Ergebenst, euer Schurik
Roman
Ein wunderbarer Roman über die Liebe im Russland der 1970er-Jahre. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich der Verführung der Frauen nicht entziehen kann. Schurik ist ein Traum von einem Mann: gutaussehend, höflich und sanftmütig. Er tut...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ergebenst, euer Schurik “
Ein wunderbarer Roman über die Liebe im Russland der 1970er-Jahre. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich der Verführung der Frauen nicht entziehen kann. Schurik ist ein Traum von einem Mann: gutaussehend, höflich und sanftmütig. Er tut alles, um den Frauen zu gefallen. Mit Matilda, die ihn als Knaben verführte, verbindet ihn eine lebenslange Beziehung. Mit seiner hässlichen Kommilitonin Alja schläft er, weil sich kein anderer erbarmt. Lena heiratet er, damit sie für ihr uneheliches Kind von einem Kubaner einen Vater vorweisen kann. Und seiner Chefin Valerija, eine gehbehinderte Bibliothekarin, macht er ein Kind, weil sie es sich so sehr wünscht. Mitleid und Begehren sitzen bei Schurik an derselben Stelle. Und schon bald ist er nur noch damit beschäftigt, es all seinen Frauen recht zu machen. Er glaubt schon nicht mehr an die romantische Liebe. Bis sie ihm kurz nach seinem 30. Geburtstag widerfährt... »Ein grosses Buch.« (Le Monde)
Klappentext zu „Ergebenst, euer Schurik “
Gut aussehend, höflich und sanftmütig ist er, ein Traum von einem Mann. Alles tut er den Frauen zu Gefallen - und sie lieben ihn. Alle. Warum also Nein sagen? Zu Matilda, die ihn als Knaben verführte; zur hässlichen, dafür um so bemitleidenswerteren Alja; zu Lena, die er heiratet, weil sie ein uneheliches Kind erwartet; zu seiner gehbehinderten Chefin Valerija und zu all den anderen Frauen, die ihn brauchen. Ein wunderbarer Roman über die Liebe mit einem tragikomischen Helden, dem die wahre Liebe fehlt.
Lese-Probe zu „Ergebenst, euer Schurik “
Alles war wohldurchdacht und geplant, doch dann klingelte in der Nacht das Telefon: Matilda aus Wyschni Wolotschok. Sie hatte ein dringendes Anliegen. Sie wohnte nun regelmässig das halbe Jahr im Dorf. Das Landleben faszinierte sie, Gemüsebeete und Garten interessierten sie mehr als ihre frühere künstlerische Arbeit. Immer öfter betrachtete sie einen alten Birnbaum oder einen Gesteinsbrocken am Dorfrand mit einer Art Schuldgefühl: Warum, mit welchem Recht hatte sie so viel Holz und so viel schöne Steine für ihre bildhauerischen Übungen verschwendet? Jetzt erfreute sie sich an der einfachen ländlichen Schönheit, weshalb sie Malven pflanzte und Hühner hielt. Neidisch betrachtete sie die Ziege der Nachbarn, die rosagrau war und rauchgraue Hörner hatte. Eine wunderschöne Ziege - vielleicht sollte sie ein Zicklein von ihr nehmen? Sie engagierte Männer, die ihr den alten Brunnen wieder herrichteten.Sie lief in einem alten langen Rock herum, obendrein barfuss, was die Frauen im Dorf längst nicht mehr taten. Sie lachten über sie: He, Matrjona, wieso läufst du rum wie eine Bettlerin?
