Ein Hund im Winter
Roman
Winter in Kansas: Das Schicksal meint es nicht gut mit dem dreizehnjährigen George McCray. Sein Vater stirbt bei einem Unfall, seine Mutter zieht gemeinsam mit Georges Schwestern nach Minnesota. George bleibt allein zurück auf der Farm seiner...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein Hund im Winter “
Winter in Kansas: Das Schicksal meint es nicht gut mit dem dreizehnjährigen George McCray. Sein Vater stirbt bei einem Unfall, seine Mutter zieht gemeinsam mit Georges Schwestern nach Minnesota. George bleibt allein zurück auf der Farm seiner Großeltern, die viel zu alt und gebrechlich für die harte Arbeit sind. Bald schon muss der Junge die Verantwortung eines erfahrenen Erwachsenen übernehmen, und in dunklen Stunden fühlt er sich oft einsam und überfordert. Doch dann begegnet ihm eines Tages Tucker, der Irish Setter des stets betrunkenen Nachbarn Frank Thorne. Als dieser wenig später ins Gefängnis muss, kümmert sich George um den Hund. Schon bald spürt er, dass Tucker ihm bedingungslos zur Seite steht, und die Treue und Liebe des Hundes lassen ihn endlich wieder neuen Mut fassen. Und dank Tucker darf es dann sogar richtig Weihnachten werden.
Klappentext zu „Ein Hund im Winter “
Wie mein Hund das Weihnachtsfest gerettet hatWinter in Kansas: Das Schicksal meint es nicht gut mit dem dreizehnjährigen George McCray. Sein Vater stirbt bei einem Unfall, seine Mutter zieht gemeinsam mit Georges Schwestern nach Minnesota. George bleibt allein zurück auf der Farm seiner Grosseltern, die viel zu alt und gebrechlich für die harte Arbeit sind. Bald schon muss der Junge die Verantwortung eines erfahrenen Erwachsenen übernehmen, und in dunklen Stunden fühlt er sich oft einsam und überfordert.
Doch dann begegnet ihm eines Tages Tucker, der Irish Setter des stets betrunkenen Nachbarn Frank Thorne. Als dieser wenig später ins Gefängnis muss, kümmert sich George um den Hund. Schon bald spürt er, dass Tucker ihm bedingungslos zur Seite steht, und die Treue und Liebe des Hundes lassen ihn endlich wieder neuen Mut fassen. Und dank Tucker darf es dann sogar richtig Weihnachten werden ...
Lese-Probe zu „Ein Hund im Winter “
Ein Hund im Winter von Greg KincaidPROLOG
... mehr
Hunde stehen mit einer Pfote in der Wildnis und kratzen mit der anderen an der Tür zum Menschsein. Sie sit-
zen zwischen zwei Stühlen. Es würde zu kurz greifen, einen Hund einfach nur als Tier zu beschreiben. Es ist unbestritten, dass unsere Haustiere beides sein können, wilde Tiere und hoch entwickelte Lebensformen, die sich exakt an menschliche Bedürfnisse anpassen können. Auf dem Land schätzt man an Hunden vielleicht gerade ihre tierischen Triebe - Jagen, Hüten, Bewachen -, während Hunde, die in der Stadt leben, eher für ihre beinahe menschliche, großartige Fähigkeit zu Kameradschaft und grenzenloser Zuneigung geliebt werden.
Ab und zu haben ein paar Auserwählte unter uns das Glück, einem Hund zu begegnen, der sich ganz natürlich zwischen diesen beiden Welten hin- und herzubewegen scheint. Ein solcher Hund heult mit einem Kojoten in der Ferne, geht auf die Jagd, scheut keinen Zweikampf und ist immer voller Freude draußen unterwegs, egal ob es schneit oder ob die Sonne scheint. Wir schätzen ihn allein schon wegen der puren Lebenslust, die aus seinen Augen strahlt. Und wenn die Arbeit getan ist, legt sich dieser Hund zufrieden zu unseren Füßen nieder und gibt uns zu verstehen, dass er nirgendwo lieber sein will als bei uns. Ein solcher Hund ist in beiden Welten vollkommen zuhause. Ein Vorbild an Vitalität und Gutmütigkeit zugleich - Tier und Engel in einem.
Frank Thorne besaß so einen Hund. Er hatte den vierjährigen Irish Setter als Gegenleistung für die Reparatur eines alten Traktors bekommen. Der Besitzer des defekten Traktors hatte Hund und Fahrzeug von seinem Großvater geerbt. In seinem Geldbeutel bewahrte er ein Foto auf, auf dem der alte Mann neben diesem stolzen Setter zu sehen war. Das Bild war nach einem Jagdwochenende entstanden. Dem Mann genügte dieser Schnappschuss - für den Hund hatte er keinen Platz.
Thorne war zu krank, zu gebrochen und zu sehr mit seinen persönlichen Problemen beschäftigt, um den wahren Wert seines Tauschhandels zu begreifen. Der Setter verbrachte die meiste Zeit im Freien an einer Kette, die an einem in den lehmigen Boden eingelassenen Stahlring befestigt war. Der Lehm war hart wie Beton. So angebunden konnte der Hund nur von ferne zusehen, wie bei Sonnenuntergang wilde Truthähne über die Wiese stolzierten oder Hasen sich aus dem Dickicht wagten, wenn der Schnee über Thornes Scheunenhof tanzte. Der Hund sehnte sich danach, die Welt außerhalb seines acht Meter großen Bewegungsradius zu erkunden.
