Eine Weihnachtstragödie und andere Fälle
10 weihnachtliche Krimis von der "Queen of Crime", die sie durch die besinnliche Zeit des Jahres führen sollen.
Hercule Poirots Weihnachten
Der alte Simeon Lee ist ein Ekel, stinkreich und despotisch. Zu...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Eine Weihnachtstragödie und andere Fälle “
10 weihnachtliche Krimis von der "Queen of Crime", die sie durch die besinnliche Zeit des Jahres führen sollen.
Hercule Poirots Weihnachten
Der alte Simeon Lee ist ein Ekel, stinkreich und despotisch. Zu Weihnachten hat er den Familien-Clan zusammengerufen und provoziert jetzt alle mit seinen Beleidigungen. Als er am Heiligen Abend mit durchschnittener Kehle gefunden wird, trauert keiner aus der Familie. Doch manche haben etwas zu verbergen - Hercule Poirot findet den Mörder dennoch.
Außerdem haben wir noch folgende Krimis für sie ausgewählt:
- Heirat an Weihnachten
- Eine Weihnachtstragödie
- Die Stecknadel
- Der vierte Mann
- Die Pralinenschachtel
- Der Traum vom Glück
- Die Mausefalle
- Hercule Poirot und der Plumpudding
- Aufregung an Weihnachten
Lese-Probe zu „Eine Weihnachtstragödie und andere Fälle “
Eine Weihnachtstragödie und andere Fälle von Agatha Christie Heirat an Weihnachten
Aus dem Englischen von Hans Erik Hausner
Agatha Christie heiratet
»Ich finde es nicht richtig, meine liebe Agatha, dass du auch am Sonntag im Lazarett arbeitest«, sagte eine ältere Freundin meiner Mutter. »Sonntag ist der Tag des Herrn. Du solltest die Sonntage frei haben.«
»Und wer, meinst du, sollte den Männern ihre Verbände erneuern, sie waschen, ihnen die Becken reichen, ihre Betten machen und ihnen zu essen geben, wenn niemand am Sonntag arbeiten würde?«, gab ich zurück. »Sie könnten ja schließlich kaum vierundzwanzig Stunden ohne diese Dienstleistungen auskommen, nicht wahr?«
»Ach du liebe Zeit, daran habe ich nicht gedacht. Aber irgendeine Einteilung sollte es doch geben!«
Drei Tage vor Weihnachten bekam Archie plötzlich Urlaub. Ich fuhr mit Mutter nach London, um ihn zu treffen. Ich spielte, glaube ich, mit dem Gedanken, ihn zu heiraten. Das taten jetzt viele junge Menschen.
»Ich begreife das nicht«, sagte ich, »während um uns herum die Menschen sterben, wie kann man da bedächtig dahinleben und immer nur an die Zukunft denken?«
Mutter nickte. »Du hast Recht«, erwiderte sie. »Man sollte wirklich nicht jedem Risiko aus dem Weg gehen und ausschließlich an die Zukunft denken.«
Ich sprach es nicht aus, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Archie sein Leben verlieren würde, war doch recht hoch. Die Verlustlisten überraschten und erschreckten die Leute. Viele meiner Freunde waren Soldaten gewesen und sofort eingezogen worden. Fast jeden Tag las man in der Zeitung, dass jemand, den man gekannt hatte, gefallen war.
... mehr
Es war erst drei Monate her, dass Archie und ich uns gesehen hatten - drei Monate, die wir, so schien es mir, in einer anderen Zeitdimension durchschritten hatten. Völlig neue Erfahrungen hatten mich geprägt: der Tod meiner Freunde, Ungewissheit und ein verändertes Lebensgefühl. Auch Archie hatte neue Erfahrungen gesammelt, wenngleich auf einer anderen Ebene. Tod und Niederlage, Rückzug und Angst hatten ihn verändert. Die Folge war, dass wir uns fast wie Fremde begegneten.
Es war, als müssten wir wieder ganz von vorn anfangen. Der Unterschied zwischen uns beiden machte sich sofort bemerkbar. Seine betonte Lässigkeit, sein frivoles Gehaben störten mich. Ich war zu jung, um zu begreifen, dass es für ihn keine andere Möglichkeit gab, seinem neuen Leben die Stirn zu bieten. Ich wiederum war ernster und empfindsamer geworden und hatte jene Unbeschwertheit einer glücklichen Mädchenzeit weitgehend abgelegt. Es war, als bemühten wir uns vergeblich, einander näherzukommen, als entdeckten wir bestürzt, dass wir vergessen hatten, wie wir das anstellen sollten.
In einem Punkt zeigte er sich entschlossen - das machte er von Anfang an klar: Heiraten kam nicht in Frage. »Das wäre völlig falsch«, sagte er. »Auch meine Freunde denken so. Man darf nichts übereilen. Du kriegst eine Kugel ab, es erwischt dich, und du lässt eine junge Witwe zurück. Am Ende ist auch noch ein Kind unterwegs - nein, nein, das wäre egoistisch und falsch.«
Ich widersprach ihm auf das heftigste. Aber es gehörte zu Archies Charakterzügen, dass er immer restlos von bestimmten Ideen überzeugt war. Er war immer ganz sicher, dass er etwas tun müsse und es auch tun würde. Damit will ich nicht sagen, dass er nie seine Meinung änderte - doch, das tat er, und zuweilen recht plötzlich. Er konnte sogar von einem Extrem ins andere fallen und erklärte von diesem Augenblick an Schwarz für Weiß und Weiß für Schwarz. Worauf er dann von der Richtigkeit seines neuen Standpunkts ebenso restlos überzeugt war wie zuvor von dem gegenteiligen. Ich beugte mich seinem Willen, und wir machten uns daran, die wenigen Tage, die uns vergönnt waren, zu genießen.
Ein paar Tage London, und dann sollte ich mit ihm nach Clifton hinunterfahren und Weihnachten mit ihm im Hause seines Stiefvaters und seiner Mutter verbringen. Das war ein durchaus vernünftiges Arrangement, aber noch bevor wir nach Clifton abreisten, hatten wir einen richtigen Streit. Einen lächerlichen, aber deshalb nicht weniger erbittert geführten Streit.
Am Morgen unserer Abreise erschien Archie mit einem Geschenk für mich im Hotel. Es war ein prachtvolles Reisenecessaire, ein Stück, mit dem jede Millionärin, ohne sich schämen zu müssen, im Ritz hätte absteigen können. Hätte er mir einen Ring gebracht, ein Armband, wie teuer auch immer, ich würde keinen Einwand erhoben, würde das Geschenk freudig und stolz entgegengenommen haben; aber aus irgendeinem Grund revoltierte ich gegen das Necessaire. Ich hielt es für eine absurde Extravaganz, für etwas, das ich nie verwenden würde. Ich wollte es nicht haben, sagte ich, und er müsste es zurücktragen. Er war böse, ich war böse. Ich zwang ihn, es zurückzutragen. Eine Stunde später kam er wieder, und wir versöhnten uns. Wir verstanden nicht, was über uns gekommen war. Wie hatten wir so töricht sein können? Er gab zu, dass es ein dummes Geschenk gewesen war. Ich gab zu, dass es unhöflich von mir gewesen war, das zu sagen. Aber der Streit und die darauf folgende Versöhnung führten dazu, dass wir uns jetzt noch näher standen als zuvor.
Mutter kehrte nach Devon zurück, und Archie und ich fuhren nach Clifton. Meine zukünftige Schwiegermutter ließ weiterhin ihren Charme spielen, wenn auch in etwas übertrieben irischer Manier. Ihr anderer Sohn Campbell sagte mir einmal: »Mutter ist eine sehr gefährliche Frau.« Damals verstand ich das nicht, aber heute glaube ich zu wissen, was er meinte. Die überströmende Zuneigung, die sie für einen Menschen auf brachte, konnte von einem Moment zum andern ins Gegenteil umschlagen. Heute gefiel es ihr, ihre zukünftige Schwiegertochter zu lieben; morgen würde sie ihr alles Böse wünschen.
Es war eine anstrengende Fahrt nach Bristol: In den Zügen herrschten chaotische Zustände, und sie hatten stundenlange Verspätungen. Aber schließlich kamen wir doch an und wurden äußerst herzlich willkommen geheißen. Erschöpft von den Aufregungen des Tages und der Fahrt ging ich zu Bett.
Es mag eine halbe Stunde, vielleicht auch eine Stunde später gewesen sein, ich schlief noch nicht, als es an der Tür klopfte. Ich stand auf und öffnete. Es war Archie. Er kam herein, schloss die Tür hinter sich und sagte schroff: »Ich habe es mir überlegt. Wir müssen heiraten. Sofort. Morgen werden wir heiraten.«
»Aber du hast doch gesagt ...«
»Kümmere dich nicht darum, was ich gesagt habe. Du hattest Recht, und ich hatte Unrecht. Natürlich ist es das einzig Vernünftige. Es bleiben uns noch zwei Tage, bis ich zurück muss.«
»Ja, aber ...« Es gab so vieles, was ich hätte sagen wollen, aber nicht herausbrachte. Ich habe schon immer darunter gelitten, dass ich gerade dann nicht reden kann, wenn ich etwas klar sagen will.
»Das wird alles schrecklich kompliziert werden«, sagte ich mit schwacher Stimme. Ich sah schon jetzt die hunderterlei Schwierigkeiten, die Archie nicht sah. Archie hatte immer nur das Wesentliche im Auge. Noch gestern hatte er es für einen Wahnsinn gehalten, im Krieg zu heiraten; heute war er felsenfest davon überzeugt, dass es das einzig Richtige für uns war. Die technischen Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, die verletzten Gefühle unserer engsten Verwandten, das alles berührte ihn überhaupt nicht. Wir gerieten uns in die Haare. Wir stritten uns fast so heftig, wie wir es vor vierundzwanzig Stunden getan hatten, diesmal natürlich mit umgekehrten Vorzeichen. Dass er auch diesmal Recht behielt, brauche ich nicht zu betonen.
»Aber ich glaube, man kann gar nicht so schnell heiraten«, sagte ich zweifelnd. »Es ist sehr schwierig.«
»Natürlich können wir«, erwiderte Archie fröhlich. »Wir können uns eine Sondergenehmigung verschaffen - vom Erzbischof von Canterbury.«
»Ist das nicht sehr teuer?«
»Es wird ein bisschen was kosten. Aber wir werden das schon schaffen. Es bleibt uns sowieso nichts anderes übrig. Morgen ist ja schon Heiligabend. Also, bist du einverstanden?«
Ich nickte. Er ging, und ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen. Ich machte mir Sorgen. Was würde Mutter dazu sagen? Was würde Madge dazu sagen? Was würde Archies Mutter dazu sagen? Warum hatte Archie sich nicht in London für unsere Heirat entschieden, wo alles leicht und einfach gewesen wäre? Na ja. Erschöpft schlief ich ein.
Viele meiner Befürchtungen bewahrheiteten sich am nächsten Morgen. Zuerst mussten wir es Peg beibringen. Sie brach sofort in hysterische Tränen aus und zog sich ins Bett zurück.
»Dass mein eigener Sohn mir das antun muss!«, seufzte sie.
»Archie«, sagte ich, »wir sollten es besser lassen. Deine Mutter ist ganz außer sich.«
»Ist mir doch egal, ob sie außer sich ist oder nicht«, gab Archie zurück. »Wir sind seit zwei Jahren verlobt. Sie hat genug Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen.«
»Sie scheint es schrecklich schwer zu nehmen.«
»Mich so aufzuregen!«, schluchzte Peg. Sie lag, ein in Eau de Cologne getränktes Taschentuch auf der Stirn, in ihrem verdunkelten Schlafzimmer. Archie und ich standen da wie zwei begossene Pudel. Archies Stiefvater erlöste uns. Er holte uns ins Wohnzimmer hinunter und sagte: »Ich finde, ihr macht es genau richtig. Sorgt euch nicht wegen Peg. Sie verliert immer die Fassung, wenn sie von etwas überrascht wird. Sie hat dich sehr gern, Agatha, und sie wird sich sehr darüber freuen, sobald sie sich wieder beruhigt hat. Aber erwartet nicht von ihr, dass sie sich schon heute freut. Und jetzt geht los und veranlasst alles Nötige. Es bleibt euch nicht allzu viel Zeit. Und vergesst nicht: Ich bin sicher, ich bin ganz sicher, dass ihr es richtig macht.«
Obwohl ich den Tag ziemlich beklommen und besorgt begonnen hatte, war ich schon zwei Stunden später voller Kampfeslust. Es gab enorme Schwierigkeiten zu überwinden, und je geringer unsere Aussicht wurde, noch heute heiraten zu können, desto fester waren wir entschlossen, es doch zu schaffen.