In diesem Jahr führte der Kolchos einen Prozess gegen Matilda: Sie hatte zwar das Haus rechtmässig geerbt, doch der Boden, auf dem es stand, gehörte dem Kolchos, und den wollte man ihr nun wegnehmen. Kluge Leute erklärten ihr, sie könne das Land für Erholungszwecke erwerben. Deshalb brauchte sie nun dringend eine Bescheinigung, dass sie Mitglied des Künstlerverbandes war, was ihr mehr Rechte zum Erwerb eines Grundstücks zubilligte als normalen Bürgern. Das Ganze war natürlich Blödsinn, aber staatlich sanktionierter, allgemein üblicher Blödsinn, dem man nur mit ebensolchem Blödsinn begegnen konnte, wie eben mit dieser Bescheinigung. Matilda rief im Moskauer Künstlerverband an, man versprach ihr das Papier, doch die Sekretärin, bei der es lag, ging in den Urlaub, und Matilda verbrachte die ganze Nacht auf dem Telegrafenamt, wartete, bis die kaputte Leitung endlich wieder repariert war und sie
... mehr
eine weitere Verbindung mit Moskau bekam, und nun bat sie Schurik, sofort, spätestens heute Abend, zu der Sekretärin ins Büro oder nach Hause zu fahren und die Bescheinigung abzuholen. Der Gerichtstermin war übermorgen, die Bescheinigung musste also morgen irgendwie nach Wyschni Wolotschok gelangen.
"Ich kümmere mich drum, Matilda, mach dir keine Sorgen!" versprach Schurik.
Matilda machte sich auch keine Sorgen mehr: Sie hatte ihn erreicht, und er war ein echter Freund, er liess sie nie im Stich. Matilda erkundigte sich nach seiner Mutter, nach Valerija, aber für höfliches Geplänkel war die Verbindung zu schlecht.
"Komm doch her, Schurik! Für länger!" schrie sie in den Hörer. "Jetzt nach dem Regen wachsen hier die Pilze wie verrückt! Ach ja! Noch eins! Denk an meine Medikamente!"
"Ich komme! Ich komme! Ich denke dran!" versprach Schurik.
Er machte sich nichts aus Pilzen. Die Medikamente, die Matilda gegen ihren hohen Blutdruck brauchte, hatte er schon gekauft. Die beiden Packungen lagen im Kühlschrank. Er überprüfte noch einmal den Wecker, um Valerijas Ankunft nicht zu verschlafen.
Der Zug kam um zehn Uhr vierzig an, aber Schurik musste vorher noch Valerijas Saporoshez aus der Garage holen - er besass eine Vollmacht dafür und fuhr ihn seit langem - und ihren Rollstuhl einladen.
Vom frühen Morgen an lief alles schief: Erst sprangen von seinem letzten sauberen Hemd zwei Knöpfe ab, und er musste sie annähen, dann fiel Grossmutters Tasse von der Spüle und ging kaputt, anschliessend klingelte es an der Tür - Michail Abramowitsch, eine nasse Flasche in der Hand, bat ihn, diese noch ins Labor zu bringen. Er war so mager, so gelb und so unglücklich, dass Schurik nickte und die Flasche wortlos in Zeitungspapier einwickelte.
Zum Glück stand im Labor keine Schlange, so dass er nach zehn Minuten Valerijas Hof erreichte und die Garage aufschloss. Das Auto, das dreihundertsechzig Tage im Jahr in der Garage vor sich hin rostete, sprang nicht an. Schurik ging hinauf in die Wohnung, bat den neuen Nachbarn, der seit dem Auszug von Valerijas Exmann hier wohnte, um Hilfe, und der kam knurrend mit hinunter. Er hatte geschickte Hände, dieser ältere Milizionär, mochte Valerija und hegte eine leise Verachtung für Schurik.
Der Nachbar öffnete die Kühlerhaube, und nach ein paar geheimnisvollen Handgriffen sprang der Motor an. Schurik fuhr los, hatte aber vor lauter Freude den Rollstuhl vergessen. Er musste auf halbem Wege umkehren, und die Zeit, die anfangs mehr als reichlich gewesen war, wurde nun knapp. Entgegen den sonstigen Gewohnheiten der Eisenbahn kam der Zug nicht zu spät, sondern zehn Minuten zu früh, und Valerija stand auf zwei Krücken gestützt einsam auf dem Bahnsteig, verstört und hilflos: Mit Koffer und Tasche konnte sie keinen einzigen Schritt laufen.
Schurik rannte mit dem Rollstuhl den Bahnsteig entlang, ebenso aufgeregt wie seine Freundin.
