Die Sünden der Faulheit
Roman
Ulrich Peltzers erstaunlicher Debüt-Roman: Bernhard Lacan streift durch Berlin, zwei Schläger sind wegen hoher Spielschulden hinter ihm her, und Florence, die ehrgeizige und undurchsichtige Kunsthistorikerin, verwickelt ihn in ein spektakuläres Verbrechen....
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Produktinformationen zu „Die Sünden der Faulheit “
Klappentext zu „Die Sünden der Faulheit “
Ulrich Peltzers erstaunlicher Debüt-Roman: Bernhard Lacan streift durch Berlin, zwei Schläger sind wegen hoher Spielschulden hinter ihm her, und Florence, die ehrgeizige und undurchsichtige Kunsthistorikerin, verwickelt ihn in ein spektakuläres Verbrechen. Eine schmutzige Story, West-Berlin Mitte der achtziger Jahre, ein brillanter Grossstadtroman, der von Protest, Freiheit, Musik und der Suche nach Glück erzählt.
Lese-Probe zu „Die Sünden der Faulheit “
Die Sünden der Faulheit von Ulrich Peltzer... mehr
Erster Tag und erste Nacht
Der Straßenlärm wurde mittags unerträglich. Bernhard Lacan wälzte sich hin und her, dann war er wach. Durch die Rippen der Aluminiumjalousie über dem Bett stach das Licht einer fahlgelben Wintersonne in seine Augen.
Auf der anderen Straßenseite stand Siebert, der Lebensmittelhändler, fröstelnd vor den Kisten mit Obst und Gemüse und blies Atemschwaden in seine Hände. Mahmut, der Syrer, lehnte nebenan in der Türe seines Trödelladens. Lacan fluchte leise, als er ihn sah. Mahmut betrog ihn nicht nur bei der Abrechnung der Schallplatten, sondern am anderen Tag wußte auch stets Siebert Bescheid und lief mit dem Anschreibzettel quer über die Straße, wenn Lacan sich aus der Tür drückte. Ein orangefarbiger Müllwagen fuhr von Haus zu Haus, Müllmänner rollten scheppernd die Tonnen übers Pflaster.
Lacan ließ die Jalousie wieder herab und knipste die Lampe neben seinem Bett an. Er raufte sich die Haare und stieß zischend Luft heraus. Mit einer angerauchten Zigarette, die er im Aschenbecher gefunden hatte, streifte er ziellos durch das Dämmerlicht seiner beiden Zimmer. Auf einem Tisch stand eine Reiseschreibmaschine mit dem Manuskript seiner nächsten Sendung und ein Teller eingetrockneter Bohnen. Lacan überflog den Text, schüttelte den Kopf und drückte die Kippe am Rand des Tellers aus.
Im Gang stolperte er aber seine Jacke und seine Hose. In den Taschen der Blue jeans waren fünf Mark achtzig. Lacan versuchte sich zu erinnern, wieviel Geld er mitgenommen hatte, um zu rekonstruieren, wie betrunken er gewesen war, aber es fiel ihm nicht mehr ein.
Die Wände der Küche waren von der Explosion einer Espressokanne gesprenkelt wie das Fell eines exotischen Tieres. Made sank er auf einen Hocker und wartete auf das Kochen des Kaffeewassers.
Bernhard Lacan hatte lockige, kurze braune Haare, braune Augen; er war zweiunddreißig Jahre alt und arbeitete bei einer Berliner Radiostation, Abteilung Musikprogramm. Von dort stammten auch die Schallplatten, die er Mahmut in Kommission überließ.
Das Kabel des Telefons schlängelte sich um seine Füße und verschwand im Kahlschrank. Staunend holte er den Apparat, auf dessen Gehäuse mit rotem Filzstift Nummern notiert waren, aus der Kälte. Eine Dose marinierter Heringe stand verloren auf dem oberen Rost.
Plötzlich kam ihm eine erschreckende Idee. Er trat in den Flur und rief: »Renate?« Keine Antwort. »Renate, bist du da?« Zu seiner Erleichterung war er alleine. Hatte er gestern nicht mit einer Renate engumschlungen irgendwo auf einem Barhocker gesessen? Es war so anstrengend, sich zu erinnern.
In der Kleingeldschüssel auf dem Fensterbrett lagen fünf Mark. Mit dem Geld aus der Hose würde es reichen, den Opel einmal zu tanken. Zwanzig vor zwei, noch aber eine Stunde Zeit, bis er zum Sender mußte. Lacan warf sich aufs Bett und lauschte den Stra8engeräuschen an einem Winternachmittag, da klingelte es. Mit angehaltenem Atem schlich er in den Flur. Es klingelte zum zweitenmal, und eine Stimme, die er zu gut kannte, rief: »Mach auf! Ich weiß, daß du zu Hause bist, dein Auto steht unten falsch geparkt!«
»The postman never rings twice«, summte Lacan und öffnete die Türe.
