Eine Frage der Höflichkeit
Roman
New York, Neujahr 1937: Die beiden Freundinnen Kate und Eve - zwei Provinzschönheiten, die die Welt erobern wollen - gabeln in einer Jazzkneipe den charmanten Tinker Grey auf. Er trägt Kaschmir und scheint Single zu sein - ein Sechser im Lotto. Eine...
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Produktinformationen zu „Eine Frage der Höflichkeit “
Klappentext zu „Eine Frage der Höflichkeit “
New York, Neujahr 1937: Die beiden Freundinnen Kate und Eve - zwei Provinzschönheiten, die die Welt erobern wollen - gabeln in einer Jazzkneipe den charmanten Tinker Grey auf. Er trägt Kaschmir und scheint Single zu sein - ein Sechser im Lotto. Eine turbulente Freundschaft à trois beginnt. Die beiden jungen Frauen weisen Tinker in die geheime Kunst des Schnorrens ein, und Tinker revanchiert sich, indem er sie in die feinsten Clubs der City ausführt . Erst als das beschwingte Dauerabenteuer jäh durch einen Unfall beendet wird, stellt sich für Kate die Frage, wer eigentlich in wen verliebt ist - und was das Leben wirklich ausmacht .
Lese-Probe zu „Eine Frage der Höflichkeit “
Eine Frage der Höflichkeit von Amor TowlesIm Museum of Modern Art
Vorspann
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Am Abend des Ò. Oktober 19ïï gingen Val und ich, beide nunmehr fortgeschritteneren Alters, zur Eröffnung der Fotoausstellung Many Were Called im Museum of Modern Art - die erste Ausstellung der Porträts, die Walker Evans in den späten Dreißigerjahren mit versteckter Kamera in der New Yorker Subway gemacht hatte. Es war, wie es in den Klatschspalten gern hieß, eine »Veranstaltung der Superlative«. Die Männer waren im Anzug, mit weißem Hemd mit schwarzer Fliege, entsprechend der Palette der Fotos, die Frauen trugen leuchtend bunte Kleider in jeder Länge, von knöchellang bis zwei Handbreit über dem Knie. Arbeitslose junge Schauspieler mit makellosen Zügen und der Anmut von Akrobaten reichten Champagner auf kleinen, runden Tabletts herum. Nur wenige Besucher sahen sich die Bilder an. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich zu amüsieren. Ein angetrunkenes junges Mädchen der High Society stolperte hinter einem Kellner her und hätte mich beinahe umgerannt. Sie war nicht die Einzige in dieser Verfassung. Es galt als salonfähig, ja sogar als schick, bei formellen Anlässen schon vor acht betrunken zu sein. Aber vielleicht war das nicht so schwer zu verstehen. In den Fünfzigerjahren hatte Amerika den Erdball auf den Kopf gestellt und ihm das Wechselgeld aus den Taschen geschüttelt. Europa war jetzt der arme Verwandte - lauter Familienwappen, aber kein Tafelsilber mehr. Und die voneinander nicht zu unterscheidenden Länder Afrikas, Asiens und Südamerikas hatten gerade erst begonnen, über die Wände unserer Klassenzimmer zu huschen wie Salamander in der Sonne. Klar, irgendwo da draußen waren die Kommunisten, aber nachdem Joe McCarthy unter der Erde und noch niemand auf dem Mond war, geisterten die Russen bislang lediglich durch die Seiten von John le Carrés Romanen. In gewisser Weise waren wir also alle betrunken. Wir starteten in den Abend wie Satelliten und umkreisten die Stadt zwei Meilen über dem Boden, unser Treibstoff waren die schwachen ausländischen Währungen und die fein gefilterten geistigen Getränke. Wir diskutierten lautstark bei Dinnerpartys, verzogen uns heimlich mit dem falschen Ehepartner ins nächste leere Zimmer und feierten mit der Begeisterung und Indiskretion griechischer Götter. Und morgens wachten wir Punkt halb sieben auf, mit klarem Kopf und voller Optimismus, einsatzbereit, unsere Plätze an den Edelstahlschreibtischen einzunehmen und die Geschicke der Welt zu lenken. Das Rampenlicht an diesem Abend war nicht auf den Fotografen gerichtet. Evans, Mitte