Ab und zu hatte Thorne einen guten Tag und nahm den Hund auf eine Spritztour in seinem kleinen Lastwagen mit. Dann machten sie einen ausgedehnten Ausflug am Ufer des Kill Creek entlang. Oder er ließ ihn in sein bescheidenes, her untergekommenes Haus, damit er einen warmen Abend am Feuer genießen konnte, das in einem alten Kanonenofen glühte. Thorne war ein einsamer Mann, dem der Gedanke an so etwas wie Freundschaft mit diesem Hund vollkommen fernlag.
Nicht lange nach seiner Ankunft beobachtete der Hund einen Jungen, der nach Westen über ein Feld lief. Der Hund zerrte an der Kette, jaulte und zerrte wieder. Er wedelte mit dem Schwanz, aber es war zwecklos. Am späten Nachmittag, ehe Thorne nach Hause kam, konnte der Hund hören, wie ein Schulbus voller Kinder oben auf dem Hügel hielt. Auch der Junge, den er über das Feld hatte laufen sehen, war in dem Bus.
Bis zum Juni sah oder hörte der Hund diesen Jungen beinahe täglich. Im Lauf des Sommers war der Junge immer seltener draußen zu sehen, im August überhaupt nicht mehr. Als er schließlich wieder auftauchte, spürte der Hund, dass der Junge verändert war. Auf dem Hügel wurde weniger ge- lacht.
Auch um den Mann stand es immer schlechter. Thorne verließ das Haus nicht mehr, und er verströmte einen fauligen Geruch. Der Hund kannte den Geruch. Er war ihm von seinem Vorbesitzer vertraut, der eine Kneipe in der Nähe der Stadt betrieb. Der Oktober ging, und der November kam, und Thorne kümmerte sich immer weniger um die Bedürfnisse des Hundes. Der Setter magerte ab, und jeglicher Glanz verschwand aus seinem rötlichen Fell. Er hatte Hunger und lief rastlos hin und her.
Eines Tages im November, etwa um drei Uhr nachmittags, hörte der Hund, wie sich Thornes Lastwagen in schnellem Tempo dem Haus näherte. In der Ferne war noch ein anderes Geräusch zu hören, das den Hund vor Schmerzen aufjaulen ließ. Er versuchte, den Kopf zwischen den Pfoten zu verstecken, als das Geräusch näher kam. Es war Sirenengeheul.
Trotz seines Unbehagens wedelte er aufgeregt mit dem Schwanz, als Thornes Wagen mit quietschenden Reifen in die Einfahrt bog und keine drei Meter von ihm entfernt schlingernd zum Stillstand kam.
Der Hund wusste nicht, auf was er sich bei diesem großen, hageren Mann gefasst machen musste. Früher war er liebevoll gewesen und hatte seinen Hund geschätzt, aber in letzter Zeit hatte er ihn immer mehr wie eine lästige Verantwortung behandelt. Thorne stolperte aus dem Wagen und stürzte zu Boden. Die Wagentür blieb offen stehen. Der Hund missverstand diese Haltung als Aufforderung zum Spiel und wurde ganz aufgeregt. Er bettelte um eine freundliche Geste, ein Wort der Begrüßung. Aber umsonst. Stattdessen rappelte sich Thorne auf, klopfte den Staub von den Kleidern und versicherte sich, dass das Päckchen, das er umklammert hielt, keinen Schaden genommen hatte.
Der Lärm der Sirenen wurde immer unerträglicher, aber der Hund hatte noch immer nichts anderes im Sinn, als bei dem Mann zu sein. Verzweifelt warf er sich gegen die Kette und bellte um Aufmerksamkeit.
Es war noch früh am Nachmittag, aber nicht zu früh für die allgegenwärtige Flasche in der braunen Papiertüte, die Flasche mit dem Geruch, den der Hund inzwischen mit seinem Herrchen verband. Thorne umklammerte die Tüte mit der linken Hand wie ein Löwenbändiger die Peitsche, die ihn vor dem sicheren Tod bewahrt.
Der rotbraune Setter winselte noch einmal und bellte kurz, aber Thorne beachtete ihn nicht. Stattdessen ging er ins Haus und warf die Tür hinter sich zu.
Kurze Zeit später bogen noch weitere Autos in die Einfahrt ein, zwei mit der quälenden Sirene auf dem Dach. Der Lärm verstummte, als die Männer den Motor abstellten. Sie stiegen aus und gingen zum Haus seines Herrchens.
Der Hund war verwirrt. Es kam nur selten vor, dass fremde Leute in sein Revier eindrangen. Die Stimmen der Fremden klangen gereizt, und der Hund witterte Gefahr. Er bellte wütend und zerrte an der Kette.
Die Männer in Uniform redeten mit dem Hund. Sie sagten, dass sie ihm nichts tun würden, aber auf dem Weg zum Haus machten sie einen großen Bogen um ihn. Er spürte ihr Misstrauen. Er würde sein Leben einsetzen, um Thorne vor dieser seltsamen neuen Bedrohung zu bewahren.
Die Männer hämmerten gegen Thornes alte Haustür. Verzweifelt warf sich der Hund mit seinem ganzen Gewicht in die Kette, aber sie gab nicht nach.
Wenige Augenblicke später führte einer der Männer sein Herrchen in Handschellen aus dem Haus, die Hände auf dem Rücken. Der Hund schnupperte in die Luft, um die Gefahr einzuschätzen. Nach Blut roch es nicht, aber er nahm den abgestandenen, sauren Geruch von Alkohol wahr, der an seinem Herrchen klebte. Thorne lief mit gesenktem Kopf zu den Autos. Er sagte kein Wort zu seinem Hund, als er in einen Streifenwagen geschoben wurde.
Ein älterer Mann tauchte auf und redete mit den Beamten. Der Hund erkannte seine Stimme. Er hatte sie schon auf dem Hügel gehört. In dieser Stimme lag keine Angst.
