Die Unsterblichkeit
Roman. Nachwort v. Ricard, François
Zwei Paare, die einiges verbindet und noch mehr trennt: Agnes, die ihre Liebe zu Paul mit dem Willen verwechselt, ihn zu lieben und eine glückliche Ehe zu führen. Laura, die das Gerede von Bernard, dem fixen Radiomoderator, nicht mehr erträgt. Als Agnes auf...
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Produktinformationen zu „Die Unsterblichkeit “
Klappentext zu „Die Unsterblichkeit “
Zwei Paare, die einiges verbindet und noch mehr trennt: Agnes, die ihre Liebe zu Paul mit dem Willen verwechselt, ihn zu lieben und eine glückliche Ehe zu führen. Laura, die das Gerede von Bernard, dem fixen Radiomoderator, nicht mehr erträgt. Als Agnes auf tragische Weise stirbt, werden Laura und Paul ein Paar. Rund um die Liebe, Gott und die Welt, entführt uns Milan Kundera in das wunderbare Kaleidoskop des Lebens, in dem es nur darum geht, unsterblich zu sein.
Lese-Probe zu „Die Unsterblichkeit “
Die Unsterblichkeit von Milan KunderaErster Teil
Das Gesicht
1.
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Die Frau mochte sechzig, fünfundsechzig Jahre alt sein. In einem Fitness-Klub im obersten Stock eines modernen Gebäudes, durch dessen breite Fenster man ganz Paris sehen konnte, beobachtete ich sie von einem Liegestuhl gegenüber dem Schwimmbecken aus. Ich wartete auf Professor Avenarius, den ich hier gelegentlich traf, um mit ihm zu plaudern. Doch der Professor kam nicht, und ich betrachtete die Dame; sie stand, bis zur Taille im Wasser, allein im Schwimmbecken und schaute zu dem jungen Bademeister in Shorts hinauf, der ihr das Schwimmen beibrachte. Er erteilte ihr Befehle: sie musste sich mit beiden Händen am Beckenrand festhalten und tief ein- und ausatmen. Sie tat dies ernst und eifrig, und es war, als sei aus der Tiefe des Wassers eine alte Dampflokomotive zu hören (dieses idyllische, heute vergessene Geräusch, das sich für diejenigen, die eine Dampflokomotive nicht mehr kennen, nicht anders beschreiben lässt als das Schnaufen einer älteren Dame, die am Rand eines Schwimmbeckens laut ein- und ausatmet). Ich sah sie fasziniert an. Sie fesselte mich durch ihre rührende Komik (der Bademeister war sich dieser Komik ebenfalls bewusst, denn seine Mundwinkel zuckten immer wieder), bis mich ein Bekannter ansprach und meine Aufmerksamkeit ablenkte. Als ich die Frau nach einer Weile wieder beobachten wollte, war die Lektion beendet, die Frau ging am Becken entlang und am Bademeister vorbei hinaus, und als sie vier oder fünf Schritte von ihm entfernt war, drehte sie nochmals den Kopf, lächelte und winkte ihm zu. In diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen. Dieses Lächeln, diese Geste gehörten zu einer zwanzigjährigen Frau! Ihre Hand schwang sich mit bezaubernder Leichtigkeit in die Höhe. Es war, als würfe sie ihrem Geliebten einen bunten Ball zu. Das Lächeln und die Geste waren, im Gegensatz zu Gesicht und Körper, voller eleganter Anmut. Es war die Anmut einer Geste, die in die fehlende Anmut des Körpers getaucht war. Die Frau musste wissen, dass sie nicht mehr schön war, hatte es aber offenbar in diesem Augenblick vergessen. Mit einem bestimmten Teil unseres Wesens leben wir außerhalb der Zeit. Vielleicht wird uns unser Alter überhaupt nur in außergewöhnlichen Momenten bewusst, und wir leben die meiste Zeit alterslos. Jedenfalls wusste sie in dem Moment, als sie sich umdrehte, lächelte und dem jungen Bademeister zuwinkte (der sich nicht mehr zurückhielt und herausprustete), nichts von ihrem Alter. Eine von der Zeit unabhängige Essenz ihrer Anmut hatte sich für einen Augenblick in einer Geste offenbart und mich geblendet. Ich war auf merkwürdige Weise gerührt. Und vor mir tauchte das Wort Agnes auf. Ich habe nie eine Frau mit diesem Namen gekannt.
