Enders Schatten / Ender-Saga Bd.2
Roman
Der Straßenjunge Bean ist überdurchschnittlich intelligent und wird für ein Regierungsprojekt auserwählt. Auf einer Raumstation soll er mit anderen Hochbegabten Strategien für Kriegsspiele entwickeln. Doch was zunächst wie ein...
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Produktinformationen zu „Enders Schatten / Ender-Saga Bd.2 “
Der Straßenjunge Bean ist überdurchschnittlich intelligent und wird für ein Regierungsprojekt auserwählt. Auf einer Raumstation soll er mit anderen Hochbegabten Strategien für Kriegsspiele entwickeln. Doch was zunächst wie ein Spiel erscheint, wird bald Ernst - außerirdische Invasoren bedrohen die Menschen.
Klappentext zu „Enders Schatten / Ender-Saga Bd.2 “
Kein Preis ist zu hochZunächst deutet nichts darauf hin, dass Bean zu Grossem ausersehen ist: Als Strassenjunge, der sich in Rotterdam mehr schlecht als recht durchschlägt, kann er froh sein, dass sich eine Nonne seiner annimmt. Sie ist die Erste, der die überdurchschnittliche Intelligenz des Jungen auffällt - und nicht die Letzte: Bald schon wird Bean für ein Regierungsprojekt auserwählt. Auf einer Raumstation soll er gemeinsam mit anderen Hochbegabten Strategien für Kriegsspiele entwickeln. Doch was am Anfang nur wie ein Spiel erscheint, wird schnell bitterer Ernst. Denn die Menschen werden von ausserirdischen Invasoren bedroht ...
Lese-Probe zu „Enders Schatten / Ender-Saga Bd.2 “
Eders Schatten von Orson Scott CardErster Teil
STRASSENKIND
1
Poke
»Sie glauben also, Sie haben jemanden gefunden, und deshalb wird mein Programm plötzlich abgeschossen?«
»Das hat nichts mit dem Jungen zu tun, den Graff gefunden hat, sondern mit der schlechten Qualität derer, die Sie finden.«
»Wir wussten, dass es ein Wagnis war. Aber die Kinder, mit denen ich arbeite, kämpfen jeden Tag um ihr Überleben.«
»Ihre Kinder sind so unterernährt, dass sie schon unter ernsthaftem geistigem Verfall leiden, bevor Sie auch nur anfangen, sie zu prüfen. Die meisten haben keine normalen zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt und sind so gestört, dass kein Tag vergeht, an dem sie nicht etwas stehlen, ramponieren oder zerstören.«
»Aber auch sie haben Potenzial, wie alle Kinder.«
»Das ist genau die Art von Sentimentalität, die Ihr gesamtes Projekt in den Augen der IF diskreditiert.«
Poke hielt ständig die Augen offen. Auch die jüngeren Kinder sollten Wache halten, und eigentlich waren sie recht aufmerksam, aber manchmal entging ihnen einfach etwas, was ihnen nicht entgehen sollte, und am Ende musste Poke sich doch auf sich selbst verlassen, wenn es darum ging, Gefahren zu erkennen.
... mehr
Es gab viele Gefahren, nach denen man Ausschau halten musste. Zum Beispiel Polizisten. Sie ließen sich nicht oft sehen, aber wenn sie auftauchten, schienen sie vor allem die Kinder von der Straße schaffen zu wollen. Sie schlugen mit ihren Magnetpeitschen auf sie ein, brachten selbst den Kleinsten grausam brennende Striemen bei und bezeichneten sie in ihren Strafpredigten als Gesocks, diebisches Gesindel und eine Pest, die die schöne Stadt Rotterdam heimgesucht habe. Es war Pokes Aufgabe, sofort zu bemerken, wenn Unruhe in der Ferne darauf schließen ließ, dass die Polizei eine Razzia veranstaltete. Dann stieß sie den Alarmpfiff aus, und die Kleinen eilten in ihre Verstecke, bis die Gefahr vorüber war.
Aber Polizisten kamen nicht so oft vorbei. Die wirkliche Gefahr war viel unmittelbarer: größere Kinder. Poke war mit neun Jahren die Matriarchin ihrer kleinen Bande (nicht, dass einer von ihnen sicher gewusst hätte, dass sie ein Mädchen war), aber das half nichts gegen die elf-, zwölf-und dreizehnjährigen Jungen und Mädchen, die kleinere Straßenkinder schikanierten. Die erwachsenen Bettler, Diebe und Huren achteten nicht auf die kleinen Kinder oder traten sie höchstens aus dem Weg. Aber die älteren Kinder, die ebenfalls getreten wurden, drehten sich dann um und stürzten sich auf die jüngeren. Jedes Mal, wenn Pokes Bande etwas zu essen fand - besonders, wenn es sich um eine verlässliche Abfall- quelle oder eine Stelle handelte, wo man leicht eine Münze oder ein wenig Essen bekommen konnte -, mussten sie gut aufpassen und ihre Beute sofort verstecken, denn die älteren Kinder taten nichts lieber, als den kleineren auch noch den winzigsten Rest Essen abzunehmen. Jüngere Kinder zu bestehlen war viel sicherer, als es bei Läden oder Passanten zu versuchen. Und es machte ihnen Spaß, das sah Poke genau. Es gefiel diesen Tyrannen und Schlägern, wie die kleinen Kinder sich duckten und gehorchten, wie sie wimmerten und den Schlägern gaben, was immer sie verlangten.
Als der dünne kleine Zweijährige sich also auf der anderen Straßenseite oben auf eine Mülltonne hockte, bemerkte Poke ihn sofort. Der Junge sah hungrig aus. Nein, er war am Verhungern. Dünne Arme und Beine, lächerlich groß erscheinende Gelenke, ein aufgeblähter Bauch. Und wenn der Hunger ihn nicht bald umbrachte, würde der Herbst es tun, denn seine Kleidung war viel zu dünn, und er hatte zu wenig an.
Normalerweise hätte Poke einem so kleinen Kind nur flüchtig ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Aber der hier hatte wache Augen. Er sah sich voller Intelligenz um. Er hatte nichts von der Starrheit der lebenden Toten, die nicht mehr nach Essen suchten und nicht einmal mehr einen bequemen Platz finden wollten, an dem sie ein letztes Mal die stinkende Luft Rotterdams einatmen konnten. Der Tod war für sie keine große Veränderung. Jeder wusste, dass Rotterdam vielleicht nicht die Hauptstadt, aber zweifellos der Vorort der Hölle war. Der einzige Unterschied zwischen Rotterdam und dem Tod bestand darin, dass in Rotterdam die Verdammnis nicht ewig dauerte.
Dieser kleine Junge - was machte er da? Er stöberte nicht nach Nahrung. Er beobachtete nicht die Passanten. Aber das war auch egal - niemand würde einem so kleinen Kind etwas geben. Alles, was er bekäme, würde ihm ein anderes Kind sofort wegnehmen. Warum sollte man sich also die Mühe machen? Wenn er überleben wollte, sollte er den Älteren folgen und das Einwickelpapier ablecken, das sie zurückließen, nach einem letzten Rest von glänzendem Zucker oder staubigem Mehl auf der Packung suchen, nach irgendetwas, was die, die zuerst gekommen waren, nicht schon abgeleckt hatten. Hier draußen hielt die Straße nichts für dieses Kind bereit, es sei denn, eine Bande nahm es auf, und Poke würde es nicht aufnehmen. Es würde sie nur belasten, und es ging ihren Kids auch so schon schlecht genug, ohne noch ein nutzloses Maul stopfen zu müssen.
Er wird fragen, dachte sie. Er wird winseln und betteln, aber das klappt nur bei reichen Leuten. Ich muss an meine Bande denken. Er gehört nicht dazu, also interessiert er mich nicht. Selbst wenn er so klein ist. Er ist nichts für mich.
Zwei zwölfjährige Nutten, die normalerweise nicht in dieser Gegend arbeiteten, bogen um eine Ecke und kamen auf Pokes Standort zu. Poke stieß einen leisen Pfiff aus. Die Kids zerstreuten sich sofort. Sie blieben auf der Straße, versuchten aber, nicht wie eine Bande auszusehen.
Es half nichts. Die Nutten wussten, dass Poke eine Bande hatte, und schon hatten sie sie an den Armen gepackt, gegen eine Wand gestoßen und ihren »Anteil« verlangt. Poke versuchte erst gar nicht zu behaupten, dass sie nichts hatte - sie bemühte sich, immer etwas in Reserve zu haben, um hungrige Schläger friedlich zu stimmen. Was diese Nutten anging, so war Poke vollkommen klar, wieso sie hungerten. Sie waren nicht nach dem Geschmack der Pädophilen, die hier vorbeikamen. Dafür waren sie zu hager und sahen zu alt aus. Solange sie also noch keine Rundungen hatten und für die geringfügig weniger perversen Kunden interessant wurden, mussten sie vom Müll leben. Es machte Poke rasend, wenn solche Typen sie und ihre Bande bestahlen, aber es war klüger, ihnen etwas zu geben. Schlugen sie sie zusammen, würde sie schließlich nicht mehr auf ihre Bande aufpassen können, oder? Also brachte sie die beiden zu einem ihrer Verstecke und holte eine kleine Bäckereitüte heraus, in der noch ein halbes Stück Kuchen steckte.
Es war trocken, weil Poke es schon einige Tage für so eine Gelegenheit aufbewahrt hatte, aber die Nutten griffen danach, rissen die Tüte auf, und eine von ihnen biss mehr als die Hälfte ab, bevor sie ihrer Freundin den Rest gab. Genauer gesagt, ihrer ehemaligen Freundin, denn ein solches Beute- verhalten führt zu Streit.
Die beiden fingen sofort an, sich zu zanken, schrien einander an, ohrfeigten einander, kratzten einander mit ihren Klauenhänden. Poke behielt sie genau im Auge und hoffte, sie würden den Rest des Kuchenstücks fallen lassen, aber so viel Glück war ihr nicht vergönnt. Das restliche Kuchenstück wanderte in den Mund desselben Mädchens, das schon den ersten Bissen genommen hatte - und es war auch dieses Mädchen, das den Kampf gewann und das andere in die Flucht schlug.
Als Poke sich umdrehte, stand der kleine Junge direkt hinter ihr. Sie wäre beinahe über ihn gestürzt. Zornig, wie sie war, weil sie diesen Straßenhuren etwas hatte geben müssen, stieß sie ihn mit dem Knie, und er fiel hin. »Stell dich nicht hinter Leute, wenn du nicht umgeworfen werden willst«, fauchte sie.
Er stand einfach auf und sah sie erwartungsvoll und fordernd an.
»Nein, du kleiner Mistkerl, du kriegst nichts von mir«, sagte Poke. »Für dich nehme ich meinen Leuten nichts weg - es schert mich einen Dreck, ob du vor die Hunde gehst.«
Ihre Bande versammelte sich nun langsam wieder, nachdem die Huren verschwunden waren.
»Warum hast du ihnen dein Essen gegeben?«, fragte der Junge. »Du brauchst das Essen doch.«
»Ach wirklich?«, antwortete Poke. Sie hob ihre Stimme, sodass die Bande sie hören konnte. »Vielleicht solltest du hier der Boss sein. So groß, wie du bist, hättest du dir das Essen bestimmt nicht abnehmen lassen.«
»Bestimmt nicht«, sagte der Junge. »Aber ich scheredich doch einen Dreck, schon vergessen?«
»Das habe ich nicht vergessen. Aber du hast es anscheinend vergessen, sonst würdest du die Klappe halten.«
Ihre Bande lachte.
Der kleine Junge lachte nicht. »Ihr braucht auch so einen Schläger.«
»Wir brauchen keinen Schläger, wir sind froh, wenn wir die los sind«, antwortete Poke. Es gefiel ihr nicht, dass er weiterredete und nicht aufgab. Gleich würde sie ihm wehtun müssen.
»Jeden Tag müsst ihr Essen an solche Typen abgeben. Gebt lieber einem etwas und bringt ihn dazu, die anderen zu verjagen. «
»Glaubst du etwa, daran hätte ich noch nicht gedacht, Blödmann?«, fragte sie. »Aber wie soll ich ihn denn an uns binden, wenn ich ihn bestochen habe? Er würde nicht für uns kämpfen.«
»Dann bring ihn eben um«, sagte der Junge.
Das machte Poke wütend, diese lächerliche Absurdität, die Anziehungskraft einer Überlegung, von der sie wusste, dass sie zu nichts führte. Wieder schubste sie ihn, und diesmal trat sie zu, als er am Boden lag. »Vielleicht sollte ich dich umbringen.«
»Vergiss nicht, ich schere dich einen Dreck«, keuchte der Junge. »Bring doch so einen Brutalski um und sorge dafür, dass ein anderer für euch kämpft. Er wird dein Essen wollen und Angst vor dir haben.«
Sie wusste nicht, was sie zu einem so absurden Vorschlag sagen sollte.
»Sie fressen euch alle auf«, zischte der Junge. »Also bring einen um. Liegt er erst am Boden, ist er auch nicht größer als ich. Steine zertrümmern Schädel von jeder Größe.«
»Du nervst«, sagte sie.
»Weil du daran noch nie gedacht hast, stimmt's?«
Er riskierte den Tod, so mit ihr zu sprechen. Wenn sie ihn auch nur ein bisschen verletzte, war es aus mit ihm - das durfte er nicht vergessen.
Andererseits lauerte das Siechtum schon in seinem fadenscheinigen kleinen Hemd. Es machte wohl keinen großen Unterschied mehr, wenn er dem Tod noch ein wenig näher rückte.
Poke sah ihre Bande an. Sie konnte ihre Mienen nicht deuten.
»Ich lasse mir doch nicht von einem Baby sagen, wen ich umbringen soll.«
»Ein kleines Kind bückt sich hinter ihm, du schubst ihn, er kippt über«, raunte der Junge. »Du hast schon große Steine vorbereitet. Backsteine. Zertrümmere sie auf seinem Schädel. Siehst du das Hirn, ist er erledigt.«
»Tot nützt er mir nichts«, erwiderte sie. »Ich will einen Schläger, der auf uns aufpasst. Was soll ich mit einem toten Schläger?«
Der Junge grinste. »Jetzt gefällt dir meine Idee also.«
»Schlägern kann man nicht trauen.«
»Er kann vor der Suppenküche auf euch aufpassen«, schlug der Junge vor. »Dann kommt ihr in die Küche rein.« Er sah ihr weiter in die Augen, sprach aber so laut, dass auch die anderen ihn verstehen konnten. »Er kann euch alle in die Küche bringen.«
»Wenn kleine Kinder in die Suppenküche gehen, schlagen die großen sie«, warf Sergeant ein. Er war acht und verhielt sich meistens so, als sei er Pokes Stellvertreter, obwohl sie gar keinen Stellvertreter hatte.
»Hast du einen Schläger, verjagt er die anderen.«
»Wie soll ein Schläger zwei andere aufhalten? Oder drei?«, fragte Sergeant.
»Wie gesagt«, antwortete der Junge, »schubst sie um, dann sind sie nicht mehr so groß. Besorgt euch Steine. Seid bereit. Du bist doch Soldat! Nennen sie dich nicht Sergeant?«
»Rede nicht mit ihm, Sarge«, sagte Poke. »Was kümmert uns das Geschwätz eines Zweijährigen?«
»Ich bin vier«, berichtigte der Junge.
»Wie heißt du?«, fragte Poke.
»Hab keinen Namen.«
»Du meinst wohl, du bist so dumm, dass du dich nicht daran erinnern kannst.«
»Hab keinen Namen«, wiederholte er. Immer noch sah er ihr in die Augen, obwohl er weiter am Boden lag, umgeben von der Bande.
»Du scherst mich einen Dreck«, sagte sie.
»Glaube ich nicht«, entgegnete er.
»Allerdings«, sagte Sergeant. »Weil du dumm wie Bohnenstroh bist.«
»Bohnen?«, lachte Poke. »Dann hast du deinen Namen weg. Du heißt jetzt Bean. Setz dich wieder auf den Mülleimer, und ich lass mir durch den Kopf gehen, was du gesagt hast.«
»Ich brauche was zu essen.«
»Wenn ich einen Schläger habe und dein Plan funktioniert, gebe ich dir vielleicht was.«
»Ich brauche jetzt etwas.«
Sie wusste, dass das stimmte.
Sie steckte die Hand in die Tasche und holte sechs Erdnüsse heraus, die sie aufgehoben hatte. Er setzte sich hin und nahm nur eine aus ihrer Hand, steckte sie in den Mund und kaute langsam.
»Nimm sie alle, Bean«, sagte sie ungeduldig.
Er streckte die kleine Hand aus. Sie war schwach. Er konnte keine Faust machen. »Kann sie nicht alle halten«, raunte er. »Halten kann ich nicht gut.«
Verdammt. Sie verschwendete gute Erdnüsse an ein Kind, das sowieso sterben würde.