Der alte Mann ging zu seinem Lastwagen, holte ein angebissenes Sandwich mit Wurst heraus und warf es dem Hund hin. Er behielt den Setter aus sicherem Abstand scharf im Auge und beobachtete, wie er das Fressen hinunterschlang. Der Mann kam näher, und der Hund duckte sich ängstlich - es war ihm noch immer nicht geheuer, dass ein Fremder in sein Revier eingedrungen war. Doch er fasste bald Vertrauen zu dem Mann mit der tiefen, beruhigenden Stimme, der ihm als Einziger Futter gebracht hatte. Müde und erschöpft von den Versuchen, sein Herrchen zu beschützen, legte sich der Hund auf den Boden. Als der Mann die Hand ausstreckte, um ihn zu streicheln, beruhigte er sich und rollte sich in einer unterwürfigen Geste auf den Rücken.
Der alte Mann richtete sich auf und blickte nach Westen. Der Himmel verfinsterte sich. Ein heftiger Wintereinbruch war im Anzug.
Eins
Die meisten Scheunen dienen auch als Familienmuseum. Die senkrechten Balken sind gespickt mit
Nägeln und Haken, an denen eine Geschichte hängt. Teile von Pferdegeschirr, rostiges Werkzeug, Nummernschilder von alten Autos oder ein Kalender aus längst vergangenen Zeiten - alles erzählt eine Geschichte. Es ist Aufgabe eines Museumsleiters, die richtigen Ausstellungsstücke auszuwählen, die Einzelteile zusammenzustellen, die die Gesamtheit eines Volkes, eines Ortes oder einer vergangenen Zeit ausmachen.
Vom Fenster unserer alten Holzscheune aus konnte ich meinen Sohn Todd beobachten, wie er einen Ball für unseren Hund warf, einen ausgewachsenen, hellen Labrador. Todd hatte ihm den Namen Christmas gegeben. Der Motor seines Wagens lief gerade warm, ebenso der vom Auto meiner Frau. Todds Atem kondensierte in der kalten Winterluft. Wir bereiteten uns alle auf einen arbeitsreichen Tag vor. Auf mich wartete eine ungewöhnliche Aufgabe, die ich schon vor fünfzig Jahren begonnen hatte. Es war an der Zeit, sie zu Ende zu bringen.
Ich nahm Tuckers Lederhalsband von einem Haken, die Buchstaben seines Namens waren verblichen, aber immer noch lesbar. Für sechs Uhr hatte sich eine der wichtigsten Besucherinnen unseres Familienmuseums angekündigt. Ich wollte die eine entscheidende Ausstellung zusammenstellen, die die Vergangenheit erklären würde, nicht nur mir selbst, sondern auch ihr. Dafür musste ich an einen kalten, winterlichen Ort zurückkehren, den ich bisher lieber gemieden hatte. Wenn ich nun die Rolle des Museumsleiters übernahm, blieb mir nichts anderes übrig.
Jeder kennt einen solchen Winter. Einen Ort und eine Zeit, die uns für immer verändern. Einen Ort und eine Zeit, in denen der Wind so eisig bläst, dass selbst die Erinnerung daran noch schmerzt. Nun war es an der Zeit, sich diesem Schmerz zu stellen und einen wichtigen Teil meines Lebens freizulegen. Für sie wollte ich mir diese Mühe machen.
Ich hörte den Kies in der Einfahrt knirschen, als Todd und Mary Ann nacheinander davonfuhren und mich alleine auf unserer Farm zurückließen. Ich würde nun den ganzen Tag Zeit haben, um mich auf mein Projekt zu konzentrieren. Irgendwie war ich in den letzten Jahrzehnten immer viel zu beschäftigt gewesen, oft mit unwichtigen Sachen, anstatt mir die Zeit für eine so wichtige Angelegenheit zu nehmen. Jetzt ließ es sich nicht länger aufschieben.
Mit dem Halsband in der Hand betrat ich das Haus, wo ich die anderen Gegenstände zusammensuchte, die die Ausstellung ausmachen würden: einen alten Zinnbecher vom Fenstersims in der Küche, einen Stapel säuberlich zusammengebundener und chronologisch geordneter Briefe, den ich auf dem obersten Brett in einem Schrank aufbewahrte, und eine zerfledderte Puzzleschachtel mit hunderten von Teilen. Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein, warf noch ein paar Scheite Hickoryholz auf das Feuer und ließ mich mit diesen Schätzen auf dem Schoß auf meinem alten, mit rostfarbenem Kord bezogenen Sessel nieder. Das war schon immer ein guter Platz gewesen, um nachzudenken, meine Wunden zu lecken und, im besten Fall, die Scherben meines Ichs zu kitten.
Ich nahm den Zinnbecher in die Hand und schloss die Augen. Ich wartete, bis ich die eisige Kälte jenes Winters 1962 im Gesicht spüren und das leise Rumpeln eines alten Lastwagens hören konnte, der sich mühsam den McCray's Hill hinaufquälte ...
Zwei
Mit einem Quietschen öffnete sich die Tür des Lastwagens und schlug wieder zu. Der alte Mann ging
durch die Hintertür in die Küche und nahm seinen Hut ab. Darunter kamen kurz geschnittene, graue Haare zum Vorschein. Der Mann hatte hohe, schmale Wangenknochen, sein Gesicht war von stundenlanger Arbeit an der frischen Sommerluft leicht gebräunt. Er hatte ein markantes und stolzes Profil und für seine zweiundsiebzig Jahre erstaunlich wenig Falten.
Er war nur nachlässig rasiert und offensichtlich der Ansicht, dass es genügte, jeden zweiten Tag einen Rasierer zu benutzen. Seine Augen waren so blau wie der Himmel über Kansas und so scharf wie die eines Rotschwanzbussards.