Zuerst fragte Archie einen seiner früheren Religionslehrer um Rat. Angeblich wäre eine Sondergenehmigung von Doctor's Commons, dem für Ehe- und Testamentsangelegenheiten zuständigen Gerichtshof, für fünfundzwanzig Pfund zu bekommen, wurde uns gesagt. Weder Archie noch ich besaßen fünfundzwanzig Pfund, aber das störte uns nicht weiter; sicher würden wir uns das Geld von jemandem leihen können. Das Schwierige war, dass man persönlich diese Erlaubnis einholen musste und dass man sie am Weihnachtstag nicht ausgestellt bekam. Mit der Sondergenehmigung war es also Essig. Dann gingen wir auf ein Standesamt. Auch hier wurden wir abgewiesen. Man muss sich vierzehn Tage vor der Zeremonie anmelden. Die Zeit verging. Aber ein freundlicher Beamter, mit dem wir bisher noch nicht gesprochen hatten, wusste Rat. »Mein lieber Freund«, sagte er zu Archie, »Sie haben doch hier Ihren Wohnsitz, nicht wahr? Ich meine, Ihre Mutter und Ihr Stiefvater wohnen hier?«
»Ja«, antwortete Archie.
»Sie haben also einen Koffer hier, Sie haben einen Teil Ihrer Kleidung, Ihrer Sachen hier, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dann brauchen Sie keine vierzehn Tage zu warten. Sie können eine ganz gewöhnliche Heiratserlaubnis kaufen und in Ihrer Pfarrkirche noch heute Nachmittag heiraten.« Die Eheerlaubnis kostete acht Pfund. Die hatten wir. Was dann kam, war eine einzige Hetzerei.
Wir suchten den Vikar der Kirche am Ende der Straße. Er war nicht dort. Wir fanden ihn im Haus eines Freundes. Überrascht erklärte er sich bereit, die Zeremonie vorzunehmen. Wir sausten zu Peg zurück, um uns mit einer Kleinigkeit zu stärken. Mit Peg selbst war nichts anzufangen: »Ich will nichts hören«, rief sie, »ich will nichts hören!«, und versperrte ihre Tür.
Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Wir eilten zur Kirche - es war die Emmanuelkirche, glaube ich. Dann stellte sich heraus, dass wir einen zweiten Zeugen brauchten. Ich stürzte auf die Straße hinaus und wollte schon den erstbesten Fremden in die Kirche lotsen, als ganz zufällig ein Mädchen vorbeikam, das ich kannte. Ich hatte vor zwei Jahren ein paar Tage bei ihr in Clifton gewohnt. Yvonne Bush war zwar einigermaßen überrascht, erklärte sich aber bereit, als impromptu Brautjungfer und Zeugin zu fungieren. Wir liefen in die Kirche zurück. Der Organist stimmte den Hochzeitsmarsch an.
Noch selten hatte sich eine Braut weniger um ihr Aussehen gekümmert als ich, ging es mir durch den Kopf, als die Zeremonie begann. Kein weißes Kleid, keinen Schleier, nicht einmal eine besonders hübsche Bluse. Ich trug ein ganz gewöhnliches Kostüm mit einem kleinen purpurfarbenen Samthut, und ich hatte nicht einmal Zeit gehabt, mir das Gesicht oder die Hände zu waschen. Wir mussten beide darüber lachen.
Die Zeremonie ging ordnungsgemäß zu Ende - und wir nahmen die nächste Hürde in Angriff. Da Peg immer noch nicht ansprechbar war, beschlossen wir nach Torquay zu fahren, dort im Grandhotel abzusteigen und den Weihnachtsabend mit meiner Mutter zu verbringen. Aber zuerst musste ich sie natürlich anrufen und ihr mitteilen, was geschehen war. Es war sehr schwer durchzukommen und das Ergebnis meiner Bemühungen nicht gerade überwältigend. Meine Schwester war da und reagierte sehr ungehalten auf meine Mitteilung.
»Mutter so zu überrumpeln! Du weißt doch, wie schwach ihr Herz ist! Du bist wirklich gefühllos!«
Wir stiegen in den Zug - er war gestoßen voll - und kamen gegen Mitternacht in Torquay an. Ich fühlte mich nicht ganz frei von Schuld. Die Menschen, die uns am nächsten standen, waren böse auf uns. Wir hatten so viel Unruhe in ihr Leben gebracht. Ich glaube nicht, dass Archie meine Gefühle teilte, und wenn, würde es ihn nicht weiter beunruhigt haben. Sehr bedauerlich, dass die Leute sich so aufregen, würde er gesagt haben, was war denn schon dabei? Wir hatten das einzig Richtige getan - er war dessen ganz sicher. Nur eines machte ihn nervös. Das zeigte sich, als wir in den Zug stiegen und er plötzlich, wie ein Zauberkünstler, einen zweiten Koffer hervorzog. »Ich hoffe«, wandte er sich an seine junge Braut, »ich hoffe, du bist nicht böse deswegen.«
»Archie! Es ist das Reisenecessaire!«
»Ja. Ich habe es nicht zurückgetragen. Es macht dir doch nichts aus, nicht wahr?«
»Natürlich nicht. Ich bin froh, dass du es mir wieder schenkst.«
War unser Hochzeitstag ein einziger Kampf gegen eine ganze Reihe von Krisen gewesen, so gestaltete sich der Weihnachtstag wohltuend und friedlich. Alle hatten Zeit gehabt, über ihren Schock hinwegzukommen. Madge war liebevoll und hatte ihren Ärger vom Vortag völlig vergessen; Mutter hatte sich von ihrer Herzattacke erholt und sonnte sich in unserem Glück. Auch Peg, so hoffte ich, war wieder auf den Beinen. (Archie versicherte mir, dass ich daran nicht zweifeln müsse.) Und so genossen wir den Weihnachtstag in vollen Zügen. Am nächsten Tag fuhr ich mit Archie nach London und verabschiedete mich von ihm, als er sich wieder nach Frankreich einschiffte. Ich sollte ihn sechs lange Monate nicht wiedersehen.
Eine Weihnachtstragödie
Aus dem Englischen von Maria Meinert
»Ich möchte eine Beschwerde vorbringen«, erklärte Sir Henry Clithering.
Mit zwinkernden Augen blickte er sich im Kreise um. Colonel Bantry saß mit ausgestreckten Beinen im Sessel und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Kaminsims. Seine Frau blätterte in einem Blumenkatalog. Dr. Lloyd blickte mit offener Bewunderung auf Jane Helier, und diese betrachtete nachdenklich ihre rosafarbenen polierten Fingernägel. Nur Miss Marple saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und zwinkerte Sir Henry ebenfalls mit ihren blauen Augen zu.
»Eine Beschwerde?«, murmelte sie.
»Eine sehr ernste Beschwerde. Wir sind hier heute Abend sechs Personen; drei Vertreter jeden Geschlechts, und ich protestiere im Namen der unterdrückten männlichen Wesen. Wir haben drei Geschichten gehört, die alle von den Männern erzählt wurden. Ich erkläre hiermit feierlich, dass die Damen nicht ihren angemessenen Teil zur Unterhaltung beigetragen haben.«
»Oho!«, erwiderte Mrs Bantry empört. »Das möchte ich bestreiten. Wir haben mit größtem Verständnis zugehört. Außerdem haben wir ein geziemendes Wesen an den Tag gelegt, das sich davor scheut, die Blicke aller auf sich zu ziehen!«
»Eine ausgezeichnete Entschuldigung«, bemerkte Sir Henry, »aber wir lassen sie nicht gelten. Ich bin überzeugt, dass eine der Damen ein besonders geschätztes Geheimnis in petto hat. Wie ist es, Miss Marple, mit der ›Merkwürdigen Begebenheit mit der Putzfrau‹ oder der ›Mysteriösen Angelegenheit bei der Mütterversammlung‹? Sie und St. Mary Mead dürfen mich nicht enttäuschen.«
Kopfschüttelnd erwiderte Miss Marple:
»Ich habe nicht viel erlebt, Sir Henry. Natürlich haben wir unsere kleinen rätselhaften Angelegenheiten, aber die würden Sie nicht interessieren.«
»Und wie steht's mit Ihnen, Miss Helier?«, fragte Colonel Bantry. »Sie müssen doch sicher interessante Erlebnisse gehabt haben.«
»Ja, wirklich«, stimmte Dr. Lloyd zu.
»Ich?«, fragte Jane. »Sie meinen, dass ich Ihnen jetzt etwas von mir erzähle?«
»Oder irgendetwas, das einem Ihrer Freunde passiert ist«, ergänzte Sir Henry.
»Oh!«, sagte Jane vage. »Ich glaube, ich habe gar nichts Besonderes erlebt - jedenfalls nicht so etwas. Blumen natürlich und seltsame Botschaften - aber das sind einfach Männergeschichten, nicht wahr? Ich glaube nicht -« Sie brach gedankenverloren ab.
»Ich sehe schon, wir müssen auf die kleinen Angelegenheiten zurückkommen«, meinte Sir Henry. »Also beginnen Sie, Miss Marple.«
»Sie belieben wohl zu scherzen, Sir Henry. Aber wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir tatsächlich eine Begebenheit ein - Begebenheit ist allerdings nicht der richtige Ausdruck, es handelt sich um etwas viel Ernsteres: um eine Tragödie. Und ich war gewissermaßen darin verwickelt. Aber was ich getan habe, hat mich nie gereut - niemals. Doch ist es nicht in St. Mary Mead geschehen.«
»Da bin ich aber enttäuscht«, meinte Sir Henry. »Aber ich werde versuchen, mich damit abzufinden. Ich wusste ja, dass wir uns auf Sie verlassen können.«
Er setzte sich voller Erwartung in seinem Sessel zurecht.
»Ich hoffe, dass ich es Ihnen richtig schildern kann«, sagte sie ein wenig vorsichtig. »Ich neige etwas zur Weitschweifigkeit. Ohne es zu wissen, verliert man oft den Faden, und es ist so schwer, sich an die richtige Reihenfolge zu erinnern. Sie müssen Geduld mit mir haben, wenn ich mich als eine schlechte Erzählerin entpuppe. Außerdem ist es schon so lange her.
Wie gesagt, die Geschichte spielte sich nicht in St. Mary Mead, sondern in einem Thermalbad ab.«
»Unfreundliche Plätze«, schob Colonel Bantry ein, »absolut scheußlich! Man muss früh aus den Federn und dieses widerliche Wasser trinken. Alte Frauen sitzen massenweise herum, mit ihren tausend kleinen Gebrechen und ihrem endlosen Geschwätz. Mein Gott, wenn ich bloß daran denke -«
»Das ist leider wahr«, stimmte Miss Marple ihm zu. »Ich selbst -«
»Meine liebe Miss Marple«, rief der Colonel entsetzt. »Ich habe natürlich nicht für eine Sekunde -«
Rosa angehaucht brachte sie ihn mit einer kleinen Geste zum Schweigen.
»Aber es ist wahr, Colonel. Nur möchte ich noch etwas hinzufügen. Was war es doch gleich? Ach so, ja. Es wird, wie Sie sagen, viel gelästert. Und die Menschen urteilen sehr hart darüber - besonders junge Menschen. Mein Neffe, der Bücher schreibt - und, wie ich glaube, sehr gescheite -, hat äußerst sarkastische Bemerkungen gemacht über Leute, die ohne jeglichen Beweis den guten Ruf anderer vernichten.
Hierzu möchte ich bemerken, dass die jungen Leute oft nicht nachdenken oder die Tatsachen prüfen. An dem Getratsche ist nämlich meistens sehr viel Wahres dran! Und wenn die jungen Leute der Sache einmal auf den Grund gingen, würden sie die Entdeckung machen, dass es in neun von zehn Fällen stimmt. Und darum regen sich die Leute auch so darüber auf.«
»Die göttliche Eingebung, wie?«, sagte Sir Henry ironisch.