sechzig, dünn und verknittert wie jemand, dem Essen nichts bedeutet, sodass sein Smoking lose an ihm herunterhing, sah so traurig und so unscheinbar aus wie ein pensionierter mittlerer Verwaltungsangestellter von General Motors. Hin und wieder unterbrach jemand seine Einsamkeit und machte eine Bemerkung, aber den größten Teil des Abends stand er unbeholfen in der Ecke wie ein Mauerblümchen auf einem Tanzabend. Nein, aller Augen galten nicht Evans. Die Blicke galten stattdessen einem jungen Autor mit schütterem Haar, der gerade mit der Veröffentlichung der Affären seiner Mutter einen sensationellen Erfolg gelandet hatte. Von seinem Lektor und seinem Presseagenten flankiert, nahm er haufenweise Komplimente seiner Fans entgegen und sah dabei listig aus wie ein Neugeborenes. Val blickte erstaunt in die Runde der Schmeichler. Er konnte an einem Tag zehntausend Dollar verdienen, indem er die Fusion eines Schweizer Kaufhauses mit einem amerikanischen Waffenhersteller in die Wege leitete, aber es war ihm schleierhaft, wie so ein bisschen Klatsch einen solchen Aufruhr hervorrief. Der Presseagent, der seine Umgebung genau im Auge hatte, erspähte mich und winkte mir zu. Ich winkte zurück und hängte mich bei meinem Mann ein. »Komm, Schatz, sehen wir uns die Bilder an.« Wir begaben uns in den zweiten Raum der Ausstellung, der weniger voll war, und gingen in aller Ruhe die Wände entlang. In der Mehrzahl waren es querformatige Porträts von Menschen in der Subway, die dem Fotografen direkt gegenübersaßen. Da war ein ernster junger Mann aus Harlem mit einem keck sitzenden Bowler und einem französischen Oberlippenbärtchen. Dort ein Vierzigjähriger mit Brille, Pelzkragen und breitkrempigem Hut, Typ Gangsterbuchhalter. Hier zwei unverheiratete Mädels aus der Kosmetikabteilung bei Macy's, beide gut in den Dreißigern und etwas sauertöpfisch, weil sie wussten, dass ihre besten Jahre hinter ihnen lagen, mit Augenbrauen, bis hinauf zur Bronx gezupft. Hier ein Er, da eine Sie. Hier jemand Junges, da jemand Altes. Hier jemand Fesches, da jemand Abgerissenes. Die Fotos waren zwar schon vor fünfundzwanzig Jahren entstanden, aber noch nie öffentlich gezeigt worden. Evans hatte anscheinend Bedenken im Hinblick auf die Privatsphäre der von ihm fotografierten Personen gehabt. Das mag seltsam oder sogar ein wenig übertrieben klingen angesichts der Tatsache, dass er sie in einem so öffentlichen Raum gemacht hatte. Aber wenn man sich die Gesichter entlang den Wänden ansah, konnte man Evans' Skrupel verstehen. Denn in gewisser Weise fingen die Fotos das Menschsein schonungslos ein. Gedankenverloren, in der Anonymität des Pendlerzugs und ahnungslos, dass ein Fotoapparat direkt auf sie gerichtet war, offenbarten viele von ihnen unbewusst ihr innerstes Ich. Jeder, der zweimal täglich mit der Subway fährt, um sein Brot zu verdienen, weiß, wie es ist: Beim Einsteigen ist man noch die Person, als die einen auch die Kollegen und Bekannten kennen. So geht man durch das Drehkreuz und durch die automatischen Türen, und die anderen Fahrgäste nehmen uns wahr, wie wir sind: großspurig oder zurückhaltend, verliebt oder gleichgültig, betucht oder am Hungertuch nagend. Dann sucht man sich einen freien Platz, und der Zug fährt los; eine Station folgt auf die andere; Menschen steigen ein und aus. Und bei dem einschläfernden Geschaukel des Zuges gleitet die sorgfältig fabrizierte Persönlichkeit von einem ab. Wenn die Gedanken um Sorgen und Träume zu schweifen beginnen, löst sich das Über-Ich auf, oder vielmehr, es entschwebt in eine Art Hypnose, wo selbst Sorgen und Träume in den Hintergrund treten und eine friedliche, kosmische Stille sich über alles legt. Da geht es uns allen gleich. Nur dass dieser Zustand nach unterschiedlich vielen Stationen