Aber sie würde seine Idee ausprobieren. Es war verwegen, aber es war der erste Plan, von dem sie je gehört hatte, bei dem die Möglichkeit bestand, dass sie ihr elendes Leben ändern konnte, ohne Mädchenkleider anziehen und auf den Strich gehen zu müssen. Und da es seine Idee gewesen war, musste die Bande sehen, dass sie ihn gerecht behandelte. So blieb man Boss. Sie mussten immer sehen, dass man fair war.
Also hielt sie so lange die Hand hin, bis er alle sechs Erdnüsse gegessen hatte, eine nach der anderen.
Nachdem er die letzte hinuntergeschluckt hatte, sah er Poke noch einmal in die Augen. »Aber du musst bereit sein, ihn zu töten.«
»Ich will ihn lebendig.«
»Du musst ihn töten, wenn er nicht der Richtige ist.« Damit schlurfte Bean über die Straße zu seinem Mülleimer und kletterte mühsam wieder dort hinauf, wo er alles beobachten konnte.
»Du bist keine vier Jahre alt«, rief Sergeant hinter ihm her.
»Ich bin vier, aber ich bin klein«, rief er zurück.
Poke gebot Sergeant zu schweigen, und sie machten sich auf die Suche nach Backsteinen. Wenn sie schon einen kleinen Krieg vom Zaun brechen mussten, sollten sie sich besser bewaffnen.
Bean mochte seinen neuen Namen nicht, aber es war ein Name, und einen Namen zu haben bedeutete, dass andere wussten, wer er war, und ihn irgendwie rufen konnten, und das war gut. Genau wie die sechs Erdnüsse. Sein Mund wusste kaum, was er damit anfangen sollte. Kauen tat weh.
Es tat auch weh zuzusehen, wie Poke den Plan, den er ihr gegeben hatte, verdarb. Bean hatte sie nicht angesprochen, weil sie der schlaueste Bandenboss in Rotterdam war. Ganz im Gegenteil. Ihre Bande konnte kaum überleben, weil Poke so wenig draufhatte. Und zu mitleidig war. Sie hatte nicht genug Grips, um sich ausreichend Essen zu besorgen, damit sie wohlgenährt aussah, und so fand ihre Bande sie zwar nett und mochte sie, aber auf Fremde wirkte sie eher unfähig. Sie schien nicht gerade ein guter Boss zu sein.
Aber wäre sie ein guter Boss, hätte sie ihn überhaupt nicht angehört. Er wäre ihr nie auch nur nahe genug gekommen. Oder wenn sie ihn angehört hätte, wenn seine Idee ihr gefallen hätte, hätte sie ihn anschließend erledigt. So verlangte es das Gesetz der Straße. Wer nett war, starb. Poke war fast zu nett, um am Leben zu bleiben. Darauf zählte Bean. Aber er fürchtete es jetzt auch.
Die ganze Zeit, die er damit verbracht hatte, Leute zu beobachten, während sein Körper sich aufzehrte, wäre ohne Pokes Einsatz verschwendet gewesen. Und Bean hatte schon genug Zeit verschwendet. Als er angefangen hatte zu beobachten, wie die Straßenkinder lebten, wie sie einander bestahlen, einander an die Kehle gingen, einander in die Taschen griffen und jeden Teil von sich verkauften, der irgendwie verkäuflich war, hatte er genau gesehen, was sie besser machen könnten, wenn sie nur genug Grips hätten, aber er hatte seinem eigenen Urteil nicht getraut. Er war sicher gewesen, dass es noch etwas anderes geben musste, etwas, das er einfach noch nicht begriff. Er strengte sich an, mehr zu lernen - über alles. Lesen zu lernen, damit er wusste, was die Schrift auf LKWs und Läden und Containern bedeutete. Genug Holländisch und IF-Commonzulernen,um alles zu verstehen, was die Leute sagten. Es half dabei nichts, dass der Hunger ihn dauernd ablenkte. Er hätte vielleicht mehr Nahrung finden können, wenn er nicht so viel Zeit damit verbracht hätte, die Leute zu beobachten. Aber schließlich hatte er begriffen: Er verstand es schon. Er hatte es von Anfang an verstanden. Es gab kein Geheimnis, das Bean nur deshalb nicht begriff, weil er noch klein war. Der Grund dafür, dass diese Kids sich bei allem so dumm anstellten, bestand einfach darin, dass sie dumm waren.
Sie waren dumm, und er war schlau. Also, warum war er dann am Verhungern, während diese Kids zu essen hatten? Er hatte beschlossen zu handeln. Er hatte sich Poke als Bandenboss ausgesucht. Und nun saß er auf einer Mülltonne und sah zu, wie sie es wieder versaute.
Sie wählte den falschen Schläger, das war ihr erster Fehler. Sie brauchte einen, der die anderen allein schon durch seine Größe einschüchterte. Sie brauchte einen, der groß und dumm war, brutal, aber zu beherrschen. Stattdessen glaubte sie, einen zu brauchen, der klein war. Nein, du blöde Kuh! Blöde Kuh! Bean hätte am liebsten laut aufgeschrien, als er den Schläger sah, den sie sich ausgesucht hatte, einen Jungen, der sich Achilles nannte, nach dem Comic-Helden. Er war klein und gemein, schlau und schnell, aber er hatte ein verkrüppeltes Bein. Also glaubte Poke, sie könne besser mit ihm fertigwerden. Du dumme Kuh! Es geht doch nicht darum, jemanden zu Fall zu bringen - das schafft man beim ersten Mal bei jedem, wenn er es nicht erwartet. Du brauchst jemanden, der auch liegen bleibt.
Aber er sagte nichts. Er durfte nicht riskieren, dass sie wütend auf ihn wurde. Schauen wir mal, was passiert. Schauen wir mal, wie Achilles sich benimmt, wenn er am Boden liegt. Sie wird es ja merken - es wird nicht klappen, und dann muss sie ihn umbringen, die Leiche verstecken und es mit einem anderen Schläger noch mal versuchen, bevor es sich rumspricht, dass eine Bande von kleinen Kindern Schläger umbringt.
Also kommt Achilles heranstolziert - vielleicht ist es auch nur der schwankende Gang durch sein lahmes Bein -, und Poke duckt sich übertrieben und tut so, als wolle sie abhauen. Schlecht gemacht, dachte Bean. Achilles hat schon gemerkt, dass was im Busch ist. Irgendetwas stimmt nicht. Du dumme Kuh, du sollst dich so benehmen wie immer! Achilles sieht sich immer öfter um. Misstrauisch. Sie sagt ihm, sie habe was versteckt - der Teil ist normal -, und führt ihn in die Falle in der Gasse. Aber nein, er ist vorsichtig. Es wird nicht klappen.
Aber es klappt doch, wegen des Beins. Achilles sieht, dass es eine Falle ist, aber er kann nicht mehr fliehen, weil ein paar kleinere Kinder sich von hinten gegen seine Beine werfen, während Poke und Sergeant ihn von vorn schubsen, und so fällt er um. Ein paar Ziegelsteine treffen seinen Rumpf und das verkrüppelte Bein, und zwar heftig - die kleinen Kinder haben es begriffen, sie leisten gute Arbeit, selbst wenn Poke dumm ist -, und ja, das ist gut, Achilles hat tatsächlich Angst. Er denkt, er wird sterben.
Bean war inzwischen von der Tonne geklettert. Er stand in der Gasse und beobachtete alles aus der Nähe. Es war schwer, an der Menge vorbeizuspähen. Er drängt sich vorbei, und die kleinen Kinder - alle größer als er - erkennen ihn und wissen, dass er es verdient hat, einen Blick auf den Kerl zu werfen, und sie lassen ihn rein. Er steht direkt an Achilles' Kopf. Poke beugt sich über ihn, einen Ziegel in der Hand, und redet.
»Du bringst uns in die Schlange vor der Suppenküche.«
»Ja, in Ordnung, mach ich. Versprochen.«
Glaub ihm nicht. Sieh ihm in die Augen, achte auf Schwächen.
»Auf diese Weise kommst du an mehr Essen, Achilles. Du bekommst meine Bande. Wir bekommen genug zu essen, wir haben mehr Kraft, wir bringen dich weiter. Du brauchst eine Bande. Die anderen Brutalskis schubsen dich immer herum - wir haben es gesehen -, aber mit uns brauchst du dir das nicht gefallen zu lassen. Verstehst du, wie wir's machen werden? Eine Armee, das werden wir sein.«
Okay, jetzt hatte er es begriffen. Es war wirklich eine gute Idee, und er war nicht dumm, also begriff er es.
»Wenn das so eine gute Idee ist, Poke, wieso handelst du jetzt erst danach?«
Dazu fiel ihr nichts ein. Stattdessen warf sie Bean einen Blick zu.
Nur einen kurzen Blick, aber Achilles sah es. Und Bean wusste, was er dachte. Es war so offensichtlich.
»Bring ihn um«, sagte Bean.
»Sei nicht dumm«, sagte Poke. »Er macht mit.«
»Genau«, warf Achilles ein. »Ich mache mit. Die Idee ist klasse.«
»Bring ihn um«, sagte Bean. »Wenn du ihn jetzt nicht umbringst, wird er dich umbringen.«
»Lässt du diesem kleinen Stück Scheiße eigentlich alles durchgehen?«, fragte Achilles.
»Dein Leben oder seins«, sagte Bean. »Bring ihn um und nimm den Nächsten.«
»Der Nächste wird kein krankes Bein haben«, wandte Achilles ein. »Der Nächste wird nicht glauben, dass er dich braucht. Ich glaube es. Ich mache mit. Ich bin der, den ihr wollt. Der Plan ist riesig.«
Vielleicht hatte Beans Warnung sie vorsichtiger gemacht. Sie gab noch nicht nach. »Und du wirst nicht irgendwann finden, dass es dir peinlich ist, einen Haufen kleiner Kinder in deiner Bande zu haben?«
»Es ist deine Bande, nicht meine.«
Lügner, dachte Bean. Siehst du nicht, dass er dich anlügt?
»Für mich«, sagte Achilles, »seid ihr meine Familie. Meine kleinen Brüder und Schwestern. Und um seine Familie muss man sich doch kümmern, nicht wahr?«
Bean erkannte sofort, dass Achilles gewonnen hatte. Er war ein Schläger, und er hatte diese Kids seine Brüder und Schwestern genannt. Bean sah den Hunger in ihren Augen. Nicht den normalen Hunger nach Essen, sondern den wahren Hunger, das tiefe Bedürfnis nach einer Familie, nach Liebe, danach, irgendwo hinzugehören. Gekostet hatten sie davon schon, weil sie in Pokes Bande waren. Aber Achilles versprach ihnen mehr. Er hatte gerade Pokes bestes Angebot überboten. Jetzt war es zu spät, ihn umzubringen.
Zu spät, aber für einen Augenblick sah es so aus, als wäre Poke so dumm, es doch noch zu versuchen. Sie hob den Ziegelstein höher.
»Nein«, sagte Bean. »Das geht nicht mehr. Er gehört jetzt zur Familie.«
Sie senkte den Ziegel auf Taillenhöhe. Langsam drehte sie sich zu Bean um. »Hau ab«, sagte sie. »Du gehörst nicht zu meiner Bande. Du hast hier nichts zu suchen.«
»Nein«, schnaufte Achilles. »Ihr solltet mich lieber umbringen, wenn ihr ihn so behandeln wollt.«
Oh, das klang tapfer. Aber Bean wusste, dass Achilles nicht tapfer war. Nur schlau. Er hatte schon gewonnen. Es zählte nicht, dass er am Boden lag und Poke immer noch den Ziegel in der Hand hatte. Es war jetzt seine Bande. Poke war erledigt. Es würde eine Weile dauern, bevor jemand außer Bean und Achilles das verstand, aber der Kampf um die Autorität fand hier und jetzt statt, und Achilles würde ihn gewinnen.
»Dieser Kleine hier«, krächzte Achilles, »gehört vielleicht nicht zu deiner Bande, aber er gehört zu meiner Familie. Also sag meinem Bruder nicht, dass er abhauen soll.«
Poke zögerte. Einen Augenblick. Noch einen Augenblick.
Lange genug.
Achilles setzte sich auf. Er rieb sich die blauen Flecken und Prellungen. Er warf den kleinen Kindern, die ihn mit Ziegeln beschmissen hatten, einen scherzhaft bewundernden Blick zu. »Mann, ihr seid ja echt taff!« Sie lachten - zunächst nervös. Würde er ihnen wehtun, weil sie ihm wehgetan hatten? »Keine Sorge«, sagte er. »Ihr habt mir gezeigt, was ihr draufhabt. Das werden wir noch mit vielen Schlägern machen, wisst ihr? Ich musste doch erst herausfinden, ob ihr das auch könnt. Gute Arbeit. Wie heißt ihr?«
Er ließ sich all ihre Namen nennen. Er versuchte, sie sich einzuprägen, und wenn er einen Fehler beging, machte er ein großes Theater, entschuldigte sich und strengte sich sichtlich an, sich den Namen noch besser zu merken. Es dauerte nur fünfzehn Minuten, und sie liebten ihn.
Wenn er das kann, dachte Bean, wenn er Leute so schnell dazu bringen kann, ihn zu lieben, wieso hat er es vorher nicht getan?
Weil diese Idioten immer nach Macht streben. Leute, die über einem stehen, wollen ihre Macht nie mit einem teilen. Warum zu ihnen aufblicken? Von denen hat man nichts zu erwarten. Aber die Leute unter einem - denen gibt man Hoffnung, man bringt ihnen Respekt entgegen, und sie vergelten es einem mit Macht, weil sie nicht glauben, dass sie selbst welche haben. Also stört es sie nicht, ihre Macht aufzugeben.
Achilles stand auf, immer noch ein wenig wacklig, und sein krankes Bein schmerzte ihn sichtlich mehr als sonst. Alle wichen zurück und machten ihm Platz. Er hätte jetzt gehen können, wenn er gewollt hätte. Hätte auf Nimmerwiedersehen verschwinden können. Oder ein paar andere Schläger holen, zurückkommen und die Bande bestrafen können. Aber er blieb stehen und lächelte, griff in die Tasche und holte etwas ganz Unglaubliches heraus: einen Haufen Rosinen. Eine ganze Hand voll. Sie starrten seine Hand an, als trüge sie die Spur eines Nagels in der Handfläche.
»Kleine Brüder und Schwestern zuerst«, sagte er. »Die Kleinsten als Erste.« Er sah Bean an. »Du.«
»Er nicht!«, protestierte der Nächstkleinere. »Wir kennen ihnnichtmal.«
»Bean wollte, dass wir dich umbringen«, stellte ein anderer fest.
»Bean«, sagte Achilles. »Bean, du wolltest nur auf meine Familie aufpassen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Bean.
»Willst du eine Rosine?«
Bean nickte.
»Du als Erster. Du hast uns schließlich alle zusammengebracht. «
Ob Achilles ihn jetzt umbringen würde oder nicht. In diesem Augenblick zählte nur die Rosine. Bean nahm sie. Steckte sie in den Mund. Kaute nicht einmal. Er ließ sie einfach in seinem Speichel schwimmen, sodass der Geschmack hervortrat.
»Weißt du was?«, sagte Achilles. »Ganz gleich, wie lange du sie im Mund behältst, sie wird sich nicht mehr in eine Traube verwandeln.«
»Was ist eine Traube?«
Achilles lachte ihn aus, aber Bean kaute immer noch nicht. Dann verteilte Achilles Rosinen an die anderen Kinder. Poke hatte nie so viele Rosinen verteilt, weil sie nie so viele gehabt hatte. Aber die kleinen Kinder würden das nicht verstehen. Sie würden glauben: Poke hat uns Müll gegeben, und Achilles gibt uns Rosinen. Sie waren eben dumm.
