine.« »Eine Konserve. Wegen der Beschädigung der oberflächlichen Nebenvenen der Vena Giacomini. Eine Bagatelle.« Er schwenkte das Röntgenbild wie ein Fähnchen. »Und was die Rippen angeht, so haben Sie selbst gesagt: angebrochen, nicht gebrochen. Die sternalen Rippen fünf und sechs, an den Köpfchen, ungefähr zwei Millimeter entfernt von der Wirbelsäule. Da es sich dabei um sogenannte echte Rippen handelt, wird ihre Elastizität zu einer raschen Heilung beitragen. « Der Arzt wurde wütend. »Dr. Pendergast, ich kann es einfach nicht erlauben, dass Sie das Krankenhaus in diesem Zustand verlassen. Gerade Sie müssten doch - « »Im Gegenteil, Doktor. Sie können es nicht verhindern. Der Zustand meiner lebenswichtigen Organe liegt im akzeptablen Bereich. Meine Verletzungen sind geringfügig, und ich kann für mich selbst sorgen.« »Ich werde in Ihrer Krankenakte notieren, dass Sie das Krankenhaus entgegen meinem ausdrücklichen Rat verlassen. « »Ausgezeichnet.« Pendergast schnippte das Röntgenbild wie eine Spielkarte auf den Tisch in der Nähe. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden?« Der Arzt warf einen letzten, gereizten Blick auf Pendergast, dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, gefolgt von dem Mediziner, der D'Agosta begleitet hatte. Jetzt wandte sich Pendergast D'Agosta zu, so als hätte er ihn gerade eben erst bemerkt. »Vincent.«
D'Agosta trat rasch ans Krankenbett. »Pendergast. Mein Gott. Es tut mir so leid ...« »Warum sind Sie nicht bei Constance?« »Sie ist in Sicherheit. Das Mount Mercy hat seine Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt. Ich musste«, er stockte, um seine Stimme im Griff zu behalten, »nach Ihnen sehen.« »Viel Lärm um nichts, aber trotzdem vielen Dank.« Pendergast entfernte die Nasenkanüle und zog die Infusionsnadel aus der Armbeuge, dann löste er die Blutdruckmanschette und das Pulsoxymeter. Er schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Seine Bewegungen wirkten langsam, fast roboterhaft. Der Mann trieb sich mit eisernem Willen an, das war unverkennbar. »Ich hoffe bloß, Sie beabsichtigen nicht tatsächlich, das Krankenhaus zu verlassen.« Als Pendergast sich umwandte und ihn wieder ansah, brachte die Heftigkeit in seinem Blick - wie glühende Kohlen in einem ansonsten leblosen Gesicht - D'Agosta augenblicklich zum Verstummen. »Und wie geht es Proctor?«, fragte Pendergast, während er die Beine über die Bettkante schwang. »Gut, laut Auskunft der Ärzte. Jedenfalls unter den Umständen. Ein paar gebrochene Rippen, dort, wo das Projektil auf die kugelsichere Weste getroffen ist.« »Judson?« D'Agosta schüttelte den Kopf. »Bringen Sie mir meine Kleidung.« Mit einem Nicken deutete Pendergast zum Kleiderschrank. D'Agosta zögerte, erkannte, dass Widerspruch zwecklos war, und brachte sie ihm. Im Aufstehen zuckte Pendergast zusammen, eine Sekunde lang schwankte er fast unmerklich, dann hatte er sich wieder im Griff. D'Agosta reichte ihm die Kleidungsstücke, Pendergast zog den Schutzvorhang zu.