Nach Hause gelangten sie ohne weitere Abenteuer. In drei Anläufen verstaute er Valerija samt Koffer und Rollstuhl im Lift, brachte sie in ihr Zimmer und rannte zu seinen "Touris". Pünktlich um halb zwei betrat er das Restaurant, in dem die Franzosen bereits vollzählig versammelt herumstanden, unfähig, selbständig ihre Plätze einzunehmen. Dann folgte die Abfütterung, an der Schurik nicht teilnehmen durfte. Nach dem Restaurant begleitete Schurik Interessierte ins Kaufhaus GUM, wo die letzten Souvenirs erstanden wurden. Anschliessend wünschte ein alter Arzt aus Lyon eine Apotheke zu sehen, und eine dicke Matrone aus Marseille wollte ins Planetarium. Doch der obligatorische "Schwanensee" drängte, und das Planetarium fiel aus. Während die Ballerinen über den staubigen Boden schwebten, lief Schurik rasch in den Jelissejew-Laden: Valerija hatte keine Krume zu essen im Haus. Die Bescheinigung für Matilda abzuholen schaffte er auf keinen Fall. Er rief die Sekretärin an und verabredete sich mit ihr für den nächsten Morgen - sie wollte um halb neun aus dem Haus gehen, allerdings nicht zur Arbeit, sondern in die Poliklinik.
Nach der Vorstellung fand ein Abschiedsessen statt. Am nächsten Morgen flogen die Franzosen zurück nach Paris. Schurik stellte die Tasche mit den Lebensmitteln für ein Dankeschön an der Rezeption ab. Hungrig übersetzte er den Franzosen die Speisekarte. Auch das Abendessen stand ihm nicht zu, und er wäre gern für einen Augenblick entwischt, um sich ein Stück von der Wurst in der Tasche unterm Tresen abzubrechen. Dann erschien ein Vertreter von Intourist mit einer nuttig wirkenden Kollegin, und Schurik musste albernes Geschwafel zum Thema olympische Freundschaft dolmetschen. Anschliessend schleppte der betrunkene Doktor aus Lyon zwei Prostituierte an und erwartete von Schurik offenkundig Hilfe bei den Verhandlungen mit ihnen, doch als die Mädchen die offiziellen Intouristleute gewahrten, machten sie sich verlegen aus dem Staub.
Es war fast zwei, als Schurik endlich bei Valerija ankam. Sie sass im Sessel, sah rosig aus und hatte zugenommen. Ihr Haar war vorn zu einem jugendlichen Pony frisiert, die restliche üppige Pracht fiel ihr gleichmässig auf die Schultern, keck nach aussen gewellt. Auch ihr Kimono war neu und zeigte statt der ausgeblichenen Störche sparsame Chrysanthemen auf Melonenrot. Der Tisch war gedeckt, russisches Porzellan wetteiferte mit deutschem. In der Mitte, unter einer Wärmehaube in Form eines Huhnes, stand ein Topf mit Buchweizengrütze. Ausser Buchweizen und Makkaroni hatte Valerija nichts Essbares gefunden. Sie sass mit einem Buch in der Hand im Sessel und erwartete Schurik zum Abendessen.
Er stellte die Tasche an der Tür ab, trat zu Valerija, küsste sie auf die Stirn und liess sich auf einen Stuhl fallen.
"Ein Irrsinnstag! Ich esse rasch einen Happen, dann haue ich ab."
Das wirst du nicht, dachte Valerija.
Er sprang auf, holte die Päckchen aus der Tasche und legte sie vor Valerija auf den Serviertisch. Sie hatte sich alles so bequem eingerichtet, dass sie nicht aus ihrem Sessel aufzustehen brauchte. Sie wickelte hastig die Päckchen aus, roch daran und lächelte. Ihre Lippen glänzten vom rosa Lippenstift, die rote Seide warf einen Widerschein auf ihr Gesicht - Schurik sah, wie schön sie war, und wusste, dass sie ihm gefallen wollte, dass sie sich seinetwegen die Haare mit dicken Lockenwicklern eingedreht und die Fingernägel lackiert hatte - der feuchtglänzende dunkelrosa Lack bildete einen gewissen Kontrast zu den schwieligen Händen mit den geschwollenen blauen Adern.
"Das Essen dort war ganz anständig, wirklich. Aber so langweilig. Schön, dass du Stör mitgebracht hast. Tu dir Grütze auf ..."