2.
In wohligem Halbschlaf liege ich im Bett. Schon um sechs Uhr greife ich im ersten leichten Erwachen nach dem kleinen Transistorradio, das neben meinem Kopfkissen steht, und schalte es ein. Es werden gerade Nachrichten gesendet, ich bin noch nicht in der Lage, die einzelnen Worte zu unterscheiden, und schlummere wieder ein, so dass sich die Sätze der Sprecher in Träume verwandeln. Das ist die schönste Phase des Schlafs und der herrlichste Moment des Tages: dank des Radios genieße ich mein wiederholtes Einschlummern und Aufwachen, diese wunderbare Schaukel zwischen Wachsein und Schlaf, die für sich schon ausreicht, um die Geburt in diese Welt nicht zu bedauern. Träume ich es nur, oder bin ich tatsächlich in der Oper und sehe zwei Sänger in Ritterkostümen, die die Wettervorhersage singen? Warum singen sie nicht von der Liebe? Und dann wird mir bewusst, dass es Sprecher sind, die jetzt nicht mehr singen, sondern einander scherzend ins Wort fallen: »Der Tag wird heiß und schwül sein, mit Gewittern«, sagt der erste, und der zweite unterbricht kokett: »Wirklich?« Die erste Stimme antwortet ebenso kokett: »Mais si. Tut mir leid, Bernard. So ist es, und wir werden es ertragen müssen.« Bernard lacht laut und sagt: »Das ist die Strafe für unsere Sünden.« Und die erste Stimme: »Warum, lieber Bernard, sollte ich für deine Sünden büßen?« In diesem Moment lacht Bernard noch lauter, um den Zuhörern zu verstehen zu geben, um welche Art von Sünde es sich handelt, und ich verstehe ihn: es gibt eine einzige tiefe Sehnsucht in unserem Leben: Die ganze Welt soll uns für große Sünder halten! Mögen unsere Laster mit Platzregen, Stürmen und Orkanen verglichen werden! Wenn der Franzose heute den Regenschirm über seinem Kopf aufspannt, muss er sich an Bernards zweideutiges Lachen erinnern und ihn beneiden. Ich drehe weiter zum nächsten Sender in der Hoffnung, interessantere Vorstellungen für das sich nähernde Einschlafen herbeizurufen. Doch auch dort kündigt eine Frauenstimme an, dass der Tag heiß und schwül sein wird, mit Gewittern, und ich bin froh, dass wir in Frankreich so viele Radiosender haben und man auf allen Wellenlängen zur gleichen Zeit immer gleich über das Gleiche redet. Eine harmonische Verbindung von Uniformität und Freiheit, was könnte die Menschheit sich Besseres wünschen? Und so drehe ich den Knopf wieder dorthin zurück, wo Bernard eben gerade seine Sünden präsentiert hat, doch statt Bernard höre ich eine andere Stimme etwas über den neuen Typ der Marke Renault singen, ich drehe weiter, und ein Frauenchor preist einen Ausverkauf von Pelzmänteln, ich kehre zu Bernard zurück, vernehme noch die letzten beiden Takte der Hymne auf den Renault, und gleich darauf spricht wieder Bernard selbst. Mit singender, die eben ausgeblendete Melodie nachahmender Stimme verkündet er, dass eine neue Biographie über Ernest Hemingway erschienen sei, die einhundertsiebenundzwanzigste, die diesmal aber wahrlich sehr bedeutend sei, da aus ihr hervorgehe, dass Hemingway sein Leben lang kein wahres Wort gesagt habe. Er habe die Zahl der Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg übertrieben und vorgegeben, ein großer Verführer zu sein, obwohl er im August 1944 und nochmals ab Juli 1959 nachweislich absolut impotent gewesen sei. »Ach tatsächlich?«, lacht die zweite Stimme, und Bernard antwortet kokett: »Mais si ...«, und wieder sind wir alle auf einer Opernbühne, sogar der impotente Hemingway ist dabei, und eine sehr ernste Stimme erzählt plötzlich von einem Gerichtsprozess, über den sich in den vergangenen Wochen ganz Frankreich aufgeregt hat: im Laufe einer völlig harmlosen Operation starb eine Patientin infolge einer falsch durchgeführten Narkose. In diesem Zusammenhang machte eine Organisation, die ihren Zweck darin sieht, jene zu schützen, die sie ›Verbraucher‹ nennt, den Vorschlag, in Zukunft alle Operationen zu filmen und zu archivieren. Nur so, behauptet diese ›Verbraucherschutz-Organisation‹, sei es möglich, einem auf dem Operationstisch gestorbenen Franzosen zu garantieren, dass ihn ein Gericht gebührend rächen werde. Dann schlafe ich wieder ein.