Er hatte kein Gramm Fett am Körper, der gestählt war durch harte Arbeit, wie sie heutzutage kaum mehr vorstellbar ist. Nach vierzehn Stunden in den Scheunen und auf dem Feld waren seine Glieder steif. Der nüchterne Ausdruck seiner Augen war so beständig wie die Male, Narben und Kratzer auf seinem Körper.
Jetzt küsste er die hochgewachsene, weißhaarige Frau, die am Spülbecken stand, zärtlich auf die Wange und füllte einen alten Messbecher aus Zinn mit dem kühlen Regenwasser aus der Zisterne. Er legte seinen ergrauten Kopf in den Nacken und leerte den Becher bis auf den letzten Tropfen. Dann ließ er ein lautes »Aaaah« hören. Dieses Ritual wiederholte er mehrmals am Tag, so war es in den beinahe fünfzig Jahren ihrer Ehe immer gewesen. Jedes Mal zauberte er damit ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht.
Wie die beiden dort an diesem frühen Winternachmittag zusammen am Spülbecken standen, wirkten sie wie ein perfekt eingespieltes Team, bereit, die weiten Grasflächen zu bestellen, von denen die McCrays schon seit Generationen lebten. Die Frau war schlank, schön und trug eines ihrer unverwechselbaren geblümten Kleider. Darunter strahlte sie eine sanfte Güte aus. Für alle, die sie kannten, war sie eine Quelle des Trostes und der Freude.
In den Sommermonaten füllte und leerte er den Zinnbecher vier- oder fünfmal, bis sein Durst gestillt war. Die letzten Tropfen, die in dem Becher hängen blieben, schüttete er dann kurzerhand aus dem Küchenfenster auf die leuchtend bunten Blumen seiner Frau, die sich aus einem ganz bestimmten Grund für eben diese Blüten entschieden hatte: Ihr Nektar zog ihre geliebten Kolibris an.
Aber an diesem Tag war ein Becher Wasser genug. Grandpa Bo setzte den Becher ab, griff nach Grandma Coras Arm und zog sie zu sich heran.
Ich saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und las. Über die Seiten meines Buches hinweg beobachtete ich die beiden. Seit einigen Monaten verschanzte ich mich regelrecht hinter meinen Büchern. Doch an diesem Nachmittag musste ich Tarzan auf seinem Baum sitzen lassen, um ein paar Bruchstücke des Gespräches zwischen meinen Großeltern aufzuschnappen. Ich liebte die beiden über alles und hatte mein ganzes Leben in ihrem Haus verbracht, immerhin dreizehn Jahre.
Meine Großmutter klang bestürzt. »Nicht schon wieder. O nein. Bo, ich bin wirklich enttäuscht.« Sie seufzte tief auf. »Aber eigentlich sollte mich das bei seiner Gemütsverfassung nicht wundern«, fuhr sie fort. »Der arme Kerl hatte es nicht leicht mit diesen Eltern und musste immer selbst sehen, wo er bleibt. Er hat in seinem Leben mehr verloren, als er bekommen hat - so viele Jobs, seine Ehe und jetzt auch noch einen Freund.«
Es folgte Schweigen, und ich konnte nichts mehr verstehen, bis sie auffuhr: »Du hast was?«
Er redete beschwichtigend mit seiner tiefen Stimme auf sie ein. »Reg dich nicht auf, Cora. Das wird schon klappen.«
»Ich bin erschüttert, nichts weiter. Ich hätte nie gedacht ... bist du sicher?«
Er brummte. »Seit dem 14. Juni 1962 bin ich mir wegen gar nichts mehr sicher.«
Als er dieses Datum erwähnte, wurde ich ganz mutlos. Wie der 7. Dezember 1941 und noch ein paar andere Daten war auch dies ein Tag, den meine Familie niemals vergessen würde. Ich legte mein Buch zur Seite, stand auf und ging in die Küche. Als ich eintrat, verstummte das Gespräch.
Die beiden sahen mich erwartungsvoll an, weshalb ich mir kurzerhand eine Frage einfallen ließ.
»Hast du die Kühe verkauft, Grandpa?«
»Ja, die hab ich verkauft und danach im Ox gegessen. Und Hank Fisher und seine Frau getroffen.« Er zögerte, dann spuckte er die Worte förmlich aus: »Und auf dem Weg habe ich kurz angehalten und einen Hund mit nach Hause genommen.«
»Einen Hund!« Ich hatte mir schon immer einen Welpen gewünscht und traute meinen Ohren nicht.
»Es ist nicht ganz so, wie du denkst, George, also mach dir nicht allzu große Hoffnungen.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Er ist kein Welpe mehr, und du wirst ihn nicht behalten können. Frank Thorne ist mal wieder in Schwierigkeiten. Er muss seine Farm für eine Weile verlassen. Er war ein Freund deines Vaters und ist unser Nachbar, also finde ich, dass wir ihm helfen müssen. Ich würde mich über deine Unterstützung freuen.«
»Meinst du etwa diesen bösartigen, rotbraunen Hund, den er vor seinem Haus angebunden hat? Der, der jedes Mal wie der Teufel kläfft, wenn ich mit dem Schulbus vorbeifahre?«
»Genau der.«
Ich stellte mir unter einem anständigen Hund einen Welpen vor, und ich brachte meine Gefühle ohne Umschweife zum Ausdruck. »Ich glaube nicht, dass ich mich um Thornes Hund kümmern will.«
Auch Bo McCray redete nicht lange um die Dinge herum. »Du wirst es trotzdem tun.«
Ich sah hilfesuchend meine Großmutter an, und sie warf mir einen strengen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass dieses Thema nicht weiter zur Diskussion stand.