»O nein, durchaus nicht. Es handelt sich in Wirklichkeit um praktische Erfahrungen. Wenn Sie einem Ägyptologen einen dieser merkwürdigen kleinen Käfer zeigen, kann er Ihnen, wie ich gehört habe, aus dem Gefühl heraus sagen, welcher Periode er angehört oder ob es eine Imitation aus Birmingham ist. Aber er kann nicht immer bestimmte Gründe dafür angeben. Er weiß es eben. Er hat sich ein Leben lang mit solchen Dingen beschäftigt.
Ebenso haben die von meinem Neffen als ›nutzlos‹ bezeichneten Frauen sehr viel freie Zeit, und sie interessieren sich in der Hauptsache für Menschen. Und auf diese Weise werden sie sozusagen Sachverständige auf diesem Gebiet. Nun, diese jungen Leute heutzutage - sie reden sehr frei über Dinge, die in meiner Jugend nicht erwähnt wurden; auf der anderen Seite aber sind sie sehr naiv. Sie glauben an alles und jeden. Und wenn man sie noch so sanft zu warnen versucht, wird einem gesagt, man sei viktorianisch - und damit ist die Sache erledigt.
Nun muss ich bekennen, dass ich auch etwas empfindlich bin, und gedankenlose Bemerkungen haben mich schon oft aufs tiefste verletzt. Ich weiß, Männer interessieren sich nicht für häusliche Angelegenheiten, aber ich muss doch kurz mein Hausmädchen Ethel erwähnen - ein sehr hübsches Mädchen und in jeder Weise gefällig. Nun, sobald ich sie sah, wusste ich, dass sie der gleiche Typ wie Annie Webb war. Wenn sich die Gelegenheit ergab, würde sie Mein und Dein nicht unterscheiden können. Daher ließ ich sie am Ende des Monats gehen und schrieb ihr ins Zeugnis, dass sie ehrlich und bescheiden sei. Aber unter vier Augen warnte ich die alte Mrs Edwards davor, sie zu nehmen. Mein Neffe Raymond war entsetzt und erklärte mir, er habe noch nie so etwas Schändliches - ja, Schändliches - gehört. Na, sie ging dann zu Lady Ashton, die zu warnen ich mich nicht verpflichtet fühlte. Und was geschah? Alle Spitzen wurden von ihrer Unterwäsche abgeschnitten und zwei Diamantbroschen gestohlen - und das Mädchen schlich sich mitten in der Nacht davon, und seitdem hat man nichts mehr von ihr gehört!«
Miss Marple hielt inne, holte tief Atem und fuhr dann fort.
»Sie werden sicher denken, dies alles hat nichts zu tun mit dem, was sich in dem Kurort ereignete - aber indirekt ist es doch so. Denn es ist eine Erklärung dafür, warum ich nicht den geringsten Zweifel daran in meinem Herzen hatte - gleich als ich die beiden Sanders zusammen sah -, dass er beabsichtigte, sie umzubringen.«
»Was sagen Sie da?«, fragte Sir Henry erstaunt.
»Ich sage, Sir Henry, dass ich durchaus nicht im Zweifel war. Mr Sanders war ein stattlicher, gut aussehender Mann von sehr herzlichem Wesen und bei allen recht beliebt. Und niemand hätte netter zu seiner Frau sein können als er. Aber ich wusste Bescheid! Er hatte die Absicht, sie aus dem Weg zu räumen.«
»Aber meine liebe Miss Marple -«
»Ja, ich weiß. Mein Neffe Raymond West würde mir dasselbe sagen, nämlich, dass ich nicht den geringsten Beweis hätte. Aber ich muss dabei an Walter Hones denken, den Wirt des Grünen Mannes. Als er eines Abends mit seiner Frau nach Hause ging, fiel sie in den Fluss - und er ließ sich das Versicherungsgeld auszahlen! Ich könnte noch ein paar Leute anführen, die bis heute ungestraft herumlaufen - sogar einen aus unseren Kreisen. Verbrachte die Sommerferien in der Schweiz, um mit seiner Frau Kletterpartien zu machen. Ich bat sie vorher, nicht mitzufahren; das arme Geschöpf wurde nicht einmal zornig mit mir, wie man es hätte erwarten können - sie lachte nur. Es erschien ihr komisch, dass eine merkwürdige Alte wie ich so etwas über ihren Harry sagen sollte. Na, und dann gab es eben einen Unfall - und Harry ist jetzt mit einer anderen Frau verheiratet. Aber was konnte ich tun? Ich wusste es zwar, hatte aber keine Beweise.«
»Oh! Miss Marple«, rief Mrs Bantry. »Das ist doch wohl nicht möglich!«
»Meine Liebe, solche Dinge passieren alle Tage. Und Männer sind dieser Versuchung besonders ausgesetzt, da sie so viel stärker sind. Es ist ja so leicht, wenn es wie ein Unfall aussieht. Wie gesagt, bei den Sanders hatte ich denselben Eindruck. Wir fuhren mit der Straßenbahn. Da unten alles voll war, mussten wir nach oben klettern. Dann standen wir alle drei auf, um auszusteigen, und Mr Sanders verlor das Gleichgewicht und fiel heftig gegen seine Frau, die kopfüber nach unten stürzte. Glücklicherweise war der Schaffner ein starker junger Mann und fing sie geschickt auf.«
»Das war aber doch bestimmt ein Zufall.«
»Natürlich war es ein Zufall - nichts hätte zufälliger aussehen können. Aber Mr Sanders war, wie er mir erzählt hatte, in der Handelsmarine gewesen, und wenn jemand auf einem schwankenden Schiff das Gleichgewicht bewahren kann, verliert er es nicht gleich in einer Elektrischen, zumal wenn eine alte Frau wie ich fest auf den Füßen steht. Das kann mir keiner weismachen.«
»Jedenfalls dürfen wir annehmen, dass Ihnen die Sache auf der Stelle sonnenklar war, nicht wahr, Miss Marple?«, meinte Sir Henry.
Die alte Dame nickte.
»Ich war ziemlich sicher, und ein anderer Zwischenfall, als wir später die Straße überquerten, bestätigte meinen Eindruck. Nun frage ich Sie, Sir Henry, was konnte ich machen? Hier war eine nette, zufriedene, glückliche kleine Frau, die in Kürze ermordet werden sollte.«
»Meine liebe gnädige Frau, ich bin einfach sprachlos.«
»Seien Sie nicht so ironisch. Wie die meisten Leute heutzutage neigen Sie zu der Ansicht, dass so etwas nicht möglich ist. Aber es verhielt sich so, und ich wusste es. Leider ist man in seiner Handlungsweise so sehr behindert. Ich konnte zum Beispiel nicht zur Polizei gehen. Und die junge Frau zu warnen wäre völlig nutzlos gewesen; denn ich konnte sehen, dass sie diesen Mann liebte. Also bemühte ich mich darum, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Man hat reichlich Gelegenheit dazu, wenn man am Feuer sitzt und Handarbeiten macht. Mrs Sanders, Gladys hieß sie mit Vornamen, redete nur zu gern. Allem Anschein nach waren sie noch nicht lange verheiratet. Ihr Mann hatte Aussicht, bald in den Besitz eines Vermögens zu kommen. Aber im Augenblick waren sie ziemlich schlecht dran. Ja, sie lebten von ihrem kleinen Einkommen. Diese Geschichte ist nicht neu. Sie bedauerte es sehr, dass sie ihr Kapital nicht anrühren konnte. Anscheinend hatte irgendjemand irgendwo etwas Verstand gehabt! Aber ich bekam heraus, dass sie das Geld testamentarisch einer anderen Person vermachen konnte. Und sie und ihr Mann hatten gleich nach der Hochzeit jeder ein Testament zugunsten des anderen gemacht. Sehr rührend. Natürlich, wenn Jacks Angelegenheit in Ordnung kam - das war der Refrain, den man den ganzen Tag hörte, und inzwischen waren sie so arm wie Kirchen mäuse, hatten sogar ein Zimmer im oberen Stockwerk, wo die Dienstboten alle schliefen - wie gefährlich, falls ein Feuer ausbrach! Obgleich zufälligerweise gerade hinter ihrem Fenster eine Feuertreppe hinabführte. Ich erkundigte mich vorsichtig danach, ob auch ein Balkon vorhanden sei - sehr gefährlich, so ein Balkon. Ein Stoß genügt!
Ich nahm ihr das Versprechen ab, nicht auf den Balkon zu treten, unter dem Vorwand, dass ich einen Traum gehabt hätte. Das machte einen tiefen Eindruck auf sie - manchmal kann man durch Aberglauben sehr viel erreichen. Sie war ein blonder Typ mit käsiger Gesichtsfarbe und einer unordentlichen Haarrolle im Nacken. Sehr leichtgläubig. Sie erzählte, was ich ihr gesagt hatte, ihrem Mann, und es fiel mir auf, dass er mich ein paar Mal recht merkwürdig anschaute. Er war nicht leichtgläubig, und er wusste, dass ich auch in der Straßenbahn gewesen war.
Aber ich war in Sorge - in schrecklicher Sorge -, weil ich nicht wusste, wie ich ihn an der Ausführung seines Planes hindern konnte. Für den Augenblick wäre es mir natürlich möglich gewesen. Ich hätte ihm nur mit ein paar Worten anzudeuten brauchen, dass ich Verdacht gegen ihn schöpfte. Aber dann hätte er seinen Plan einfach auf später verschoben. Nein, ich gelangte allmählich zu der Überzeugung, dass nur ein kühner Schritt sie retten konnte - man musste ihm eine Falle stellen. Wenn man ihn dazu bringen konnte, einen Anschlag auf ihr Leben zu machen nach einem von mir entworfenen Plan - nun, dann vermochte man ihn zu entlarven, und sie war gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu sehen, wie schwer der Schock für sie auch sein mochte.«
»Ich bin sprachlos«, erklärte Dr. Lloyd. »Was für einen Plan hätten Sie da bloß in Anwendung gebracht?«
»Keine Angst, ich hätte schon einen gefunden«, erwiderte Miss Marple. »Aber der Mann war zu schlau für mich. Er wartete nicht. Wahrscheinlich ahnte er, dass ich misstrauisch war. Also schlug er zu, bevor ich sicher sein konnte. Er wusste, dass ich bei einem Unfall Verdacht schöpfen würde. So machte er gleich einen Mord daraus.«
Alle im Kreise schnappten nach Luft. Miss Marple nickte und fuhr mit grimmiger Miene fort:
»Ich befürchte, ich bin ein wenig unvermittelt damit herausgeplatzt, und ich will versuchen, Ihnen der Reihe nach alles zu erzählen. Stets verspüre ich eine gewisse Bitterkeit - es will mir scheinen, als hätte ich es irgendwie verhindern sollen. Aber das Schicksal hat es vielleicht nicht anders gewollt. Auf jeden Fall habe ich getan, was in meinen Kräften stand.
Es lag ein seltsam unheimliches Gefühl in der Luft. Etwas schien auf uns allen zu lasten. Eine Ahnung von nahem Unheil. Zunächst war da einmal die Geschichte mit George, dem Portier. Er war jahrelang dort gewesen und kannte jeden. Dann bekam er Bronchitis und eine Lungenentzündung und starb am vierten Tag. Schrecklich traurig. Ein wirklicher Schlag für alle. Noch dazu vier Tage vor Weihnachten! Dann bekam eines der Hausmädchen - ein so nettes Geschöpf - eine Blutvergiftung am Finger und starb tatsächlich innerhalb von vierundzwanzig Stunden.
Ich war gerade mit Miss Trollope und der alten Mrs Carpenter im Salon, und Mrs Carpenter war geradezu dämonisch - sie schien sich regelrecht daran zu weiden.
›Hören Sie auf mich‹, sagte sie. ›Dies ist noch nicht das Ende. Sie kennen doch das Sprichwort? Aller guten Dinge sind drei. Das habe ich immer wieder erlebt. Wir werden noch einen Todesfall haben. Ganz ohne Zweifel. Und wir brauchen nicht lange zu warten. Aller guten Dinge sind drei.‹
Bei diesen Worten, die sie, mit dem Kopf nickend, beim Geklapper ihrer Stricknadeln hervorbrachte, blickte ich zufällig auf, und da stand Mr Sanders im Türrahmen. Einen Augenblick lang war er nicht auf der Hut, und ich sah die nackte Wahrheit in seinen Augen. Bis zu meiner letzten Stunde glaube ich, dass es die Worte dieser grässlichen Mrs Carpenter waren, die den Plan bei ihm auslösten. Ich konnte ganz deutlich sehen, welche Gedanken sich hinter seiner Stirn verbargen.