Als ich aufwache, ist es schon fast halb neun, und ich stelle mir Agnes vor. Sie liegt wie ich in einem breiten Bett. Die rechte Seite ist leer. Wer mag ihr Mann sein? Offensichtlich jemand, der am Samstagmorgen früh aus dem Haus geht. Darum ist sie allein und kann wohlig zwischen Erwachen und Träumen hin- und herschaukeln.
Dann steht sie auf. Ihr gegenüber steht der Fernseher wie ein Storch auf einem langen Bein. Sie wirft ihr Nachthemd darüber, das den Bildschirm verdeckt wie ein weißer, plissierter Vorhang. Jetzt steht sie direkt vor dem Bett, und ich sehe sie zum ersten Mal nackt, Agnes, die Heldin meines Romans. Ich kann die Augen nicht von dieser schönen Frau abwenden, und sie, sie geht, als spüre sie meinen Blick, ins Nebenzimmer, um sich anzuziehen.
Wer ist Agnes?
Wie Eva aus einer Rippe Adams stammt und Venus aus dem Schaum des Meeres geboren wurde, so ist Agnes aus der Geste jener sechzigjährigen Dame entstanden, die dem Bademeister am Schwimmbecken zugewunken hat und deren Züge in meiner Erinnerung bereits verblassen. Diese Geste rief damals in mir eine grenzenlose, unverständliche Wehmut wach, und aus dieser Wehmut wurde die Frauenfigur geboren, die ich Agnes nenne.
Ist aber der Mensch, und eine Romanfigur vielleicht noch mehr, nicht als einzigartiges, unwiederholbares Wesen definiert? Wie ist es also möglich, dass eine Geste, die ich an einem Menschen A gesehen habe, die mit ihm verbunden war, ihn charakterisierte und seinen persönlichen Charme ausmachte, zugleich zum Wesen eines Menschen B und meiner Träume von ihm wird? Das ist eine Überlegung wert:
Wenn von dem Moment an, da der erste Mensch auf der Erdkugel erschienen ist, ungefähr achtzig Milliarden Menschen über die Erde gegangen sind, ist es wenig wahrscheinlich, dass jeder einzelne über ein eigenes Repertoire an Gesten verfügt. Das ist arithmetisch unmöglich. Zweifellos gibt es auf der Welt viel weniger Gesten als Individuen. Diese Feststellung führt uns zu einem schockierenden Schluss: die Geste ist individueller als ein Individuum. Man könnte dies auch auf die Formel bringen: viele Menschen, wenige Gesten.
Als ich eingangs von der Dame am Schwimmbecken sprach, habe ich gesagt, dass sich »eine von der Zeit unabhängige Essenz ihrer Anmut einen Augenblick lang in dieser Geste offenbart und mich geblendet« hat. Ja, so hatte ich es in
jenem Moment gesehen, aber ich habe mich geirrt. Jene Geste hatte nicht eine Essenz der Dame enthüllt, man könnte eher sagen, die Dame habe mich die Anmut einer menschlichen Geste erkennen lassen. Denn eine Geste lässt sich weder als Ausdruck des Individuums noch als dessen Schöpfung betrachten (kein Mensch kann eine vollkommen originelle und nur zu ihm gehörende Geste kreieren), ja nicht einmal als dessen Instrument; im Gegenteil: es sind die Gesten, die uns als ihre Instrumente, ihre Träger, ihre Verkörperungen benutzen.