2
Suppenküche
»Ich weiß, dass Sie diesen Bereich bereits durchkämmt haben und wahrscheinlich fast mit Rotterdam fertig sind, aber seit Ihrem letzten Besuch ist hier etwas passiert, also - oh, ich weiß nicht, ob es wirklich wichtig ist, ich hätte nicht anrufen sollen.«
»Sagen Sie's mir. Ich bin ganz Ohr.«
»Es hat in der Essensschlange immer Streitereien gegeben. Wir versuchen, sie zu verhindern, aber wir haben nur wenige Freiwillige, und die brauchen wir, um die Ruhe im Speisesaal aufrechtzuerhalten und das Essen auszugeben. Wir wissen auch, dass viele Kinder, die unser Essen brauchen, nicht mal in die Schlange kommen, weil sie weggeschubst werden. Und wenn wir es tatsächlich schaffen, die brutaleren Kinder aufzuhalten und einer von den Kleineren reinkommt, verprügeln sie ihn hinterher. Wir sehen die Kleinen danach nie wieder. Es ist hässlich.«
»Überleben des Stärkeren.«
»Des Grausameren. Zivilisation soll angeblich das Gegenteil davon sein.«
»Sie mögen zivilisiert sein. Die Kinder sind es nicht.«
»Jedenfalls hat sich das geändert. Ganz plötzlich. In den letzten paar Tagen. Ich weiß nicht, warum. Aber ich dachte - Sie sagten doch, dass alles Ungewöhnliche - und wer dahintersteckt - ich meine, kann sich Zivilisation urplötzlich entwickeln? Inmitten eines Dschungels von Kindern?«
»Das ist der einzige Ort, wo sie sich überhaupt entwickelt. Ich bin in Delft fertig. Hier gab es für uns nichts zu holen.«
Bean hielt sich in den nächsten Wochen im Hintergrund. Er hatte nichts mehr zu bieten - seine beste Idee gehörte ihnen schon. Und er wusste, dass die Dankbarkeit nicht lange andauern würde. Er war nicht groß, und er aß nicht viel, aber wenn er ununterbrochen im Weg stünde, die Leute ärgerte und auf sie einredete, würde es ihnen bald nicht nur Spaß machen, sie würden sich einen Sport daraus machen, ihm nichts zu Essen zu geben, in der Hoffnung, dass er endlich starb oder verschwand.
Dennoch spürte er häufig Achilles' Blicke. Er bemerkte es ohne Angst. Wenn Achilles ihn umbringen wollte, sollte das eben so sein. Es hatten ihn schon einmal nur wenige Tage vom Tod getrennt. Es würde einfach nur bedeuten, dass sein Plan nicht so gut funktionierte, aber da es sein einziger Plan gewesen war, zählte das nicht. Wenn Achilles sich erinnerte, wie Bean Poke gedrängt hatte, ihn zu töten - und selbstverständlich erinnerte er sich -, und wenn Achilles nun plante, wie und wann Bean sterben sollte, gab es nichts, was Bean tun konnte, um das zu verhindern.
Sich einzuschleimen würde nicht helfen. Das würde nur aussehen wie Schwäche, und Bean hatte schon oft beobachtet, wie Schläger - und Achilles war im Herzen immer noch einer - das Entsetzen anderer Kinder genossen und dass sie Leute sogar noch schlechter behandelten, wenn diese Schwäche zeigten. Er würde auch keine weiteren schlauen Ideen anbieten, erstens, weil er keine hatte, und zweitens, weil Achilles das für einen Affront gegen seine Autorität halten würde. Und die anderen Kinder würden sich ebenfalls daran stören, wenn Bean so tat, als wäre er der Einzige mit etwas Grips. Sie konnten ihn schon jetzt nicht leiden, weil er sich diesen Plan ausgedacht hatte, der ihr Leben veränderte.
Die Veränderung war nämlich unbestreitbar. Am ersten Morgen schickte Achilles Sergeant in die Schlange vor Helgas Suppenküche an der Aert van Nesstraat, denn wenn sie ohnehin windelweich geprügelt würden, sagte er, könnten sie es auch gleich mit dem besten Essen in Rotterdam versuchen, falls sie noch etwas davon abbekämen, bevor sie starben. So redete er, aber er ließ sie am Tag zuvor alles üben, bis es zu dunkel wurde, damit sie besser zusammenarbeiteten und sich nicht so schnell verrieten, wie sie es getan hatten, als sie sich mit ihm anlegten. Die Übung gab ihnen mehr Selbstvertrauen. Achilles sagte immer wieder: »Sie werden dies versuchen«, und: »Sie werden das erwarten«, und weil er selbst ein Schläger war, vertrauten sie ihm auf eine Weise, wie sie Poke nie vertraut hatten.
Poke, dumm wie immer, versuchte, sich weiterhin so zu verhalten, als hätte sie das Sagen und als hätte sie die Ausbildung nur an Achilles delegiert. Bean bewunderte, dass Achilles sich nicht mit ihr anlegte und dennoch seine Pläne und Anweisungen in keiner Weise änderte, wenn sie etwas sagte. Drängte sie ihn, etwas zu tun, was er bereits tat, tat er es einfach weiter. Es gab keinen Trotz, keinen Machtkampf. Achilles handelte, als hätte er schon gesiegt, und weil die anderen Kinder ihm folgten, war auch genau das der Fall.
Die Schlange vor Helgas Suppenküche bildete sich früh, und Achilles beobachtete sorgfältig, wie die Schläger, die später eintrafen, sich entsprechend einer Hierarchie in die Reihe stellten. Sie wussten, wer welches Vorrecht genoss. Bean versuchte die Kriterien zu verstehen, nach denen Achilles entschied, mit welchem Schläger Sergeant sich anlegen sollte. Es war nicht der schwächste, und diese Wahl war schlau, denn besiegten sie den schwächsten Schläger, würden sie nur jeden Tag weitere Kämpfe erleben. Es war aber auch nicht der stärkste. Während Sergeant über die Straße ging, versuchte Bean herauszufinden, was das Besondere an dem Schläger war, den sie ausgesucht hatten, und dann begriff er es: Es war der stärkste Schläger, der keine Freunde bei sich hatte.
Er war groß und sah gemein aus, also würde ein Sieg über ihn etwas hermachen. Aber er sprach mit niemandem und grüßte niemanden. Er befand sich außerhalb seines Territoriums, und mehrere andere Schlagetote warfen ihm schon ablehnende Blicke zu und versuchten ihn einzuschätzen. Es hätte an diesem Tag in der Schlange vielleicht einen Kampf gegeben, wenn Achilles nicht gerade diese Suppenküche und diesen Fremden ausgesucht hätte.
Sergeant war so kaltblütig, wie man es sich nur wünschen konnte, und stellte sich direkt vor dem Ziel in die Schlange. Einen Augenblick stand der Schläger nur da und starrte ihn an, als könne er nicht glauben, was er sah. Dieses kleine Kind würde doch sicher bald seinen tödlichen Fehler erkennen und wegrennen. Aber Sergeant benahm sich, als bemerke er nicht einmal, dass der Schläger da war.
»He!«, sagte der Schläger. Er versetzte Sergeant einen derben Schubs, und dem Winkel des Schubses nach hätte Sergeant aus der Schlange fliegen müssen. Aber Achilles hatte ihn angewiesen, den Fuß sofort aufzusetzen und sich nach vorn zu werfen, gegen den Schläger vor ihm, obwohl das nicht die Richtung war, in die der andere ihn geschubst hatte.
Der Schläger vorn drehte sich um und fauchte Sergeant an, der in kläglichem Tonfall erwiderte: »Er hat mich geschubst.«
»Er hat sich selbst geschubst«, sagte das Opfer.
»Sehe ich so dumm aus?«, fragte Sergeant.
Der Schläger vorn blickte den von Achilles ausgewählten Jungen abschätzend an. Ein Fremder. Zäh, aber nicht unbesiegbar. »Pass bloß auf, Klappergestell.«
Das war eine gewaltige Beleidigung unter Schlägern, da dünn zu sein für Unfähigkeit und Schwäche stand.
»Pass lieber selbst auf.«
Während dieses Austauschs führte Achilles eine ausgewählte Gruppe kleinerer Kinder auf Sergeant zu, der immer noch Leib und Leben riskierte, weil er zwischen den beiden Schlägern stehen blieb. Kurz bevor sie ihn erreichten, schossen zwei der jüngeren Kinder durch die Schlange auf die andere Seite und nahmen an der Wand direkt hinter dem Blickfeld des Ziels Aufteilung. Dann fing Achilles an zu brüllen.
»Was zum Teufel bildest du dir ein, du scheißfleckiges Stück Klopapier! Ich schicke meinen Jungen, damit er mir einen Platz in der Schlange freihält, und du schubst ihn? Du schubst ihn gegen meinen Freund?«
Selbstverständlich waren sie keine Freunde - Achilles war der Schläger mit dem geringsten Status in diesem Teil Rotterdams, und er hatte immer als Letzter in der Schlange gestanden. Aber der andere wusste das nicht, und er würde auch nicht die Zeit bekommen, es herauszufinden. Als er dazu ansetzte, sich gegen Achilles zu wenden, sprangen die Kleinen hinter ihm gegen seine Waden. Der übliche Austausch von Prahlereien und Rempeleien vor dem Kampf fiel flach. Achilles begann den Kampf mit brutaler Schnelligkeit und beendete ihn auch so. Er schubste ihn, während die Jüngeren herbeisprangen, und der Schläger fiel hart auf die gepflasterte Straße. Er lag halb betäubt und blinzelnd da. Aber schon reichten zwei andere kleine Kinder Achilles große Pflastersteine, und Achilles schleuderte sie eins, zwei auf die Brust seines Opfers. Bean hörte, wie die Rippen wie Zweige knackten.
Achilles packte den Schläger an seinem Hemd, riss ihn hoch und stieß ihn gleich wieder zu Boden. Der Schläger stöhnte und versuchte sich zu bewegen, stöhnte abermals und blieb dann still liegen.
Die anderen in der Reihe waren zurückgewichen. Was Achilles getan hatte, war ein Verstoß gegen das Protokoll. Wenn Schläger sich miteinander anlegten, taten sie das in den Gassen, und sie versuchten, einander nicht schwer zu verletzten, sondern kämpften nur, bis sie herausgefunden hatten, wer der Stärkere war. Das hier war neu - Pflastersteine zu benutzen und Knochen zu brechen. Es machte ihnen Angst; nicht, weil Achilles so erschreckend anzusehen war, sondern weil er etwas Verbotenes getan hatte, und das in aller Öffentlichkeit.
Sofort signalisierte Achilles Poke, den Rest der Bande zu holen und die Lücke in der Schlange zu schließen. Währenddessen stolzierte Achilles an der Schlange auf und ab und verkündete, so laut er konnte: »Wenn ihr mich nicht achtet, stört mich das nicht, ich bin schließlich nur ein Krüppel, ich bin nur ein Junge mit einem versauten Bein! Aber wagt nicht, meine Familie zu schubsen. Schubst keins meiner Kinder aus der Schlange! Habt ihr mich verstanden? Wenn ihr das tut, wird ein Laster diese Straße runterrasen, euch über den Haufen fahren und euch die Knochen brechen, genau, wie es gerade diesem Wurm da passiert ist, und beim nächsten Mal ist es vielleicht euer Schädel, der bricht, sodass das Gehirn auf die Straße spritzt. Also hütet euch vor schnellen Lastern wie dem, der dieses Furzhirn hier vor meiner Suppenküche umgefahren hat.«
Da war sie, die Herausforderung. Meine Suppenküche. Und Achilles hielt sich nicht zurück, zeigte keinen Hauch von Furchtsamkeit. Er machte weiter, hinkte an der Reihe auf und ab, starrte jedem Schläger ins Gesicht, forderte ihn zum Widerspruch heraus. Auf der anderen Seite der Reihe folgten die beiden Jüngeren, die geholfen hatten, den Fremden umzuwerfen, all seinen Bewegungen, und Sergeant stolzierte vergnügt und selbstzufrieden neben Achilles her. Sie strotzten nur so vor Selbstsicherheit, während die anderen Schläger über ihre Schultern schauten, um zu sehen, was diese Beingrabscher hinter ihnen vorhatten.
Es blieb nicht beim Gerede. Als einer der Schläger anfing, sich feindselig zu geben, stürzte sich Achilles sofort in den Kampf. Aber wie sie es eingangs geplant hatten, griff er nicht den Feindseligen an - der war auf Ärger vorbereitet. Stattdessen warfen sie sich auf den Jungen unmittelbar hinter ihm in der Schlange. Und während die Kleinen zu ihm sprangen, drehte sich Achilles um, schubste das neue Ziel und schrie: »Was findest du hier so verdammt komisch?« Schon hatte er wieder einen Pflasterstein in der Hand, mit dem er sich nun über den gestürzten Schläger beugte, aber er schlug nicht zu. »Verschwinde ans Ende der Schlange, Idiot! Du kannst froh sein, dass ich dich in meiner Küche essen lasse!«
Das nahm dem Feindseligen vollkommen den Wind aus den Segeln, denn der Schläger, den Achilles umgestoßen hatte und offensichtlich mit dem Stein hätte treffen können, war der nächstniedrigere in der Hackordnung. Also war der Feindselige weder bedroht noch verletzt worden, und dennoch hatte Achilles direkt vor seiner Nase einen Sieg errungen.
Die Tür zur Küche ging auf. Sofort war Achilles bei der Frau, die sie öffnete, strahlte sie an und begrüßte sie wie eine alte Freundin. »Danke, dass Sie uns heute zu essen geben«, sagte er. »Ich werde heute als Letzter essen. Danke, dass Sie meine Freunde hereinlassen. Danke, dass Sie meiner Familie zu essen geben.«
Die Frau an der Tür wusste, wie es auf der Straße zuging. Sie kannte auch Achilles, und ihr war sofort klar, dass hier etwas sehr Seltsames am Laufen war. Achilles aß immer nach den größeren Jungen und tat das für gewöhnlich eher verlegen. Aber noch bevor diese neue gönnerhafte Haltung lästig werden konnte, hatten die Ersten von Pokes Bande die Tür erreicht. »Meine Familie«, verkündete Achilles stolz und schob die kleinen Kinder nach drinnen. »Bitte passen Sie gut auf meine Kinder auf.«
Selbst Poke bezeichnete er als sein Kind. Sie ließ sich nicht anmerken, dass diese Demütigung sie störte. Alles, was sie interessierte, war das Wunder, tatsächlich in die Suppenküche zu kommen. Der Plan hatte funktioniert.
Und ob sie es nun für ihren eigenen oder für Beans Plan hielt, interessierte Bean nicht die Bohne, zumindest nicht, bevor er die erste Suppe im Mund hatte. Er aß sie so langsam wie möglich, aber sie war dennoch so schnell weg, dass er es kaum glauben konnte. War das alles? Und wie war es ihm gelungen, so viel von dem kostbaren Zeug auf sein Hemd zu kippen?
Rasch steckte er sein Brot unters Hemd und eilte zur Tür. Das Brot einpacken und gehen, so hatte Achilles es sich gedacht, und es war ein guter Plan. Einige Schläger würden Vergeltung wollen. Der Anblick von kleinen Kindern, die aßen, würde sie noch mehr aufbringen. Sie würden sich schon bald daran gewöhnen, hatte Achilles versprochen, aber an diesem ersten Tag war es wichtig, dass alle kleinen Kinder verschwanden, solange die Schläger noch mit Essen beschäftigt waren.
Als Bean die Tür erreichte, kamen immer noch Kids herein, und Achilles stand an der Tür und unterhielt sich mit der Frau über den tragischen Unfall in der Schlange. Jemand hatte die Sanitäter gerufen, und sie hatten den verletzten Jungen weggebracht - er lag nicht mehr stöhnend auf der Straße. »Es hätte auch eins von den kleineren Kindern sein können«, sagte Achilles. »Wir brauchen einen Polizisten hier draußen, der auf den Verkehr achtet. Dieser Fahrer wäre nie so achtlos gewesen, wenn es hier einen Polizisten gäbe.«
Die Frau stimmte zu. »Es hätte schrecklich enden können. Es heißt, mehrere seiner Rippen seien gebrochen und in die Lunge gedrungen.« Sie sah bedrückt aus und rang die Hände.
»Die Schlange bildet sich schon, wenn es noch dunkel ist. Es ist gefährlich. Könnten wir hier draußen vielleicht ein Licht haben? Ich muss an meine Kinder denken«, sagte Achilles. »Wollen Sie nicht auch, dass meine Kleinen in Sicherheit sind? Oder bin ich hier der Einzige, der sich um sie kümmert?«
Die Frau murmelte etwas von Geld und dass die Suppenküche kein großes Budget habe.
Poke zählte die Kinder an der Tür, während Sergeant sie auf die Straße hinausdrängte.
Bean, der sah, wie Achilles versuchte, die Erwachsenen dazu zu bringen, sie in der Schlange zu beschützen, kam zu dem Schluss, dass dies der richtige Zeitpunkt war, sich nützlich zu machen. Da diese Frau Mitleid hatte und Bean bei weitem das kleinste Kind war, wusste er, dass er die meiste Macht über sie haben würde. Er ging zu ihr und zupfte an ihrem Wollrock. »Danke, dass Sie auf uns aufpassen«, sagte er. »Es ist das erste Mal, dass ich je in eine richtige Suppenküche gekommen bin. Papa Achilles hat uns gesagt, dass Sie auf uns aufpassen werden, sodass wir Kleinen hier jeden Tag essen können.«
»Ach, du armes Ding! Ach, sieh dich doch an!« Tränen liefen der Frau über die Wangen. »Ach, du armer, kleiner Schatz!« Sie umarmte ihn.