»Also gut, wo ist er?«
Leicht verärgert stellte mein Großvater seinen Zinnbecher auf den Küchentisch. »Im Wagen«, brummte er und deutete auf die Hintertür. »Und falls er einen Namen hat, dann hat Thorne ihn zumindest nicht erwähnt.«
Normalerweise parkte der Lastwagen im Schuppen, aber an diesem Nachmittag hatte Grandpa ihn in der geschotterten Einfahrt vor unserem Farmhaus stehen lassen. Ohne ein weiteres Wort ging ich hinaus.
Draußen blieb ich stehen und starrte einen Moment lang unschlüssig auf den Lastwagen. Ich hatte keine Ahnung, was für eine wertvolle Fracht er geladen hatte.
Übersetzung: Gabriele Zigldrum
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 201 1
by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Hunde stehen mit einer Pfote in der Wildnis und kratzen mit der anderen an der Tür zum Menschsein. Sie sit-
zen zwischen zwei Stühlen. Es würde zu kurz greifen, einen Hund einfach nur als Tier zu beschreiben. Es ist unbestritten, dass unsere Haustiere beides sein können, wilde Tiere und hoch entwickelte Lebensformen, die sich exakt an menschliche Bedürfnisse anpassen können. Auf dem Land schätzt man an Hunden vielleicht gerade ihre tierischen Triebe - Jagen, Hüten, Bewachen -, während Hunde, die in der Stadt leben, eher für ihre beinahe menschliche, großartige Fähigkeit zu Kameradschaft und grenzenloser Zuneigung geliebt werden.
Ab und zu haben ein paar Auserwählte unter uns das Glück, einem Hund zu begegnen, der sich ganz natürlich zwischen diesen beiden Welten hin- und herzubewegen scheint. Ein solcher Hund heult mit einem Kojoten in der Ferne, geht auf die Jagd, scheut keinen Zweikampf und ist immer voller Freude draußen unterwegs, egal ob es schneit oder ob die Sonne scheint. Wir schätzen ihn allein schon wegen der puren Lebenslust, die aus seinen Augen strahlt. Und wenn die Arbeit getan ist, legt sich dieser Hund zufrieden zu unseren Füßen nieder und gibt uns zu verstehen, dass er nirgendwo lieber sein will als bei uns. Ein solcher Hund ist in beiden Welten vollkommen zuhause. Ein Vorbild an Vitalität und Gutmütigkeit zugleich - Tier und Engel in einem.
Frank Thorne besaß so einen Hund. Er hatte den vierjährigen Irish Setter als Gegenleistung für die Reparatur eines alten Traktors bekommen. Der Besitzer des defekten Traktors hatte Hund und Fahrzeug von seinem Großvater geerbt. In seinem Geldbeutel bewahrte er ein Foto auf, auf dem der alte Mann neben diesem stolzen Setter zu sehen war. Das Bild war nach einem Jagdwochenende entstanden. Dem Mann genügte dieser Schnappschuss - für den Hund hatte er keinen Platz.
Thorne war zu krank, zu gebrochen und zu sehr mit seinen persönlichen Problemen beschäftigt, um den wahren Wert seines Tauschhandels zu begreifen. Der Setter verbrachte die meiste Zeit im Freien an einer Kette, die an einem in den lehmigen Boden eingelassenen Stahlring befestigt war. Der Lehm war hart wie Beton. So angebunden konnte der Hund nur von ferne zusehen, wie bei Sonnenuntergang wilde Truthähne über die Wiese stolzierten oder Hasen sich aus dem Dickicht wagten, wenn der Schnee über Thornes Scheunenhof tanzte. Der Hund sehnte sich danach, die Welt außerhalb seines acht Meter großen Bewegungsradius zu erkunden.
Ab und zu hatte Thorne einen guten Tag und nahm den Hund auf eine Spritztour in seinem kleinen Lastwagen mit. Dann machten sie einen ausgedehnten Ausflug am Ufer des Kill Creek entlang. Oder er ließ ihn in sein bescheidenes, her untergekommenes Haus, damit er einen warmen Abend am Feuer genießen konnte, das in einem alten Kanonenofen glühte. Thorne war ein einsamer Mann, dem der Gedanke an so etwas wie Freundschaft mit diesem Hund vollkommen fernlag.
Nicht lange nach seiner Ankunft beobachtete der Hund einen Jungen, der nach Westen über ein Feld lief. Der Hund zerrte an der Kette, jaulte und zerrte wieder. Er wedelte mit dem Schwanz, aber es war zwecklos. Am späten Nachmittag, ehe Thorne nach Hause kam, konnte der Hund hören, wie ein Schulbus voller Kinder oben auf dem Hügel hielt. Auch der Junge, den er über das Feld hatte laufen sehen, war in dem Bus.
Bis zum Juni sah oder hörte der Hund diesen Jungen beinahe täglich. Im Lauf des Sommers war der Junge immer seltener draußen zu sehen, im August überhaupt nicht mehr. Als er schließlich wieder auftauchte, spürte der Hund, dass der Junge verändert war. Auf dem Hügel wurde weniger ge- lacht.
Auch um den Mann stand es immer schlechter. Thorne verließ das Haus nicht mehr, und er verströmte einen fauligen Geruch. Der Hund kannte den Geruch. Er war ihm von seinem Vorbesitzer vertraut, der eine Kneipe in der Nähe der Stadt betrieb. Der Oktober ging, und der November kam, und Thorne kümmerte sich immer weniger um die Bedürfnisse des Hundes. Der Setter magerte ab, und jeglicher Glanz verschwand aus seinem rötlichen Fell. Er hatte Hunger und lief rastlos hin und her.