eintritt. Bei manchen nach zweien, bei anderen nach dreien. Welche Erholung, diese wenigen Minuten, in denen wir den Blick ins Unbestimmte gleiten lassen und den einzig wahren Trost finden, den menschliche Isolation ermöglicht. Wie befriedigend diese fotografische Studie für die Uneingeweihten gewesen sein musste! Für die jungen Anwälte und Banker und die munteren jungen Mädchen aus reichem Hause, die durch die Ausstellung schlenderten und beim Anblick der Bilder sicherlich dachten: Was für eine Tour de Force. Was für eine künstlerische Leistung. Hier sehen wir endlich das Antlitz der Menschheit! Doch für diejenigen von uns, die damals jung waren, sahen die Gestalten aus wie Geister. Die Dreißigerjahre... Was für ein aufreibendes Jahrzehnt das war. Ich war sechzehn, als die Depression begann, gerade alt genug, um all meine Träume und Erwartungen vom leichtfüßigen Glanz der Zwanzigerjahre täuschen zu lassen. Es war, als hätte Amerika die Depression nur deshalb erfunden, um Manhattan eine Lektion zu erteilen. Nach dem Börsenkrach konnte man zwar nicht hören, wie die Leichen auf dem Pflaster aufschlugen, aber es gab so etwas wie ein gemeinschaftliches Aufstöhnen und dann eine Stille, die sich wie Schnee auf die Stadt senkte. Die Lichter flackerten. Die Musiker legten ihre Instrumente ab, und die Menschen bewegten sich leise zum Ausgang. Dann drehte der Wind von West nach Ost und blies die Wanderarbeiter bis in die 10. Straße. Er trieb große Wolken vor sich her, die sich über die Zeitungsstände und Parkbänke legten und auf die Seligen und Verdammten gleichermaßen senkten, wie die Asche von Pompeji. Plötzlich hatten wir unsere eigenen Armen - zerlumpt und niedergedrückt schleppten sie sich durch die Straßen, an den Feuern in Ölfässern vorbei, an schäbigen Behausungen und billigen Herbergen vorbei, unter Brücken hindurch; sie bewegten sich langsam, aber zielbewusst auf ein inneres Kalifornien zu, das ebenso armselig und unbarmherzig war wie die Wirklichkeit. Armut und Ohnmacht. Hunger und Hoffnungslosigkeit. Zumindest bis die ersten Anzeichen von Krieg unsere Schritte beflügelten. Ja, die Fotos der verstecken Kamera von Walker Evans, aufgenommen zwischen 193Ç und 19Ò1, zeigten das Menschsein.
Und zwar einen ganz bestimmten Aspekt des Menschseins - den des Gedemütigten. Ein paar Schritte vor uns sah sich eine junge Frau die Fotos an. Sie mochte kaum älter als zweiundzwanzig sein. Jedes Bild schien sie angenehm zu überraschen - als wäre sie in der Ahnengalerie eines Schlosses, wo alle Gesichter majestätisch und entrückt wirken. Ihr Teint war gerötet und von naiver Schönheit, die mich mit Neid erfüllte. Für mich waren die Gesichter auf den Bildern nicht entrückt. Der gedemütigte Ausdruck, der nicht erwiderte Blick, sie waren mir sehr vertraut. So ähnlich ist die Erfahrung, die man in einem Hotel einer fremden Stadt machen kann, wenn die Aufmachung und das Verhalten der Menschen in der Halle dem eigenen so ähnlich sind, dass man geradezu zwangsläufig auf jemanden treffen wird, den man nicht sehen möchte. Und genau das passierte dann auch, gewissermaßen. »Das ist Tinker Grey«, sagte ich, als Val schon zum nächsten Bild ging. Er kam wieder zu mir, um sich das Foto eines schlecht rasierten achtundzwanzigjährigen Mannes in einem blank gewetzten Mantel genauer anzusehen. Er war abgemagert, hatte den rosigen Hauch seiner Wangen fast verloren, sein Gesicht sah schmutzig aus. Aber seine Augen leuchteten wach und lebendig und blickten unverhohlen geradeaus, und die winzige Spur eines Lächelns auf seinen Lippen erweckte den Anschein, als wäre er derjenige, der den Fotografen betrachtet. Und derjenige, der uns betrachtet. Er sah uns über drei Jahrzehnte hinweg an, über eine weite Schlucht von Begegnungen hinweg, wie eine Erscheinung. Und sah doch ganz aus wie er selbst. »Tinker Grey...