»Was singst du da?« Sie drängte sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Das Singen wird dir gleich vergehen.«
»Welch ein Lichtblick«, sagte er erleichtert. Mit Valeska, seiner geschiedenen Frau, würde er heute noch fertigwerden. Sie war etwa fünfunddrei8ig, und ihre Figur begann unaufhaltsam, die Form zu verlieren. Sie hatte kurzgeschnittene blonde Haare und trug ein weites modernes Kleid mit gro8en aufgenähten Taschen, im linken Ohr baumelte ein dreieckiger Plastikohrring, und in einem Strumpf war eine Laufmasche.
»Du hast da 'ne Laufmasche«, sagte Lacan.
Sie sah erstaunt an sich herunter, hob den Unterschenkel und strich über das lädierte Nylongewebe. Die erste Runde ging an Lacan.
»Wie geht's denn ...«
»Weißt du, der Wievielte heute ist?« unterbrach ihn Valeska. Sie hatte sich vor ihm aufgebaut, nicht bereit, auch nur einen Punkt noch abzugeben.
»Mittwoch vielleicht?« Lacan zog die Schultern hoch. Kein Gong in Sicht, und er wußte, was nun folgte.
»Seit sechs Wochen warte ich schon wieder auf deine gerichtsnotorischen Verpflichtungen«, sie machte eine kleine Pause, um das Wort gerichtsnotorisch auszukosten. »Soll deine Tochter nackt rumlaufen?«
Lacan schüttelte schuldbewußt den Kopf.
»Um genau zu sein: Du schuldest mir 1360 Mark!«
Das war ein halber Niederschlag, es ging nur noch darum, über die Runden zu kommen. Valeska wurde lauter und vorwurfsvoller.
»Alexandra braucht neue Klamotten. Außerdem hab' ich 'ne Mieterhöhung gekriegt.«
Ich auch, dachte Lacan.
»Also basta, Geld her. Ich laß mich nicht länger verarschen.«
Valeska ging in den Infight. Lacan versuchte sich zu befreien, und trat zwei, drei Schritte zurück. Hinhalten, dachte er.
»Hör mal, Walli, ich will dich jetzt wirklich nicht abwimmeln ...«
»Soweit kommt's noch!«
»... aber ich muß zum Sender ...«
»Das ist mir völlig egal. Ich will nur das, was mir zusteht.«
Sie gab nicht nach. Lacan wies mit einer galant verunglückten Handbewegung in seine Wohnung. »Nimm dir, was du brauchst.«
Das war ein rechter Haken auf die Leber. Valeska rang nach Worten. Lacan blinzelte mit den Augen und überlegte, ob er mit ihr noch einmal ins Bett gehen sollte, aber der Gedanke war abwegig, so wie sie vor ihm stand, in ihrem weiten schwarzen Kleid. Sie hatte die Fäuste geballt in die Taschen gesteckt. Er mußte schnell etwas sagen, bevor sie wieder auf ihn losging.
»Paß auf, ich laß mir heute einen Vorschuß geben, den bringe ich dir morgen vorbei. In Ordnung?«
Sie senkte den Kopf und fuhr gedankenverloren mit einem Fuß über den Teppich.
»Ach Bernhard, das kenn' ich doch schon.« Der Angriffsschwung war weg. Er nahm sie bei den Schultern und versuchte, in ihre Augen zu sehen.
»In Ordnung, Walli? Du kriegst das Geld, spätestens morgen. In Ordnung, ja?«
Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Sie zögerte. Lacan schüttelte sie vorsichtig.
»Los komm, Valeska. Ich versprech's dir.«
»Na gut. Zum letztenmal.« Sie lächelte. »Oder besser noch, ich komm' gleich mit zum Sender.«
Lacan verdrehte die Augen. »Aber Valeska, ich bitte dich!« Sie nickte und löste sich aus seinem Griff.
»Gut, ich vertrau' dir, obwohl alles dagegen spricht.« Sie wollte gehen. »Überweist du das Geld oder bringst du es vorbei?«
»Ich überweis' es«, sagte Lacan hastig. Das gab ihm eine Woche Zeit. »Noch immer dieselbe Nummer?«
»Ja.« Valeska ging langsam zur Türe, die Arme vor der Brust verschränkt. Auf der Schwelle drehte sie sich um und warf einen Blick auf die Unordnung.