Eines Tages im November, etwa um drei Uhr nachmittags, hörte der Hund, wie sich Thornes Lastwagen in schnellem Tempo dem Haus näherte. In der Ferne war noch ein anderes Geräusch zu hören, das den Hund vor Schmerzen aufjaulen ließ. Er versuchte, den Kopf zwischen den Pfoten zu verstecken, als das Geräusch näher kam. Es war Sirenengeheul.
Trotz seines Unbehagens wedelte er aufgeregt mit dem Schwanz, als Thornes Wagen mit quietschenden Reifen in die Einfahrt bog und keine drei Meter von ihm entfernt schlingernd zum Stillstand kam.
Der Hund wusste nicht, auf was er sich bei diesem großen, hageren Mann gefasst machen musste. Früher war er liebevoll gewesen und hatte seinen Hund geschätzt, aber in letzter Zeit hatte er ihn immer mehr wie eine lästige Verantwortung behandelt. Thorne stolperte aus dem Wagen und stürzte zu Boden. Die Wagentür blieb offen stehen. Der Hund missverstand diese Haltung als Aufforderung zum Spiel und wurde ganz aufgeregt. Er bettelte um eine freundliche Geste, ein Wort der Begrüßung. Aber umsonst. Stattdessen rappelte sich Thorne auf, klopfte den Staub von den Kleidern und versicherte sich, dass das Päckchen, das er umklammert hielt, keinen Schaden genommen hatte.
Der Lärm der Sirenen wurde immer unerträglicher, aber der Hund hatte noch immer nichts anderes im Sinn, als bei dem Mann zu sein. Verzweifelt warf er sich gegen die Kette und bellte um Aufmerksamkeit.
Es war noch früh am Nachmittag, aber nicht zu früh für die allgegenwärtige Flasche in der braunen Papiertüte, die Flasche mit dem Geruch, den der Hund inzwischen mit seinem Herrchen verband. Thorne umklammerte die Tüte mit der linken Hand wie ein Löwenbändiger die Peitsche, die ihn vor dem sicheren Tod bewahrt.
Der rotbraune Setter winselte noch einmal und bellte kurz, aber Thorne beachtete ihn nicht. Stattdessen ging er ins Haus und warf die Tür hinter sich zu.
Kurze Zeit später bogen noch weitere Autos in die Einfahrt ein, zwei mit der quälenden Sirene auf dem Dach. Der Lärm verstummte, als die Männer den Motor abstellten. Sie stiegen aus und gingen zum Haus seines Herrchens.
Der Hund war verwirrt. Es kam nur selten vor, dass fremde Leute in sein Revier eindrangen. Die Stimmen der Fremden klangen gereizt, und der Hund witterte Gefahr. Er bellte wütend und zerrte an der Kette.
Die Männer in Uniform redeten mit dem Hund. Sie sagten, dass sie ihm nichts tun würden, aber auf dem Weg zum Haus machten sie einen großen Bogen um ihn. Er spürte ihr Misstrauen. Er würde sein Leben einsetzen, um Thorne vor dieser seltsamen neuen Bedrohung zu bewahren.
Die Männer hämmerten gegen Thornes alte Haustür. Verzweifelt warf sich der Hund mit seinem ganzen Gewicht in die Kette, aber sie gab nicht nach.
Wenige Augenblicke später führte einer der Männer sein Herrchen in Handschellen aus dem Haus, die Hände auf dem Rücken. Der Hund schnupperte in die Luft, um die Gefahr einzuschätzen. Nach Blut roch es nicht, aber er nahm den abgestandenen, sauren Geruch von Alkohol wahr, der an seinem Herrchen klebte. Thorne lief mit gesenktem Kopf zu den Autos. Er sagte kein Wort zu seinem Hund, als er in einen Streifenwagen geschoben wurde.
Ein älterer Mann tauchte auf und redete mit den Beamten. Der Hund erkannte seine Stimme. Er hatte sie schon auf dem Hügel gehört. In dieser Stimme lag keine Angst.
Der alte Mann ging zu seinem Lastwagen, holte ein angebissenes Sandwich mit Wurst heraus und warf es dem Hund hin. Er behielt den Setter aus sicherem Abstand scharf im Auge und beobachtete, wie er das Fressen hinunterschlang. Der Mann kam näher, und der Hund duckte sich ängstlich - es war ihm noch immer nicht geheuer, dass ein Fremder in sein Revier eingedrungen war. Doch er fasste bald Vertrauen zu dem Mann mit der tiefen, beruhigenden Stimme, der ihm als Einziger Futter gebracht hatte. Müde und erschöpft von den Versuchen, sein Herrchen zu beschützen, legte sich der Hund auf den Boden. Als der Mann die Hand ausstreckte, um ihn zu streicheln, beruhigte er sich und rollte sich in einer unterwürfigen Geste auf den Rücken.
Der alte Mann richtete sich auf und blickte nach Westen. Der Himmel verfinsterte sich. Ein heftiger Wintereinbruch war im Anzug.
Eins
Die meisten Scheunen dienen auch als Familienmuseum. Die senkrechten Balken sind gespickt mit
Nägeln und Haken, an denen eine Geschichte hängt. Teile von Pferdegeschirr, rostiges Werkzeug, Nummernschilder von alten Autos oder ein Kalender aus längst vergangenen Zeiten - alles erzählt eine Geschichte. Es ist Aufgabe eines Museumsleiters, die richtigen Ausstellungsstücke auszuwählen, die Einzelteile zusammenzustellen, die die Gesamtheit eines Volkes, eines Ortes oder einer vergangenen Zeit ausmachen.