»Haben Sie eine Ahnung, was zum Teufel da im Park abgelaufen ist?«, fragte D'Agosta. »Die Nachrichten bringen fast nicht anderes mehr. Fünf Tote, das Morddezernat ist völlig aus dem Häuschen.« »Ich habe keine Zeit für Erklärungen.« »Tut mir leid, aber Sie kommen hier nicht raus, ohne mir zu erklären, was da passiert ist.« Er zückte sein Notizbuch. »Also gut. Ich rede mit Ihnen, so lange wie ich zum Ankleiden brauche. Und dann gehe ich hier raus.« D'Agosta zuckte mit den Schultern. Am besten nahm er, was er kriegen konnte. »Es handelt sich um eine sorgfältig - außerordentlich sorgfältig - geplante Entführung. Diese Leute haben Judson ermordet und meine Frau entführt.« »Diese Leute? Wer sind die?« »Eine undurchsichtige Gruppe von Nazis oder Nachkommen von Nazis, die sich Der Bund nennt.« »Nazis? Verdammt, was wollen die?« »Die Motive dieser Leute sind mir ein Rätsel.« »Ich benötige Details über den genauen Ablauf der Ereignisse. « Hinter dem Schutzvorhang sagte Pendergast: »Ich hatte mich mit Judson und Helen am Bootshaus verabredet, um Helen vor dieser Gruppe in Sicherheit zu bringen. Helen ist wie vereinbart um sechs eingetroffen. Mir wurde schnell klar, dass man uns in eine Falle gelockt hatte. Einer der Modellyachtbesitzer verhielt sich verdächtig. Er kannte sich überhaupt nicht mit Schiffen aus und war ängstlich und nervös - er schwitzte, obwohl es kühl war. Ich habe meine Waffe gezogen und ihn aufgefordert aufzustehen. Dann ging's los.« D'Agosta machte sich Notizen. »Wie viele Beteiligte?« Pendergast hielt kurz inne. »Sieben, mindestens. Der Modellyachtbesitzer. Ein Liebespaar auf einer der Parkbänke - die haben Judson erschossen. Ein vermeintlicher Obdachloser, der Proctor angeschossen hat. Ihre Tatortermittler haben die Abfolge des Schusswechsels wahrscheinlich schon rekonstruiert. Es waren mindestens noch drei weitere Personen beteiligt: zwei Jogger, die Helen entführt haben, als sie zu fliehen versuchte, und der Fahrer des Taxis, in das sie Helen hineindrängt haben.« Pendergast trat hinter dem Schutzvorhang hervor. Sein normalerweise makelloser Anzug sah furchtbar aus: das Jackett voller Grasflecken, der untere Teil eines Hosenbeins eingerissen und voll getrockneten Bluts. Er band sich die Krawatte und sah dabei D'Agosta an. »Adieu, Vincent.« »Warten Sie. Wieso wusste dieser ... Bund von Ihrer Verabredung mit Helen?« »Eine ganz ausgezeichnete Frage.« Pendergast griff nach einem metallenen Gehstock und wandte sich ab. D'Agosta packte ihn am Arm. »Das ist doch verrückt, dass Sie das Krankenhaus verlassen, einfach so. Kann ich Ihnen denn nicht auf irgendeine Weise helfen?« »Doch.« Pendergast nahm D'Agosta das Notizbuch samt Schreiber aus der Hand, schlug es auf und schrieb rasch etwas hinein. »Das ist das Kennzeichen des Taxis, in dem Helen entführt worden ist. Die letzten beiden Ziffern konnte ich nicht erkennen. Setzen Sie alles daran, das Kennzeichen zu identifizieren. Und das ist die Nummer des Taxis, aber die ist wertlos, nehme ich an.« D'Agosta nahm das Notizbuch wieder an sich. »Garantiert.« »Geben Sie eine Fahndung nach Helen heraus. Das könnte zwar kompliziert sein, da sie offi ziell ja als tot gilt, aber machen Sie's trotzdem. Ich besorge Ihnen ein Foto - es wird fünfzehn Jahre alt sein, die Forensiker sollen sie mit ihren Bildbearbeitungsprogrammen älter machen.« »Sonst noch was?« Pendergast schüttelte brüsk den Kopf, nur einmal. »Finden Sie einfach nur das Taxi.« Und damit verließ er das Krankenzimmer und humpelte den Flur hinunter, wobei er seinen Gang beschleunigte.