Achilles sah strahlend zu. »Ich muss auf sie aufpassen«, sagte er leise. »Ich sorge dafür, dass sie in Sicherheit sind.«
Dann führte er seine Familie - es war in keiner Weise mehr Pokes Bande - von Helgas Suppenküche weg, alle in einer Reihe. Sie bewegten sich ruhig und ordentlich, bis sie die erste Ecke hinter sich hatten, und dann rannten sie wie verrückt, fassten sich an den Händen und liefen so weit wie möglich von Helgas Küche weg. Für den Rest des Tages mussten sie sich bedeckt halten. Die Schläger würden in Zweier-und Dreiergruppen nach ihnen suchen.
Aber sie konnten es sich leisten, sich bedeckt zu halten, denn sie brauchten heute kein Essen mehr zu suchen. Die Suppe hatte ihnen schon mehr Kalorien geliefert, als sie sonst bekamen, und sie hatten immer noch das Brot.
Selbstverständlich gehörte ein Anteil an diesem Brot Achilles, der keine Suppe bekommen hatte. Jedes Kind bot seinem neuen Papa ehrfürchtig sein Brot dar, und er biss von jedem Stück ab, kaute langsam und schluckte, bevor er nach dem nächsten dargebotenen Brot griff. Es war ein recht langwieriges Ritual. Achilles nahm einen Bissen von jedem Stück Brot, außer bei zwei Kindern: Poke und Bean.
»Danke«, sagte Poke.
Sie war so dumm, dass sie es für eine Geste des Respekts hielt. Bean wusste es besser. Indem er ihr Brot nicht aß, stellte Achilles sie außerhalb der Familie. Wir sind tot, dachte Bean.
Deshalb hielt er sich zurück, sprach kein Wort und blieb in den nächsten paar Wochen unauffällig. Deshalb versuchte er auch, nie allein zu sein. Er bewegte sich immer in Armeslänge von einem der anderen Kinder.
Aber er mied die Nähe von Poke. Das war ein Bild, das er dem Gedächtnis der anderen nicht einprägen wollte: wie er neben Poke hertrabte.
Vom zweiten Morgen an stand ein Erwachsener vor Helgas Suppenküche, der alles beobachtete, und am dritten Tag gab es eine neue Lampe. Am Ende der Woche war der erwachsene Wächter ein Polizist. Achilles brachte seine Gruppe nie aus dem Versteck, bevor der Erwachsene Posten bezogen hatte, und dann führte er die ganze Familie direkt zum Anfang der Schlange und dankte dem Schläger ganz vorn laut und vernehmlich dafür, dass er ihm half, für seine Familie zu sorgen, indem er ihnen einen Platz in der Schlange freihielt.
Aber es war schwer zu ertragen, wie die Schläger sie anstarrten. Sie mussten sich, solange der Wachtposten zusah, gut benehmen, aber sie hegten eindeutig Mordgedanken.
Es wurde auch nicht besser. Die Schläger »gewöhnten« sich nicht daran, obwohl Achilles den Kids am Anfang genau das versprochen hatte. Deshalb wusste Bean - auch wenn er beschlossen hatte, unauffällig zu bleiben -, dass er etwas tun musste, um den Hass der Schläger abzulenken, denn Achilles, der den Krieg bereits für gewonnen hielt, würde sich nicht darum kümmern.
Also nahm Bean eines Morgens seinen Platz in der Schlange ein und hielt sich bewusst zurück, bis er der Letzte der Familie war. Für gewöhnlich bildete Poke die Nachhut - das war ihre Art, so zu tun, als wäre sie immer noch daran beteiligt, die Kleinen in die Küche zu bringen. Aber diesmal stellte sich Bean entschlossen hinter sie, und der hasserfüllte Blick des Schlägers, der eigentlich der Erste in der Schlange gewesen war, brannte sich in seinen Scheitel.
Direkt an der Tür, vor der die Frau mit Achilles stand, als beide stolz seine Familie betrachteten, drehte sich Bean zu dem Schläger hinter sich um und fragte, so laut er konnte: »Wo sind eigentlich deine Kinder? Wie kommt es, dass du deine Kinder nicht in die Küche bringst?«
Der Schläger hätte etwas Giftiges gesagt, aber die Frau an der Tür sah mit hochgezogenen Brauen zu. »Du kümmerst dich auch um kleine Kinder?«, fragte sie. Es war offensichtlich, dass sie von der Idee entzückt war und sich wünschte, er würde mit ja antworten. Und so dumm dieser Schläger sein mochte, er wusste, dass man sich mit Erwachsenen, die Essen ausgaben, gut stellen musste. Also sagte er: »Selbstverständlich. «
»Nun, du kannst sie ebenfalls herbringen. Genau wie Papa Achilles hier. Wir sind immer froh, kleine Kinder zu sehen.«
Wieder krähte Bean: »Sie lassen Leute mit kleinen Kindern zuerst rein!«
»Weißt du was, das ist wirklich eine gute Idee!«, beteuerte die Frau. »Ich denke, das machen wir zur Regel. Und jetzt geht weiter; wir halten die hungrigen Kinder nur auf.«
Bean sah Achilles nicht einmal an, als er nach drinnen ging.
Als sie später nach dem Frühstück das Ritual vollzogen, bei dem Achilles sein Brot entgegennahm, hielt auch Bean demonstrativ seinen Kanten hin, obwohl die Gefahr bestand, dadurch alle daran zu erinnern, dass Achilles nie einen Anteil von ihm nahm. Heute mussten sie jedoch sehen können, wie Achilles mit ihm umging, weil er so dreist und aufdringlich gewesen war.
»Wenn sie alle kleine Kinder mitbringen, geht ihnen schneller die Suppe aus«, sagte Achilles kühl. Seine Augen verrieten rein gar nichts - auch das war eine Botschaft.
»Wenn sie alle Papas werden«, sagte Bean, »werden sie nicht versuchen uns umzubringen.«
Bei dieser Bemerkung kam so etwas wie Leben in Achilles' Blick. Er griff nach unten und nahm das Brot aus Beans Hand. Er biss in die Kruste und riss ein großes Stück heraus. Mehr als die Hälfte. Er stopfte es sich in den Mund und kaute langsam, dann gab er Bean den Rest zurück.
Bean bekam später am Tag Hunger, aber das war es wert. Es war keine Garantie, dass Achilles ihn nicht irgendwann doch umbrachte, aber zumindest sonderte er ihn nicht mehr vom Rest der Familie ab. Und dieses Stück Brot war immer noch mehr, als er früher an einem Tag bekommen hatte. Oder sogar in einer Woche.
Er setzte langsam an. In seinen Armen und Beinen wuchsen wieder Muskeln. Er war nicht mehr vollkommen erschöpft, nur weil er die Straße überquerte. Er konnte jetzt leicht Schritt halten, wenn die anderen liefen. Sie hatten alle mehr Kraft. Verglichen mit Straßenkindern, die keinen Papa hatten, waren sie gesund. Jeder sah das. Es würde den anderen Schlägern nicht schwerfallen, eigene Familien zu bilden.
Schwester Carlotta rekrutierte Kinder für das Ausbildungsprogramm der Internationalen Flotte. Das hatte in ihrem Orden zu einiger Kritik geführt, aber schließlich hatte sie es durchgesetzt, indem sie ihren Oberen verschleiert drohte und sich auf den Erdverteidigungsvertrag berief. Meldete sie, dass der Orden ihre Arbeit für die IF behinderte, konnte er seine Steuerbefreiung und die Befreiung vom Wehrdienst verlieren. Dabei wusste sie, wenn der Krieg zu Ende war und der Vertrag auslief, würde sie wahrscheinlich eine heimatlose Nonne sein, denn bei den Schwestern von St. Nikolaus würde es keinen Platz mehr für sie geben.
Aber sie war vollkommen überzeugt, dass ihr Auftrag in diesem Leben darin bestand, sich um kleine Kinder zu kümmern, und so, wie sie es sah, würden alle kleinen Kinder der Erde sterben, wenn die Schaben die nächste Runde des Krieges gewannen. Das hatte Gott doch sicher nicht gewollt. Schwester Carlotta hielt es allerdings auch nicht für Gottes Willen, dass seine Diener einfach nur dasaßen und darauf warteten, dass er ein Wunder wirke, um sie zu retten. Er wollte, dass sie sich nach Kräften bemühten, zur allgemeinen Rechtschaffenheit beizutragen. Also sah sie ihre Arbeit als Schwester von St. Nikolaus darin, ihre Ausbildung in Entwicklungspädagogik einzusetzen, um der Flotte bei der Kriegsführung zu helfen. Solange die IF es für wert erachtete, hochbegabte Kinder zu rekrutieren und sie für Offiziers- stellen in den künftigen Kriegen auszubilden, würde sie ihnen helfen, indem sie jene Kinder testete, die sonst übersehen würden. Die Flotte hätte nie jemanden dafür bezahlt, etwas so Fruchtloses zu tun, wie auf den schmutzigen Straßen aller möglichen überfüllten Städte der Welt die unterernährten wilden Kinder zu testen, die dort bettelten, stahlen und hungerten, denn die Chance, ein Kind mit der Intelligenz, den Fähigkeiten und dem Charakter zu finden, die erforderlich waren, um sich in der Kampfschule zurechtzufinden, war minimal.
Für Gott war jedoch alles möglich. Hatte er nicht gesagt, dass die Schwachen stark und die Starken schwach sein würden? War Jesus nicht als Sohn eines einfachen Zimmermanns und seiner Braut in der ländlichen Provinz Galiläa zur Welt gekommen? Die hohe Intelligenz von Kindern aus privilegierten Familien oder sogar aus solchen, die gerade so zurechtkamen, zeigte ja wohl kaum die wunderbare Kraft Gottes. Und es war das Wunder, nach dem sie suchte. Gott hatte die Menschen nach seinem Bilde geschaffen, Männer und Frauen. Insektoide von einem anderen Planeten durften das, was Gott geschaffen hatte, nicht zerstören.
Im Laufe der Jahre hatte ihr Enthusiasmus ein wenig nachgelassen, nicht aber ihr Glaube. Nicht ein Kind hatte bei den Tests wirklich gut abgeschnitten. Ein paar waren tatsächlich von der Straße geholt und ausgebildet worden, aber nicht in der Kampfschule. Sie hatten nicht den Weg eingeschlagen, der sie vielleicht dazu führte, die Welt zu retten. Also hatte sie angefangen zu glauben, dass ihre wirkliche Arbeit einer anderen Art von Wunder diente - den Kindern Hoffnung zu geben und zumindest ein paar zu finden, die aus dem Sumpf herausgeholt und von den örtlichen Behörden besonders beachtet wurden. Sie war stets darauf bedacht, die vielversprechendsten Kinder zu identifizieren, und schrieb dann zahlreiche E-Mails über sie an die zuständigen Behörden. Einige ihrer frühen Erfolge hatten das College bereits hinter sich; sie erklärten, dass sie Schwester Carlotta ihr Leben verdankten, aber die Schwester wusste, sie verdankten es Gott.
Dann kam der Anruf von Helga Braun aus Rotterdam, die ihr von gewissen Veränderungen bei den Kindern erzählte, die zu ihrer Suppenküche kamen. Zivilisierung hatte sie es genannt. Die Kinder waren ganz von selbst plötzlich zivilisiert worden.
Schwester Carlotta fuhr sofort nach Rotterdam, um sich etwas anzusehen, das wirklich nach einem Wunder klang. Und tatsächlich, als sie es mit eigenen Augen sah, konnte sie es kaum glauben. In der Schlange für das Frühstück wimmelte es nun von kleinen Kindern. Statt dass die Größeren sie aus dem Weg schubsten oder so sehr einschüchterten, dass sie sich nicht einmal hereinzukommen trauten, hüteten sie sie, schützten sie und sorgten dafür, dass jedes seinen Anteil bekam. Helga war zunächst in Panik geraten, weil sie Angst hatte, ihr könne das Essen ausgehen - aber sie stellte fest, dass potenzielle Wohltäter positiv darauf reagierten, wie diese Kinder sich verhielten, und die Spenden mehr wurden. Es gab jetzt immer genug, gar nicht zu reden von einer größeren Zahl an Freiwilligen.
»Ich war vollkommen verzweifelt«, bekannte sie Schwester Carlotta. »Eines Tages sagten sie mir, ein Laster habe einen der Jungen angefahren und ihm die Rippen gebrochen. Das war selbstverständlich eine Lüge, aber da lag er, gleich neben der Schlange. Sie haben nicht einmal versucht, ihn vor mir zu verstecken. Ich wollte schon aufgeben. Ich wollte die Kinder Gott überlassen und zu meinem ältesten Sohn nach Frankfurt ziehen, wo die Regierung nicht durch den Vertrag gezwungen ist, jeden Flüchtling aus jedem Teil der Welt aufzunehmen.«
»Ich bin froh, dass Sie es nicht getan haben«, entgegnete Schwester Carlotta. »Sie können sie nicht Gott überlassen, wenn Gott sie uns überlassen hat.«
»Tja, das ist das Komische daran. Vielleicht hat dieser Kampf in der Schlange den Kindern klargemacht, was für ein entsetzliches Leben sie führen, denn von diesem Tag an hat einer der großen Jungen - eigentlich der Schwächste von ihnen wegen seines schlimmen Beins, sie nennen ihn Achilles - nun, wahrscheinlich habe ich ihm diesen Namen vor Jahren gegeben, weil Achilles eine schwache Ferse hatte, wissen Sie? - jedenfalls, dieser Achilles - er tauchte mit einer Gruppe kleiner Kinder in der Schlange auf. Er hat mich praktisch um Schutz gebeten und mich gewarnt, dass das, was dem armen Jungen mit den gebrochenen Rippen - ich habe ihn Odysseus getauft, weil er immer von einer Suppenküche zur anderen wandert - er liegt noch im Krankenhaus, seine Rippen waren völlig zertrümmert; können Sie sich so eine Brutalität vorstellen? - jedenfalls, dieser Achilles hat mich gewarnt, dass das Gleiche auch den kleinen Kindern zustoßen könnte, also habe ich mich besonders angestrengt, bin früh gekommen, um die Schlange zu bewachen, und habe die Polizei so lange genervt, bis sie mir Leute geschickt hat, zunächst Freiwillige, die nicht im Dienst waren und einen Hungerlohn dafür bekamen, aber jetzt sind es reguläre Polizisten ... Sie denken vielleicht, ich hätte die Schlange doch die ganze Zeit im Auge behalten können, aber Sie müssen verstehen. Es hätte keinen Unterschied gemacht, weil sie die Kleineren nicht unbedingt hier in der Schlange eingeschüchtert haben, sie haben es getan, wo ich es nicht sah, also ganz gleich, wie sehr ich auch über sie wachte, es waren nur die größeren, gemeineren Jungen, die in der Schlange standen, und ja, ich weiß, auch sie sind Gottes Kinder, und ich habe sie gefüttert und versucht, ihnen Gottes Wort zu predigen, während sie aßen, aber ich hatte schon ziemlich die Hoffnung verloren, sie waren so herzlos, so vollkommen ohne Mitgefühl. Dann hat Achilles eine ganze Gruppe übernommen, darunter das kleinste Kind, das ich je auf der Straße gesehen habe. Ein Junge, es hat mir einfach das Herz zerrissen. Sie nennen ihn Bean, und er ist so klein, sah aus wie ein Zweijähriger, obwohl er, wie ich inzwischen erfahren habe, schon vier Jahre alt ist, und er redet, als wäre er mindestens zehn. Sehr frühreif. Darum ist er wohl auch lange genug am Leben geblieben, um unter Achilles' Schutz zu gelangen, aber er war nur Haut und Knochen. Die Leute sagen das immer, wenn jemand dünn ist, aber im Fall des kleinen Bean stimmt es wirklich. Ich weiß nicht, wie er überhaupt Muskeln genug hatte, um zu laufen oder auch nur aufrecht zu stehen. Seine Arme und Beine waren so dünn wie bei einem Insekt - oh, ist das nicht schrecklich? Ihn mit den Schaben zu vergleichen? Oder sollte ich lieber sagen, den Formics, ›Schaben‹ klingt so abwertend, finden Sie nicht auch?«
»Sie sagen also, Helga, es habe mit diesem Achilles angefangen? «
»Bitte nennen Sie mich Hazie. Wir sind doch jetzt Freundinnen, oder?« Sie griff nach Schwester Carlottas Hand. »Sie müssen diesen Jungen kennen lernen. So ein Mut! So eine Voraussicht! Testen Sie ihn, Schwester Carlotta, er ist ein Anführer! Er ist ein Zivilisator!«
Schwester Carlotta wies sie nicht darauf hin, dass Zivilisatoren häufig keine guten Soldaten abgaben. Es genügte, dass der Junge interessant war, und sie hatte ihn beim ersten Mal verpasst. Das erinnerte sie wieder einmal daran, wie sorgfältig sie vorgehen musste.