Vom Fenster unserer alten Holzscheune aus konnte ich meinen Sohn Todd beobachten, wie er einen Ball für unseren Hund warf, einen ausgewachsenen, hellen Labrador. Todd hatte ihm den Namen Christmas gegeben. Der Motor seines Wagens lief gerade warm, ebenso der vom Auto meiner Frau. Todds Atem kondensierte in der kalten Winterluft. Wir bereiteten uns alle auf einen arbeitsreichen Tag vor. Auf mich wartete eine ungewöhnliche Aufgabe, die ich schon vor fünfzig Jahren begonnen hatte. Es war an der Zeit, sie zu Ende zu bringen.
Ich nahm Tuckers Lederhalsband von einem Haken, die Buchstaben seines Namens waren verblichen, aber immer noch lesbar. Für sechs Uhr hatte sich eine der wichtigsten Besucherinnen unseres Familienmuseums angekündigt. Ich wollte die eine entscheidende Ausstellung zusammenstellen, die die Vergangenheit erklären würde, nicht nur mir selbst, sondern auch ihr. Dafür musste ich an einen kalten, winterlichen Ort zurückkehren, den ich bisher lieber gemieden hatte. Wenn ich nun die Rolle des Museumsleiters übernahm, blieb mir nichts anderes übrig.
Jeder kennt einen solchen Winter. Einen Ort und eine Zeit, die uns für immer verändern. Einen Ort und eine Zeit, in denen der Wind so eisig bläst, dass selbst die Erinnerung daran noch schmerzt. Nun war es an der Zeit, sich diesem Schmerz zu stellen und einen wichtigen Teil meines Lebens freizulegen. Für sie wollte ich mir diese Mühe machen.
Ich hörte den Kies in der Einfahrt knirschen, als Todd und Mary Ann nacheinander davonfuhren und mich alleine auf unserer Farm zurückließen. Ich würde nun den ganzen Tag Zeit haben, um mich auf mein Projekt zu konzentrieren. Irgendwie war ich in den letzten Jahrzehnten immer viel zu beschäftigt gewesen, oft mit unwichtigen Sachen, anstatt mir die Zeit für eine so wichtige Angelegenheit zu nehmen. Jetzt ließ es sich nicht länger aufschieben.
Mit dem Halsband in der Hand betrat ich das Haus, wo ich die anderen Gegenstände zusammensuchte, die die Ausstellung ausmachen würden: einen alten Zinnbecher vom Fenstersims in der Küche, einen Stapel säuberlich zusammengebundener und chronologisch geordneter Briefe, den ich auf dem obersten Brett in einem Schrank aufbewahrte, und eine zerfledderte Puzzleschachtel mit hunderten von Teilen. Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein, warf noch ein paar Scheite Hickoryholz auf das Feuer und ließ mich mit diesen Schätzen auf dem Schoß auf meinem alten, mit rostfarbenem Kord bezogenen Sessel nieder. Das war schon immer ein guter Platz gewesen, um nachzudenken, meine Wunden zu lecken und, im besten Fall, die Scherben meines Ichs zu kitten.
Ich nahm den Zinnbecher in die Hand und schloss die Augen. Ich wartete, bis ich die eisige Kälte jenes Winters 1962 im Gesicht spüren und das leise Rumpeln eines alten Lastwagens hören konnte, der sich mühsam den McCray's Hill hinaufquälte ...
Zwei
Mit einem Quietschen öffnete sich die Tür des Lastwagens und schlug wieder zu. Der alte Mann ging
durch die Hintertür in die Küche und nahm seinen Hut ab. Darunter kamen kurz geschnittene, graue Haare zum Vorschein. Der Mann hatte hohe, schmale Wangenknochen, sein Gesicht war von stundenlanger Arbeit an der frischen Sommerluft leicht gebräunt. Er hatte ein markantes und stolzes Profil und für seine zweiundsiebzig Jahre erstaunlich wenig Falten.
Er war nur nachlässig rasiert und offensichtlich der Ansicht, dass es genügte, jeden zweiten Tag einen Rasierer zu benutzen. Seine Augen waren so blau wie der Himmel über Kansas und so scharf wie die eines Rotschwanzbussards.
Er hatte kein Gramm Fett am Körper, der gestählt war durch harte Arbeit, wie sie heutzutage kaum mehr vorstellbar ist. Nach vierzehn Stunden in den Scheunen und auf dem Feld waren seine Glieder steif. Der nüchterne Ausdruck seiner Augen war so beständig wie die Male, Narben und Kratzer auf seinem Körper.
Jetzt küsste er die hochgewachsene, weißhaarige Frau, die am Spülbecken stand, zärtlich auf die Wange und füllte einen alten Messbecher aus Zinn mit dem kühlen Regenwasser aus der Zisterne. Er legte seinen ergrauten Kopf in den Nacken und leerte den Becher bis auf den letzten Tropfen. Dann ließ er ein lautes »Aaaah« hören. Dieses Ritual wiederholte er mehrmals am Tag, so war es in den beinahe fünfzig Jahren ihrer Ehe immer gewesen. Jedes Mal zauberte er damit ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht.
Wie die beiden dort an diesem frühen Winternachmittag zusammen am Spülbecken standen, wirkten sie wie ein perfekt eingespieltes Team, bereit, die weiten Grasflächen zu bestellen, von denen die McCrays schon seit Generationen lebten. Die Frau war schlank, schön und trug eines ihrer unverwechselbaren geblümten Kleider. Darunter strahlte sie eine sanfte Güte aus. Für alle, die sie kannten, war sie eine Quelle des Trostes und der Freude.
In den Sommermonaten füllte und leerte er den Zinnbecher vier- oder fünfmal, bis sein Durst gestillt war. Die letzten Tropfen, die in dem Becher hängen blieben, schüttete er dann kurzerhand aus dem Küchenfenster auf die leuchtend bunten Blumen seiner Frau, die sich aus einem ganz bestimmten Grund für eben diese Blüten entschieden hatte: Ihr Nektar zog ihre geliebten Kolibris an.