22 Stunden später
Auf der Fahrt von Newark nach Westen fühlte D'Agosta sich in jene Zeit zurückversetzt, als er im 41. Bezirk in der damaligen South Bronx Streife gegangen war. Die heruntergekommenen Läden, die mit geschlossenen Rollläden versehenen Gebäude, die völlig maroden Straßen - das alles erinnerte ihn an weniger glückliche Tage. Er fuhr weiter, während sich draußen vor der Windschutzscheibe immer trostlosere Bilder boten. Schon bald kam er im Zentrum der Misere an: Hier, inmitten der am dichtesten bevölkerten Megacity der USA, standen ganze Häuserblocks leer, die Gebäude ausgebrannte Hüllen oder Müllkippen. An einer Straßenecke fuhr er rechts ran, die Dienstwaffe dort, wo er schnell an sie herankommen würde. Aber dann sah er mitten in dem ganzen Verfall ein einzelnes Gebäude - es stand da wie eine einsame Blume auf einem Parkplatz - mit Gardinen hinter den Fenstern, Geranien und hell gestrichenen Fensterläden: ein Ort der Hoffnung inmitten der Stadtwüste. D'Agosta atmete tief durch. Die South Bronx hatte sich wieder erholt; dieses Viertel hier würde das ebenfalls schaffen. Er überquerte den Bürgersteig und ging über ein brachliegendes Grundstück, wobei er lose Ziegelsteine mit dem Fuß zur Seite stieß. Pendergast war bereits eingetroffen. Der Agent stand am anderen Ende der Brache neben den ausgebrannten Überresten eines Taxis und unterhielt sich mit einem uniformierten Polizisten und den Angehörigen eines kleinen Ermittlerteams. Pendergasts Rolls-Royce, der an der Straßenecke parkte, wirkte in dem ärmlichen Viertel enorm deplaziert. D'Agosta ging zu Pendergast, der ihm kurz zunickte. Bis auf die schockierende Blässe sah der FBI-Agent wieder einigermaßen hergestellt aus. Im spätnachmittäglichen Licht war zu erkennen, dass der übliche schwarze Anzug sauber und gebügelt war, das weiße Hemd frisch. Den unschönen Aluminiumgehstock hatte er gegen einen aus Elfenbein mit einem Silberknauf ausgetauscht. »... habe das Taxi vor einer Dreiviertelstunde gefunden«, sagte der Streifenpolizist soeben zu Pendergast. »Ich war gerade hinter ein paar Zwölfjährigen her, die Kupferdraht geklaut hatten.« Er schüttelte den Kopf. »Und da hab ich dieses New Yorker Taxi entdeckt. Weil das Kennzeichen mit dem in der Fahndung übereinstimmt, habe ich's gemeldet.« D'Agosta widmete sich dem Taxi. Es war kaum mehr als eine leere Hülle: Die Motorhaube war verschwunden, der Motorblock ausgeschlachtet, die Sitze fehlten, das Armaturenbrett war angesengt und teilweise geschmolzen, das Lenkrad zerbrochen. Von der anderen Seite des Fahrzeugs kam der Leiter des Spurensicherungsteams herüber. »Schon bevor sich diese Vandalen über das Taxi hergemacht haben, war es als Beweismittel kaum zu gebrauchen«, sagte er und zog die Latexhandschuhe aus. »Keinerlei Papiere oder Dokumente. Es wurde vollständig abgesaugt und abgewischt, sämtliche Fingerabdrücke wurden entfernt. Dabei wurde ein besonders aggressiver Brandbeschleuniger benutzt. Alles andere, worum die Täter sich nicht gekümmert haben, hat der Brand erledigt.« »Und das amtliche Kennzeichen?«, fragte D'Agosta. »Das haben wir. Es handelt sich um ein gestohlenes Fahrzeug. Wird uns nicht viel nützen.« Der Polizist hielt inne. »Wir schleppen es zum Lagerhaus zurück, um es dort genauer zu untersuchen, aber das Ganze riecht danach, als hätten Profis sämtliche Spuren beseitigt. Organisierte Kriminalität.