In seiner jovialen Art lächelnd, trat er ins Zimmer.
›Kann ich für die Damen irgendwelche Weihnachtseinkäufe erledigen?‹, fragte er. ›Ich gehe nämlich gleich in den Ort.‹
Lachend und schwatzend blieb er noch eine Weile und ging dann hinaus. Voller Unruhe fragte ich sofort:
›Wo ist Mrs Sanders eigentlich? Weiß es jemand?‹
Miss Trollope erwiderte, sie sei zu ihren Freunden, den Mortimers, gegangen, um Bridge zu spielen, und das beruhigte mich im Augenblick ein wenig. Aber ich war immer noch sehr besorgt und unschlüssig, ob ich etwas unternehmen sollte. Eine halbe Stunde später ging ich auf mein Zimmer. Auf der Treppe begegnete ich meinem Arzt, Dr. Coles, und da ich ihn sowieso wegen meines Rheumatismus um Rat fragen wollte, nahm ich ihn mit in mein Zimmer. Dort erwähnte er mir gegenüber (im Vertrauen, sagte er) den Tod des armen Hausmädchens Mary. Der Geschäftsführer wünsche nicht, dass es sich herumspräche, sagte er, und ich solle es daher für mich behalten. Natürlich erwähnte ich nicht, dass wir alle während der letzten Stunde - von dem Augenblick an, als das arme Mädchen seinen letzten Atemzug getan hatte - von nichts anderem mehr geredet hatten. So etwas ist doch immer gleich bekannt, und ein Mann von seiner Erfahrung hätte das wissen müssen. Aber Dr. Coles war von jeher ein schlichter, naiver Mann, der glaubte, was er glauben wollte, und gerade das beunruhigte mich eine Sekunde später. Als er sich verabschiedete, erwähnte er, dass Sanders ihn gebeten habe, sich seine Frau mal anzusehen, sie fühle sich schlecht; irgendetwas stimme nicht mit ihr.
Und am selben Tage hatte mir Gladys Sanders selber erzählt, dass sie in allerbester Verfassung wäre, wofür sie sehr dankbar sei.
Sehen Sie? Mein ganzer Verdacht gegen diesen Mann kehrte hundertfach zurück. Er traf Vorbereitungen - aber wofür? Dr. Coles war gegangen, ehe ich mich entschließen konnte, ob ich mit ihm reden sollte oder nicht. Und ich hätte auch nicht recht gewusst, wie ich mich ausdrücken sollte. Als ich aus meinem Zimmer trat, kam Sanders selbst die Treppe vom nächsten Stockwerk herunter. Er trug Straßenkleidung und fragte mich abermals, ob er mir in der Stadt etwas besorgen könne. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht unhöflich zu ihm zu sein! Dann ging ich in die Diele und bestellte mir Tee. Es ging schon auf halb sechs zu, wie ich mich entsinne.
Um Viertel vor sieben, als Mr Sanders hereinkam, war ich immer noch in der Diele. Er hatte zwei Herren bei sich, und alle drei waren in ziemlich gehobener Stimmung. Mr Sanders ließ seine beiden Freunde stehen und kam sofort zu dem Tisch, an dem ich mit Miss Trollope saß. Er bat uns um Rat wegen eines Weihnachtsgeschenks für seine Frau. Es war eine Abendhandtasche.
›Meine Damen‹, erklärte er, ›ich bin nur ein rauer Seemann. Was weiß ich schon von diesen Dingen? Ich habe mir drei zur Auswahl schicken lassen und wäre Ihnen für Ihren sachkundigen Rat sehr dankbar.‹
Wir versicherten ihm natürlich, dass es uns ein Vergnügen sein werde, und er fragte uns, ob es uns etwas ausmache, mit ihm nach oben zu gehen, da seine Frau jede Minute kommen könne und sonst die Taschen sehen würde. Also gingen wir mit ihm hinauf. Niemals werde ich die nächsten Minuten vergessen - mich überläuft jetzt noch eine Gänsehaut.
Mr Sanders öffnete die Tür zum Schlafzimmer und drehte das Licht an. Ich weiß nicht, wer von uns sie zuerst sah ...
Mrs Sanders lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden - tot. Ich war zuerst bei ihr, kniete nieder, nahm ihre Hand und fühlte nach dem Puls, aber es war sinnlos, denn der Arm war schon kalt und steif. Unmittelbar neben ihrem Kopf lag ein mit Sand gefüllter Strumpf - offensichtlich die Waffe, mit der sie niedergeschlagen worden war. Miss Trollope, dieses törichte Geschöpf, stand an der Tür und jammerte zum Steinerweichen. Mit dem Schrei ›Meine Frau, meine Frau!‹ stürzte Mr Sanders an ihre Seite. Ich hinderte ihn daran, sie zu berühren; denn ich war überzeugt, dass er der Täter war, und glaubte, er wolle vielleicht etwas fortnehmen und verstecken.
›Es darf nichts angerührt werden‹, erklärte ich. ›Reißen Sie sich zusammen, Mr Sanders. Miss Trollope, bitten gehen Sie nach unten und holen Sie den Geschäftsführer.‹
Ich selbst verharrte kniend bei der Leiche, da ich nicht die Absicht hatte, Sanders mit ihr allein zu lassen. Allerdings muss ich zugeben, dass der Mann ein wunderbarer Schauspieler war. Er schien bestürzt, verwirrt und über alle Maßen verängstigt.
Sehr bald erschien der Geschäftsführer. Er inspizierte in aller Eile den Raum, dann drängte er uns alle hinaus, schloss die Tür ab und nahm den Schlüssel mit, als er ging, um die Polizei anzurufen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie kam (später erfuhren wir, dass die Leitung nicht in Ordnung gewesen war). Der Geschäftsführer musste jemanden zur Post schicken, und das Kurhotel liegt ziemlich weit von der Stadt entfernt, fast am Rande des Moores. Inzwischen fiel Mrs Carpenter uns allen sehr auf die Nerven. Sie war so zufrieden, dass ihre Prophezeiung sich so schnell erfüllt hatte. Sanders lief stöhnend und händeringend in den Garten hinaus, und in seinen Zügen malte sich tiefster Kummer ab.
Endlich kam die Polizei. Mit dem Geschäftsführer und Mr Sanders gingen sie nach oben, und später ließen sie mich holen . Als ich kam, saß der Inspektor an einem Tisch und schrieb. Er sah intelligent aus und war mir sehr sympathisch.
›Miss Jane Marple?‹, fragte er.
›Ja.‹
›Wie ich höre, gnädige Frau, waren Sie zugegen, als die Leiche gefunden wurde.‹
Ich bestätigte das und schilderte genau, was vorgefallen war. Ich glaube, der arme Mann war sichtlich erleichtert, dass er jemanden gefunden hatte, der seine Fragen zusammenhängend beantworten konnte, nachdem er sich vorher mit Sanders und Emily Trollope abgequält hatte. Wie ich hörte, war Emily Trollope ja vollständig aus der Fassung geraten - was auch nicht anders zu erwarten war von diesem törichten Geschöpf! Meine liebe Mutter hat mir immer eingeschärft, dass eine Dame sich in der Öffentlichkeit stets zusammennehmen müsse, wie sehr sie sich auch in ihren eigenen vier Wänden gehen lassen mochte.«
»Ein bewundernswerter Grundsatz«, bemerkte Sir Henry mit ernster Miene.
»Als ich mit meiner Schildung zu Ende war, sagte der Inspektor zu mir: ›Vielen Dank, gnädige Frau. Nun muss ich Sie leider bemühen, sich die Leiche noch einmal anzusehen. Hat sie genau so gelegen, als Sie das Zimmer betraten? Ist sie von niemandem berührt worden?‹
Ich erklärte ihm, dass ich Mr Sanders daran gehindert hätte, und der Inspektor nickte beifällig.
›Der Herr scheint furchtbar erregt zu sein‹, bemerkte er.
›Das scheint er wohl - ja‹, erwiderte ich.
Ich glaube nicht, dass ich das Wort ›scheint‹ besonders betont habe. Dennoch warf der Inspektor mir einen ziemlich scharfen Blick zu.
›Wir können also annehmen, dass die Leiche sich in genau derselben Stellung befindet wie am Anfang, wie?‹ fragte er.
›Ja, abgesehen von dem Hut‹, entgegnete ich.
Der Inspektor blickte mich erstaunt an.
›Was ist mit dem Hut?‹
Ich setzte ihm auseinander, dass die arme Gladys den Hut zuerst auf dem Kopf gehabt habe, während er jetzt neben ihr liege, und ich sprach die Vermutung aus, dass die Polizei ihn wohl entfernt habe. Doch der Inspektor verneinte diese Tatsache ganz entschieden. Nichts sei bisher angerührt oder bewegt worden. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die arme hingestreckte Gestalt hinab. Gladys trug Straßenkleidung - einen weiten dunkelroten Tweedmantel mit grauem Pelzkragen. Der Hut, ein billiges Stück aus rotem Filz, lag gerade neben ihrem Kopf. Eine Weile stand der Inspektor grübelnd da. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke.
›Können Sie sich ganz zufällig daran erinnern, gnädige Frau, ob die Verstorbene gewöhnlich Ohrringe trug?‹
Nun habe ich, Gott sei Dank, eine recht gute Beobachtungsgabe, und ich entsann mich sofort, dass ich gerade unter dem Hutrand einen Schimmer von Perlen gesehen habe, obgleich ich in dem Augenblick keine besondere Notiz davon genommen hatte. Seine Frage konnte ich also bejahen.
›Dann ist die Sache ja klar‹, meinte er. ›Der Schmuckkasten der Dame ist geplündert worden - nicht, dass sie etwas Wertvolles besaß, soweit ich unterrichtet bin -, und die Ringe hat man ihr von den Fingern gezogen. Der Mörder muss also die Ohrringe vergessen und sie geholt haben, nachdem der Mord entdeckt war. Ein hartgesottener Bursche! Oder vielleicht‹ - bei diesen Worten starrte er im Zimmer umher und sagte langsam: ›Vielleicht hatte er sich im Zimmer versteckt und war die ganze Zeit über hier.‹
Doch ich verwarf die Idee. Ich selbst, erklärte ich ihm, hätte unter das Bett geschaut, und der Geschäftsführer habe die Türen des Kleiderschranks geöffnet. Und sonst gebe es keine Versteckplätze im Zimmer, wo ein Mann sich verbergen könne. Allerdings sei das Hutfach mitten im Kleiderschrank verschlossen gewesen, aber da es nicht sehr tief und außerdem mit Regalen versehen sei, habe sich kein Mann darin verstecken können.
Der Inspektor nickte langsam, während ich dies alles erklärte.
›Ich glaube Ihnen, gnädige Frau. Dann muss er eben, wie ich schon sagte, noch einmal zurückgekommen sein. Ein wirklich abgebrühter Geselle.‹
›Aber der Geschäftsführer hat doch die Tür abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen!‹
›Das hat nichts zu bedeuten. Der Dieb hat den Balkon und die Feuertreppe benutzt. Wahrscheinlich haben Sie ihn sogar bei der Arbeit gestört. Da ist er einfach zum Fenster hinausgeschlüpft und, als Sie alle fort waren, wieder zurückgekehrt, um mit seiner Arbeit fortzufahren.‹
›Sind Sie sicher‹, fragte ich, ›dass es ein Dieb war?‹
Er erwiderte ziemlich trocken:
›Na, es sieht doch ganz danach aus, nicht wahr?‹
Aber etwas in seinem Ton gab mir eine gewisse Befriedigung. Ich hatte das Gefühl, dass er Mr Sanders in seiner Rolle als trauernder Witwer nicht allzu ernst nehmen würde.