Aber an diesem Tag war ein Becher Wasser genug. Grandpa Bo setzte den Becher ab, griff nach Grandma Coras Arm und zog sie zu sich heran.
Ich saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und las. Über die Seiten meines Buches hinweg beobachtete ich die beiden. Seit einigen Monaten verschanzte ich mich regelrecht hinter meinen Büchern. Doch an diesem Nachmittag musste ich Tarzan auf seinem Baum sitzen lassen, um ein paar Bruchstücke des Gespräches zwischen meinen Großeltern aufzuschnappen. Ich liebte die beiden über alles und hatte mein ganzes Leben in ihrem Haus verbracht, immerhin dreizehn Jahre.
Meine Großmutter klang bestürzt. »Nicht schon wieder. O nein. Bo, ich bin wirklich enttäuscht.« Sie seufzte tief auf. »Aber eigentlich sollte mich das bei seiner Gemütsverfassung nicht wundern«, fuhr sie fort. »Der arme Kerl hatte es nicht leicht mit diesen Eltern und musste immer selbst sehen, wo er bleibt. Er hat in seinem Leben mehr verloren, als er bekommen hat - so viele Jobs, seine Ehe und jetzt auch noch einen Freund.«
Es folgte Schweigen, und ich konnte nichts mehr verstehen, bis sie auffuhr: »Du hast was?«
Er redete beschwichtigend mit seiner tiefen Stimme auf sie ein. »Reg dich nicht auf, Cora. Das wird schon klappen.«
»Ich bin erschüttert, nichts weiter. Ich hätte nie gedacht ... bist du sicher?«
Er brummte. »Seit dem 14. Juni 1962 bin ich mir wegen gar nichts mehr sicher.«
Als er dieses Datum erwähnte, wurde ich ganz mutlos. Wie der 7. Dezember 1941 und noch ein paar andere Daten war auch dies ein Tag, den meine Familie niemals vergessen würde. Ich legte mein Buch zur Seite, stand auf und ging in die Küche. Als ich eintrat, verstummte das Gespräch.
Die beiden sahen mich erwartungsvoll an, weshalb ich mir kurzerhand eine Frage einfallen ließ.
»Hast du die Kühe verkauft, Grandpa?«
»Ja, die hab ich verkauft und danach im Ox gegessen. Und Hank Fisher und seine Frau getroffen.« Er zögerte, dann spuckte er die Worte förmlich aus: »Und auf dem Weg habe ich kurz angehalten und einen Hund mit nach Hause genommen.«
»Einen Hund!« Ich hatte mir schon immer einen Welpen gewünscht und traute meinen Ohren nicht.
»Es ist nicht ganz so, wie du denkst, George, also mach dir nicht allzu große Hoffnungen.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Er ist kein Welpe mehr, und du wirst ihn nicht behalten können. Frank Thorne ist mal wieder in Schwierigkeiten. Er muss seine Farm für eine Weile verlassen. Er war ein Freund deines Vaters und ist unser Nachbar, also finde ich, dass wir ihm helfen müssen. Ich würde mich über deine Unterstützung freuen.«
»Meinst du etwa diesen bösartigen, rotbraunen Hund, den er vor seinem Haus angebunden hat? Der, der jedes Mal wie der Teufel kläfft, wenn ich mit dem Schulbus vorbeifahre?«
»Genau der.«
Ich stellte mir unter einem anständigen Hund einen Welpen vor, und ich brachte meine Gefühle ohne Umschweife zum Ausdruck. »Ich glaube nicht, dass ich mich um Thornes Hund kümmern will.«
Auch Bo McCray redete nicht lange um die Dinge herum. »Du wirst es trotzdem tun.«
Ich sah hilfesuchend meine Großmutter an, und sie warf mir einen strengen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass dieses Thema nicht weiter zur Diskussion stand.
»Also gut, wo ist er?«
Leicht verärgert stellte mein Großvater seinen Zinnbecher auf den Küchentisch. »Im Wagen«, brummte er und deutete auf die Hintertür. »Und falls er einen Namen hat, dann hat Thorne ihn zumindest nicht erwähnt.«
Normalerweise parkte der Lastwagen im Schuppen, aber an diesem Nachmittag hatte Grandpa ihn in der geschotterten Einfahrt vor unserem Farmhaus stehen lassen. Ohne ein weiteres Wort ging ich hinaus.
Draußen blieb ich stehen und starrte einen Moment lang unschlüssig auf den Lastwagen. Ich hatte keine Ahnung, was für eine wertvolle Fracht er geladen hatte.
Übersetzung: Gabriele Zigldrum
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 201 1
by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Greg Kincaid
Kincaid, GregGreg Kincaid arbeitet im Hauptberuf als Rechtsanwalt. Der fünffache Vater lebt zusammen mit seiner Frau und zwei Hunden auf einer Farm in Kansas und engagiert sich bei verschiedenen sozialen Projekten und in der Tierhilfe. »Ein Hund unterm Weihnachtsbaum« ist bereits der vierte Roman über die Familie McCray und ihre Hunde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Greg Kincaid
- 2011, 253 Seiten, Masse: 13,2 x 20,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zigldrum, Gabriele
- Übersetzer: Gabriele Zigldrum
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442203872
- ISBN-13: 9783442203871
- Erscheinungsdatum: 15.11.2011
Rezension zu „Ein Hund im Winter “
»Kincaid drückt in seiner Erzählung auf die Tränendrüse, dass es nur so spritzt. Und das ist in diesem Fall absolut in Ordnung, weil es sehr berührend aber niemals kitschig wird.«
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