« Pendergast hörte sich das an, ohne darauf einzugehen. Er blieb völlig ruhig, aber D'Agosta registrierte, dass eine gewisse Verzweifl ung, ein rücksichtsloser Tatendrang von ihm ausging. Dann zog Pendergast plötzlich ein Paar Latexhandschuhe aus der Manteltasche, streifte sie über und trat an das Fahrzeug heran. Er beugte sich über das Taxi, wobei er vor Schmerz kurz zusammenzuckte, ging einmal, zweimal um den Wagen herum und strich mit seinen schmalen Fingern ganz leicht über das versengte Metall, während er mit seinen funkelnden Augen alles genau erfasste. Unter den Blicken der anderen spähte er in den Motorraum, in das Wageninnere, vorn und hinten, den Kofferraum. Dann startete er eine dritte Umkreisung und holte dabei ein paar kleine Beweismittelbeutel, einige Teströhrchen sowie ein Skalpell aus der Tasche. Er kniete sich neben die vordere Stoßstange, wobei er vor Anstrengung kurz das Gesicht verzog, und kratzte mit dem Skalpell kleine Placken getrockneten Schlamms in einen der Beutel, den er anschließend verschloss und wieder einsteckte. Er stand auf und beendete, langsamer diesmal, die dritte Umkreisung. Am hinteren rechten Reifen blieb er stehen, kniete sich wieder hin, pflückte mit einer kleinen Zange mehrere Kieselsteinchen aus den Reifenrillen und legte sie in einen zweiten Beutel. Auch dieser verschwand schnell in seiner Tasche. »Sind das, äh, Beweismittel?«, fragte der Polizist. Pendergast stand auf und drehte sich zu dem Mann um. Er sagte nichts, aber der Polizist wich einen Schritt zurück, als der FBI-Agent ihm fest in die Augen blickte. »Okay. Halten Sie uns auf dem Laufenden, wenn Sie was herausgefunden haben«, murmelte der Cop. Pendergast schaute den Mann weiterhin durchdringend an.
Er sah auch die Leute vom Spurensicherungsteam an, einen nach dem anderen, und dann schließlich D'Agosta. In seinem Blick lag etwas Anschuldigendes, als hätten sie sich eines ungenannten Vergehens schuldig gemacht. Dann drehte er sich um und ging zum Rolls, leicht humpelnd und sich auf den Gehstock stützend. D'Agosta eilte ihm hinterher. »Und was machen Sie jetzt?« Pendergast ging einfach weiter. »Helen finden.« »Werden Sie ... in offiziellem Auftrag arbeiten?« »Bitte lassen Sie meinen Status meine Sorge sein.« Der kühle Tonfall erschreckte D'Agosta ein wenig. »Fahren Sie mit den offiziellen Ermittlungen fort. Wenn Sie etwas von Interesse aufdecken, lassen Sie es mich wissen. Aber denken Sie auch daran: Das hier ist mein Kampf, nicht Ihrer.« Als D'Agosta stehen blieb, wandte sich Pendergast um; seine Stimme klang weicher, als er ihm die Hand auf den Arm legte. »Ihr Platz ist hier, Vincent. Was ich tun muss, muss ich allein tun.« D'Agosta nickte. Pendergast wandte sich erneut ab, öffnete die Tür zum Rolls und hob gleichzeitig das Handy ans Ohr. Gerade als sich die Tür schloss, hörte D'Agosta, wie er in sein Mobiltelefon sagte: »Mime? Irgendetwas? Überhaupt irgendwas?«
26 Stunden später
Horace Allerton bereitete sich gerade darauf vor, seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen - einen gemütlichen Abend mit einer Tasse Kaffee und einer guten wissenschaftlichen Zeitschrift zu verbringen - , als es an der Tür seines gepflegten Bungalows in Lawrenceville klopfte. Er stellte die Tasse ab und blickte stirnrunzelnd zur Wanduhr. Viertel nach acht. Ein Freund würde ihn derart spät nicht mehr stören. Er nahm das Fachblatt, Stratigraphy Today, zur Hand und schlug es, vor Behagen leise seufzend, auf. Wieder klopfte es, nachdrücklicher diesmal. Allerton hob den Kopf und blickte zur Tür. Vielleicht die Zeugen Jehovas oder einer von diesen nervigen Jugendlichen, die von Tür zu Tür gingen und Zeitschriftenabonnements verkauften. Ignorieren, dann würden sie schon wieder gehen. Er hatte gerade mit der Lektüre des Hauptartikels - »Die mechanische stratigraphische Analyse von Ablagerungsstrukturen «, eine in der Tat vielversprechende Abendlektüre - begonnen, als er aufblickte und den Schreck seines Lebens bekam. Mitten im Wohnzimmer stand ein Mann in elegantem schwarzem Anzug, das Gesicht weiß wie Dracula. »Was in Gottes Namen - ?