«, wiederholte Val zögerlich. »Ich glaube, mein Bruder kannte einen Bankier, der Grey hieß...« »Ja«, sagte ich. »Das ist er.« Val sah sich das Bild jetzt genauer an - mit dem höflichen Interesse, das ein entfernter Bekannter verdient, der inzwischen verarmt ist. Aber die Frage, wie gut ich den Mann gekannt hatte, musste ihm durch den Sinn gegangen sein. »Unglaublich«, sagte Val schlicht und runzelte kaum merklich die Stirn. In dem Sommer, in dem Val und ich uns kennenlernten, waren wir erst um die dreißig und hatten vom Erwachsenenleben des jeweils anderen kaum mehr als ein Jahrzehnt versäumt. Aber das war eine Menge Zeit. Genug, um richtig oder falsch gelebt zu haben. Genug, um gemordet oder etwas erschaffen zu haben - und zumindest genug, um jemanden zu berechtigen, eine Frage dazu zu stellen. Aber für Val galt es nur selten als Tugend, auf Vergangenes zurückzublicken, und hinsichtlich der Geheimnisse meiner Vergangenheit, wie auch in fast jeder anderen Hinsicht, war er in erster Linie ein Gentleman. Trotzdem machte ich ein Geständnis. »Er war auch einer meiner Bekannten«, sagte ich. »Er gehörte eine Weile zu meinem Freundeskreis. Aber ich habe seit vor dem Krieg nichts mehr von ihm gehört.« Vals Stirn glättete sich. Vielleicht beruhigte ihn die vermeintliche Schlichtheit dieser wenigen Fakten. Er betrachtete das Bild jetzt mit maßvollem Interesse und schüttelte kurz den Kopf, womit er den Zufall kommentierte und gleichzeitig bekräftigte, wie ungerecht doch die Depression war. »Unglaublich«, sagte er wieder, diesmal einfühlsamer. Er nahm meinen Ellbogen und führte mich sanft weiter. Wir verbrachten die erforderliche Minute vor dem nächsten Bild. Und dem nächsten und dem nächsten. Aber jetzt zogen die Gesichter an mir vorbei wie Fremde, die auf der Rolltreppe in die entgegengesetzte Richtung fahren. Ich nahm sie kaum wahr. Tinker lächeln zu sehen...Nach all den Jahren war ich nicht darauf gefasst. Es war, als hätte mich jemand hinterrücks überrascht. Vielleicht war es nur Selbstzufriedenheit - die unbegründete süße Selbstzufriedenheit wohlhabender Leute mittleren Alters in Manhattan -, aber als ich das Museum betrat, hätte ich ohne Weiteres ausgesagt, dass mein Leben ein perfektes Gleichgewicht erreicht hatte. Unsere Ehe war ein Bund zweier Seelen, zweier Großstadtgeister, die sich so sanft und unausweichlich der Zukunft zuneigten wie weißes Papier der Sonne. Doch nun stellte ich fest, dass meine Gedanken in die Vergangenheit strebten. Sie kehrten der mühsam erwirkten Perfektion des Jetzt den Rücken und suchten nach den süßen Unwägbarkeiten eines verflossenen Jahres und seinen zufälligen Begegnungen - Begegnungen, die damals willkürlich und prickelnd schienen, die aber im Laufe der Zeit etwas Schicksalhaftes angenommen hatten. Ja, meine Gedanken wanderten zu Tinker und zu Eve - aber auch zu Wallace Wolcott und Dicky Vanderwhile. Und auch zu Anne Grandin. Und zu den Drehungen des Kaleidoskops, die meinen Erlebnissen im Jahr 193 Farbe und Form verliehen hatten. Hier stand ich, neben meinem Mann, und hatte Mühe, die Erinnerungen an dieses Jahr für mich zu behalten. Nicht, dass eine einzige so skandalös gewesen wäre, um Val zu schockieren oder unsere Ehe zu bedrohen - im Gegenteil, hätte ich ihm davon erzählt, wäre er sicherlich noch liebevoller zu mir gewesen. Aber ich wollte ihm nicht davon erzählen. Ich wollte die Erinnerungen nicht verwässern. Mehr als alles andere wollte ich allein sein. Ich wollte aus dem blendenden Licht meines jetzigen Daseins treten. Ich wollte in einer Hotelbar einen Drink bestellen. Oder, noch besser, mit dem Taxi ins Village fahren, zum ersten Mal nach so langer Zeit... Ja, auf dem Bild sah Tinker arm aus.