Sie schnitt auf einem Porzellanbrettchen den Käse auf, arrangierte den Fisch auf einem Teller, drehte sich in ihrem Sessel um, öffnete die Tür eines wackligen Schränkchens und nahm einen Vorlegelöffel und eine flache Gabel für den Fisch heraus.
"Ich geh mir rasch die Hände waschen", besann sich Schurik und ging hinaus.
Ich lass dich nicht weg, entschied Valerija, korrigierte sich jedoch sogleich und bat die Allerhöchste Instanz demütig: "Er soll hierbleiben, ja? Es ist doch nicht viel, worum ich bitte."
Seit ihr Kind verloren, gestorben war und ihre Beine endgültig den Dienst versagt hatten, fuhr sie nicht mehr nach Litauen zu dem alten Priester, sie führte ihre Unterhandlungen nun selbst, ohne Vermittler. Sie schrieb ihrem Seelsorger nur hin und wieder einen Brief. Wenn ihr Gutes widerfuhr, dankte sie Gott. Wenn sie sündigte, bereute sie, weinte und bat um Vergebung. Das Gelübde, das sie um des Kindes willen vor dem Herrn abgelegt hatte, hob sie eigenmächtig wieder auf. Wenn Er sein Wort nicht hielt - was erwartete Er da von ihr, einer schwachen Frau? Also winkte sie, sobald sie sich halbwegs von der schrecklichen Geschichte erholt hatte, Schurik zu sich, und er - was blieb ihm übrig? - kehrte in ihr Bett zurück.
Nun wurden sie wirkliche Freunde. Alle anderen Männer in ihrem Leben hatten sie, sobald sie Mitleid mit ihr bekamen, vor Schreck sofort verlassen. Schurik aber war anders: Valerija ahnte schon lange, dass bei ihm Mitleid und männliches Begehren an derselben Stelle sassen.
Aus Instinkt und weiblicher Gewohnheit bemühte sie sich, stets schön zu sein und gut gelaunt, fröhlich und unbekümmert; sie lachte klangvoll, liess ihre Grübchen spielen, und Schurik sprang wie gewohnt meist um halb eins auf und eilte zu seiner Mutter, die nicht einschlief, bevor er kam. Doch wenn Valerija heftige Schmerzen, einen Anfall von schlechter Stimmung oder Selbstmitleid nicht selbst bewältigte, liess er sie nicht allein. Er rief seine Mutter an, fragte, wie es ihr gehe und ob er heute woanders übernachten könne. Dann blieb er und hatte solche Freude an Valerija, dass sie sich nicht schonte und stolz war auf ihre Schönheit und ihre Weiblichkeit, und ihn, den so kindlichen, so rührenden und so männlichen Schurik bedauerte. Weshalb eigentlich, wusste sie selbst nicht.
"Mach den Wein auf." Valerija reichte ihm den Korkenzieher. "Die Nachbarn sind alle weg. Allein fühle ich mich in der Wohnung so unbehaglich."
Das war natürlich gelogen. Allein in der Wohnung fühlte sie sich wunderbar.
"Valerija, ich kann heute nicht bleiben. Ich muss morgen früh nach Wyschni Wolotschok. Matilda braucht dringend eine Bescheinigung, sie hat eine Gerichtsverhandlung."
"Natürlich fährst du hin." Valerija lächelte. Schuriks Freundschaft mit Matilda war ihr sogar irgendwie sympathisch: Matilda war eine alte Frau, an die zehn Jahre älter als Valerija.
"Aber ich muss vorher noch die Bescheinigung abholen ..."
Er wollte ihr schon ausführlich alles erzählen, auch von den Medikamenten, die im Kühlschrank lagen, und von den Franzosen, die er morgen früh zum Flughafen bringen musste. Doch Valerija hörte gar nicht zu. Sie hatte den Blick abgewandt, ihre Mundwinkel hingen herab. Gleich würde sie anfangen zu weinen.
Schurik hob sie aus dem Sessel und bettete sie auf die Liege. Die Grütze, unter dem wärmenden Stoffhuhn hervorgeholt, erkaltete auf dem Teller.
Es flossen keine Tränen. Schurik tröstete die Freundin - ein wenig hastig, aber voller Herzlichkeit.