Agnes war angekleidet und ging in die Diele, hielt dort einen Augenblick inne und lauschte. Aus dem Nebenzimmer waren undeutlich Geräusche zu hören, aus denen sie schloss, dass ihre Tochter gerade aufgestanden war. Als wollte sie eine Begegnung mit ihr vermeiden, beschleunigte sie ihre Schritte und ging hinaus ins Treppenhaus. Sie betrat den Aufzug und drückte auf den Knopf, der das Erdgeschoss bezeichnete. Statt sich in Bewegung zu setzen, begann der Aufzug zu zucken wie jemand, der vom Veitstanz befallen ist. Es war nicht das erste Mal, dass er sie mit seinen Launen überraschte. Einmal fuhr er hinauf, wenn sie hinunterfahren wollte, ein andermal weigerte er sich, die Tür zu öffnen, und hielt sie eine halbe Stunde lang gefangen. Sie hatte das Gefühl, als wollte er etwas mit ihr besprechen, ihr mit den primitiven Mitteln eines stummen Tieres etwas mitteilen. Sie hatte sich bereits mehrmals bei der Concierge beschwert, da er sich aber den anderen Mietern gegenüber korrekt und normal verhielt, erklärte die Concierge Agnes' Kampf mit dem Aufzug zu deren Privatsache und widmete ihr keine weitere Aufmerksamkeit. Diesmal blieb Agnes nichts anderes übrig, als zu Fuß nach unten zu gehen. Kaum hatte sie die Tür des Aufzugs geschlossen, kam er zur Ruhe und fuhr hinter ihr her.
Samstag war für Agnes der anstrengendste Tag der Woche. Paul, ihr Mann, ging noch vor sieben aus dem Haus und aß dann mit einem seiner Freunde zu Mittag, während sie den freien Tag nutzte, um sich Tausender von Pflichten zu entledigen, die viel unangenehmer waren als die Büroarbeit unter der Woche: sie ging zur Post, um sich dort eine halbe Stunde lang in der Schlange die Füße zu vertreten, kaufte im Supermarkt ein, wo sie sich mit einer Verkäuferin stritt und ihre Zeit mit Warten vor der Kasse vergeudete, sie rief den Installateur an und bat ihn inständig, genau zur vereinbarten Zeit zu kommen, damit sie seinetwegen nicht einen ganzen Tag zu Hause bleiben musste. Zwischendurch versuchte sie, wenigstens kurz in die Sauna zu gehen, wohin sie während der Woche nie kam; und das Ende des Nachmittags verbrachte sie mit Staubsauger und Staubtuch, denn die Putzfrau, die freitags kam, arbeitete immer schlampiger.
Dieser Samstag jedoch unterschied sich von anderen Samstagen: es waren genau fünf Jahre her, dass ihr Vater gestorben war. Vor ihren Augen tauchte eine Szene auf: der Vater sitzt über einem Häufchen zerrissener Fotografien, und Agnes' Schwester schreit ihn an: »Wie kommst du dazu, Mamas Fotos zu zerreißen!« Agnes verteidigt den Vater, und die beiden Schwestern streiten sich in einem plötzlichen Anflug von Hass.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Die Frau mochte sechzig, fünfundsechzig Jahre alt sein. In einem Fitness-Klub im obersten Stock eines modernen Gebäudes, durch dessen breite Fenster man ganz Paris sehen konnte, beobachtete ich sie von einem Liegestuhl gegenüber dem Schwimmbecken aus. Ich wartete auf Professor Avenarius, den ich hier gelegentlich traf, um mit ihm zu plaudern. Doch der Professor kam nicht, und ich betrachtete die Dame; sie stand, bis zur Taille im Wasser, allein im Schwimmbecken und schaute zu dem jungen Bademeister in Shorts hinauf, der ihr das Schwimmen beibrachte. Er erteilte ihr Befehle: sie musste sich mit beiden Händen am Beckenrand festhalten und tief ein- und ausatmen. Sie tat dies ernst und eifrig, und es war, als sei aus der Tiefe des Wassers eine alte Dampflokomotive zu hören (dieses idyllische, heute vergessene Geräusch, das sich für diejenigen, die eine Dampflokomotive nicht mehr kennen, nicht anders beschreiben lässt als das Schnaufen einer älteren Dame, die am Rand eines Schwimmbeckens laut ein- und ausatmet). Ich sah sie fasziniert an. Sie fesselte mich durch ihre rührende Komik (der Bademeister war sich dieser Komik ebenfalls bewusst, denn seine Mundwinkel zuckten immer wieder), bis