Ich gebe unumwunden zu, dass ich von dieser fixen Idee ganz besessen war. Dass dieser Sanders seine Frau umbringen wollte, stand für mich durchaus fest. Was ich jedoch nicht mit einkalkuliert hatte, war dieses seltsame und phantastische Etwas, das man als Koinzidenz bezeichnet. Meine Ansichten über Mr Sanders - davon war ich überzeugt - waren absolut richtig. Der Mann war ein Schurke. Aber obgleich sein geheuchelter Kummer mich nicht für eine Sekunde täuschte, so hatte ich doch empfunden, als wir zuerst ins Zimmer traten, dass seine Überraschung und Verwirrung außerordentlich echt schienen - absolut natürlich. Ich muss gestehen, dass mich nach meiner Unterhaltung mit dem Inspektor ein seltsamer Zweifel beschlich. Denn wenn Sanders diese furchtbare Tat begangen hatte, konnte ich mir keinen stichhaltigen Grund vorstellen, warum er sich über die Feuertreppe zurückschleichen sollte, um seiner Frau die Ohrringe fortzunehmen. Das wäre durchaus nicht klug gewesen, und Sanders war ein sehr kluger Mann - darum hielt ich ihn ja für so gefährlich.«
Miss Marple blickte sich im Kreise ihrer Zuhörer um.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Es war erst drei Monate her, dass Archie und ich uns gesehen hatten - drei Monate, die wir, so schien es mir, in einer anderen Zeitdimension durchschritten hatten. Völlig neue Erfahrungen hatten mich geprägt: der Tod meiner Freunde, Ungewissheit und ein verändertes Lebensgefühl. Auch Archie hatte neue Erfahrungen gesammelt, wenngleich auf einer anderen Ebene. Tod und Niederlage, Rückzug und Angst hatten ihn verändert. Die Folge war, dass wir uns fast wie Fremde begegneten.
Es war, als müssten wir wieder ganz von vorn anfangen. Der Unterschied zwischen uns beiden machte sich sofort bemerkbar. Seine betonte Lässigkeit, sein frivoles Gehaben störten mich. Ich war zu jung, um zu begreifen, dass es für ihn keine andere Möglichkeit gab, seinem neuen Leben die Stirn zu bieten. Ich wiederum war ernster und empfindsamer geworden und hatte jene Unbeschwertheit einer glücklichen Mädchenzeit weitgehend abgelegt. Es war, als bemühten wir uns vergeblich, einander näherzukommen, als entdeckten wir bestürzt, dass wir vergessen hatten, wie wir das anstellen sollten.
In einem Punkt zeigte er sich entschlossen - das machte er von Anfang an klar: Heiraten kam nicht in Frage. »Das wäre völlig falsch«, sagte er. »Auch meine Freunde denken so. Man darf nichts übereilen. Du kriegst eine Kugel ab, es erwischt dich, und du lässt eine junge Witwe zurück. Am Ende ist auch noch ein Kind unterwegs - nein, nein, das wäre egoistisch und falsch.«
Ich widersprach ihm auf das heftigste. Aber es gehörte zu Archies Charakterzügen, dass er immer restlos von bestimmten Ideen überzeugt war. Er war immer ganz sicher, dass er etwas tun müsse und es auch tun würde. Damit will ich nicht sagen, dass er nie seine Meinung änderte - doch, das tat er, und zuweilen recht plötzlich. Er konnte sogar von einem Extrem ins andere fallen und erklärte von diesem Augenblick an Schwarz für Weiß und Weiß für Schwarz. Worauf er dann von der Richtigkeit seines neuen Standpunkts ebenso restlos überzeugt war wie zuvor von dem gegenteiligen. Ich beugte mich seinem Willen, und wir machten uns daran, die wenigen Tage, die uns vergönnt waren, zu genießen.
Ein paar Tage London, und dann sollte ich mit ihm nach Clifton hinunterfahren und Weihnachten mit ihm im Hause seines Stiefvaters und seiner Mutter verbringen. Das war ein durchaus vernünftiges Arrangement, aber noch bevor wir nach Clifton abreisten, hatten wir einen richtigen Streit. Einen lächerlichen, aber deshalb nicht weniger erbittert geführten Streit.
Am Morgen unserer Abreise erschien Archie mit einem Geschenk für mich im Hotel. Es war ein prachtvolles Reisenecessaire, ein Stück, mit dem jede Millionärin, ohne sich schämen zu müssen, im Ritz hätte absteigen können. Hätte er mir einen Ring gebracht, ein Armband, wie teuer auch immer, ich würde keinen Einwand erhoben, würde das Geschenk freudig und stolz entgegengenommen haben; aber aus irgendeinem Grund revoltierte ich gegen das Necessaire. Ich hielt es für eine absurde Extravaganz, für etwas, das ich nie verwenden würde. Ich wollte es nicht haben, sagte ich, und er müsste es zurücktragen. Er war böse, ich war böse. Ich zwang ihn, es zurückzutragen. Eine Stunde später kam er wieder, und wir versöhnten uns. Wir verstanden nicht, was über uns gekommen war. Wie hatten wir so töricht sein können? Er gab zu, dass es ein dummes Geschenk gewesen war. Ich gab zu, dass es unhöflich von mir gewesen war, das zu sagen. Aber der Streit und die darauf folgende Versöhnung führten dazu, dass wir uns jetzt noch näher standen als zuvor.
Mutter kehrte nach Devon zurück, und Archie und ich fuhren nach Clifton. Meine zukünftige Schwiegermutter ließ weiterhin ihren Charme spielen, wenn auch in etwas übertrieben irischer Manier. Ihr anderer Sohn Campbell sagte mir einmal: »Mutter ist eine sehr gefährliche Frau.« Damals verstand ich das nicht, aber heute glaube ich zu wissen, was er meinte. Die überströmende Zuneigung, die sie für einen Menschen auf brachte, konnte von einem Moment zum andern ins Gegenteil umschlagen. Heute gefiel es ihr, ihre zukünftige Schwiegertochter zu lieben; morgen würde sie ihr alles Böse wünschen.
Es war eine anstrengende Fahrt nach Bristol: In den Zügen herrschten chaotische Zustände, und sie hatten stundenlange Verspätungen. Aber schließlich kamen wir doch an und wurden äußerst herzlich willkommen geheißen. Erschöpft von den Aufregungen des Tages und der Fahrt ging ich zu Bett.
Es mag eine halbe Stunde, vielleicht auch eine Stunde später gewesen sein, ich schlief noch nicht, als es an der Tür klopfte. Ich stand auf und öffnete. Es war Archie. Er kam herein, schloss die Tür hinter sich und sagte schroff: »Ich habe es mir überlegt. Wir müssen heiraten. Sofort. Morgen werden wir heiraten.«
»Aber du hast doch gesagt ...«
»Kümmere dich nicht darum, was ich gesagt habe. Du hattest Recht, und ich hatte Unrecht. Natürlich ist es das einzig Vernünftige. Es bleiben uns noch zwei Tage, bis ich zurück muss.«
»Ja, aber ...« Es gab so vieles, was ich hätte sagen wollen, aber nicht herausbrachte. Ich habe schon immer darunter gelitten, dass ich gerade dann nicht reden kann, wenn ich etwas klar sagen will.
»Das wird alles schrecklich kompliziert werden«, sagte ich mit schwacher Stimme. Ich sah schon jetzt die hunderterlei Schwierigkeiten, die Archie nicht sah. Archie hatte immer nur das Wesentliche im Auge. Noch gestern hatte er es für einen Wahnsinn gehalten, im Krieg zu heiraten; heute war er felsenfest davon überzeugt, dass es das einzig Richtige für uns war. Die technischen Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, die verletzten Gefühle unserer engsten Verwandten, das alles berührte ihn überhaupt nicht. Wir gerieten uns in die Haare. Wir stritten uns fast so heftig, wie wir es vor vierundzwanzig Stunden getan hatten, diesmal natürlich mit umgekehrten Vorzeichen. Dass er auch diesmal Recht behielt, brauche ich nicht zu betonen.
»Aber ich glaube, man kann gar nicht so schnell heiraten«, sagte ich zweifelnd. »Es ist sehr schwierig.«
»Natürlich können wir«, erwiderte Archie fröhlich. »Wir können uns eine Sondergenehmigung verschaffen - vom Erzbischof von Canterbury.«
»Ist das nicht sehr teuer?«
»Es wird ein bisschen was kosten. Aber wir werden das schon schaffen. Es bleibt uns sowieso nichts anderes übrig. Morgen ist ja schon Heiligabend. Also, bist du einverstanden?«
Ich nickte. Er ging, und ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen. Ich machte mir Sorgen. Was würde Mutter dazu sagen? Was würde Madge dazu sagen? Was würde Archies Mutter dazu sagen? Warum hatte Archie sich nicht in London für unsere Heirat entschieden, wo alles leicht und einfach gewesen wäre? Na ja. Erschöpft schlief ich ein.
Viele meiner Befürchtungen bewahrheiteten sich am nächsten Morgen. Zuerst mussten wir es Peg beibringen. Sie brach sofort in hysterische Tränen aus und zog sich ins Bett zurück.
»Dass mein eigener Sohn mir das antun muss!«, seufzte sie.
»Archie«, sagte ich, »wir sollten es besser lassen. Deine Mutter ist ganz außer sich.«
»Ist mir doch egal, ob sie außer sich ist oder nicht«, gab Archie zurück. »Wir sind seit zwei Jahren verlobt. Sie hat genug Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen.«
»Sie scheint es schrecklich schwer zu nehmen.«
»Mich so aufzuregen!«, schluchzte Peg. Sie lag, ein in Eau de Cologne getränktes Taschentuch auf der Stirn, in ihrem verdunkelten Schlafzimmer. Archie und ich standen da wie zwei begossene Pudel. Archies Stiefvater erlöste uns. Er holte uns ins Wohnzimmer hinunter und sagte: »Ich finde, ihr macht es genau richtig. Sorgt euch nicht wegen Peg. Sie verliert immer die Fassung, wenn sie von etwas überrascht wird. Sie hat dich sehr gern, Agatha, und sie wird sich sehr darüber freuen, sobald sie sich wieder beruhigt hat. Aber erwartet nicht von ihr, dass sie sich schon heute freut. Und jetzt geht los und veranlasst alles Nötige. Es bleibt euch nicht allzu viel Zeit. Und vergesst nicht: Ich bin sicher, ich bin ganz sicher, dass ihr es richtig macht.«
Obwohl ich den Tag ziemlich beklommen und besorgt begonnen hatte, war ich schon zwei Stunden später voller Kampfeslust. Es gab enorme Schwierigkeiten zu überwinden, und je geringer unsere Aussicht wurde, noch heute heiraten zu können, desto fester waren wir entschlossen, es doch zu schaffen.
Zuerst fragte Archie einen seiner früheren Religionslehrer um Rat. Angeblich wäre eine Sondergenehmigung von Doctor's Commons, dem für Ehe- und Testamentsangelegenheiten zuständigen Gerichtshof, für fünfundzwanzig Pfund zu bekommen, wurde uns gesagt. Weder Archie noch ich besaßen fünfundzwanzig Pfund, aber das störte uns nicht weiter; sicher würden wir uns das Geld von jemandem leihen können. Das Schwierige war, dass man persönlich diese Erlaubnis einholen musste und dass man sie am Weihnachtstag nicht ausgestellt bekam. Mit der Sondergenehmigung war es also Essig. Dann gingen wir auf ein Standesamt. Auch hier wurden wir abgewiesen. Man muss sich vierzehn Tage vor der Zeremonie anmelden. Die Zeit verging. Aber ein freundlicher Beamter, mit dem wir bisher noch nicht gesprochen hatten, wusste Rat. »Mein lieber Freund«, sagte er zu Archie, »Sie haben doch hier Ihren Wohnsitz, nicht wahr? Ich meine, Ihre Mutter und Ihr Stiefvater wohnen hier?«
»Ja«, antwortete Archie.
»Sie haben also einen Koffer hier, Sie haben einen Teil Ihrer Kleidung, Ihrer Sachen hier, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dann brauchen Sie keine vierzehn Tage zu warten. Sie können eine ganz gewöhnliche Heiratserlaubnis kaufen und in Ihrer Pfarrkirche noch heute Nachmittag heiraten.« Die Eheerlaubnis kostete acht Pfund. Die hatten wir. Was dann kam, war eine einzige Hetzerei.