© List TB. (Verlag), Weltbild
Am Abend des Ò. Oktober 19ïï gingen Val und ich, beide nunmehr fortgeschritteneren Alters, zur Eröffnung der Fotoausstellung Many Were Called im Museum of Modern Art - die erste Ausstellung der Porträts, die Walker Evans in den späten Dreißigerjahren mit versteckter Kamera in der New Yorker Subway gemacht hatte. Es war, wie es in den Klatschspalten gern hieß, eine »Veranstaltung der Superlative«. Die Männer waren im Anzug, mit weißem Hemd mit schwarzer Fliege, entsprechend der Palette der Fotos, die Frauen trugen leuchtend bunte Kleider in jeder Länge, von knöchellang bis zwei Handbreit über dem Knie. Arbeitslose junge Schauspieler mit makellosen Zügen und der Anmut von Akrobaten reichten Champagner auf kleinen, runden Tabletts herum. Nur wenige Besucher sahen sich die Bilder an. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich zu amüsieren. Ein angetrunkenes junges Mädchen der High Society stolperte hinter einem Kellner her und hätte mich beinahe umgerannt. Sie war nicht die Einzige in dieser Verfassung. Es galt als salonfähig, ja sogar als schick, bei formellen Anlässen schon vor acht betrunken zu sein. Aber vielleicht war das nicht so schwer zu verstehen. In den Fünfzigerjahren hatte Amerika den Erdball auf den Kopf gestellt und ihm das Wechselgeld aus den Taschen geschüttelt. Europa war jetzt der arme Verwandte - lauter Familienwappen, aber kein Tafelsilber mehr. Und die voneinander nicht zu unterscheidenden Länder Afrikas, Asiens und Südamerikas hatten gerade erst begonnen, über die Wände unserer Klassenzimmer zu huschen wie Salamander in der Sonne. Klar, irgendwo da draußen waren die Kommunisten, aber nachdem Joe McCarthy unter der Erde und noch niemand auf dem Mond war, geisterten die Russen bislang lediglich durch die Seiten von John le Carrés Romanen. In gewisser Weise waren wir also alle betrunken. Wir starteten in den Abend wie Satelliten und umkreisten die Stadt zwei Meilen über dem Boden, unser Treibstoff waren die schwachen ausländischen Währungen und die fein gefilterten geistigen Getränke. Wir diskutierten lautstark bei Dinnerpartys, verzogen uns heimlich mit dem falschen Ehepartner ins nächste leere Zimmer und feierten mit der Begeisterung und Indiskretion griechischer Götter. Und morgens wachten wir Punkt halb sieben auf, mit klarem Kopf und voller Optimismus, einsatzbereit, unsere Plätze an den Edelstahlschreibtischen einzunehmen und die Geschicke der Welt zu lenken. Das Rampenlicht an diesem Abend war nicht auf den Fotografen gerichtet. Evans, Mitte sechzig, dünn und verknittert wie jemand, dem Essen nichts bedeutet, sodass sein Smoking lose an ihm herunterhing, sah so traurig und so unscheinbar aus wie ein pensionierter mittlerer Verwaltungsangestellter von General Motors. Hin und wieder unterbrach jemand seine Einsamkeit und machte eine Bemerkung, aber den größten Teil des Abends stand er unbeholfen in der Ecke wie ein Mauerblümchen auf einem Tanzabend. Nein, aller Augen galten nicht Evans. Die Blicke galten stattdessen einem jungen Autor mit schütterem Haar, der gerade mit der Veröffentlichung der Affären seiner Mutter einen sensationellen Erfolg gelandet hatte. Von seinem Lektor und seinem Presseagenten flankiert, nahm er haufenweise Komplimente seiner Fans entgegen und sah dabei listig aus wie ein Neugeborenes. Val blickte erstaunt in die Runde der Schmeichler. Er konnte an einem Tag zehntausend Dollar verdienen, indem er die Fusion eines Schweizer Kaufhauses mit einem amerikanischen Waffenhersteller in die Wege leitete, aber es war ihm schleierhaft, wie so ein bisschen Klatsch einen solchen Aufruhr hervorrief. Der Presseagent, der seine Umgebung genau im Auge hatte, erspähte mich und winkte mir zu. Ich winkte zurück und hängte mich bei meinem Mann ein. »Komm, Schatz, sehen wir uns die Bilder an.