Dann verzehrte er die kalte Grütze und ging. Um halb sechs war er zu Hause, schnappte sich die Medikamente, fuhr ins entlegene Tschertanowo wegen Matildas Bescheinigung, von dort ins Hotel "National", dann nach Scheremetjewo und von Scheremetjewo zum Leningrader Bahnhof. Er erreichte pünktlich den Zug, erstand glücklich eine Fahrkarte von jemandem, der sie nicht benötigte, und erreichte Wyschni Wolotschok. Der letzte Bus war schon weg, aber er fand ein Schwarztaxi, das ihn ins Dorf brachte, so dass er sogar vor dem Linienbus eintraf. Und ehe Matilda sich Sorgen machen konnte, dass Schurik sie diesmal womöglich im Stich liess.
Grauhaarig, braungebrannt und stark abgemagert, empfing sie ihn mit einer Flasche Wodka und einem gedeckten Tisch. Sie küssten sich. Als erstes legte Schurik die Bescheinigung und die Medikamente auf den Tisch. Als Matilda mit einer Pfanne Bratkartoffeln aus der Diele zurückkam, wo ihr Petroleumkocher stand, schlief er, den Lockenkopf auf die Arme gebettet, die er wie in der Schule übereinandergelegt hatte.
Ein guter Junge ...
"Ich kümmere mich drum, Matilda, mach dir keine Sorgen!" versprach Schurik.
Matilda machte sich auch keine Sorgen mehr: Sie hatte ihn erreicht, und er war ein echter Freund, er liess sie nie im Stich. Matilda erkundigte sich nach seiner Mutter, nach Valerija, aber für höfliches Geplänkel war die Verbindung zu schlecht.
"Komm doch her, Schurik! Für länger!" schrie sie in den Hörer. "Jetzt nach dem Regen wachsen hier die Pilze wie verrückt! Ach ja! Noch eins! Denk an meine Medikamente!"
"Ich komme! Ich komme! Ich denke dran!" versprach Schurik.
Er machte sich nichts aus Pilzen. Die Medikamente, die Matilda gegen ihren hohen Blutdruck brauchte, hatte er schon gekauft. Die beiden Packungen lagen im Kühlschrank. Er überprüfte noch einmal den Wecker, um Valerijas Ankunft nicht zu verschlafen.
Der Zug kam um zehn Uhr vierzig an, aber Schurik musste vorher noch Valerijas Saporoshez aus der Garage holen - er besass eine Vollmacht dafür und fuhr ihn seit langem - und ihren Rollstuhl einladen.
Vom frühen Morgen an lief alles schief: Erst sprangen von seinem letzten sauberen Hemd zwei Knöpfe ab, und er musste sie annähen, dann fiel Grossmutters Tasse von der Spüle und ging kaputt, anschliessend klingelte es an der Tür - Michail Abramowitsch, eine nasse Flasche in der Hand, bat ihn, diese noch ins Labor zu bringen. Er war so mager, so gelb und so unglücklich, dass Schurik nickte und die Flasche wortlos in Zeitungspapier einwickelte.
Zum Glück stand im Labor keine Schlange, so dass er nach zehn Minuten Valerijas Hof erreichte und die Garage aufschloss. Das Auto, das dreihundertsechzig Tage im Jahr in der Garage vor sich hin rostete, sprang nicht an. Schurik ging hinauf in die Wohnung, bat den neuen Nachbarn, der seit dem Auszug von Valerijas Exmann hier wohnte, um Hilfe, und der kam knurrend mit hinunter. Er hatte geschickte Hände, dieser ältere Milizionär, mochte Valerija und hegte eine leise Verachtung für Schurik.
Der Nachbar öffnete die Kühlerhaube, und nach ein paar geheimnisvollen Handgriffen sprang der Motor an. Schurik fuhr los, hatte aber vor lauter Freude den Rollstuhl vergessen. Er musste auf halbem Wege umkehren, und die Zeit, die anfangs mehr als reichlich gewesen war, wurde nun knapp. Entgegen den sonstigen Gewohnheiten der Eisenbahn kam der Zug nicht zu spät, sondern zehn Minuten zu früh, und Valerija stand auf zwei Krücken gestützt einsam auf dem Bahnsteig, verstört und hilflos: Mit Koffer und Tasche konnte sie keinen einzigen Schritt laufen.