Am frühen Morgen, als es noch dunkel war, erschien Schwester Carlotta an der Tür der Suppenküche, wo sich die Schlange bereits gebildet hatte. Helga winkte ihr zu und deutete dann recht auffällig auf einen ziemlich gut aussehenden Jungen, der von kleineren Kindern umgeben war. Erst als Schwester Carlotta näher kam und sah, wie er ein paar Schritte machte, erkannte sie, wie stark sein rechtes Bein verkrüppelt war. Sie versuchte, eine Diagnose zu stellen. War es ein Fall von Rachitis? Oder ein Klumpfuß, der nie korrigiert worden war? Ein falsch geheilter Bruch?
Das zählte allerdings kaum. Mit einer solchen Verletzung würde die Kampfschule ihn nicht nehmen.
Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Es gab viele Gefahren, nach denen man Ausschau halten musste. Zum Beispiel Polizisten. Sie ließen sich nicht oft sehen, aber wenn sie auftauchten, schienen sie vor allem die Kinder von der Straße schaffen zu wollen. Sie schlugen mit ihren Magnetpeitschen auf sie ein, brachten selbst den Kleinsten grausam brennende Striemen bei und bezeichneten sie in ihren Strafpredigten als Gesocks, diebisches Gesindel und eine Pest, die die schöne Stadt Rotterdam heimgesucht habe. Es war Pokes Aufgabe, sofort zu bemerken, wenn Unruhe in der Ferne darauf schließen ließ, dass die Polizei eine Razzia veranstaltete. Dann stieß sie den Alarmpfiff aus, und die Kleinen eilten in ihre Verstecke, bis die Gefahr vorüber war.
Aber Polizisten kamen nicht so oft vorbei. Die wirkliche Gefahr war viel unmittelbarer: größere Kinder. Poke war mit neun Jahren die Matriarchin ihrer kleinen Bande (nicht, dass einer von ihnen sicher gewusst hätte, dass sie ein Mädchen war), aber das half nichts gegen die elf-, zwölf-und dreizehnjährigen Jungen und Mädchen, die kleinere Straßenkinder schikanierten. Die erwachsenen Bettler, Diebe und Huren achteten nicht auf die kleinen Kinder oder traten sie höchstens aus dem Weg. Aber die älteren Kinder, die ebenfalls getreten wurden, drehten sich dann um und stürzten sich auf die jüngeren. Jedes Mal, wenn Pokes Bande etwas zu essen fand - besonders, wenn es sich um eine verlässliche Abfall- quelle oder eine Stelle handelte, wo man leicht eine Münze oder ein wenig Essen bekommen konnte -, mussten sie gut aufpassen und ihre Beute sofort verstecken, denn die älteren Kinder taten nichts lieber, als den kleineren auch noch den winzigsten Rest Essen abzunehmen. Jüngere Kinder zu bestehlen war viel sicherer, als es bei Läden oder Passanten zu versuchen. Und es machte ihnen Spaß, das sah Poke genau. Es gefiel diesen Tyrannen und Schlägern, wie die kleinen Kinder sich duckten und gehorchten, wie sie wimmerten und den Schlägern gaben, was immer sie verlangten.
Als der dünne kleine Zweijährige sich also auf der anderen Straßenseite oben auf eine Mülltonne hockte, bemerkte Poke ihn sofort. Der Junge sah hungrig aus. Nein, er war am Verhungern. Dünne Arme und Beine, lächerlich groß erscheinende Gelenke, ein aufgeblähter Bauch. Und wenn der Hunger ihn nicht bald umbrachte, würde der Herbst es tun, denn seine Kleidung war viel zu dünn, und er hatte zu wenig an.
Normalerweise hätte Poke einem so kleinen Kind nur flüchtig ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Aber der hier hatte wache Augen. Er sah sich voller Intelligenz um. Er hatte nichts von der Starrheit der lebenden Toten, die nicht mehr nach Essen suchten und nicht einmal mehr einen bequemen Platz finden wollten, an dem sie ein letztes Mal die stinkende Luft Rotterdams einatmen konnten. Der Tod war für sie keine große Veränderung. Jeder wusste, dass Rotterdam vielleicht nicht die Hauptstadt, aber zweifellos der Vorort der Hölle war. Der einzige Unterschied zwischen Rotterdam und dem Tod bestand darin, dass in Rotterdam die Verdammnis nicht ewig dauerte.
Dieser kleine Junge - was machte er da? Er stöberte nicht nach Nahrung. Er beobachtete nicht die Passanten. Aber das war auch egal - niemand würde einem so kleinen Kind etwas geben. Alles, was er bekäme, würde ihm ein anderes Kind sofort wegnehmen. Warum sollte man sich also die Mühe machen? Wenn er überleben wollte, sollte er den Älteren folgen und das Einwickelpapier ablecken, das sie zurückließen, nach einem letzten Rest von glänzendem Zucker oder staubigem Mehl auf der Packung suchen, nach irgendetwas, was die, die zuerst gekommen waren, nicht schon abgeleckt hatten. Hier draußen hielt die Straße nichts für dieses Kind bereit, es sei denn, eine Bande nahm es auf, und Poke würde es nicht aufnehmen. Es würde sie nur belasten, und es ging ihren Kids auch so schon schlecht genug, ohne noch ein nutzloses Maul stopfen zu müssen.
Er wird fragen, dachte sie. Er wird winseln und betteln, aber das klappt nur bei reichen Leuten. Ich muss an meine Bande denken. Er gehört nicht dazu, also interessiert er mich nicht. Selbst wenn er so klein ist. Er ist nichts für mich.
Zwei zwölfjährige Nutten, die normalerweise nicht in dieser Gegend arbeiteten, bogen um eine Ecke und kamen auf Pokes Standort zu. Poke stieß einen leisen Pfiff aus. Die Kids zerstreuten sich sofort. Sie blieben auf der Straße, versuchten aber, nicht wie eine Bande auszusehen.
Es half nichts. Die Nutten wussten, dass Poke eine Bande hatte, und schon hatten sie sie an den Armen gepackt, gegen eine Wand gestoßen und ihren »Anteil« verlangt. Poke versuchte erst gar nicht zu behaupten, dass sie nichts hatte - sie bemühte sich, immer etwas in Reserve zu haben, um hungrige Schläger friedlich zu stimmen. Was diese Nutten anging, so war Poke vollkommen klar, wieso sie hungerten. Sie waren nicht nach dem Geschmack der Pädophilen, die hier vorbeikamen. Dafür waren sie zu hager und sahen zu alt aus. Solange sie also noch keine Rundungen hatten und für die geringfügig weniger perversen Kunden interessant wurden, mussten sie vom Müll leben. Es machte Poke rasend, wenn solche Typen sie und ihre Bande bestahlen, aber es war klüger, ihnen etwas zu geben. Schlugen sie sie zusammen, würde sie schließlich nicht mehr auf ihre Bande aufpassen können, oder? Also brachte sie die beiden zu einem ihrer Verstecke und holte eine kleine Bäckereitüte heraus, in der noch ein halbes Stück Kuchen steckte.
Es war trocken, weil Poke es schon einige Tage für so eine Gelegenheit aufbewahrt hatte, aber die Nutten griffen danach, rissen die Tüte auf, und eine von ihnen biss mehr als die Hälfte ab, bevor sie ihrer Freundin den Rest gab. Genauer gesagt, ihrer ehemaligen Freundin, denn ein solches Beute- verhalten führt zu Streit.
Die beiden fingen sofort an, sich zu zanken, schrien einander an, ohrfeigten einander, kratzten einander mit ihren Klauenhänden. Poke behielt sie genau im Auge und hoffte, sie würden den Rest des Kuchenstücks fallen lassen, aber so viel Glück war ihr nicht vergönnt. Das restliche Kuchenstück wanderte in den Mund desselben Mädchens, das schon den ersten Bissen genommen hatte - und es war auch dieses Mädchen, das den Kampf gewann und das andere in die Flucht schlug.
Als Poke sich umdrehte, stand der kleine Junge direkt hinter ihr. Sie wäre beinahe über ihn gestürzt. Zornig, wie sie war, weil sie diesen Straßenhuren etwas hatte geben müssen, stieß sie ihn mit dem Knie, und er fiel hin. »Stell dich nicht hinter Leute, wenn du nicht umgeworfen werden willst«, fauchte sie.
Er stand einfach auf und sah sie erwartungsvoll und fordernd an.
»Nein, du kleiner Mistkerl, du kriegst nichts von mir«, sagte Poke. »Für dich nehme ich meinen Leuten nichts weg - es schert mich einen Dreck, ob du vor die Hunde gehst.«
Ihre Bande versammelte sich nun langsam wieder, nachdem die Huren verschwunden waren.
»Warum hast du ihnen dein Essen gegeben?«, fragte der Junge. »Du brauchst das Essen doch.«
»Ach wirklich?«, antwortete Poke. Sie hob ihre Stimme, sodass die Bande sie hören konnte. »Vielleicht solltest du hier der Boss sein. So groß, wie du bist, hättest du dir das Essen bestimmt nicht abnehmen lassen.«
»Bestimmt nicht«, sagte der Junge. »Aber ich scheredich doch einen Dreck, schon vergessen?«
»Das habe ich nicht vergessen. Aber du hast es anscheinend vergessen, sonst würdest du die Klappe halten.«
Ihre Bande lachte.
Der kleine Junge lachte nicht. »Ihr braucht auch so einen Schläger.«
»Wir brauchen keinen Schläger, wir sind froh, wenn wir die los sind«, antwortete Poke. Es gefiel ihr nicht, dass er weiterredete und nicht aufgab. Gleich würde sie ihm wehtun müssen.
»Jeden Tag müsst ihr Essen an solche Typen abgeben. Gebt lieber einem etwas und bringt ihn dazu, die anderen zu verjagen. «
»Glaubst du etwa, daran hätte ich noch nicht gedacht, Blödmann?«, fragte sie. »Aber wie soll ich ihn denn an uns binden, wenn ich ihn bestochen habe? Er würde nicht für uns kämpfen.«
»Dann bring ihn eben um«, sagte der Junge.
Das machte Poke wütend, diese lächerliche Absurdität, die Anziehungskraft einer Überlegung, von der sie wusste, dass sie zu nichts führte. Wieder schubste sie ihn, und diesmal trat sie zu, als er am Boden lag. »Vielleicht sollte ich dich umbringen.«
»Vergiss nicht, ich schere dich einen Dreck«, keuchte der Junge. »Bring doch so einen Brutalski um und sorge dafür, dass ein anderer für euch kämpft. Er wird dein Essen wollen und Angst vor dir haben.«
Sie wusste nicht, was sie zu einem so absurden Vorschlag sagen sollte.
»Sie fressen euch alle auf«, zischte der Junge. »Also bring einen um. Liegt er erst am Boden, ist er auch nicht größer als ich. Steine zertrümmern Schädel von jeder Größe.«
»Du nervst«, sagte sie.
»Weil du daran noch nie gedacht hast, stimmt's?«
Er riskierte den Tod, so mit ihr zu sprechen. Wenn sie ihn auch nur ein bisschen verletzte, war es aus mit ihm - das durfte er nicht vergessen.
Andererseits lauerte das Siechtum schon in seinem fadenscheinigen kleinen Hemd. Es machte wohl keinen großen Unterschied mehr, wenn er dem Tod noch ein wenig näher rückte.
Poke sah ihre Bande an. Sie konnte ihre Mienen nicht deuten.
»Ich lasse mir doch nicht von einem Baby sagen, wen ich umbringen soll.«
»Ein kleines Kind bückt sich hinter ihm, du schubst ihn, er kippt über«, raunte der Junge. »Du hast schon große Steine vorbereitet. Backsteine. Zertrümmere sie auf seinem Schädel. Siehst du das Hirn, ist er erledigt.«
»Tot nützt er mir nichts«, erwiderte sie. »Ich will einen Schläger, der auf uns aufpasst. Was soll ich mit einem toten Schläger?«
Der Junge grinste. »Jetzt gefällt dir meine Idee also.«
»Schlägern kann man nicht trauen.«
»Er kann vor der Suppenküche auf euch aufpassen«, schlug der Junge vor. »Dann kommt ihr in die Küche rein.« Er sah ihr weiter in die Augen, sprach aber so laut, dass auch die anderen ihn verstehen konnten. »Er kann euch alle in die Küche bringen.«
»Wenn kleine Kinder in die Suppenküche gehen, schlagen die großen sie«, warf Sergeant ein. Er war acht und verhielt sich meistens so, als sei er Pokes Stellvertreter, obwohl sie gar keinen Stellvertreter hatte.
»Hast du einen Schläger, verjagt er die anderen.«
»Wie soll ein Schläger zwei andere aufhalten? Oder drei?«, fragte Sergeant.
»Wie gesagt«, antwortete der Junge, »schubst sie um, dann sind sie nicht mehr so groß. Besorgt euch Steine. Seid bereit. Du bist doch Soldat! Nennen sie dich nicht Sergeant?«
»Rede nicht mit ihm, Sarge«, sagte Poke. »Was kümmert uns das Geschwätz eines Zweijährigen?«
»Ich bin vier«, berichtigte der Junge.
»Wie heißt du?«, fragte Poke.
»Hab keinen Namen.«
»Du meinst wohl, du bist so dumm, dass du dich nicht daran erinnern kannst.«
»Hab keinen Namen«, wiederholte er. Immer noch sah er ihr in die Augen, obwohl er weiter am Boden lag, umgeben von der Bande.
»Du scherst mich einen Dreck«, sagte sie.
»Glaube ich nicht«, entgegnete er.
»Allerdings«, sagte Sergeant. »Weil du dumm wie Bohnenstroh bist.«
»Bohnen?«, lachte Poke. »Dann hast du deinen Namen weg. Du heißt jetzt Bean. Setz dich wieder auf den Mülleimer, und ich lass mir durch den Kopf gehen, was du gesagt hast.«
»Ich brauche was zu essen.«
»Wenn ich einen Schläger habe und dein Plan funktioniert, gebe ich dir vielleicht was.«
»Ich brauche jetzt etwas.«
Sie wusste, dass das stimmte.
Sie steckte die Hand in die Tasche und holte sechs Erdnüsse heraus, die sie aufgehoben hatte. Er setzte sich hin und nahm nur eine aus ihrer Hand, steckte sie in den Mund und kaute langsam.
»Nimm sie alle, Bean«, sagte sie ungeduldig.
Er streckte die kleine Hand aus. Sie war schwach. Er konnte keine Faust machen. »Kann sie nicht alle halten«, raunte er. »Halten kann ich nicht gut.«
Verdammt. Sie verschwendete gute Erdnüsse an ein Kind, das sowieso sterben würde.
Aber sie würde seine Idee ausprobieren. Es war verwegen, aber es war der erste Plan, von dem sie je gehört hatte, bei dem die Möglichkeit bestand, dass sie ihr elendes Leben ändern konnte, ohne Mädchenkleider anziehen und auf den Strich gehen zu müssen. Und da es seine Idee gewesen war, musste die Bande sehen, dass sie ihn gerecht behandelte. So blieb man Boss. Sie mussten immer sehen, dass man fair war.
Also hielt sie so lange die Hand hin, bis er alle sechs Erdnüsse gegessen hatte, eine nach der anderen.
Nachdem er die letzte hinuntergeschluckt hatte, sah er Poke noch einmal in die Augen. »Aber du musst bereit sein, ihn zu töten.«
»Ich will ihn lebendig.«
»Du musst ihn töten, wenn er nicht der Richtige ist.« Damit schlurfte Bean über die Straße zu seinem Mülleimer und kletterte mühsam wieder dort hinauf, wo er alles beobachten konnte.
»Du bist keine vier Jahre alt«, rief Sergeant hinter ihm her.
»Ich bin vier, aber ich bin klein«, rief er zurück.
Poke gebot Sergeant zu schweigen, und sie machten sich auf die Suche nach Backsteinen. Wenn sie schon einen kleinen Krieg vom Zaun brechen mussten, sollten sie sich besser bewaffnen.
Bean mochte seinen neuen Namen nicht, aber es war ein Name, und einen Namen zu haben bedeutete, dass andere wussten, wer er war, und ihn irgendwie rufen konnten, und das war gut. Genau wie die sechs Erdnüsse. Sein Mund wusste kaum, was er damit anfangen sollte. Kauen tat weh.
Es tat auch weh zuzusehen, wie Poke den Plan, den er ihr gegeben hatte, verdarb. Bean hatte sie nicht angesprochen, weil sie der schlaueste Bandenboss in Rotterdam war. Ganz im Gegenteil. Ihre Bande konnte kaum überleben, weil Poke so wenig draufhatte. Und zu mitleidig war. Sie hatte nicht genug Grips, um sich ausreichend Essen zu besorgen, damit sie wohlgenährt aussah, und so fand ihre Bande sie zwar nett und mochte sie, aber auf Fremde wirkte sie eher unfähig. Sie schien nicht gerade ein guter Boss zu sein.