« Wir begaben uns in den zweiten Raum der Ausstellung, der weniger voll war, und gingen in aller Ruhe die Wände entlang. In der Mehrzahl waren es querformatige Porträts von Menschen in der Subway, die dem Fotografen direkt gegenübersaßen. Da war ein ernster junger Mann aus Harlem mit einem keck sitzenden Bowler und einem französischen Oberlippenbärtchen. Dort ein Vierzigjähriger mit Brille, Pelzkragen und breitkrempigem Hut, Typ Gangsterbuchhalter. Hier zwei unverheiratete Mädels aus der Kosmetikabteilung bei Macy's, beide gut in den Dreißigern und etwas sauertöpfisch, weil sie wussten, dass ihre besten Jahre hinter ihnen lagen, mit Augenbrauen, bis hinauf zur Bronx gezupft. Hier ein Er, da eine Sie. Hier jemand Junges, da jemand Altes. Hier jemand Fesches, da jemand Abgerissenes. Die Fotos waren zwar schon vor fünfundzwanzig Jahren entstanden, aber noch nie öffentlich gezeigt worden. Evans hatte anscheinend Bedenken im Hinblick auf die Privatsphäre der von ihm fotografierten Personen gehabt. Das mag seltsam oder sogar ein wenig übertrieben klingen angesichts der Tatsache, dass er sie in einem so öffentlichen Raum gemacht hatte. Aber wenn man sich die Gesichter entlang den Wänden ansah, konnte man Evans' Skrupel verstehen. Denn in gewisser Weise fingen die Fotos das Menschsein schonungslos ein. Gedankenverloren, in der Anonymität des Pendlerzugs und ahnungslos, dass ein Fotoapparat direkt auf sie gerichtet war, offenbarten viele von ihnen unbewusst ihr innerstes Ich. Jeder, der zweimal täglich mit der Subway fährt, um sein Brot zu verdienen, weiß, wie es ist: Beim Einsteigen ist man noch die Person, als die einen auch die Kollegen und Bekannten kennen. So geht man durch das Drehkreuz und durch die automatischen Türen, und die anderen Fahrgäste nehmen uns wahr, wie wir sind: großspurig oder zurückhaltend, verliebt oder gleichgültig, betucht oder am Hungertuch nagend. Dann sucht man sich einen freien Platz, und der Zug fährt los; eine Station folgt auf die andere; Menschen steigen ein und aus. Und bei dem einschläfernden Geschaukel des Zuges gleitet die sorgfältig fabrizierte Persönlichkeit von einem ab. Wenn die Gedanken um Sorgen und Träume zu schweifen beginnen, löst sich das Über-Ich auf, oder vielmehr, es entschwebt in eine Art Hypnose, wo selbst Sorgen und Träume in den Hintergrund treten und eine friedliche, kosmische Stille sich über alles legt. Da geht es uns allen gleich. Nur dass dieser Zustand nach unterschiedlich vielen Stationen eintritt. Bei manchen nach zweien, bei anderen nach dreien. Welche Erholung, diese wenigen Minuten, in denen wir den Blick ins Unbestimmte gleiten lassen und den einzig wahren Trost finden, den menschliche Isolation ermöglicht. Wie befriedigend diese fotografische Studie für die Uneingeweihten gewesen sein musste! Für die jungen Anwälte und Banker und die munteren jungen Mädchen aus reichem Hause, die durch die Ausstellung schlenderten und beim Anblick der Bilder sicherlich dachten: Was für eine Tour de Force. Was für eine künstlerische Leistung. Hier sehen wir endlich das Antlitz der Menschheit! Doch für diejenigen von uns, die damals jung waren, sahen die Gestalten aus wie Geister. Die Dreißigerjahre... Was für ein aufreibendes Jahrzehnt das war. Ich war sechzehn, als die Depression begann, gerade alt genug, um all meine Träume und Erwartungen vom leichtfüßigen Glanz der Zwanzigerjahre täuschen zu lassen. Es war, als hätte Amerika die Depression nur deshalb erfunden, um Manhattan eine Lektion zu erteilen. Nach dem Börsenkrach konnte man zwar nicht hören, wie die Leichen auf dem Pflaster aufschlugen, aber es gab so etwas wie ein gemeinschaftliches Aufstöhnen und dann eine Stille, die sich wie Schnee auf die Stadt senkte. Die Lichter flackerten. Die Musiker legten ihre Instrumente ab, und die Menschen bewegten sich leise zum Ausgang. Dann drehte der Wind von West nach Ost und blies die Wanderarbeiter bis in die 10. Straße. Er trieb große Wolken vor sich her, die sich über die Zeitungsstände und Parkbänke legten und auf die Seligen und Verdammten gleichermaßen senkten, wie die Asche von Pompeji. Plötzlich hatten wir unsere eigenen Armen - zerlumpt und niedergedrückt schleppten sie sich durch die Straßen, an den Feuern in Ölfässern vorbei, an schäbigen Behausungen und billigen Herbergen vorbei, unter Brücken hindurch; sie bewegten sich langsam, aber zielbewusst auf ein inneres Kalifornien zu, das ebenso armselig und unbarmherzig war wie die Wirklichkeit. Armut und Ohnmacht. Hunger und Hoffnungslosigkeit. Zumindest bis die ersten Anzeichen von Krieg unsere Schritte beflügelten. Ja, die Fotos der verstecken Kamera von Walker Evans, aufgenommen zwischen 193Ç und 19Ò1, zeigten das Menschsein.