mich ein Bekannter ansprach und meine Aufmerksamkeit ablenkte. Als ich die Frau nach einer Weile wieder beobachten wollte, war die Lektion beendet, die Frau ging am Becken entlang und am Bademeister vorbei hinaus, und als sie vier oder fünf Schritte von ihm entfernt war, drehte sie nochmals den Kopf, lächelte und winkte ihm zu. In diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen. Dieses Lächeln, diese Geste gehörten zu einer zwanzigjährigen Frau! Ihre Hand schwang sich mit bezaubernder Leichtigkeit in die Höhe. Es war, als würfe sie ihrem Geliebten einen bunten Ball zu. Das Lächeln und die Geste waren, im Gegensatz zu Gesicht und Körper, voller eleganter Anmut. Es war die Anmut einer Geste, die in die fehlende Anmut des Körpers getaucht war. Die Frau musste wissen, dass sie nicht mehr schön war, hatte es aber offenbar in diesem Augenblick vergessen. Mit einem bestimmten Teil unseres Wesens leben wir außerhalb der Zeit. Vielleicht wird uns unser Alter überhaupt nur in außergewöhnlichen Momenten bewusst, und wir leben die meiste Zeit alterslos. Jedenfalls wusste sie in dem Moment, als sie sich umdrehte, lächelte und dem jungen Bademeister zuwinkte (der sich nicht mehr zurückhielt und herausprustete), nichts von ihrem Alter. Eine von der Zeit unabhängige Essenz ihrer Anmut hatte sich für einen Augenblick in einer Geste offenbart und mich geblendet. Ich war auf merkwürdige Weise gerührt. Und vor mir tauchte das Wort Agnes auf. Ich habe nie eine Frau mit diesem Namen gekannt.
2.
In wohligem Halbschlaf liege ich im Bett. Schon um sechs Uhr greife ich im ersten leichten Erwachen nach dem kleinen Transistorradio, das neben meinem Kopfkissen steht, und schalte es ein. Es werden gerade Nachrichten gesendet, ich bin noch nicht in der Lage, die einzelnen Worte zu unterscheiden, und schlummere wieder ein, so dass sich die Sätze der Sprecher in Träume verwandeln. Das ist die schönste Phase des Schlafs und der herrlichste Moment des Tages: dank des Radios genieße ich mein wiederholtes Einschlummern und Aufwachen, diese wunderbare Schaukel zwischen Wachsein und Schlaf, die für sich schon ausreicht, um die Geburt in diese Welt nicht zu bedauern. Träume ich es nur, oder bin ich tatsächlich in der Oper und sehe zwei Sänger in Ritterkostümen, die die Wettervorhersage singen? Warum singen sie nicht von der Liebe? Und dann wird mir bewusst, dass es Sprecher sind, die jetzt nicht mehr singen, sondern einander scherzend ins Wort fallen: »Der Tag wird heiß und schwül sein, mit Gewittern«, sagt der erste, und der zweite unterbricht kokett: »Wirklich?« Die erste Stimme antwortet ebenso kokett: »Mais si. Tut mir leid, Bernard. So ist es, und wir werden es ertragen müssen.« Bernard lacht laut und sagt: »Das ist die Strafe für unsere Sünden.« Und die erste Stimme: »Warum, lieber Bernard, sollte ich für deine Sünden büßen?« In diesem Moment lacht Bernard noch lauter, um den Zuhörern zu verstehen zu geben, um welche Art von Sünde es sich handelt, und ich verstehe ihn: es gibt eine einzige tiefe Sehnsucht in unserem Leben: Die ganze Welt soll uns für große Sünder halten! Mögen unsere Laster mit Platzregen, Stürmen und Orkanen verglichen werden! Wenn der Franzose heute den Regenschirm über seinem Kopf aufspannt, muss er sich an Bernards zweideutiges Lachen erinnern und ihn beneiden. Ich drehe weiter zum nächsten Sender in der Hoffnung, interessantere Vorstellungen für das sich nähernde Einschlafen herbeizurufen. Doch auch dort kündigt eine Frauenstimme an, dass der Tag heiß und schwül sein wird, mit Gewittern, und ich bin froh, dass wir in Frankreich so viele Radiosender haben und man auf allen Wellenlängen zur gleichen Zeit immer gleich über das Gleiche redet. Eine harmonische Verbindung von Uniformität und Freiheit, was könnte die Menschheit sich Besseres wünschen? Und so drehe ich den Knopf wieder dorthin zurück, wo