Aber wäre sie ein guter Boss, hätte sie ihn überhaupt nicht angehört. Er wäre ihr nie auch nur nahe genug gekommen. Oder wenn sie ihn angehört hätte, wenn seine Idee ihr gefallen hätte, hätte sie ihn anschließend erledigt. So verlangte es das Gesetz der Straße. Wer nett war, starb. Poke war fast zu nett, um am Leben zu bleiben. Darauf zählte Bean. Aber er fürchtete es jetzt auch.
Die ganze Zeit, die er damit verbracht hatte, Leute zu beobachten, während sein Körper sich aufzehrte, wäre ohne Pokes Einsatz verschwendet gewesen. Und Bean hatte schon genug Zeit verschwendet. Als er angefangen hatte zu beobachten, wie die Straßenkinder lebten, wie sie einander bestahlen, einander an die Kehle gingen, einander in die Taschen griffen und jeden Teil von sich verkauften, der irgendwie verkäuflich war, hatte er genau gesehen, was sie besser machen könnten, wenn sie nur genug Grips hätten, aber er hatte seinem eigenen Urteil nicht getraut. Er war sicher gewesen, dass es noch etwas anderes geben musste, etwas, das er einfach noch nicht begriff. Er strengte sich an, mehr zu lernen - über alles. Lesen zu lernen, damit er wusste, was die Schrift auf LKWs und Läden und Containern bedeutete. Genug Holländisch und IF-Commonzulernen,um alles zu verstehen, was die Leute sagten. Es half dabei nichts, dass der Hunger ihn dauernd ablenkte. Er hätte vielleicht mehr Nahrung finden können, wenn er nicht so viel Zeit damit verbracht hätte, die Leute zu beobachten. Aber schließlich hatte er begriffen: Er verstand es schon. Er hatte es von Anfang an verstanden. Es gab kein Geheimnis, das Bean nur deshalb nicht begriff, weil er noch klein war. Der Grund dafür, dass diese Kids sich bei allem so dumm anstellten, bestand einfach darin, dass sie dumm waren.
Sie waren dumm, und er war schlau. Also, warum war er dann am Verhungern, während diese Kids zu essen hatten? Er hatte beschlossen zu handeln. Er hatte sich Poke als Bandenboss ausgesucht. Und nun saß er auf einer Mülltonne und sah zu, wie sie es wieder versaute.
Sie wählte den falschen Schläger, das war ihr erster Fehler. Sie brauchte einen, der die anderen allein schon durch seine Größe einschüchterte. Sie brauchte einen, der groß und dumm war, brutal, aber zu beherrschen. Stattdessen glaubte sie, einen zu brauchen, der klein war. Nein, du blöde Kuh! Blöde Kuh! Bean hätte am liebsten laut aufgeschrien, als er den Schläger sah, den sie sich ausgesucht hatte, einen Jungen, der sich Achilles nannte, nach dem Comic-Helden. Er war klein und gemein, schlau und schnell, aber er hatte ein verkrüppeltes Bein. Also glaubte Poke, sie könne besser mit ihm fertigwerden. Du dumme Kuh! Es geht doch nicht darum, jemanden zu Fall zu bringen - das schafft man beim ersten Mal bei jedem, wenn er es nicht erwartet. Du brauchst jemanden, der auch liegen bleibt.
Aber er sagte nichts. Er durfte nicht riskieren, dass sie wütend auf ihn wurde. Schauen wir mal, was passiert. Schauen wir mal, wie Achilles sich benimmt, wenn er am Boden liegt. Sie wird es ja merken - es wird nicht klappen, und dann muss sie ihn umbringen, die Leiche verstecken und es mit einem anderen Schläger noch mal versuchen, bevor es sich rumspricht, dass eine Bande von kleinen Kindern Schläger umbringt.
Also kommt Achilles heranstolziert - vielleicht ist es auch nur der schwankende Gang durch sein lahmes Bein -, und Poke duckt sich übertrieben und tut so, als wolle sie abhauen. Schlecht gemacht, dachte Bean. Achilles hat schon gemerkt, dass was im Busch ist. Irgendetwas stimmt nicht. Du dumme Kuh, du sollst dich so benehmen wie immer! Achilles sieht sich immer öfter um. Misstrauisch. Sie sagt ihm, sie habe was versteckt - der Teil ist normal -, und führt ihn in die Falle in der Gasse. Aber nein, er ist vorsichtig. Es wird nicht klappen.
Aber es klappt doch, wegen des Beins. Achilles sieht, dass es eine Falle ist, aber er kann nicht mehr fliehen, weil ein paar kleinere Kinder sich von hinten gegen seine Beine werfen, während Poke und Sergeant ihn von vorn schubsen, und so fällt er um. Ein paar Ziegelsteine treffen seinen Rumpf und das verkrüppelte Bein, und zwar heftig - die kleinen Kinder haben es begriffen, sie leisten gute Arbeit, selbst wenn Poke dumm ist -, und ja, das ist gut, Achilles hat tatsächlich Angst. Er denkt, er wird sterben.
Bean war inzwischen von der Tonne geklettert. Er stand in der Gasse und beobachtete alles aus der Nähe. Es war schwer, an der Menge vorbeizuspähen. Er drängt sich vorbei, und die kleinen Kinder - alle größer als er - erkennen ihn und wissen, dass er es verdient hat, einen Blick auf den Kerl zu werfen, und sie lassen ihn rein. Er steht direkt an Achilles' Kopf. Poke beugt sich über ihn, einen Ziegel in der Hand, und redet.
»Du bringst uns in die Schlange vor der Suppenküche.«
»Ja, in Ordnung, mach ich. Versprochen.«
Glaub ihm nicht. Sieh ihm in die Augen, achte auf Schwächen.
»Auf diese Weise kommst du an mehr Essen, Achilles. Du bekommst meine Bande. Wir bekommen genug zu essen, wir haben mehr Kraft, wir bringen dich weiter. Du brauchst eine Bande. Die anderen Brutalskis schubsen dich immer herum - wir haben es gesehen -, aber mit uns brauchst du dir das nicht gefallen zu lassen. Verstehst du, wie wir's machen werden? Eine Armee, das werden wir sein.«
Okay, jetzt hatte er es begriffen. Es war wirklich eine gute Idee, und er war nicht dumm, also begriff er es.
»Wenn das so eine gute Idee ist, Poke, wieso handelst du jetzt erst danach?«
Dazu fiel ihr nichts ein. Stattdessen warf sie Bean einen Blick zu.
Nur einen kurzen Blick, aber Achilles sah es. Und Bean wusste, was er dachte. Es war so offensichtlich.
»Bring ihn um«, sagte Bean.
»Sei nicht dumm«, sagte Poke. »Er macht mit.«
»Genau«, warf Achilles ein. »Ich mache mit. Die Idee ist klasse.«
»Bring ihn um«, sagte Bean. »Wenn du ihn jetzt nicht umbringst, wird er dich umbringen.«
»Lässt du diesem kleinen Stück Scheiße eigentlich alles durchgehen?«, fragte Achilles.
»Dein Leben oder seins«, sagte Bean. »Bring ihn um und nimm den Nächsten.«
»Der Nächste wird kein krankes Bein haben«, wandte Achilles ein. »Der Nächste wird nicht glauben, dass er dich braucht. Ich glaube es. Ich mache mit. Ich bin der, den ihr wollt. Der Plan ist riesig.«
Vielleicht hatte Beans Warnung sie vorsichtiger gemacht. Sie gab noch nicht nach. »Und du wirst nicht irgendwann finden, dass es dir peinlich ist, einen Haufen kleiner Kinder in deiner Bande zu haben?«
»Es ist deine Bande, nicht meine.«
Lügner, dachte Bean. Siehst du nicht, dass er dich anlügt?
»Für mich«, sagte Achilles, »seid ihr meine Familie. Meine kleinen Brüder und Schwestern. Und um seine Familie muss man sich doch kümmern, nicht wahr?«
Bean erkannte sofort, dass Achilles gewonnen hatte. Er war ein Schläger, und er hatte diese Kids seine Brüder und Schwestern genannt. Bean sah den Hunger in ihren Augen. Nicht den normalen Hunger nach Essen, sondern den wahren Hunger, das tiefe Bedürfnis nach einer Familie, nach Liebe, danach, irgendwo hinzugehören. Gekostet hatten sie davon schon, weil sie in Pokes Bande waren. Aber Achilles versprach ihnen mehr. Er hatte gerade Pokes bestes Angebot überboten. Jetzt war es zu spät, ihn umzubringen.
Zu spät, aber für einen Augenblick sah es so aus, als wäre Poke so dumm, es doch noch zu versuchen. Sie hob den Ziegelstein höher.
»Nein«, sagte Bean. »Das geht nicht mehr. Er gehört jetzt zur Familie.«
Sie senkte den Ziegel auf Taillenhöhe. Langsam drehte sie sich zu Bean um. »Hau ab«, sagte sie. »Du gehörst nicht zu meiner Bande. Du hast hier nichts zu suchen.«
»Nein«, schnaufte Achilles. »Ihr solltet mich lieber umbringen, wenn ihr ihn so behandeln wollt.«
Oh, das klang tapfer. Aber Bean wusste, dass Achilles nicht tapfer war. Nur schlau. Er hatte schon gewonnen. Es zählte nicht, dass er am Boden lag und Poke immer noch den Ziegel in der Hand hatte. Es war jetzt seine Bande. Poke war erledigt. Es würde eine Weile dauern, bevor jemand außer Bean und Achilles das verstand, aber der Kampf um die Autorität fand hier und jetzt statt, und Achilles würde ihn gewinnen.
»Dieser Kleine hier«, krächzte Achilles, »gehört vielleicht nicht zu deiner Bande, aber er gehört zu meiner Familie. Also sag meinem Bruder nicht, dass er abhauen soll.«
Poke zögerte. Einen Augenblick. Noch einen Augenblick.
Lange genug.
Achilles setzte sich auf. Er rieb sich die blauen Flecken und Prellungen. Er warf den kleinen Kindern, die ihn mit Ziegeln beschmissen hatten, einen scherzhaft bewundernden Blick zu. »Mann, ihr seid ja echt taff!« Sie lachten - zunächst nervös. Würde er ihnen wehtun, weil sie ihm wehgetan hatten? »Keine Sorge«, sagte er. »Ihr habt mir gezeigt, was ihr draufhabt. Das werden wir noch mit vielen Schlägern machen, wisst ihr? Ich musste doch erst herausfinden, ob ihr das auch könnt. Gute Arbeit. Wie heißt ihr?«
Er ließ sich all ihre Namen nennen. Er versuchte, sie sich einzuprägen, und wenn er einen Fehler beging, machte er ein großes Theater, entschuldigte sich und strengte sich sichtlich an, sich den Namen noch besser zu merken. Es dauerte nur fünfzehn Minuten, und sie liebten ihn.
Wenn er das kann, dachte Bean, wenn er Leute so schnell dazu bringen kann, ihn zu lieben, wieso hat er es vorher nicht getan?
Weil diese Idioten immer nach Macht streben. Leute, die über einem stehen, wollen ihre Macht nie mit einem teilen. Warum zu ihnen aufblicken? Von denen hat man nichts zu erwarten. Aber die Leute unter einem - denen gibt man Hoffnung, man bringt ihnen Respekt entgegen, und sie vergelten es einem mit Macht, weil sie nicht glauben, dass sie selbst welche haben. Also stört es sie nicht, ihre Macht aufzugeben.
Achilles stand auf, immer noch ein wenig wacklig, und sein krankes Bein schmerzte ihn sichtlich mehr als sonst. Alle wichen zurück und machten ihm Platz. Er hätte jetzt gehen können, wenn er gewollt hätte. Hätte auf Nimmerwiedersehen verschwinden können. Oder ein paar andere Schläger holen, zurückkommen und die Bande bestrafen können. Aber er blieb stehen und lächelte, griff in die Tasche und holte etwas ganz Unglaubliches heraus: einen Haufen Rosinen. Eine ganze Hand voll. Sie starrten seine Hand an, als trüge sie die Spur eines Nagels in der Handfläche.
»Kleine Brüder und Schwestern zuerst«, sagte er. »Die Kleinsten als Erste.« Er sah Bean an. »Du.«
»Er nicht!«, protestierte der Nächstkleinere. »Wir kennen ihnnichtmal.«
»Bean wollte, dass wir dich umbringen«, stellte ein anderer fest.
»Bean«, sagte Achilles. »Bean, du wolltest nur auf meine Familie aufpassen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Bean.
»Willst du eine Rosine?«
Bean nickte.
»Du als Erster. Du hast uns schließlich alle zusammengebracht. «
Ob Achilles ihn jetzt umbringen würde oder nicht. In diesem Augenblick zählte nur die Rosine. Bean nahm sie. Steckte sie in den Mund. Kaute nicht einmal. Er ließ sie einfach in seinem Speichel schwimmen, sodass der Geschmack hervortrat.
»Weißt du was?«, sagte Achilles. »Ganz gleich, wie lange du sie im Mund behältst, sie wird sich nicht mehr in eine Traube verwandeln.«
»Was ist eine Traube?«
Achilles lachte ihn aus, aber Bean kaute immer noch nicht. Dann verteilte Achilles Rosinen an die anderen Kinder. Poke hatte nie so viele Rosinen verteilt, weil sie nie so viele gehabt hatte. Aber die kleinen Kinder würden das nicht verstehen. Sie würden glauben: Poke hat uns Müll gegeben, und Achilles gibt uns Rosinen. Sie waren eben dumm.
2
Suppenküche
»Ich weiß, dass Sie diesen Bereich bereits durchkämmt haben und wahrscheinlich fast mit Rotterdam fertig sind, aber seit Ihrem letzten Besuch ist hier etwas passiert, also - oh, ich weiß nicht, ob es wirklich wichtig ist, ich hätte nicht anrufen sollen.«
»Sagen Sie's mir. Ich bin ganz Ohr.«
»Es hat in der Essensschlange immer Streitereien gegeben. Wir versuchen, sie zu verhindern, aber wir haben nur wenige Freiwillige, und die brauchen wir, um die Ruhe im Speisesaal aufrechtzuerhalten und das Essen auszugeben. Wir wissen auch, dass viele Kinder, die unser Essen brauchen, nicht mal in die Schlange kommen, weil sie weggeschubst werden. Und wenn wir es tatsächlich schaffen, die brutaleren Kinder aufzuhalten und einer von den Kleineren reinkommt, verprügeln sie ihn hinterher. Wir sehen die Kleinen danach nie wieder. Es ist hässlich.«
»Überleben des Stärkeren.«
»Des Grausameren. Zivilisation soll angeblich das Gegenteil davon sein.«
»Sie mögen zivilisiert sein. Die Kinder sind es nicht.«
»Jedenfalls hat sich das geändert. Ganz plötzlich. In den letzten paar Tagen. Ich weiß nicht, warum. Aber ich dachte - Sie sagten doch, dass alles Ungewöhnliche - und wer dahintersteckt - ich meine, kann sich Zivilisation urplötzlich entwickeln? Inmitten eines Dschungels von Kindern?«
»Das ist der einzige Ort, wo sie sich überhaupt entwickelt. Ich bin in Delft fertig. Hier gab es für uns nichts zu holen.«
Bean hielt sich in den nächsten Wochen im Hintergrund. Er hatte nichts mehr zu bieten - seine beste Idee gehörte ihnen schon. Und er wusste, dass die Dankbarkeit nicht lange andauern würde. Er war nicht groß, und er aß nicht viel, aber wenn er ununterbrochen im Weg stünde, die Leute ärgerte und auf sie einredete, würde es ihnen bald nicht nur Spaß machen, sie würden sich einen Sport daraus machen, ihm nichts zu Essen zu geben, in der Hoffnung, dass er endlich starb oder verschwand.
Dennoch spürte er häufig Achilles' Blicke. Er bemerkte es ohne Angst. Wenn Achilles ihn umbringen wollte, sollte das eben so sein. Es hatten ihn schon einmal nur wenige Tage vom Tod getrennt. Es würde einfach nur bedeuten, dass sein Plan nicht so gut funktionierte, aber da es sein einziger Plan gewesen war, zählte das nicht. Wenn Achilles sich erinnerte, wie Bean Poke gedrängt hatte, ihn zu töten - und selbstverständlich erinnerte er sich -, und wenn Achilles nun plante, wie und wann Bean sterben sollte, gab es nichts, was Bean tun konnte, um das zu verhindern.