Und zwar einen ganz bestimmten Aspekt des Menschseins - den des Gedemütigten. Ein paar Schritte vor uns sah sich eine junge Frau die Fotos an. Sie mochte kaum älter als zweiundzwanzig sein. Jedes Bild schien sie angenehm zu überraschen - als wäre sie in der Ahnengalerie eines Schlosses, wo alle Gesichter majestätisch und entrückt wirken. Ihr Teint war gerötet und von naiver Schönheit, die mich mit Neid erfüllte. Für mich waren die Gesichter auf den Bildern nicht entrückt. Der gedemütigte Ausdruck, der nicht erwiderte Blick, sie waren mir sehr vertraut. So ähnlich ist die Erfahrung, die man in einem Hotel einer fremden Stadt machen kann, wenn die Aufmachung und das Verhalten der Menschen in der Halle dem eigenen so ähnlich sind, dass man geradezu zwangsläufig auf jemanden treffen wird, den man nicht sehen möchte. Und genau das passierte dann auch, gewissermaßen. »Das ist Tinker Grey«, sagte ich, als Val schon zum nächsten Bild ging. Er kam wieder zu mir, um sich das Foto eines schlecht rasierten achtundzwanzigjährigen Mannes in einem blank gewetzten Mantel genauer anzusehen. Er war abgemagert, hatte den rosigen Hauch seiner Wangen fast verloren, sein Gesicht sah schmutzig aus. Aber seine Augen leuchteten wach und lebendig und blickten unverhohlen geradeaus, und die winzige Spur eines Lächelns auf seinen Lippen erweckte den Anschein, als wäre er derjenige, der den Fotografen betrachtet. Und derjenige, der uns betrachtet. Er sah uns über drei Jahrzehnte hinweg an, über eine weite Schlucht von Begegnungen hinweg, wie eine Erscheinung. Und sah doch ganz aus wie er selbst. »Tinker Grey...«, wiederholte Val zögerlich. »Ich glaube, mein Bruder kannte einen Bankier, der Grey hieß...« »Ja«, sagte ich. »Das ist er.« Val sah sich das Bild jetzt genauer an - mit dem höflichen Interesse, das ein entfernter Bekannter verdient, der inzwischen verarmt ist. Aber die Frage, wie gut ich den Mann gekannt hatte, musste ihm durch den Sinn gegangen sein. »Unglaublich«, sagte Val schlicht und runzelte kaum merklich die Stirn. In dem Sommer, in dem Val und ich uns kennenlernten, waren wir erst um die dreißig und hatten vom Erwachsenenleben des jeweils anderen kaum mehr als ein Jahrzehnt versäumt. Aber das war eine Menge Zeit. Genug, um richtig oder falsch gelebt zu haben. Genug, um gemordet oder etwas erschaffen zu haben - und zumindest genug, um jemanden zu berechtigen, eine Frage dazu zu stellen. Aber für Val galt es nur selten als Tugend, auf Vergangenes zurückzublicken, und hinsichtlich der Geheimnisse meiner Vergangenheit, wie auch in fast jeder anderen Hinsicht, war er in erster Linie ein Gentleman. Trotzdem machte ich ein Geständnis. »Er war auch einer meiner Bekannten«, sagte ich. »Er gehörte eine Weile zu meinem Freundeskreis. Aber ich habe seit vor dem Krieg nichts mehr von ihm gehört.