Bernard eben gerade seine Sünden präsentiert hat, doch statt Bernard höre ich eine andere Stimme etwas über den neuen Typ der Marke Renault singen, ich drehe weiter, und ein Frauenchor preist einen Ausverkauf von Pelzmänteln, ich kehre zu Bernard zurück, vernehme noch die letzten beiden Takte der Hymne auf den Renault, und gleich darauf spricht wieder Bernard selbst. Mit singender, die eben ausgeblendete Melodie nachahmender Stimme verkündet er, dass eine neue Biographie über Ernest Hemingway erschienen sei, die einhundertsiebenundzwanzigste, die diesmal aber wahrlich sehr bedeutend sei, da aus ihr hervorgehe, dass Hemingway sein Leben lang kein wahres Wort gesagt habe. Er habe die Zahl der Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg übertrieben und vorgegeben, ein großer Verführer zu sein, obwohl er im August 1944 und nochmals ab Juli 1959 nachweislich absolut impotent gewesen sei. »Ach tatsächlich?«, lacht die zweite Stimme, und Bernard antwortet kokett: »Mais si ...«, und wieder sind wir alle auf einer Opernbühne, sogar der impotente Hemingway ist dabei, und eine sehr ernste Stimme erzählt plötzlich von einem Gerichtsprozess, über den sich in den vergangenen Wochen ganz Frankreich aufgeregt hat: im Laufe einer völlig harmlosen Operation starb eine Patientin infolge einer falsch durchgeführten Narkose. In diesem Zusammenhang machte eine Organisation, die ihren Zweck darin sieht, jene zu schützen, die sie ›Verbraucher‹ nennt, den Vorschlag, in Zukunft alle Operationen zu filmen und zu archivieren. Nur so, behauptet diese ›Verbraucherschutz-Organisation‹, sei es möglich, einem auf dem Operationstisch gestorbenen Franzosen zu garantieren, dass ihn ein Gericht gebührend rächen werde. Dann schlafe ich wieder ein.
Als ich aufwache, ist es schon fast halb neun, und ich stelle mir Agnes vor. Sie liegt wie ich in einem breiten Bett. Die rechte Seite ist leer. Wer mag ihr Mann sein? Offensichtlich jemand, der am Samstagmorgen früh aus dem Haus geht. Darum ist sie allein und kann wohlig zwischen Erwachen und Träumen hin- und herschaukeln.
Dann steht sie auf. Ihr gegenüber steht der Fernseher wie ein Storch auf einem langen Bein. Sie wirft ihr Nachthemd darüber, das den Bildschirm verdeckt wie ein weißer, plissierter Vorhang. Jetzt steht sie direkt vor dem Bett, und ich sehe sie zum ersten Mal nackt, Agnes, die Heldin meines Romans. Ich kann die Augen nicht von dieser schönen Frau abwenden, und sie, sie geht, als spüre sie meinen Blick, ins Nebenzimmer, um sich anzuziehen.
Wer ist Agnes?
Wie Eva aus einer Rippe Adams stammt und Venus aus dem Schaum des Meeres geboren wurde, so ist Agnes aus der Geste jener sechzigjährigen Dame entstanden, die dem Bademeister am Schwimmbecken zugewunken hat und deren Züge in meiner Erinnerung bereits verblassen. Diese Geste rief damals in mir eine grenzenlose, unverständliche Wehmut wach, und aus dieser Wehmut wurde die Frauenfigur geboren, die ich Agnes nenne.
Ist aber der Mensch, und eine Romanfigur vielleicht noch mehr, nicht als einzigartiges, unwiederholbares Wesen definiert? Wie ist es also möglich, dass eine Geste, die ich an einem Menschen A gesehen habe, die mit ihm verbunden war, ihn charakterisierte und seinen persönlichen Charme ausmachte, zugleich zum Wesen eines Menschen B und meiner Träume von ihm wird? Das ist eine Überlegung wert:
Wenn von dem Moment an, da der erste Mensch auf der Erdkugel erschienen ist, ungefähr achtzig Milliarden Menschen über die Erde gegangen sind, ist es wenig wahrscheinlich, dass jeder einzelne über ein eigenes Repertoire an Gesten verfügt. Das ist arithmetisch unmöglich. Zweifellos gibt es auf der Welt viel weniger Gesten als Individuen. Diese Feststellung führt uns zu einem schockierenden Schluss: die Geste ist individueller als ein Individuum. Man könnte dies auch auf die Formel bringen: viele Menschen, wenige Gesten.