»Übrigens, richtig nett hast du es jetzt bei dir, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Ich weiß, ich hab' mir bei der Einrichtung auch Mühe gegeben.«
»Das sieht man auf den ersten Blick. Ich warte auf mein Geld. Ciao.« Sie verschwand auf der Treppe. Punktsieg.
Bernhard Lacan steckte das Geld aus der Kleingeldschüssel ein, kämmte sich, zog einen schwarzen Pullover und seine Lederjacke an und ging auch.
Im Briefkasten war eine Ansichtskarte aus Neapel. Vengo ai primi di febbraio, Arturo. Soll er kommen, dachte Lacan und schob die Karte in den Kasten zurück. Er verließ das Haus durch den Hof, stieg über ein Mäuerchen auf ein Trümmergrundstück und fand sich auf einer Querstraße zur Kantstraße, auf die er von seinem Bett geblickt hatte. Er mußte Siebert aus dem Weg gehen, der am Hinterkopf ein drittes Auge besaß und ihn zur Rede gestellt hätte, den Zettel vor seinem dicken, roten Gesicht wedelnd: »So jeht dit aba nich, Herr Lakann!«
Das diesige Grau eines Berliner Januarhimmels spannte sich über die Stadt. Vermummte Passanten eilten frierend aneinander vorbei. Auf den Bürgersteigen lag gefrorener Schnee, der an einigen Stellen vom Kot der Hunde dunkel gefärbt war. An den Ampeln bildeten sich kleine Abgasskulpturen, die beim Anfahren der Wagen schnell verflogen. Ein Liebespaar hatte sich einen langen Schal um die Hälse gewickelt und küßte sich alle Meter. Lacan drehte sich nach ihm um, er mußte sich nach allen Liebespaaren umdrehen.
Das Türschloß des Opels war eingefroren. Lacan hielt ein Einwegfeuerzeug an das Blech, und die Flamme schlang sich blau um den Griff, bis er sich die Finger verbrannte und es fallen ließ. Bevor er losfuhr, zündete er sich eine der Notzigaretten an, die im Handschuhfach lagen. Im Autoradio war ein Interview mit dem Wirtschaftsminister, der für das Frühjahr einen neuen Aufschwung prognostizierte. Nach ein paar hundert Metern bog Lacan in die Kantgaragen. Aus einem Verschlag hinter den Zapfsäulen trat der Tankwart in einem verölten blauen Overall. Es war gleichgültig, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man hier vorfuhr, es war immer derselbe Hüne, der schwerfällig nach draußen kam. Alle nannten ihn Dschingis wegen seiner blonden Bartlocken, die rechts und links der Mundwinkel herunterhingen bis in den Hemdkragen. Dschingis strich über seinen Stoppelkopf.
»Kannste zahlen?«
»Für zehn Mark normal!«
Der Tankwart zögerte einen Augenblick. Lacan kramte in seiner Hosentasche und holte das Kleingeld heraus.
»Ick bin doch keen Spielautomat.«
»Komm, Geld ist Geld.«
»Mach ma die Kippe aus, is 'ne Tankstelle hier.«
Lacan legte die Zigarette in den Autoaschenbecher. Nachdem Dschingis die Zapfpistole eingehängt hatte, gab Lacan ihm die abgezählten Münzen und wollte wieder einsteigen, als der Hüne ihn festhielt und sich zu ihm herabbeugte.
»Eh Alter, dit jeht uns allen mal so.« Bernhard lächelte. »Und wennde ma wat fürt Auto brauchst, ick hab allet billich da.«
»Ich werd' dran denken, sicher.«
Auf der Straße schaltete Lacan den Scheibenwischer ein, nasser Schnee fiel. Im Radio waren immer noch Nachrichten. So schlecht hatte der Tag wirklich nicht angefangen.
Florence Blumenfeldt saß in einem blauen Kimono, auf dessen Rücken ein von Schilfgras bewachsenes Seeufer vor schneebedeckten Bergen gestickt war und den ihr Vater einmal von einer Reise nach Japan mitgebracht hatte, in ihrer Küche und trank eine Schale Milchkaffee.
Vor ihr auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks:
Toast, Hüttenkäse und Konfitüre in zueinander passenden Edelmetallschalen. Die schwarzen Küchenschränke und die Anrichte waren an den Kanten mit Chromschienen verkleidet, in denen sich das Licht einer hellen, tief über den Tisch gezogenen Neonröhre spiegelte.
Florence Blumenfeldt war an diesem Morgen lange vor Bernhard Lacan aufgestanden, obwohl auch sie nicht genug geschlafen hatte.