« Vals Stirn glättete sich. Vielleicht beruhigte ihn die vermeintliche Schlichtheit dieser wenigen Fakten. Er betrachtete das Bild jetzt mit maßvollem Interesse und schüttelte kurz den Kopf, womit er den Zufall kommentierte und gleichzeitig bekräftigte, wie ungerecht doch die Depression war. »Unglaublich«, sagte er wieder, diesmal einfühlsamer. Er nahm meinen Ellbogen und führte mich sanft weiter. Wir verbrachten die erforderliche Minute vor dem nächsten Bild. Und dem nächsten und dem nächsten. Aber jetzt zogen die Gesichter an mir vorbei wie Fremde, die auf der Rolltreppe in die entgegengesetzte Richtung fahren. Ich nahm sie kaum wahr. Tinker lächeln zu sehen...Nach all den Jahren war ich nicht darauf gefasst. Es war, als hätte mich jemand hinterrücks überrascht. Vielleicht war es nur Selbstzufriedenheit - die unbegründete süße Selbstzufriedenheit wohlhabender Leute mittleren Alters in Manhattan -, aber als ich das Museum betrat, hätte ich ohne Weiteres ausgesagt, dass mein Leben ein perfektes Gleichgewicht erreicht hatte. Unsere Ehe war ein Bund zweier Seelen, zweier Großstadtgeister, die sich so sanft und unausweichlich der Zukunft zuneigten wie weißes Papier der Sonne. Doch nun stellte ich fest, dass meine Gedanken in die Vergangenheit strebten. Sie kehrten der mühsam erwirkten Perfektion des Jetzt den Rücken und suchten nach den süßen Unwägbarkeiten eines verflossenen Jahres und seinen zufälligen Begegnungen - Begegnungen, die damals willkürlich und prickelnd schienen, die aber im Laufe der Zeit etwas Schicksalhaftes angenommen hatten. Ja, meine Gedanken wanderten zu Tinker und zu Eve - aber auch zu Wallace Wolcott und Dicky Vanderwhile. Und auch zu Anne Grandin. Und zu den Drehungen des Kaleidoskops, die meinen Erlebnissen im Jahr 193 Farbe und Form verliehen hatten. Hier stand ich, neben meinem Mann, und hatte Mühe, die Erinnerungen an dieses Jahr für mich zu behalten. Nicht, dass eine einzige so skandalös gewesen wäre, um Val zu schockieren oder unsere Ehe zu bedrohen - im Gegenteil, hätte ich ihm davon erzählt, wäre er sicherlich noch liebevoller zu mir gewesen. Aber ich wollte ihm nicht davon erzählen. Ich wollte die Erinnerungen nicht verwässern. Mehr als alles andere wollte ich allein sein. Ich wollte aus dem blendenden Licht meines jetzigen Daseins treten. Ich wollte in einer Hotelbar einen Drink bestellen. Oder, noch besser, mit dem Taxi ins Village fahren, zum ersten Mal nach so langer Zeit... Ja, auf dem Bild sah Tinker arm aus.
© List TB. (Verlag), Weltbild
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Autoren-Porträt von Amor Towles
Towles, AmorAmor Towles hat in Yale und Stanford studiert. Er ist in der Finanzbranche tätig und gehört dem Vorstand der Library of America und der Yale Art Gallery an. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Manhattan.Höbel, Susanne
Susanne Höbel, seit über fünfundzwanzig Jahren Literaturübersetzerin, übertrug Autoren wie Nadine Gordimer, John Updike, William Faulkner, Thomas Wolfe und Graham Swift ins Deutsche. Sie lebt in Südengland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Amor Towles
- 2012, 11. Aufl., 416 Seiten, Masse: 12,1 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Höbel, Susanne
- Übersetzer: Susanne Höbel
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610951
- ISBN-13: 9783548610955
- Erscheinungsdatum: 09.03.2012
Rezension zu „Eine Frage der Höflichkeit “
"Ein sprachlich anspruchsvolles und inhaltlich überraschendes Lesevergnügen in der Erzähltradition von Truman Capote und F. Scott Fitzgerald." Akademische Buchhandlung Knodt 20120801
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