Als ich eingangs von der Dame am Schwimmbecken sprach, habe ich gesagt, dass sich »eine von der Zeit unabhängige Essenz ihrer Anmut einen Augenblick lang in dieser Geste offenbart und mich geblendet« hat. Ja, so hatte ich es in
jenem Moment gesehen, aber ich habe mich geirrt. Jene Geste hatte nicht eine Essenz der Dame enthüllt, man könnte eher sagen, die Dame habe mich die Anmut einer menschlichen Geste erkennen lassen. Denn eine Geste lässt sich weder als Ausdruck des Individuums noch als dessen Schöpfung betrachten (kein Mensch kann eine vollkommen originelle und nur zu ihm gehörende Geste kreieren), ja nicht einmal als dessen Instrument; im Gegenteil: es sind die Gesten, die uns als ihre Instrumente, ihre Träger, ihre Verkörperungen benutzen.
Agnes war angekleidet und ging in die Diele, hielt dort einen Augenblick inne und lauschte. Aus dem Nebenzimmer waren undeutlich Geräusche zu hören, aus denen sie schloss, dass ihre Tochter gerade aufgestanden war. Als wollte sie eine Begegnung mit ihr vermeiden, beschleunigte sie ihre Schritte und ging hinaus ins Treppenhaus. Sie betrat den Aufzug und drückte auf den Knopf, der das Erdgeschoss bezeichnete. Statt sich in Bewegung zu setzen, begann der Aufzug zu zucken wie jemand, der vom Veitstanz befallen ist. Es war nicht das erste Mal, dass er sie mit seinen Launen überraschte. Einmal fuhr er hinauf, wenn sie hinunterfahren wollte, ein andermal weigerte er sich, die Tür zu öffnen, und hielt sie eine halbe Stunde lang gefangen. Sie hatte das Gefühl, als wollte er etwas mit ihr besprechen, ihr mit den primitiven Mitteln eines stummen Tieres etwas mitteilen. Sie hatte sich bereits mehrmals bei der Concierge beschwert, da er sich aber den anderen Mietern gegenüber korrekt und normal verhielt, erklärte die Concierge Agnes' Kampf mit dem Aufzug zu deren Privatsache und widmete ihr keine weitere Aufmerksamkeit. Diesmal blieb Agnes nichts anderes übrig, als zu Fuß nach unten zu gehen. Kaum hatte sie die Tür des Aufzugs geschlossen, kam er zur Ruhe und fuhr hinter ihr her.
Samstag war für Agnes der anstrengendste Tag der Woche. Paul, ihr Mann, ging noch vor sieben aus dem Haus und aß dann mit einem seiner Freunde zu Mittag, während sie den freien Tag nutzte, um sich Tausender von Pflichten zu entledigen, die viel unangenehmer waren als die Büroarbeit unter der Woche: sie ging zur Post, um sich dort eine halbe Stunde lang in der Schlange die Füße zu vertreten, kaufte im Supermarkt ein, wo sie sich mit einer Verkäuferin stritt und ihre Zeit mit Warten vor der Kasse vergeudete, sie rief den Installateur an und bat ihn inständig, genau zur vereinbarten Zeit zu kommen, damit sie seinetwegen nicht einen ganzen Tag zu Hause bleiben musste. Zwischendurch versuchte sie, wenigstens kurz in die Sauna zu gehen, wohin sie während der Woche nie kam; und das Ende des Nachmittags verbrachte sie mit Staubsauger und Staubtuch, denn die Putzfrau, die freitags kam, arbeitete immer schlampiger.
Dieser Samstag jedoch unterschied sich von anderen Samstagen: es waren genau fünf Jahre her, dass ihr Vater gestorben war. Vor ihren Augen tauchte eine Szene auf: der Vater sitzt über einem Häufchen zerrissener Fotografien, und Agnes' Schwester schreit ihn an: »Wie kommst du dazu, Mamas Fotos zu zerreißen!« Agnes verteidigt den Vater, und die beiden Schwestern streiten sich in einem plötzlichen Anflug von Hass.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Milan Kundera starb im Juli 2023 in Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 2014, 3. Aufl., 464 Seiten, Masse: 12,9 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanna Roth
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596197473
- ISBN-13: 9783596197477
- Erscheinungsdatum: 20.05.2014
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