«, rief Allerton und sprang auf. »Special Agent Pendergast. FBI.« Wie aus dem Nichts kamen eine Dienstmarke und ein Ausweis zum Vorschein und wurden ihm unter die Nase gehalten. »Wie ... sind Sie ins Haus gekommen? Was wollen Sie?« »Dr. Horace Allerton, der Geologe?«, fragte der Agent. Seine Stimme klang gelassen, hatte aber einen unterschwellig drohenden Tonfall. Allerton nickte und schluckte. Wortlos ging Pendergast zu einem der Sessel, und da bemerkte Allerton das Humpeln und den Gehstock mit dem Silberknauf. Der Geologe nahm wieder in seinem Ohrensessel Platz. »Was hat das alles zu bedeuten?« »Dr.Allerton«, sagte der FBI-Agent und setzte sich. »Ich benötige Ihre Hilfe. Sie gelten als Fachmann, was die Untersuchung von Bodenzusammensetzungen angeht. Insbesondere Ihr Wissen über die Zusammensetzung von Gletscherböden ist mir aufgefallen.« »Und?«
Der FBI-Agent griff in seine Jacketttasche und holte zwei verschlossene Plastikbeutel hervor. Er legte beide auf den Couchtisch und schob sie auseinander. Allerton zögerte, beugte sich dann aber doch vor, um sie sich genauer anzusehen. Der eine Beutel war mit einer Probe Eisenglimmer-Lehm gefüllt, vermischt mit Erde, der andere mit kleinen Steinchen porphyrischen Granits. »Ich brauche zweierlei. Erstens hätte ich gern eine Karte der geographischen Verteilung des Lehmtyps in Probe eins.« Allerton nickte langsam. »Die Steinchen in der zweiten Probe stammen aus einem Kieswerk, nicht wahr?« Der Geologe öffnete den Beutel und nahm die Steinchen in die Hand. Sie waren rauh, scharf, die Kanten noch nicht durch Zeit, Witterung oder Gletscherschliff stumpf geworden. »Ja, richtig.« »Ich möchte wissen, woher sie stammen.« Allerton blickte von einem Beutel zum anderen. »Warum kommen Sie zu so später Stunde zu mir, schleichen sich auf diese Weise in mein Haus? Sie sollten einen Termin vereinbaren, mich in meinem Büro in Princeton aufsuchen.« Ein leichtes Zittern huschte über die scharf geschnittenen Gesichtszüge des FBI-Agenten. »Handelte es sich lediglich um eine unverbindliche Anfrage, Dr.Allerton, dann hätte ich Sie nicht zu so später Stunde gestört. Das Leben einer Frau steht auf dem Spiel.« Allerton legte die Beutel neben seine Kaffeetasse. »An was für einen, äh, Zeitrahmen dachten Sie denn?« »Es ist bekannt, dass Sie im Keller ein kleines, aber recht gut ausgestattetes Mineralogie-Labor haben.« »Soll das heißen, dass Sie die Proben sofort analysiert haben wollen?« Statt darauf zu antworten, lehnte sich Pendergast im Sessel zurück, so als wollte er es sich bequem machen.
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Autoren-Porträt von Douglas Preston, Lincoln Child
Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin's Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston entwickelte er 1995 das Romanprojekt "Das Relikt", das innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum begeisterte. Child lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Douglas Preston , Lincoln Child
- 2013, 576 Seiten, Masse: 14,7 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Benthack, Michael
- Übersetzer: Michael Benthack
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426199009
- ISBN-13: 9783426199008
- Erscheinungsdatum: 03.06.2013
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