Sich einzuschleimen würde nicht helfen. Das würde nur aussehen wie Schwäche, und Bean hatte schon oft beobachtet, wie Schläger - und Achilles war im Herzen immer noch einer - das Entsetzen anderer Kinder genossen und dass sie Leute sogar noch schlechter behandelten, wenn diese Schwäche zeigten. Er würde auch keine weiteren schlauen Ideen anbieten, erstens, weil er keine hatte, und zweitens, weil Achilles das für einen Affront gegen seine Autorität halten würde. Und die anderen Kinder würden sich ebenfalls daran stören, wenn Bean so tat, als wäre er der Einzige mit etwas Grips. Sie konnten ihn schon jetzt nicht leiden, weil er sich diesen Plan ausgedacht hatte, der ihr Leben veränderte.
Die Veränderung war nämlich unbestreitbar. Am ersten Morgen schickte Achilles Sergeant in die Schlange vor Helgas Suppenküche an der Aert van Nesstraat, denn wenn sie ohnehin windelweich geprügelt würden, sagte er, könnten sie es auch gleich mit dem besten Essen in Rotterdam versuchen, falls sie noch etwas davon abbekämen, bevor sie starben. So redete er, aber er ließ sie am Tag zuvor alles üben, bis es zu dunkel wurde, damit sie besser zusammenarbeiteten und sich nicht so schnell verrieten, wie sie es getan hatten, als sie sich mit ihm anlegten. Die Übung gab ihnen mehr Selbstvertrauen. Achilles sagte immer wieder: »Sie werden dies versuchen«, und: »Sie werden das erwarten«, und weil er selbst ein Schläger war, vertrauten sie ihm auf eine Weise, wie sie Poke nie vertraut hatten.
Poke, dumm wie immer, versuchte, sich weiterhin so zu verhalten, als hätte sie das Sagen und als hätte sie die Ausbildung nur an Achilles delegiert. Bean bewunderte, dass Achilles sich nicht mit ihr anlegte und dennoch seine Pläne und Anweisungen in keiner Weise änderte, wenn sie etwas sagte. Drängte sie ihn, etwas zu tun, was er bereits tat, tat er es einfach weiter. Es gab keinen Trotz, keinen Machtkampf. Achilles handelte, als hätte er schon gesiegt, und weil die anderen Kinder ihm folgten, war auch genau das der Fall.
Die Schlange vor Helgas Suppenküche bildete sich früh, und Achilles beobachtete sorgfältig, wie die Schläger, die später eintrafen, sich entsprechend einer Hierarchie in die Reihe stellten. Sie wussten, wer welches Vorrecht genoss. Bean versuchte die Kriterien zu verstehen, nach denen Achilles entschied, mit welchem Schläger Sergeant sich anlegen sollte. Es war nicht der schwächste, und diese Wahl war schlau, denn besiegten sie den schwächsten Schläger, würden sie nur jeden Tag weitere Kämpfe erleben. Es war aber auch nicht der stärkste. Während Sergeant über die Straße ging, versuchte Bean herauszufinden, was das Besondere an dem Schläger war, den sie ausgesucht hatten, und dann begriff er es: Es war der stärkste Schläger, der keine Freunde bei sich hatte.
Er war groß und sah gemein aus, also würde ein Sieg über ihn etwas hermachen. Aber er sprach mit niemandem und grüßte niemanden. Er befand sich außerhalb seines Territoriums, und mehrere andere Schlagetote warfen ihm schon ablehnende Blicke zu und versuchten ihn einzuschätzen. Es hätte an diesem Tag in der Schlange vielleicht einen Kampf gegeben, wenn Achilles nicht gerade diese Suppenküche und diesen Fremden ausgesucht hätte.
Sergeant war so kaltblütig, wie man es sich nur wünschen konnte, und stellte sich direkt vor dem Ziel in die Schlange. Einen Augenblick stand der Schläger nur da und starrte ihn an, als könne er nicht glauben, was er sah. Dieses kleine Kind würde doch sicher bald seinen tödlichen Fehler erkennen und wegrennen. Aber Sergeant benahm sich, als bemerke er nicht einmal, dass der Schläger da war.
»He!«, sagte der Schläger. Er versetzte Sergeant einen derben Schubs, und dem Winkel des Schubses nach hätte Sergeant aus der Schlange fliegen müssen. Aber Achilles hatte ihn angewiesen, den Fuß sofort aufzusetzen und sich nach vorn zu werfen, gegen den Schläger vor ihm, obwohl das nicht die Richtung war, in die der andere ihn geschubst hatte.
Der Schläger vorn drehte sich um und fauchte Sergeant an, der in kläglichem Tonfall erwiderte: »Er hat mich geschubst.«
»Er hat sich selbst geschubst«, sagte das Opfer.
»Sehe ich so dumm aus?«, fragte Sergeant.
Der Schläger vorn blickte den von Achilles ausgewählten Jungen abschätzend an. Ein Fremder. Zäh, aber nicht unbesiegbar. »Pass bloß auf, Klappergestell.«
Das war eine gewaltige Beleidigung unter Schlägern, da dünn zu sein für Unfähigkeit und Schwäche stand.
»Pass lieber selbst auf.«
Während dieses Austauschs führte Achilles eine ausgewählte Gruppe kleinerer Kinder auf Sergeant zu, der immer noch Leib und Leben riskierte, weil er zwischen den beiden Schlägern stehen blieb. Kurz bevor sie ihn erreichten, schossen zwei der jüngeren Kinder durch die Schlange auf die andere Seite und nahmen an der Wand direkt hinter dem Blickfeld des Ziels Aufteilung. Dann fing Achilles an zu brüllen.
»Was zum Teufel bildest du dir ein, du scheißfleckiges Stück Klopapier! Ich schicke meinen Jungen, damit er mir einen Platz in der Schlange freihält, und du schubst ihn? Du schubst ihn gegen meinen Freund?«
Selbstverständlich waren sie keine Freunde - Achilles war der Schläger mit dem geringsten Status in diesem Teil Rotterdams, und er hatte immer als Letzter in der Schlange gestanden. Aber der andere wusste das nicht, und er würde auch nicht die Zeit bekommen, es herauszufinden. Als er dazu ansetzte, sich gegen Achilles zu wenden, sprangen die Kleinen hinter ihm gegen seine Waden. Der übliche Austausch von Prahlereien und Rempeleien vor dem Kampf fiel flach. Achilles begann den Kampf mit brutaler Schnelligkeit und beendete ihn auch so. Er schubste ihn, während die Jüngeren herbeisprangen, und der Schläger fiel hart auf die gepflasterte Straße. Er lag halb betäubt und blinzelnd da. Aber schon reichten zwei andere kleine Kinder Achilles große Pflastersteine, und Achilles schleuderte sie eins, zwei auf die Brust seines Opfers. Bean hörte, wie die Rippen wie Zweige knackten.
Achilles packte den Schläger an seinem Hemd, riss ihn hoch und stieß ihn gleich wieder zu Boden. Der Schläger stöhnte und versuchte sich zu bewegen, stöhnte abermals und blieb dann still liegen.
Die anderen in der Reihe waren zurückgewichen. Was Achilles getan hatte, war ein Verstoß gegen das Protokoll. Wenn Schläger sich miteinander anlegten, taten sie das in den Gassen, und sie versuchten, einander nicht schwer zu verletzten, sondern kämpften nur, bis sie herausgefunden hatten, wer der Stärkere war. Das hier war neu - Pflastersteine zu benutzen und Knochen zu brechen. Es machte ihnen Angst; nicht, weil Achilles so erschreckend anzusehen war, sondern weil er etwas Verbotenes getan hatte, und das in aller Öffentlichkeit.
Sofort signalisierte Achilles Poke, den Rest der Bande zu holen und die Lücke in der Schlange zu schließen. Währenddessen stolzierte Achilles an der Schlange auf und ab und verkündete, so laut er konnte: »Wenn ihr mich nicht achtet, stört mich das nicht, ich bin schließlich nur ein Krüppel, ich bin nur ein Junge mit einem versauten Bein! Aber wagt nicht, meine Familie zu schubsen. Schubst keins meiner Kinder aus der Schlange! Habt ihr mich verstanden? Wenn ihr das tut, wird ein Laster diese Straße runterrasen, euch über den Haufen fahren und euch die Knochen brechen, genau, wie es gerade diesem Wurm da passiert ist, und beim nächsten Mal ist es vielleicht euer Schädel, der bricht, sodass das Gehirn auf die Straße spritzt. Also hütet euch vor schnellen Lastern wie dem, der dieses Furzhirn hier vor meiner Suppenküche umgefahren hat.«
Da war sie, die Herausforderung. Meine Suppenküche. Und Achilles hielt sich nicht zurück, zeigte keinen Hauch von Furchtsamkeit. Er machte weiter, hinkte an der Reihe auf und ab, starrte jedem Schläger ins Gesicht, forderte ihn zum Widerspruch heraus. Auf der anderen Seite der Reihe folgten die beiden Jüngeren, die geholfen hatten, den Fremden umzuwerfen, all seinen Bewegungen, und Sergeant stolzierte vergnügt und selbstzufrieden neben Achilles her. Sie strotzten nur so vor Selbstsicherheit, während die anderen Schläger über ihre Schultern schauten, um zu sehen, was diese Beingrabscher hinter ihnen vorhatten.
Es blieb nicht beim Gerede. Als einer der Schläger anfing, sich feindselig zu geben, stürzte sich Achilles sofort in den Kampf. Aber wie sie es eingangs geplant hatten, griff er nicht den Feindseligen an - der war auf Ärger vorbereitet. Stattdessen warfen sie sich auf den Jungen unmittelbar hinter ihm in der Schlange. Und während die Kleinen zu ihm sprangen, drehte sich Achilles um, schubste das neue Ziel und schrie: »Was findest du hier so verdammt komisch?« Schon hatte er wieder einen Pflasterstein in der Hand, mit dem er sich nun über den gestürzten Schläger beugte, aber er schlug nicht zu. »Verschwinde ans Ende der Schlange, Idiot! Du kannst froh sein, dass ich dich in meiner Küche essen lasse!«
Das nahm dem Feindseligen vollkommen den Wind aus den Segeln, denn der Schläger, den Achilles umgestoßen hatte und offensichtlich mit dem Stein hätte treffen können, war der nächstniedrigere in der Hackordnung. Also war der Feindselige weder bedroht noch verletzt worden, und dennoch hatte Achilles direkt vor seiner Nase einen Sieg errungen.
Die Tür zur Küche ging auf. Sofort war Achilles bei der Frau, die sie öffnete, strahlte sie an und begrüßte sie wie eine alte Freundin. »Danke, dass Sie uns heute zu essen geben«, sagte er. »Ich werde heute als Letzter essen. Danke, dass Sie meine Freunde hereinlassen. Danke, dass Sie meiner Familie zu essen geben.«
Die Frau an der Tür wusste, wie es auf der Straße zuging. Sie kannte auch Achilles, und ihr war sofort klar, dass hier etwas sehr Seltsames am Laufen war. Achilles aß immer nach den größeren Jungen und tat das für gewöhnlich eher verlegen. Aber noch bevor diese neue gönnerhafte Haltung lästig werden konnte, hatten die Ersten von Pokes Bande die Tür erreicht. »Meine Familie«, verkündete Achilles stolz und schob die kleinen Kinder nach drinnen. »Bitte passen Sie gut auf meine Kinder auf.«
Selbst Poke bezeichnete er als sein Kind. Sie ließ sich nicht anmerken, dass diese Demütigung sie störte. Alles, was sie interessierte, war das Wunder, tatsächlich in die Suppenküche zu kommen. Der Plan hatte funktioniert.
Und ob sie es nun für ihren eigenen oder für Beans Plan hielt, interessierte Bean nicht die Bohne, zumindest nicht, bevor er die erste Suppe im Mund hatte. Er aß sie so langsam wie möglich, aber sie war dennoch so schnell weg, dass er es kaum glauben konnte. War das alles? Und wie war es ihm gelungen, so viel von dem kostbaren Zeug auf sein Hemd zu kippen?
Rasch steckte er sein Brot unters Hemd und eilte zur Tür. Das Brot einpacken und gehen, so hatte Achilles es sich gedacht, und es war ein guter Plan. Einige Schläger würden Vergeltung wollen. Der Anblick von kleinen Kindern, die aßen, würde sie noch mehr aufbringen. Sie würden sich schon bald daran gewöhnen, hatte Achilles versprochen, aber an diesem ersten Tag war es wichtig, dass alle kleinen Kinder verschwanden, solange die Schläger noch mit Essen beschäftigt waren.
Als Bean die Tür erreichte, kamen immer noch Kids herein, und Achilles stand an der Tür und unterhielt sich mit der Frau über den tragischen Unfall in der Schlange. Jemand hatte die Sanitäter gerufen, und sie hatten den verletzten Jungen weggebracht - er lag nicht mehr stöhnend auf der Straße. »Es hätte auch eins von den kleineren Kindern sein können«, sagte Achilles. »Wir brauchen einen Polizisten hier draußen, der auf den Verkehr achtet. Dieser Fahrer wäre nie so achtlos gewesen, wenn es hier einen Polizisten gäbe.«
Die Frau stimmte zu. »Es hätte schrecklich enden können. Es heißt, mehrere seiner Rippen seien gebrochen und in die Lunge gedrungen.« Sie sah bedrückt aus und rang die Hände.
»Die Schlange bildet sich schon, wenn es noch dunkel ist. Es ist gefährlich. Könnten wir hier draußen vielleicht ein Licht haben? Ich muss an meine Kinder denken«, sagte Achilles. »Wollen Sie nicht auch, dass meine Kleinen in Sicherheit sind? Oder bin ich hier der Einzige, der sich um sie kümmert?«
Die Frau murmelte etwas von Geld und dass die Suppenküche kein großes Budget habe.
Poke zählte die Kinder an der Tür, während Sergeant sie auf die Straße hinausdrängte.
Bean, der sah, wie Achilles versuchte, die Erwachsenen dazu zu bringen, sie in der Schlange zu beschützen, kam zu dem Schluss, dass dies der richtige Zeitpunkt war, sich nützlich zu machen. Da diese Frau Mitleid hatte und Bean bei weitem das kleinste Kind war, wusste er, dass er die meiste Macht über sie haben würde. Er ging zu ihr und zupfte an ihrem Wollrock. »Danke, dass Sie auf uns aufpassen«, sagte er. »Es ist das erste Mal, dass ich je in eine richtige Suppenküche gekommen bin. Papa Achilles hat uns gesagt, dass Sie auf uns aufpassen werden, sodass wir Kleinen hier jeden Tag essen können.«
»Ach, du armes Ding! Ach, sieh dich doch an!« Tränen liefen der Frau über die Wangen. »Ach, du armer, kleiner Schatz!« Sie umarmte ihn.
Achilles sah strahlend zu. »Ich muss auf sie aufpassen«, sagte er leise. »Ich sorge dafür, dass sie in Sicherheit sind.«
Dann führte er seine Familie - es war in keiner Weise mehr Pokes Bande - von Helgas Suppenküche weg, alle in einer Reihe. Sie bewegten sich ruhig und ordentlich, bis sie die erste Ecke hinter sich hatten, und dann rannten sie wie verrückt, fassten sich an den Händen und liefen so weit wie möglich von Helgas Küche weg. Für den Rest des Tages mussten sie sich bedeckt halten. Die Schläger würden in Zweier-und Dreiergruppen nach ihnen suchen.
Aber sie konnten es sich leisten, sich bedeckt zu halten, denn sie brauchten heute kein Essen mehr zu suchen. Die Suppe hatte ihnen schon mehr Kalorien geliefert, als sie sonst bekamen, und sie hatten immer noch das Brot.
Selbstverständlich gehörte ein Anteil an diesem Brot Achilles, der keine Suppe bekommen hatte. Jedes Kind bot seinem neuen Papa ehrfürchtig sein Brot dar, und er biss von jedem Stück ab, kaute langsam und schluckte, bevor er nach dem nächsten dargebotenen Brot griff. Es war ein recht langwieriges Ritual. Achilles nahm einen Bissen von jedem Stück Brot, außer bei zwei Kindern: Poke und Bean.
»Danke«, sagte Poke.
Sie war so dumm, dass sie es für eine Geste des Respekts hielt. Bean wusste es besser. Indem er ihr Brot nicht aß, stellte Achilles sie außerhalb der Familie. Wir sind tot, dachte Bean.
Deshalb hielt er sich zurück, sprach kein Wort und blieb in den nächsten paar Wochen unauffällig. Deshalb versuchte er auch, nie allein zu sein. Er bewegte sich immer in Armeslänge von einem der anderen Kinder.
Aber er mied die Nähe von Poke. Das war ein Bild, das er dem Gedächtnis der anderen nicht einprägen wollte: wie er neben Poke hertrabte.