Schurik rannte mit dem Rollstuhl den Bahnsteig entlang, ebenso aufgeregt wie seine Freundin.
Nach Hause gelangten sie ohne weitere Abenteuer. In drei Anläufen verstaute er Valerija samt Koffer und Rollstuhl im Lift, brachte sie in ihr Zimmer und rannte zu seinen "Touris". Pünktlich um halb zwei betrat er das Restaurant, in dem die Franzosen bereits vollzählig versammelt herumstanden, unfähig, selbständig ihre Plätze einzunehmen. Dann folgte die Abfütterung, an der Schurik nicht teilnehmen durfte. Nach dem Restaurant begleitete Schurik Interessierte ins Kaufhaus GUM, wo die letzten Souvenirs erstanden wurden. Anschliessend wünschte ein alter Arzt aus Lyon eine Apotheke zu sehen, und eine dicke Matrone aus Marseille wollte ins Planetarium. Doch der obligatorische "Schwanensee" drängte, und das Planetarium fiel aus. Während die Ballerinen über den staubigen Boden schwebten, lief Schurik rasch in den Jelissejew-Laden: Valerija hatte keine Krume zu essen im Haus. Die Bescheinigung für Matilda abzuholen schaffte er auf keinen Fall. Er rief die Sekretärin an und verabredete sich mit ihr für den nächsten Morgen - sie wollte um halb neun aus dem Haus gehen, allerdings nicht zur Arbeit, sondern in die Poliklinik.
Nach der Vorstellung fand ein Abschiedsessen statt. Am nächsten Morgen flogen die Franzosen zurück nach Paris. Schurik stellte die Tasche mit den Lebensmitteln für ein Dankeschön an der Rezeption ab. Hungrig übersetzte er den Franzosen die Speisekarte. Auch das Abendessen stand ihm nicht zu, und er wäre gern für einen Augenblick entwischt, um sich ein Stück von der Wurst in der Tasche unterm Tresen abzubrechen. Dann erschien ein Vertreter von Intourist mit einer nuttig wirkenden Kollegin, und Schurik musste albernes Geschwafel zum Thema olympische Freundschaft dolmetschen. Anschliessend schleppte der betrunkene Doktor aus Lyon zwei Prostituierte an und erwartete von Schurik offenkundig Hilfe bei den Verhandlungen mit ihnen, doch als die Mädchen die offiziellen Intouristleute gewahrten, machten sie sich verlegen aus dem Staub.
Es war fast zwei, als Schurik endlich bei Valerija ankam. Sie sass im Sessel, sah rosig aus und hatte zugenommen. Ihr Haar war vorn zu einem jugendlichen Pony frisiert, die restliche üppige Pracht fiel ihr gleichmässig auf die Schultern, keck nach aussen gewellt. Auch ihr Kimono war neu und zeigte statt der ausgeblichenen Störche sparsame Chrysanthemen auf Melonenrot. Der Tisch war gedeckt, russisches Porzellan wetteiferte mit deutschem. In der Mitte, unter einer Wärmehaube in Form eines Huhnes, stand ein Topf mit Buchweizengrütze. Ausser Buchweizen und Makkaroni hatte Valerija nichts Essbares gefunden. Sie sass mit einem Buch in der Hand im Sessel und erwartete Schurik zum Abendessen.
Er stellte die Tasche an der Tür ab, trat zu Valerija, küsste sie auf die Stirn und liess sich auf einen Stuhl fallen.
"Ein Irrsinnstag! Ich esse rasch einen Happen, dann haue ich ab."
Das wirst du nicht, dachte Valerija.
Er sprang auf, holte die Päckchen aus der Tasche und legte sie vor Valerija auf den Serviertisch. Sie hatte sich alles so bequem eingerichtet, dass sie nicht aus ihrem Sessel aufzustehen brauchte. Sie wickelte hastig die Päckchen aus, roch daran und lächelte. Ihre Lippen glänzten vom rosa Lippenstift, die rote Seide warf einen Widerschein auf ihr Gesicht - Schurik sah, wie schön sie war, und wusste, dass sie ihm gefallen wollte, dass sie sich seinetwegen die Haare mit dicken Lockenwicklern eingedreht und die Fingernägel lackiert hatte - der feuchtglänzende dunkelrosa Lack bildete einen gewissen Kontrast zu den schwieligen Händen mit den geschwollenen blauen Adern.