Sie haßte es, wach im Bett zu liegen und über Dinge nachzudenken, über die nachzudenken sie sich verboten hatte. Meist setzte sie sich dann an ihren Schreibtisch, rauchte, las in einem der Bücher, die auf dem Tisch und zu ihren Füßen lagen, und machte Notizen auf blauen Karteikarten, die sie in einen Kasten ordnete. Später hatte sie mit angezogenen Beinen auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer gesessen und sich gegen jede Gewohnheit ein Glas Likör eingeschenkt, an dem sie von Zeit zu Zeit nippte.
Im Wohnzimmer brannte kein Licht, nur die Lampe des Schreibtisches warf einen schwachen Schein durch den Flur und zeichnete verschwimmende Schatten auf die Vorhänge. Draußen war es noch dunkel. Ein Auto nach dem anderen startete, doch Florence schien nichts zu hören. Sie hatte die Augen geschlossen und träumte und trank den süßen, klebrigen Likör. Eigentlich träumte sie nicht, sondern Erinnerungen an ihren Vater und das Haus in Hamburg, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, fuhren ihr durch den Kopf. Als sie den Likör getrunken hatte, mußte sie der Versuchung widerstehen, noch ein Glas zu nehmen, zu angenehm war die Betäubung.
Im Bad hatte sie einige Zeit vor dem Spiegel gestanden und mit den Fingerspitzen die gleichmäßigen Linien ihres Gesichts nachgezogen, ihr langes, dickes schwarzes Haar gekämmt und es mit einer Klammer aus Perlmutt hochgesteckt.
Nun saß Florence Blumenfeldt rauchend in der Küche, trank Milchkaffee und blätterte gelangweilt in einem großformatigen Buch, das sie auf ihre Schenkel und vor die Tischkante stützte, als es klingelte. Aus dem Lautsprecher neben der Türe schnarrte verzerrt:
»Lydia hier!«
Florence drückte auf und ging ins Bad, um Wasser in die Wanne zu lassen. Als sie eine Emulsion mit der Hand verteilte, schlug die Türe zu, und eine helle Stimme rief: »Florence, wo steckst du?«
In der Diele pellte sich Lydia Wenzel aus einem weiten blauen Cape und prüfte im Spiegel ihre Haare. Florence trat aus dem Bad.
»Küßchen, meine Süße.« Lydia hielt Florence an den Händen und drehte sie ein wenig.
»Was ist das für ein schönes Teil! Weißt du, Maja hat so was Ähnliches«, sie schnalzte leise mit der Zunge. »Aber kein Vergleich. Außerdem isse zu dick für Seide.«
Wahrscheinlich wäre Lydia zu alt für Seide, der Kimono hätte aus ihr eine Puffmutter gemacht.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Florence zog die Vorhänge zurück.
»Magst du einen Kaffee?«
»Ne, hast du Sherry oder so was?«
»Auf dem Tisch dort. Bedien' dich. Warte, ich bringe dir ein Glas.«
Lydia Wenzel besaß eine Galerie in der Nähe des Kudamms, die sich vor Jahren auf die Wilden spezialisiert hatte und astronomische Umsätze erzielte, seitdem der Kunstmarkt ihre Protegés entdeckt hatte. Jetzt sammelte Lydia afrikanische Primitive und deutsche Kubisten »für später«. Ihr ehemaliger Mann, mit dem sie in den 60er Jahren Prolart vertrieb, meditierte seit der Scheidung in einem Trappistenkloster.
»Ich nehme rasch ein Bad«, sagte Florence.
»Laß dir Zeit.«
»Ich habe dir die Sachen da hingestellt.« Florence deutete im Hinausgehen auf eine Mappe mit Zeichnungen, die an der Wand lehnte.
Während Florence in der Wanne lag, sah sich Lydia auf dem Sofa die Blätter an.
»Die gefallen mir gut«, rief sie. »Glaubst du, du kannst Ölbilder auftreiben, die der in der Emigration gemalt hat?«
Florence seifte sich ein. »Ich denk' schon. Ich habe letztens eine Liste gemacht, also, das ließe sich mit etwas Mühe machen.«
»Im Osten muß noch 'ne ganze Menge auf irgendwelchen Speichern schimmeln, habe ich so gehört.«
»Kann sein, ich weiß nicht.«
Lydia schrieb etwas in einen kleinen Kalender, trank den Sherry, telefonierte.