Wir suchten den Vikar der Kirche am Ende der Straße. Er war nicht dort. Wir fanden ihn im Haus eines Freundes. Überrascht erklärte er sich bereit, die Zeremonie vorzunehmen. Wir sausten zu Peg zurück, um uns mit einer Kleinigkeit zu stärken. Mit Peg selbst war nichts anzufangen: »Ich will nichts hören«, rief sie, »ich will nichts hören!«, und versperrte ihre Tür.
Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Wir eilten zur Kirche - es war die Emmanuelkirche, glaube ich. Dann stellte sich heraus, dass wir einen zweiten Zeugen brauchten. Ich stürzte auf die Straße hinaus und wollte schon den erstbesten Fremden in die Kirche lotsen, als ganz zufällig ein Mädchen vorbeikam, das ich kannte. Ich hatte vor zwei Jahren ein paar Tage bei ihr in Clifton gewohnt. Yvonne Bush war zwar einigermaßen überrascht, erklärte sich aber bereit, als impromptu Brautjungfer und Zeugin zu fungieren. Wir liefen in die Kirche zurück. Der Organist stimmte den Hochzeitsmarsch an.
Noch selten hatte sich eine Braut weniger um ihr Aussehen gekümmert als ich, ging es mir durch den Kopf, als die Zeremonie begann. Kein weißes Kleid, keinen Schleier, nicht einmal eine besonders hübsche Bluse. Ich trug ein ganz gewöhnliches Kostüm mit einem kleinen purpurfarbenen Samthut, und ich hatte nicht einmal Zeit gehabt, mir das Gesicht oder die Hände zu waschen. Wir mussten beide darüber lachen.
Die Zeremonie ging ordnungsgemäß zu Ende - und wir nahmen die nächste Hürde in Angriff. Da Peg immer noch nicht ansprechbar war, beschlossen wir nach Torquay zu fahren, dort im Grandhotel abzusteigen und den Weihnachtsabend mit meiner Mutter zu verbringen. Aber zuerst musste ich sie natürlich anrufen und ihr mitteilen, was geschehen war. Es war sehr schwer durchzukommen und das Ergebnis meiner Bemühungen nicht gerade überwältigend. Meine Schwester war da und reagierte sehr ungehalten auf meine Mitteilung.
»Mutter so zu überrumpeln! Du weißt doch, wie schwach ihr Herz ist! Du bist wirklich gefühllos!«
Wir stiegen in den Zug - er war gestoßen voll - und kamen gegen Mitternacht in Torquay an. Ich fühlte mich nicht ganz frei von Schuld. Die Menschen, die uns am nächsten standen, waren böse auf uns. Wir hatten so viel Unruhe in ihr Leben gebracht. Ich glaube nicht, dass Archie meine Gefühle teilte, und wenn, würde es ihn nicht weiter beunruhigt haben. Sehr bedauerlich, dass die Leute sich so aufregen, würde er gesagt haben, was war denn schon dabei? Wir hatten das einzig Richtige getan - er war dessen ganz sicher. Nur eines machte ihn nervös. Das zeigte sich, als wir in den Zug stiegen und er plötzlich, wie ein Zauberkünstler, einen zweiten Koffer hervorzog. »Ich hoffe«, wandte er sich an seine junge Braut, »ich hoffe, du bist nicht böse deswegen.«
»Archie! Es ist das Reisenecessaire!«
»Ja. Ich habe es nicht zurückgetragen. Es macht dir doch nichts aus, nicht wahr?«
»Natürlich nicht. Ich bin froh, dass du es mir wieder schenkst.«
War unser Hochzeitstag ein einziger Kampf gegen eine ganze Reihe von Krisen gewesen, so gestaltete sich der Weihnachtstag wohltuend und friedlich. Alle hatten Zeit gehabt, über ihren Schock hinwegzukommen. Madge war liebevoll und hatte ihren Ärger vom Vortag völlig vergessen; Mutter hatte sich von ihrer Herzattacke erholt und sonnte sich in unserem Glück. Auch Peg, so hoffte ich, war wieder auf den Beinen. (Archie versicherte mir, dass ich daran nicht zweifeln müsse.) Und so genossen wir den Weihnachtstag in vollen Zügen. Am nächsten Tag fuhr ich mit Archie nach London und verabschiedete mich von ihm, als er sich wieder nach Frankreich einschiffte. Ich sollte ihn sechs lange Monate nicht wiedersehen.
Eine Weihnachtstragödie
Aus dem Englischen von Maria Meinert
»Ich möchte eine Beschwerde vorbringen«, erklärte Sir Henry Clithering.
Mit zwinkernden Augen blickte er sich im Kreise um. Colonel Bantry saß mit ausgestreckten Beinen im Sessel und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Kaminsims. Seine Frau blätterte in einem Blumenkatalog. Dr. Lloyd blickte mit offener Bewunderung auf Jane Helier, und diese betrachtete nachdenklich ihre rosafarbenen polierten Fingernägel. Nur Miss Marple saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und zwinkerte Sir Henry ebenfalls mit ihren blauen Augen zu.
»Eine Beschwerde?«, murmelte sie.
»Eine sehr ernste Beschwerde. Wir sind hier heute Abend sechs Personen; drei Vertreter jeden Geschlechts, und ich protestiere im Namen der unterdrückten männlichen Wesen. Wir haben drei Geschichten gehört, die alle von den Männern erzählt wurden. Ich erkläre hiermit feierlich, dass die Damen nicht ihren angemessenen Teil zur Unterhaltung beigetragen haben.«
»Oho!«, erwiderte Mrs Bantry empört. »Das möchte ich bestreiten. Wir haben mit größtem Verständnis zugehört. Außerdem haben wir ein geziemendes Wesen an den Tag gelegt, das sich davor scheut, die Blicke aller auf sich zu ziehen!«
»Eine ausgezeichnete Entschuldigung«, bemerkte Sir Henry, »aber wir lassen sie nicht gelten. Ich bin überzeugt, dass eine der Damen ein besonders geschätztes Geheimnis in petto hat. Wie ist es, Miss Marple, mit der ›Merkwürdigen Begebenheit mit der Putzfrau‹ oder der ›Mysteriösen Angelegenheit bei der Mütterversammlung‹? Sie und St. Mary Mead dürfen mich nicht enttäuschen.«
Kopfschüttelnd erwiderte Miss Marple:
»Ich habe nicht viel erlebt, Sir Henry. Natürlich haben wir unsere kleinen rätselhaften Angelegenheiten, aber die würden Sie nicht interessieren.«
»Und wie steht's mit Ihnen, Miss Helier?«, fragte Colonel Bantry. »Sie müssen doch sicher interessante Erlebnisse gehabt haben.«
»Ja, wirklich«, stimmte Dr. Lloyd zu.
»Ich?«, fragte Jane. »Sie meinen, dass ich Ihnen jetzt etwas von mir erzähle?«
»Oder irgendetwas, das einem Ihrer Freunde passiert ist«, ergänzte Sir Henry.
»Oh!«, sagte Jane vage. »Ich glaube, ich habe gar nichts Besonderes erlebt - jedenfalls nicht so etwas. Blumen natürlich und seltsame Botschaften - aber das sind einfach Männergeschichten, nicht wahr? Ich glaube nicht -« Sie brach gedankenverloren ab.
»Ich sehe schon, wir müssen auf die kleinen Angelegenheiten zurückkommen«, meinte Sir Henry. »Also beginnen Sie, Miss Marple.«
»Sie belieben wohl zu scherzen, Sir Henry. Aber wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir tatsächlich eine Begebenheit ein - Begebenheit ist allerdings nicht der richtige Ausdruck, es handelt sich um etwas viel Ernsteres: um eine Tragödie. Und ich war gewissermaßen darin verwickelt. Aber was ich getan habe, hat mich nie gereut - niemals. Doch ist es nicht in St. Mary Mead geschehen.«
»Da bin ich aber enttäuscht«, meinte Sir Henry. »Aber ich werde versuchen, mich damit abzufinden. Ich wusste ja, dass wir uns auf Sie verlassen können.«
Er setzte sich voller Erwartung in seinem Sessel zurecht.
»Ich hoffe, dass ich es Ihnen richtig schildern kann«, sagte sie ein wenig vorsichtig. »Ich neige etwas zur Weitschweifigkeit. Ohne es zu wissen, verliert man oft den Faden, und es ist so schwer, sich an die richtige Reihenfolge zu erinnern. Sie müssen Geduld mit mir haben, wenn ich mich als eine schlechte Erzählerin entpuppe. Außerdem ist es schon so lange her.
Wie gesagt, die Geschichte spielte sich nicht in St. Mary Mead, sondern in einem Thermalbad ab.«
»Unfreundliche Plätze«, schob Colonel Bantry ein, »absolut scheußlich! Man muss früh aus den Federn und dieses widerliche Wasser trinken. Alte Frauen sitzen massenweise herum, mit ihren tausend kleinen Gebrechen und ihrem endlosen Geschwätz. Mein Gott, wenn ich bloß daran denke -«
»Das ist leider wahr«, stimmte Miss Marple ihm zu. »Ich selbst -«
»Meine liebe Miss Marple«, rief der Colonel entsetzt. »Ich habe natürlich nicht für eine Sekunde -«
Rosa angehaucht brachte sie ihn mit einer kleinen Geste zum Schweigen.
»Aber es ist wahr, Colonel. Nur möchte ich noch etwas hinzufügen. Was war es doch gleich? Ach so, ja. Es wird, wie Sie sagen, viel gelästert. Und die Menschen urteilen sehr hart darüber - besonders junge Menschen. Mein Neffe, der Bücher schreibt - und, wie ich glaube, sehr gescheite -, hat äußerst sarkastische Bemerkungen gemacht über Leute, die ohne jeglichen Beweis den guten Ruf anderer vernichten.
Hierzu möchte ich bemerken, dass die jungen Leute oft nicht nachdenken oder die Tatsachen prüfen. An dem Getratsche ist nämlich meistens sehr viel Wahres dran! Und wenn die jungen Leute der Sache einmal auf den Grund gingen, würden sie die Entdeckung machen, dass es in neun von zehn Fällen stimmt. Und darum regen sich die Leute auch so darüber auf.«
»Die göttliche Eingebung, wie?«, sagte Sir Henry ironisch.
»O nein, durchaus nicht. Es handelt sich in Wirklichkeit um praktische Erfahrungen. Wenn Sie einem Ägyptologen einen dieser merkwürdigen kleinen Käfer zeigen, kann er Ihnen, wie ich gehört habe, aus dem Gefühl heraus sagen, welcher Periode er angehört oder ob es eine Imitation aus Birmingham ist. Aber er kann nicht immer bestimmte Gründe dafür angeben. Er weiß es eben. Er hat sich ein Leben lang mit solchen Dingen beschäftigt.
Ebenso haben die von meinem Neffen als ›nutzlos‹ bezeichneten Frauen sehr viel freie Zeit, und sie interessieren sich in der Hauptsache für Menschen. Und auf diese Weise werden sie sozusagen Sachverständige auf diesem Gebiet. Nun, diese jungen Leute heutzutage - sie reden sehr frei über Dinge, die in meiner Jugend nicht erwähnt wurden; auf der anderen Seite aber sind sie sehr naiv. Sie glauben an alles und jeden. Und wenn man sie noch so sanft zu warnen versucht, wird einem gesagt, man sei viktorianisch - und damit ist die Sache erledigt.
Nun muss ich bekennen, dass ich auch etwas empfindlich bin, und gedankenlose Bemerkungen haben mich schon oft aufs tiefste verletzt. Ich weiß, Männer interessieren sich nicht für häusliche Angelegenheiten, aber ich muss doch kurz mein Hausmädchen Ethel erwähnen - ein sehr hübsches Mädchen und in jeder Weise gefällig. Nun, sobald ich sie sah, wusste ich, dass sie der gleiche Typ wie Annie Webb war. Wenn sich die Gelegenheit ergab, würde sie Mein und Dein nicht unterscheiden können. Daher ließ ich sie am Ende des Monats gehen und schrieb ihr ins Zeugnis, dass sie ehrlich und bescheiden sei. Aber unter vier Augen warnte ich die alte Mrs Edwards davor, sie zu nehmen. Mein Neffe Raymond war entsetzt und erklärte mir, er habe noch nie so etwas Schändliches - ja, Schändliches - gehört. Na, sie ging dann zu Lady Ashton, die zu warnen ich mich nicht verpflichtet fühlte. Und was geschah? Alle Spitzen wurden von ihrer Unterwäsche abgeschnitten und zwei Diamantbroschen gestohlen - und das Mädchen schlich sich mitten in der Nacht davon, und seitdem hat man nichts mehr von ihr gehört!«
Miss Marple hielt inne, holte tief Atem und fuhr dann fort.