"Das Essen dort war ganz anständig, wirklich. Aber so langweilig. Schön, dass du Stör mitgebracht hast. Tu dir Grütze auf ..."
Sie schnitt auf einem Porzellanbrettchen den Käse auf, arrangierte den Fisch auf einem Teller, drehte sich in ihrem Sessel um, öffnete die Tür eines wackligen Schränkchens und nahm einen Vorlegelöffel und eine flache Gabel für den Fisch heraus.
"Ich geh mir rasch die Hände waschen", besann sich Schurik und ging hinaus.
Ich lass dich nicht weg, entschied Valerija, korrigierte sich jedoch sogleich und bat die Allerhöchste Instanz demütig: "Er soll hierbleiben, ja? Es ist doch nicht viel, worum ich bitte."
Seit ihr Kind verloren, gestorben war und ihre Beine endgültig den Dienst versagt hatten, fuhr sie nicht mehr nach Litauen zu dem alten Priester, sie führte ihre Unterhandlungen nun selbst, ohne Vermittler. Sie schrieb ihrem Seelsorger nur hin und wieder einen Brief. Wenn ihr Gutes widerfuhr, dankte sie Gott. Wenn sie sündigte, bereute sie, weinte und bat um Vergebung. Das Gelübde, das sie um des Kindes willen vor dem Herrn abgelegt hatte, hob sie eigenmächtig wieder auf. Wenn Er sein Wort nicht hielt - was erwartete Er da von ihr, einer schwachen Frau? Also winkte sie, sobald sie sich halbwegs von der schrecklichen Geschichte erholt hatte, Schurik zu sich, und er - was blieb ihm übrig? - kehrte in ihr Bett zurück.
Nun wurden sie wirkliche Freunde. Alle anderen Männer in ihrem Leben hatten sie, sobald sie Mitleid mit ihr bekamen, vor Schreck sofort verlassen. Schurik aber war anders: Valerija ahnte schon lange, dass bei ihm Mitleid und männliches Begehren an derselben Stelle sassen.
Aus Instinkt und weiblicher Gewohnheit bemühte sie sich, stets schön zu sein und gut gelaunt, fröhlich und unbekümmert; sie lachte klangvoll, liess ihre Grübchen spielen, und Schurik sprang wie gewohnt meist um halb eins auf und eilte zu seiner Mutter, die nicht einschlief, bevor er kam. Doch wenn Valerija heftige Schmerzen, einen Anfall von schlechter Stimmung oder Selbstmitleid nicht selbst bewältigte, liess er sie nicht allein. Er rief seine Mutter an, fragte, wie es ihr gehe und ob er heute woanders übernachten könne. Dann blieb er und hatte solche Freude an Valerija, dass sie sich nicht schonte und stolz war auf ihre Schönheit und ihre Weiblichkeit, und ihn, den so kindlichen, so rührenden und so männlichen Schurik bedauerte. Weshalb eigentlich, wusste sie selbst nicht.
"Mach den Wein auf." Valerija reichte ihm den Korkenzieher. "Die Nachbarn sind alle weg. Allein fühle ich mich in der Wohnung so unbehaglich."
Das war natürlich gelogen. Allein in der Wohnung fühlte sie sich wunderbar.
"Valerija, ich kann heute nicht bleiben. Ich muss morgen früh nach Wyschni Wolotschok. Matilda braucht dringend eine Bescheinigung, sie hat eine Gerichtsverhandlung."
"Natürlich fährst du hin." Valerija lächelte. Schuriks Freundschaft mit Matilda war ihr sogar irgendwie sympathisch: Matilda war eine alte Frau, an die zehn Jahre älter als Valerija.
"Aber ich muss vorher noch die Bescheinigung abholen ..."