Vom zweiten Morgen an stand ein Erwachsener vor Helgas Suppenküche, der alles beobachtete, und am dritten Tag gab es eine neue Lampe. Am Ende der Woche war der erwachsene Wächter ein Polizist. Achilles brachte seine Gruppe nie aus dem Versteck, bevor der Erwachsene Posten bezogen hatte, und dann führte er die ganze Familie direkt zum Anfang der Schlange und dankte dem Schläger ganz vorn laut und vernehmlich dafür, dass er ihm half, für seine Familie zu sorgen, indem er ihnen einen Platz in der Schlange freihielt.
Aber es war schwer zu ertragen, wie die Schläger sie anstarrten. Sie mussten sich, solange der Wachtposten zusah, gut benehmen, aber sie hegten eindeutig Mordgedanken.
Es wurde auch nicht besser. Die Schläger »gewöhnten« sich nicht daran, obwohl Achilles den Kids am Anfang genau das versprochen hatte. Deshalb wusste Bean - auch wenn er beschlossen hatte, unauffällig zu bleiben -, dass er etwas tun musste, um den Hass der Schläger abzulenken, denn Achilles, der den Krieg bereits für gewonnen hielt, würde sich nicht darum kümmern.
Also nahm Bean eines Morgens seinen Platz in der Schlange ein und hielt sich bewusst zurück, bis er der Letzte der Familie war. Für gewöhnlich bildete Poke die Nachhut - das war ihre Art, so zu tun, als wäre sie immer noch daran beteiligt, die Kleinen in die Küche zu bringen. Aber diesmal stellte sich Bean entschlossen hinter sie, und der hasserfüllte Blick des Schlägers, der eigentlich der Erste in der Schlange gewesen war, brannte sich in seinen Scheitel.
Direkt an der Tür, vor der die Frau mit Achilles stand, als beide stolz seine Familie betrachteten, drehte sich Bean zu dem Schläger hinter sich um und fragte, so laut er konnte: »Wo sind eigentlich deine Kinder? Wie kommt es, dass du deine Kinder nicht in die Küche bringst?«
Der Schläger hätte etwas Giftiges gesagt, aber die Frau an der Tür sah mit hochgezogenen Brauen zu. »Du kümmerst dich auch um kleine Kinder?«, fragte sie. Es war offensichtlich, dass sie von der Idee entzückt war und sich wünschte, er würde mit ja antworten. Und so dumm dieser Schläger sein mochte, er wusste, dass man sich mit Erwachsenen, die Essen ausgaben, gut stellen musste. Also sagte er: »Selbstverständlich. «
»Nun, du kannst sie ebenfalls herbringen. Genau wie Papa Achilles hier. Wir sind immer froh, kleine Kinder zu sehen.«
Wieder krähte Bean: »Sie lassen Leute mit kleinen Kindern zuerst rein!«
»Weißt du was, das ist wirklich eine gute Idee!«, beteuerte die Frau. »Ich denke, das machen wir zur Regel. Und jetzt geht weiter; wir halten die hungrigen Kinder nur auf.«
Bean sah Achilles nicht einmal an, als er nach drinnen ging.
Als sie später nach dem Frühstück das Ritual vollzogen, bei dem Achilles sein Brot entgegennahm, hielt auch Bean demonstrativ seinen Kanten hin, obwohl die Gefahr bestand, dadurch alle daran zu erinnern, dass Achilles nie einen Anteil von ihm nahm. Heute mussten sie jedoch sehen können, wie Achilles mit ihm umging, weil er so dreist und aufdringlich gewesen war.
»Wenn sie alle kleine Kinder mitbringen, geht ihnen schneller die Suppe aus«, sagte Achilles kühl. Seine Augen verrieten rein gar nichts - auch das war eine Botschaft.
»Wenn sie alle Papas werden«, sagte Bean, »werden sie nicht versuchen uns umzubringen.«
Bei dieser Bemerkung kam so etwas wie Leben in Achilles' Blick. Er griff nach unten und nahm das Brot aus Beans Hand. Er biss in die Kruste und riss ein großes Stück heraus. Mehr als die Hälfte. Er stopfte es sich in den Mund und kaute langsam, dann gab er Bean den Rest zurück.
Bean bekam später am Tag Hunger, aber das war es wert. Es war keine Garantie, dass Achilles ihn nicht irgendwann doch umbrachte, aber zumindest sonderte er ihn nicht mehr vom Rest der Familie ab. Und dieses Stück Brot war immer noch mehr, als er früher an einem Tag bekommen hatte. Oder sogar in einer Woche.
Er setzte langsam an. In seinen Armen und Beinen wuchsen wieder Muskeln. Er war nicht mehr vollkommen erschöpft, nur weil er die Straße überquerte. Er konnte jetzt leicht Schritt halten, wenn die anderen liefen. Sie hatten alle mehr Kraft. Verglichen mit Straßenkindern, die keinen Papa hatten, waren sie gesund. Jeder sah das. Es würde den anderen Schlägern nicht schwerfallen, eigene Familien zu bilden.
Schwester Carlotta rekrutierte Kinder für das Ausbildungsprogramm der Internationalen Flotte. Das hatte in ihrem Orden zu einiger Kritik geführt, aber schließlich hatte sie es durchgesetzt, indem sie ihren Oberen verschleiert drohte und sich auf den Erdverteidigungsvertrag berief. Meldete sie, dass der Orden ihre Arbeit für die IF behinderte, konnte er seine Steuerbefreiung und die Befreiung vom Wehrdienst verlieren. Dabei wusste sie, wenn der Krieg zu Ende war und der Vertrag auslief, würde sie wahrscheinlich eine heimatlose Nonne sein, denn bei den Schwestern von St. Nikolaus würde es keinen Platz mehr für sie geben.
Aber sie war vollkommen überzeugt, dass ihr Auftrag in diesem Leben darin bestand, sich um kleine Kinder zu kümmern, und so, wie sie es sah, würden alle kleinen Kinder der Erde sterben, wenn die Schaben die nächste Runde des Krieges gewannen. Das hatte Gott doch sicher nicht gewollt. Schwester Carlotta hielt es allerdings auch nicht für Gottes Willen, dass seine Diener einfach nur dasaßen und darauf warteten, dass er ein Wunder wirke, um sie zu retten. Er wollte, dass sie sich nach Kräften bemühten, zur allgemeinen Rechtschaffenheit beizutragen. Also sah sie ihre Arbeit als Schwester von St. Nikolaus darin, ihre Ausbildung in Entwicklungspädagogik einzusetzen, um der Flotte bei der Kriegsführung zu helfen. Solange die IF es für wert erachtete, hochbegabte Kinder zu rekrutieren und sie für Offiziers- stellen in den künftigen Kriegen auszubilden, würde sie ihnen helfen, indem sie jene Kinder testete, die sonst übersehen würden. Die Flotte hätte nie jemanden dafür bezahlt, etwas so Fruchtloses zu tun, wie auf den schmutzigen Straßen aller möglichen überfüllten Städte der Welt die unterernährten wilden Kinder zu testen, die dort bettelten, stahlen und hungerten, denn die Chance, ein Kind mit der Intelligenz, den Fähigkeiten und dem Charakter zu finden, die erforderlich waren, um sich in der Kampfschule zurechtzufinden, war minimal.
Für Gott war jedoch alles möglich. Hatte er nicht gesagt, dass die Schwachen stark und die Starken schwach sein würden? War Jesus nicht als Sohn eines einfachen Zimmermanns und seiner Braut in der ländlichen Provinz Galiläa zur Welt gekommen? Die hohe Intelligenz von Kindern aus privilegierten Familien oder sogar aus solchen, die gerade so zurechtkamen, zeigte ja wohl kaum die wunderbare Kraft Gottes. Und es war das Wunder, nach dem sie suchte. Gott hatte die Menschen nach seinem Bilde geschaffen, Männer und Frauen. Insektoide von einem anderen Planeten durften das, was Gott geschaffen hatte, nicht zerstören.
Im Laufe der Jahre hatte ihr Enthusiasmus ein wenig nachgelassen, nicht aber ihr Glaube. Nicht ein Kind hatte bei den Tests wirklich gut abgeschnitten. Ein paar waren tatsächlich von der Straße geholt und ausgebildet worden, aber nicht in der Kampfschule. Sie hatten nicht den Weg eingeschlagen, der sie vielleicht dazu führte, die Welt zu retten. Also hatte sie angefangen zu glauben, dass ihre wirkliche Arbeit einer anderen Art von Wunder diente - den Kindern Hoffnung zu geben und zumindest ein paar zu finden, die aus dem Sumpf herausgeholt und von den örtlichen Behörden besonders beachtet wurden. Sie war stets darauf bedacht, die vielversprechendsten Kinder zu identifizieren, und schrieb dann zahlreiche E-Mails über sie an die zuständigen Behörden. Einige ihrer frühen Erfolge hatten das College bereits hinter sich; sie erklärten, dass sie Schwester Carlotta ihr Leben verdankten, aber die Schwester wusste, sie verdankten es Gott.
Dann kam der Anruf von Helga Braun aus Rotterdam, die ihr von gewissen Veränderungen bei den Kindern erzählte, die zu ihrer Suppenküche kamen. Zivilisierung hatte sie es genannt. Die Kinder waren ganz von selbst plötzlich zivilisiert worden.
Schwester Carlotta fuhr sofort nach Rotterdam, um sich etwas anzusehen, das wirklich nach einem Wunder klang. Und tatsächlich, als sie es mit eigenen Augen sah, konnte sie es kaum glauben. In der Schlange für das Frühstück wimmelte es nun von kleinen Kindern. Statt dass die Größeren sie aus dem Weg schubsten oder so sehr einschüchterten, dass sie sich nicht einmal hereinzukommen trauten, hüteten sie sie, schützten sie und sorgten dafür, dass jedes seinen Anteil bekam. Helga war zunächst in Panik geraten, weil sie Angst hatte, ihr könne das Essen ausgehen - aber sie stellte fest, dass potenzielle Wohltäter positiv darauf reagierten, wie diese Kinder sich verhielten, und die Spenden mehr wurden. Es gab jetzt immer genug, gar nicht zu reden von einer größeren Zahl an Freiwilligen.
»Ich war vollkommen verzweifelt«, bekannte sie Schwester Carlotta. »Eines Tages sagten sie mir, ein Laster habe einen der Jungen angefahren und ihm die Rippen gebrochen. Das war selbstverständlich eine Lüge, aber da lag er, gleich neben der Schlange. Sie haben nicht einmal versucht, ihn vor mir zu verstecken. Ich wollte schon aufgeben. Ich wollte die Kinder Gott überlassen und zu meinem ältesten Sohn nach Frankfurt ziehen, wo die Regierung nicht durch den Vertrag gezwungen ist, jeden Flüchtling aus jedem Teil der Welt aufzunehmen.«
»Ich bin froh, dass Sie es nicht getan haben«, entgegnete Schwester Carlotta. »Sie können sie nicht Gott überlassen, wenn Gott sie uns überlassen hat.«
»Tja, das ist das Komische daran. Vielleicht hat dieser Kampf in der Schlange den Kindern klargemacht, was für ein entsetzliches Leben sie führen, denn von diesem Tag an hat einer der großen Jungen - eigentlich der Schwächste von ihnen wegen seines schlimmen Beins, sie nennen ihn Achilles - nun, wahrscheinlich habe ich ihm diesen Namen vor Jahren gegeben, weil Achilles eine schwache Ferse hatte, wissen Sie? - jedenfalls, dieser Achilles - er tauchte mit einer Gruppe kleiner Kinder in der Schlange auf. Er hat mich praktisch um Schutz gebeten und mich gewarnt, dass das, was dem armen Jungen mit den gebrochenen Rippen - ich habe ihn Odysseus getauft, weil er immer von einer Suppenküche zur anderen wandert - er liegt noch im Krankenhaus, seine Rippen waren völlig zertrümmert; können Sie sich so eine Brutalität vorstellen? - jedenfalls, dieser Achilles hat mich gewarnt, dass das Gleiche auch den kleinen Kindern zustoßen könnte, also habe ich mich besonders angestrengt, bin früh gekommen, um die Schlange zu bewachen, und habe die Polizei so lange genervt, bis sie mir Leute geschickt hat, zunächst Freiwillige, die nicht im Dienst waren und einen Hungerlohn dafür bekamen, aber jetzt sind es reguläre Polizisten ... Sie denken vielleicht, ich hätte die Schlange doch die ganze Zeit im Auge behalten können, aber Sie müssen verstehen. Es hätte keinen Unterschied gemacht, weil sie die Kleineren nicht unbedingt hier in der Schlange eingeschüchtert haben, sie haben es getan, wo ich es nicht sah, also ganz gleich, wie sehr ich auch über sie wachte, es waren nur die größeren, gemeineren Jungen, die in der Schlange standen, und ja, ich weiß, auch sie sind Gottes Kinder, und ich habe sie gefüttert und versucht, ihnen Gottes Wort zu predigen, während sie aßen, aber ich hatte schon ziemlich die Hoffnung verloren, sie waren so herzlos, so vollkommen ohne Mitgefühl. Dann hat Achilles eine ganze Gruppe übernommen, darunter das kleinste Kind, das ich je auf der Straße gesehen habe. Ein Junge, es hat mir einfach das Herz zerrissen. Sie nennen ihn Bean, und er ist so klein, sah aus wie ein Zweijähriger, obwohl er, wie ich inzwischen erfahren habe, schon vier Jahre alt ist, und er redet, als wäre er mindestens zehn. Sehr frühreif. Darum ist er wohl auch lange genug am Leben geblieben, um unter Achilles' Schutz zu gelangen, aber er war nur Haut und Knochen. Die Leute sagen das immer, wenn jemand dünn ist, aber im Fall des kleinen Bean stimmt es wirklich. Ich weiß nicht, wie er überhaupt Muskeln genug hatte, um zu laufen oder auch nur aufrecht zu stehen. Seine Arme und Beine waren so dünn wie bei einem Insekt - oh, ist das nicht schrecklich? Ihn mit den Schaben zu vergleichen? Oder sollte ich lieber sagen, den Formics, ›Schaben‹ klingt so abwertend, finden Sie nicht auch?«
»Sie sagen also, Helga, es habe mit diesem Achilles angefangen? «
»Bitte nennen Sie mich Hazie. Wir sind doch jetzt Freundinnen, oder?« Sie griff nach Schwester Carlottas Hand. »Sie müssen diesen Jungen kennen lernen. So ein Mut! So eine Voraussicht! Testen Sie ihn, Schwester Carlotta, er ist ein Anführer! Er ist ein Zivilisator!«
Schwester Carlotta wies sie nicht darauf hin, dass Zivilisatoren häufig keine guten Soldaten abgaben. Es genügte, dass der Junge interessant war, und sie hatte ihn beim ersten Mal verpasst. Das erinnerte sie wieder einmal daran, wie sorgfältig sie vorgehen musste.
Am frühen Morgen, als es noch dunkel war, erschien Schwester Carlotta an der Tür der Suppenküche, wo sich die Schlange bereits gebildet hatte. Helga winkte ihr zu und deutete dann recht auffällig auf einen ziemlich gut aussehenden Jungen, der von kleineren Kindern umgeben war. Erst als Schwester Carlotta näher kam und sah, wie er ein paar Schritte machte, erkannte sie, wie stark sein rechtes Bein verkrüppelt war. Sie versuchte, eine Diagnose zu stellen. War es ein Fall von Rachitis? Oder ein Klumpfuß, der nie korrigiert worden war? Ein falsch geheilter Bruch?
Das zählte allerdings kaum. Mit einer solchen Verletzung würde die Kampfschule ihn nicht nehmen.
Copyright © 2013 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Orson Scott Card
Card, Orson ScottOrson Scott Card, 1951 in Richland, Washington geboren, studierte englische Literatur und arbeitete als Theaterautor, bevor er sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Mit "Enders Spiel" gelang ihm auf Anhieb ein internationaler Bestseller, der mit dem Hugo und dem Nebula Award ausgezeichnet wurde. Auch die Fortsetzung "Sprecher für die Toten" gewann diese beiden prestigeträchtigen Auszeichnungen, somit ist Orson Scott Card der bislang einzige SF-Schriftsteller, dem es gelang, beide Preise in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zu gewinnen. Orson Scott Card kehrte immer wieder in Enders Welt zurück und schrieb mehrere Fortsetzungen. Mit "Enders Schatten" erschuf er einen zweiten Helden, dessen Geschichte parallel zu "Enders Krieg" erzählt wird. "Enders Game" wurde 2013 mit Asa Butterfield und Harrison Ford in den Hauptrollen verfilmt. Card lebt mit seiner Familie in Greensboro, North Carolina.
Bibliographische Angaben
- Autor: Orson Scott Card
- Altersempfehlung: 14 - 99 Jahre
- 2013, 3. Aufl., 590 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Regina Winter
- Übersetzer: Regina Winter
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453314565
- ISBN-13: 9783453314566
- Erscheinungsdatum: 09.09.2013
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