»Sie werden sicher denken, dies alles hat nichts zu tun mit dem, was sich in dem Kurort ereignete - aber indirekt ist es doch so. Denn es ist eine Erklärung dafür, warum ich nicht den geringsten Zweifel daran in meinem Herzen hatte - gleich als ich die beiden Sanders zusammen sah -, dass er beabsichtigte, sie umzubringen.«
»Was sagen Sie da?«, fragte Sir Henry erstaunt.
»Ich sage, Sir Henry, dass ich durchaus nicht im Zweifel war. Mr Sanders war ein stattlicher, gut aussehender Mann von sehr herzlichem Wesen und bei allen recht beliebt. Und niemand hätte netter zu seiner Frau sein können als er. Aber ich wusste Bescheid! Er hatte die Absicht, sie aus dem Weg zu räumen.«
»Aber meine liebe Miss Marple -«
»Ja, ich weiß. Mein Neffe Raymond West würde mir dasselbe sagen, nämlich, dass ich nicht den geringsten Beweis hätte. Aber ich muss dabei an Walter Hones denken, den Wirt des Grünen Mannes. Als er eines Abends mit seiner Frau nach Hause ging, fiel sie in den Fluss - und er ließ sich das Versicherungsgeld auszahlen! Ich könnte noch ein paar Leute anführen, die bis heute ungestraft herumlaufen - sogar einen aus unseren Kreisen. Verbrachte die Sommerferien in der Schweiz, um mit seiner Frau Kletterpartien zu machen. Ich bat sie vorher, nicht mitzufahren; das arme Geschöpf wurde nicht einmal zornig mit mir, wie man es hätte erwarten können - sie lachte nur. Es erschien ihr komisch, dass eine merkwürdige Alte wie ich so etwas über ihren Harry sagen sollte. Na, und dann gab es eben einen Unfall - und Harry ist jetzt mit einer anderen Frau verheiratet. Aber was konnte ich tun? Ich wusste es zwar, hatte aber keine Beweise.«
»Oh! Miss Marple«, rief Mrs Bantry. »Das ist doch wohl nicht möglich!«
»Meine Liebe, solche Dinge passieren alle Tage. Und Männer sind dieser Versuchung besonders ausgesetzt, da sie so viel stärker sind. Es ist ja so leicht, wenn es wie ein Unfall aussieht. Wie gesagt, bei den Sanders hatte ich denselben Eindruck. Wir fuhren mit der Straßenbahn. Da unten alles voll war, mussten wir nach oben klettern. Dann standen wir alle drei auf, um auszusteigen, und Mr Sanders verlor das Gleichgewicht und fiel heftig gegen seine Frau, die kopfüber nach unten stürzte. Glücklicherweise war der Schaffner ein starker junger Mann und fing sie geschickt auf.«
»Das war aber doch bestimmt ein Zufall.«
»Natürlich war es ein Zufall - nichts hätte zufälliger aussehen können. Aber Mr Sanders war, wie er mir erzählt hatte, in der Handelsmarine gewesen, und wenn jemand auf einem schwankenden Schiff das Gleichgewicht bewahren kann, verliert er es nicht gleich in einer Elektrischen, zumal wenn eine alte Frau wie ich fest auf den Füßen steht. Das kann mir keiner weismachen.«
»Jedenfalls dürfen wir annehmen, dass Ihnen die Sache auf der Stelle sonnenklar war, nicht wahr, Miss Marple?«, meinte Sir Henry.
Die alte Dame nickte.
»Ich war ziemlich sicher, und ein anderer Zwischenfall, als wir später die Straße überquerten, bestätigte meinen Eindruck. Nun frage ich Sie, Sir Henry, was konnte ich machen? Hier war eine nette, zufriedene, glückliche kleine Frau, die in Kürze ermordet werden sollte.«
»Meine liebe gnädige Frau, ich bin einfach sprachlos.«
»Seien Sie nicht so ironisch. Wie die meisten Leute heutzutage neigen Sie zu der Ansicht, dass so etwas nicht möglich ist. Aber es verhielt sich so, und ich wusste es. Leider ist man in seiner Handlungsweise so sehr behindert. Ich konnte zum Beispiel nicht zur Polizei gehen. Und die junge Frau zu warnen wäre völlig nutzlos gewesen; denn ich konnte sehen, dass sie diesen Mann liebte. Also bemühte ich mich darum, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Man hat reichlich Gelegenheit dazu, wenn man am Feuer sitzt und Handarbeiten macht. Mrs Sanders, Gladys hieß sie mit Vornamen, redete nur zu gern. Allem Anschein nach waren sie noch nicht lange verheiratet. Ihr Mann hatte Aussicht, bald in den Besitz eines Vermögens zu kommen. Aber im Augenblick waren sie ziemlich schlecht dran. Ja, sie lebten von ihrem kleinen Einkommen. Diese Geschichte ist nicht neu. Sie bedauerte es sehr, dass sie ihr Kapital nicht anrühren konnte. Anscheinend hatte irgendjemand irgendwo etwas Verstand gehabt! Aber ich bekam heraus, dass sie das Geld testamentarisch einer anderen Person vermachen konnte. Und sie und ihr Mann hatten gleich nach der Hochzeit jeder ein Testament zugunsten des anderen gemacht. Sehr rührend. Natürlich, wenn Jacks Angelegenheit in Ordnung kam - das war der Refrain, den man den ganzen Tag hörte, und inzwischen waren sie so arm wie Kirchen mäuse, hatten sogar ein Zimmer im oberen Stockwerk, wo die Dienstboten alle schliefen - wie gefährlich, falls ein Feuer ausbrach! Obgleich zufälligerweise gerade hinter ihrem Fenster eine Feuertreppe hinabführte. Ich erkundigte mich vorsichtig danach, ob auch ein Balkon vorhanden sei - sehr gefährlich, so ein Balkon. Ein Stoß genügt!
Ich nahm ihr das Versprechen ab, nicht auf den Balkon zu treten, unter dem Vorwand, dass ich einen Traum gehabt hätte. Das machte einen tiefen Eindruck auf sie - manchmal kann man durch Aberglauben sehr viel erreichen. Sie war ein blonder Typ mit käsiger Gesichtsfarbe und einer unordentlichen Haarrolle im Nacken. Sehr leichtgläubig. Sie erzählte, was ich ihr gesagt hatte, ihrem Mann, und es fiel mir auf, dass er mich ein paar Mal recht merkwürdig anschaute. Er war nicht leichtgläubig, und er wusste, dass ich auch in der Straßenbahn gewesen war.
Aber ich war in Sorge - in schrecklicher Sorge -, weil ich nicht wusste, wie ich ihn an der Ausführung seines Planes hindern konnte. Für den Augenblick wäre es mir natürlich möglich gewesen. Ich hätte ihm nur mit ein paar Worten anzudeuten brauchen, dass ich Verdacht gegen ihn schöpfte. Aber dann hätte er seinen Plan einfach auf später verschoben. Nein, ich gelangte allmählich zu der Überzeugung, dass nur ein kühner Schritt sie retten konnte - man musste ihm eine Falle stellen. Wenn man ihn dazu bringen konnte, einen Anschlag auf ihr Leben zu machen nach einem von mir entworfenen Plan - nun, dann vermochte man ihn zu entlarven, und sie war gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu sehen, wie schwer der Schock für sie auch sein mochte.«
»Ich bin sprachlos«, erklärte Dr. Lloyd. »Was für einen Plan hätten Sie da bloß in Anwendung gebracht?«
»Keine Angst, ich hätte schon einen gefunden«, erwiderte Miss Marple. »Aber der Mann war zu schlau für mich. Er wartete nicht. Wahrscheinlich ahnte er, dass ich misstrauisch war. Also schlug er zu, bevor ich sicher sein konnte. Er wusste, dass ich bei einem Unfall Verdacht schöpfen würde. So machte er gleich einen Mord daraus.«
Alle im Kreise schnappten nach Luft. Miss Marple nickte und fuhr mit grimmiger Miene fort:
»Ich befürchte, ich bin ein wenig unvermittelt damit herausgeplatzt, und ich will versuchen, Ihnen der Reihe nach alles zu erzählen. Stets verspüre ich eine gewisse Bitterkeit - es will mir scheinen, als hätte ich es irgendwie verhindern sollen. Aber das Schicksal hat es vielleicht nicht anders gewollt. Auf jeden Fall habe ich getan, was in meinen Kräften stand.
Es lag ein seltsam unheimliches Gefühl in der Luft. Etwas schien auf uns allen zu lasten. Eine Ahnung von nahem Unheil. Zunächst war da einmal die Geschichte mit George, dem Portier. Er war jahrelang dort gewesen und kannte jeden. Dann bekam er Bronchitis und eine Lungenentzündung und starb am vierten Tag. Schrecklich traurig. Ein wirklicher Schlag für alle. Noch dazu vier Tage vor Weihnachten! Dann bekam eines der Hausmädchen - ein so nettes Geschöpf - eine Blutvergiftung am Finger und starb tatsächlich innerhalb von vierundzwanzig Stunden.
Ich war gerade mit Miss Trollope und der alten Mrs Carpenter im Salon, und Mrs Carpenter war geradezu dämonisch - sie schien sich regelrecht daran zu weiden.
›Hören Sie auf mich‹, sagte sie. ›Dies ist noch nicht das Ende. Sie kennen doch das Sprichwort? Aller guten Dinge sind drei. Das habe ich immer wieder erlebt. Wir werden noch einen Todesfall haben. Ganz ohne Zweifel. Und wir brauchen nicht lange zu warten. Aller guten Dinge sind drei.‹
Bei diesen Worten, die sie, mit dem Kopf nickend, beim Geklapper ihrer Stricknadeln hervorbrachte, blickte ich zufällig auf, und da stand Mr Sanders im Türrahmen. Einen Augenblick lang war er nicht auf der Hut, und ich sah die nackte Wahrheit in seinen Augen. Bis zu meiner letzten Stunde glaube ich, dass es die Worte dieser grässlichen Mrs Carpenter waren, die den Plan bei ihm auslösten. Ich konnte ganz deutlich sehen, welche Gedanken sich hinter seiner Stirn verbargen.
In seiner jovialen Art lächelnd, trat er ins Zimmer.
›Kann ich für die Damen irgendwelche Weihnachtseinkäufe erledigen?‹, fragte er. ›Ich gehe nämlich gleich in den Ort.‹
Lachend und schwatzend blieb er noch eine Weile und ging dann hinaus. Voller Unruhe fragte ich sofort:
›Wo ist Mrs Sanders eigentlich? Weiß es jemand?‹
Miss Trollope erwiderte, sie sei zu ihren Freunden, den Mortimers, gegangen, um Bridge zu spielen, und das beruhigte mich im Augenblick ein wenig. Aber ich war immer noch sehr besorgt und unschlüssig, ob ich etwas unternehmen sollte. Eine halbe Stunde später ging ich auf mein Zimmer. Auf der Treppe begegnete ich meinem Arzt, Dr. Coles, und da ich ihn sowieso wegen meines Rheumatismus um Rat fragen wollte, nahm ich ihn mit in mein Zimmer. Dort erwähnte er mir gegenüber (im Vertrauen, sagte er) den Tod des armen Hausmädchens Mary. Der Geschäftsführer wünsche nicht, dass es sich herumspräche, sagte er, und ich solle es daher für mich behalten. Natürlich erwähnte ich nicht, dass wir alle während der letzten Stunde - von dem Augenblick an, als das arme Mädchen seinen letzten Atemzug getan hatte - von nichts anderem mehr geredet hatten. So etwas ist doch immer gleich bekannt, und ein Mann von seiner Erfahrung hätte das wissen müssen. Aber Dr. Coles war von jeher ein schlichter, naiver Mann, der glaubte, was er glauben wollte, und gerade das beunruhigte mich eine Sekunde später. Als er sich verabschiedete, erwähnte er, dass Sanders ihn gebeten habe, sich seine Frau mal anzusehen, sie fühle sich schlecht; irgendetwas stimme nicht mit ihr.