Er wollte ihr schon ausführlich alles erzählen, auch von den Medikamenten, die im Kühlschrank lagen, und von den Franzosen, die er morgen früh zum Flughafen bringen musste. Doch Valerija hörte gar nicht zu. Sie hatte den Blick abgewandt, ihre Mundwinkel hingen herab. Gleich würde sie anfangen zu weinen.
Schurik hob sie aus dem Sessel und bettete sie auf die Liege. Die Grütze, unter dem wärmenden Stoffhuhn hervorgeholt, erkaltete auf dem Teller.
Es flossen keine Tränen. Schurik tröstete die Freundin - ein wenig hastig, aber voller Herzlichkeit.
Dann verzehrte er die kalte Grütze und ging. Um halb sechs war er zu Hause, schnappte sich die Medikamente, fuhr ins entlegene Tschertanowo wegen Matildas Bescheinigung, von dort ins Hotel "National", dann nach Scheremetjewo und von Scheremetjewo zum Leningrader Bahnhof. Er erreichte pünktlich den Zug, erstand glücklich eine Fahrkarte von jemandem, der sie nicht benötigte, und erreichte Wyschni Wolotschok. Der letzte Bus war schon weg, aber er fand ein Schwarztaxi, das ihn ins Dorf brachte, so dass er sogar vor dem Linienbus eintraf. Und ehe Matilda sich Sorgen machen konnte, dass Schurik sie diesmal womöglich im Stich liess.
Grauhaarig, braungebrannt und stark abgemagert, empfing sie ihn mit einer Flasche Wodka und einem gedeckten Tisch. Sie küssten sich. Als erstes legte Schurik die Bescheinigung und die Medikamente auf den Tisch. Als Matilda mit einer Pfanne Bratkartoffeln aus der Diele zurückkam, wo ihr Petroleumkocher stand, schlief er, den Lockenkopf auf die Arme gebettet, die er wie in der Schule übereinandergelegt hatte.
Ein guter Junge ...
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Autoren-Porträt von Ljudmila Ulitzkaja
Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021), Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022) und zuletzt Die Erinnerung nicht vergessen (2023). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2020 den Siegfried Lenz Preis sowie 2023 den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und den Günter-Grass-Preis. Ganna-Maria Braungardt, 1956 in Crimmitschau geboren, studierte Slawistik im russischen Woronesh. Sie übersetzte u.a. Swetlana Alexijewitsch, Teffy, Wladimir Jabotinsky, Boris Akunin, Polina Daschkowa und Ljudmila Ulitzkaja.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ljudmila Ulitzkaja
- 2005, 496 Seiten, Masse: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Ganna-Maria Braungardt
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446206655
- ISBN-13: 9783446206656
- Erscheinungsdatum: 08.08.2005
Rezension zu „Ergebenst, euer Schurik “
"Ein berührendes Buch über die Schwächen des weiblichen Geschlechts und die immerwährende Sehnsucht nach Liebe." Brigitte, 12.10.05"Ein Kosmos aus lauter Mini-Biografien, allesamt tragisch und komisch zugleich ... Souverän, eigenwillig und zügig erzählt, mit Esprit und Tiefe, vor allem aber mit Witz. Ljudmila Ulitzkaja ist eine Meisterin der komischen Entlarvung von Lebenslügen." Marion Löhndorf, Neue Zürcher Zeitung, 27.08.05
"Ein leichtes und lustiges Buch, temporeich und pointensicher erzählt." Martin Ebel, Tages-Anzeiger Zürich, 07.10.05
Pressezitat
"Ein berührendes Buch über die Schwächen des weiblichen Geschlechts und die immerwährende Sehnsucht nach Liebe." Brigitte, 12.10.05"Ein Kosmos aus lauter Mini-Biografien, allesamt tragisch und komisch zugleich ... Souverän, eigenwillig und zügig erzählt, mit Esprit und Tiefe, vor allem aber mit Witz. Ljudmila Ulitzkaja ist eine Meisterin der komischen Entlarvung von Lebenslügen." Marion Löhndorf, Neue Zürcher Zeitung, 27.08.05
"Ein leichtes und lustiges Buch, temporeich und pointensicher erzählt." Martin Ebel, Tages-Anzeiger Zürich, 07.10.05
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