Und am selben Tage hatte mir Gladys Sanders selber erzählt, dass sie in allerbester Verfassung wäre, wofür sie sehr dankbar sei.
Sehen Sie? Mein ganzer Verdacht gegen diesen Mann kehrte hundertfach zurück. Er traf Vorbereitungen - aber wofür? Dr. Coles war gegangen, ehe ich mich entschließen konnte, ob ich mit ihm reden sollte oder nicht. Und ich hätte auch nicht recht gewusst, wie ich mich ausdrücken sollte. Als ich aus meinem Zimmer trat, kam Sanders selbst die Treppe vom nächsten Stockwerk herunter. Er trug Straßenkleidung und fragte mich abermals, ob er mir in der Stadt etwas besorgen könne. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht unhöflich zu ihm zu sein! Dann ging ich in die Diele und bestellte mir Tee. Es ging schon auf halb sechs zu, wie ich mich entsinne.
Um Viertel vor sieben, als Mr Sanders hereinkam, war ich immer noch in der Diele. Er hatte zwei Herren bei sich, und alle drei waren in ziemlich gehobener Stimmung. Mr Sanders ließ seine beiden Freunde stehen und kam sofort zu dem Tisch, an dem ich mit Miss Trollope saß. Er bat uns um Rat wegen eines Weihnachtsgeschenks für seine Frau. Es war eine Abendhandtasche.
›Meine Damen‹, erklärte er, ›ich bin nur ein rauer Seemann. Was weiß ich schon von diesen Dingen? Ich habe mir drei zur Auswahl schicken lassen und wäre Ihnen für Ihren sachkundigen Rat sehr dankbar.‹
Wir versicherten ihm natürlich, dass es uns ein Vergnügen sein werde, und er fragte uns, ob es uns etwas ausmache, mit ihm nach oben zu gehen, da seine Frau jede Minute kommen könne und sonst die Taschen sehen würde. Also gingen wir mit ihm hinauf. Niemals werde ich die nächsten Minuten vergessen - mich überläuft jetzt noch eine Gänsehaut.
Mr Sanders öffnete die Tür zum Schlafzimmer und drehte das Licht an. Ich weiß nicht, wer von uns sie zuerst sah ...
Mrs Sanders lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden - tot. Ich war zuerst bei ihr, kniete nieder, nahm ihre Hand und fühlte nach dem Puls, aber es war sinnlos, denn der Arm war schon kalt und steif. Unmittelbar neben ihrem Kopf lag ein mit Sand gefüllter Strumpf - offensichtlich die Waffe, mit der sie niedergeschlagen worden war. Miss Trollope, dieses törichte Geschöpf, stand an der Tür und jammerte zum Steinerweichen. Mit dem Schrei ›Meine Frau, meine Frau!‹ stürzte Mr Sanders an ihre Seite. Ich hinderte ihn daran, sie zu berühren; denn ich war überzeugt, dass er der Täter war, und glaubte, er wolle vielleicht etwas fortnehmen und verstecken.
›Es darf nichts angerührt werden‹, erklärte ich. ›Reißen Sie sich zusammen, Mr Sanders. Miss Trollope, bitten gehen Sie nach unten und holen Sie den Geschäftsführer.‹
Ich selbst verharrte kniend bei der Leiche, da ich nicht die Absicht hatte, Sanders mit ihr allein zu lassen. Allerdings muss ich zugeben, dass der Mann ein wunderbarer Schauspieler war. Er schien bestürzt, verwirrt und über alle Maßen verängstigt.
Sehr bald erschien der Geschäftsführer. Er inspizierte in aller Eile den Raum, dann drängte er uns alle hinaus, schloss die Tür ab und nahm den Schlüssel mit, als er ging, um die Polizei anzurufen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie kam (später erfuhren wir, dass die Leitung nicht in Ordnung gewesen war). Der Geschäftsführer musste jemanden zur Post schicken, und das Kurhotel liegt ziemlich weit von der Stadt entfernt, fast am Rande des Moores. Inzwischen fiel Mrs Carpenter uns allen sehr auf die Nerven. Sie war so zufrieden, dass ihre Prophezeiung sich so schnell erfüllt hatte. Sanders lief stöhnend und händeringend in den Garten hinaus, und in seinen Zügen malte sich tiefster Kummer ab.
Endlich kam die Polizei. Mit dem Geschäftsführer und Mr Sanders gingen sie nach oben, und später ließen sie mich holen . Als ich kam, saß der Inspektor an einem Tisch und schrieb. Er sah intelligent aus und war mir sehr sympathisch.
›Miss Jane Marple?‹, fragte er.
›Ja.‹
›Wie ich höre, gnädige Frau, waren Sie zugegen, als die Leiche gefunden wurde.‹
Ich bestätigte das und schilderte genau, was vorgefallen war. Ich glaube, der arme Mann war sichtlich erleichtert, dass er jemanden gefunden hatte, der seine Fragen zusammenhängend beantworten konnte, nachdem er sich vorher mit Sanders und Emily Trollope abgequält hatte. Wie ich hörte, war Emily Trollope ja vollständig aus der Fassung geraten - was auch nicht anders zu erwarten war von diesem törichten Geschöpf! Meine liebe Mutter hat mir immer eingeschärft, dass eine Dame sich in der Öffentlichkeit stets zusammennehmen müsse, wie sehr sie sich auch in ihren eigenen vier Wänden gehen lassen mochte.«
»Ein bewundernswerter Grundsatz«, bemerkte Sir Henry mit ernster Miene.
»Als ich mit meiner Schildung zu Ende war, sagte der Inspektor zu mir: ›Vielen Dank, gnädige Frau. Nun muss ich Sie leider bemühen, sich die Leiche noch einmal anzusehen. Hat sie genau so gelegen, als Sie das Zimmer betraten? Ist sie von niemandem berührt worden?‹
Ich erklärte ihm, dass ich Mr Sanders daran gehindert hätte, und der Inspektor nickte beifällig.
›Der Herr scheint furchtbar erregt zu sein‹, bemerkte er.
›Das scheint er wohl - ja‹, erwiderte ich.
Ich glaube nicht, dass ich das Wort ›scheint‹ besonders betont habe. Dennoch warf der Inspektor mir einen ziemlich scharfen Blick zu.
›Wir können also annehmen, dass die Leiche sich in genau derselben Stellung befindet wie am Anfang, wie?‹ fragte er.
›Ja, abgesehen von dem Hut‹, entgegnete ich.
Der Inspektor blickte mich erstaunt an.
›Was ist mit dem Hut?‹
Ich setzte ihm auseinander, dass die arme Gladys den Hut zuerst auf dem Kopf gehabt habe, während er jetzt neben ihr liege, und ich sprach die Vermutung aus, dass die Polizei ihn wohl entfernt habe. Doch der Inspektor verneinte diese Tatsache ganz entschieden. Nichts sei bisher angerührt oder bewegt worden. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die arme hingestreckte Gestalt hinab. Gladys trug Straßenkleidung - einen weiten dunkelroten Tweedmantel mit grauem Pelzkragen. Der Hut, ein billiges Stück aus rotem Filz, lag gerade neben ihrem Kopf. Eine Weile stand der Inspektor grübelnd da. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke.
›Können Sie sich ganz zufällig daran erinnern, gnädige Frau, ob die Verstorbene gewöhnlich Ohrringe trug?‹
Nun habe ich, Gott sei Dank, eine recht gute Beobachtungsgabe, und ich entsann mich sofort, dass ich gerade unter dem Hutrand einen Schimmer von Perlen gesehen habe, obgleich ich in dem Augenblick keine besondere Notiz davon genommen hatte. Seine Frage konnte ich also bejahen.
›Dann ist die Sache ja klar‹, meinte er. ›Der Schmuckkasten der Dame ist geplündert worden - nicht, dass sie etwas Wertvolles besaß, soweit ich unterrichtet bin -, und die Ringe hat man ihr von den Fingern gezogen. Der Mörder muss also die Ohrringe vergessen und sie geholt haben, nachdem der Mord entdeckt war. Ein hartgesottener Bursche! Oder vielleicht‹ - bei diesen Worten starrte er im Zimmer umher und sagte langsam: ›Vielleicht hatte er sich im Zimmer versteckt und war die ganze Zeit über hier.‹
Doch ich verwarf die Idee. Ich selbst, erklärte ich ihm, hätte unter das Bett geschaut, und der Geschäftsführer habe die Türen des Kleiderschranks geöffnet. Und sonst gebe es keine Versteckplätze im Zimmer, wo ein Mann sich verbergen könne. Allerdings sei das Hutfach mitten im Kleiderschrank verschlossen gewesen, aber da es nicht sehr tief und außerdem mit Regalen versehen sei, habe sich kein Mann darin verstecken können.
Der Inspektor nickte langsam, während ich dies alles erklärte.
›Ich glaube Ihnen, gnädige Frau. Dann muss er eben, wie ich schon sagte, noch einmal zurückgekommen sein. Ein wirklich abgebrühter Geselle.‹
›Aber der Geschäftsführer hat doch die Tür abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen!‹
›Das hat nichts zu bedeuten. Der Dieb hat den Balkon und die Feuertreppe benutzt. Wahrscheinlich haben Sie ihn sogar bei der Arbeit gestört. Da ist er einfach zum Fenster hinausgeschlüpft und, als Sie alle fort waren, wieder zurückgekehrt, um mit seiner Arbeit fortzufahren.‹
›Sind Sie sicher‹, fragte ich, ›dass es ein Dieb war?‹
Er erwiderte ziemlich trocken:
›Na, es sieht doch ganz danach aus, nicht wahr?‹
Aber etwas in seinem Ton gab mir eine gewisse Befriedigung. Ich hatte das Gefühl, dass er Mr Sanders in seiner Rolle als trauernder Witwer nicht allzu ernst nehmen würde.
Ich gebe unumwunden zu, dass ich von dieser fixen Idee ganz besessen war. Dass dieser Sanders seine Frau umbringen wollte, stand für mich durchaus fest. Was ich jedoch nicht mit einkalkuliert hatte, war dieses seltsame und phantastische Etwas, das man als Koinzidenz bezeichnet. Meine Ansichten über Mr Sanders - davon war ich überzeugt - waren absolut richtig. Der Mann war ein Schurke. Aber obgleich sein geheuchelter Kummer mich nicht für eine Sekunde täuschte, so hatte ich doch empfunden, als wir zuerst ins Zimmer traten, dass seine Überraschung und Verwirrung außerordentlich echt schienen - absolut natürlich. Ich muss gestehen, dass mich nach meiner Unterhaltung mit dem Inspektor ein seltsamer Zweifel beschlich. Denn wenn Sanders diese furchtbare Tat begangen hatte, konnte ich mir keinen stichhaltigen Grund vorstellen, warum er sich über die Feuertreppe zurückschleichen sollte, um seiner Frau die Ohrringe fortzunehmen. Das wäre durchaus nicht klug gewesen, und Sanders war ein sehr kluger Mann - darum hielt ich ihn ja für so gefährlich.«
Miss Marple blickte sich im Kreise ihrer Zuhörer um.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
... weniger
Autoren-Porträt von Agatha Christie
Agatha Christie schuf den modernen britischen Kriminalroman. Sie schrieb 68 Krimis, zahlreiche Kurzgeschichten, zwanzig Theaterstücke, eine Autobiographie, einen Gedichtband und - unter ihrem Pseudonym Mary Westmacott - sechs Romanzen. Sie gilt als die meistgelesene Schriftstellerin überhaupt. Die "Queen of Crime" verband ihre Lebenserfahrungen mit Fantasie, psychologischem Feinsinn, skurrilem Humor und Ironie. 1971 in den Adelsstand erhoben, starb sie im Alter von 85 Jahren am 12. Januar 1976.
Bibliographische Angaben
- Autor: Agatha Christie
- 2013, 1, 492 Seiten, Masse: 12,5 x 20,5 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863656148
- ISBN-13: 9783863656140
Kommentare zu "Eine Weihnachtstragödie und andere Fälle"
0 Gebrauchte Artikel zu „Eine Weihnachtstragödie und andere Fälle“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 9Schreiben Sie einen Kommentar zu "Eine Weihnachtstragödie und andere Fälle".
Kommentar verfassen