»Ach übrigens, die Vernissage von Wenningstedt übermorgen, hilfst du mir wieder, Gäste und Kunden zu sortieren?« Sie zündete sich eine Menthol-Zigarette an. »Der nervt, das kannst du dir nicht vorstellen. Faselt nur dummes Zeug, und ich muß eine Tüte nach der andern mit ihm rauchen. Die Bilder hängen schon, aber nun will er sie wieder umhängen ... das Licht und was weiß ich. Der hat nach Zürich Geld gerochen.«
Sie lehnte sich im Sofa zurück und betrachtete die Bilder an der Wand gegenüber.
»Diese Trinkerserie gefällt mir prima, wo hängt denn der Rest?«
»Keine Ahnung.« Florence trat hinter sie. Sie trug einen schwarzen knielangen Rock, rote Strümpfe, einen schwarzen Pullover, den ein breiter Lackgürtel in der Taille schnürte. Ihre Haltung war zu störrisch, als daß jemals ein Modell aus ihr geworden wäre, auch wenn sie sich ein paar Mal aus Spaß hatte fotografieren lassen. Eine Strähne ihres Haares hatte sich gelöst und fiel in ihr Gesicht. Lydia wandte den Kopf und sah sie lächelnd an. Das Telefon schellte. Florence hockte sich neben sie, und Lydia strich ihr durchs Haar.
»Hallo, Onkel Pieter. Gut, ja, wie immer, mmh, an Freitag habe ich schon gedacht, ja, ich werde mit Mertens den Termin noch einmal vorbereiten. Ja, wir gehen die Kataloglisten durch ... auch die beiden Heckels. Die Galerie?« Sie kniff Lydia ein Auge. »Weißt du, übermorgen ist die Vernissage von Wenningstedt, auch ein Schüler von ... ja genau. Ich suche dir was aus, wenn es mir gefällt.«
Sie zündete sich eine Zigarette an, den Hörer mit der Schulter haltend. »Du kommst doch nächste Woche nach Berlin, Onkel Pieter ... zu mir zum Essen? Nein, Mertens wird bestimmt nicht das ein, nein ... bis dann ... ciao.«
»Kauft er was?«
»Aber sicher!«
»Sag mal, der macht mit seinem Im- und Export ganz gute Geschäfte, was?«
»Ich denke schon«, wich Florence aus.
Niemand wußte so genau, wovon sie lebte, ihre Arbeit in der Galerie und das Buch, das sie schrieb, waren nur ein besserer Zeitvertreib. Lacan hatte sie mal erzählt, ihr Vater habe ihr nach seinem Tode etwas hinterlassen. Ihre Wohnung jedenfalls war nicht billig und die Bilder an den Wänden nicht von Karstadt.
Lydia packte ihre Sachen zusammen und gab Florence einen Kuß auf die Stirn. Als sie sich das blaue Cape überwarf, fragte sie ihre Freundin:
»Biste eigentlich noch mit dem Dings, dem Dingsda oder wie der heißt, zusammen?«
Florence nickte zögernd.
»Und? Alles in Ordnung?« Sie wurde vertraulich. »Maja hat ihn neulich im ›Amazonas‹ gesehen, der war ziemlich blau, hat Unmengen Sekt getrunken.«
»Soso«, murmelte Florence und strich die Strähne hinters Ohr.
»Eigentlich sieht er ja ganz gut aus, na ja«, Lydia sah auf die Uhr. »Ich muß zurück, sonst überlegt sich Wenningstedt schon wieder alles anders. Tschüß, meine Liebe, ich seh' dich übermorgen.«
Florence schloß die Türe und blies lustlos hellen Rauch an die Decke.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Erster Tag und erste Nacht
Der Straßenlärm wurde mittags unerträglich. Bernhard Lacan wälzte sich hin und her, dann war er wach. Durch die Rippen der Aluminiumjalousie über dem Bett stach das Licht einer fahlgelben Wintersonne in seine Augen.
Auf der anderen Straßenseite stand Siebert, der Lebensmittelhändler, fröstelnd vor den Kisten mit Obst und Gemüse und blies Atemschwaden in seine Hände. Mahmut, der Syrer, lehnte nebenan in der Türe seines Trödelladens. Lacan fluchte leise, als er ihn sah. Mahmut betrog ihn nicht nur bei der Abrechnung der Schallplatten, sondern am anderen Tag wußte auch stets Siebert Bescheid und lief mit dem Anschreibzettel quer über die Straße, wenn Lacan sich aus der Tür drückte. Ein orangefarbiger Müllwagen fuhr von Haus zu Haus, Müllmänner rollten scheppernd die Tonnen übers Pflaster.
Lacan ließ die Jalousie wieder herab und knipste die Lampe neben seinem Bett an. Er raufte sich die Haare und stieß zischend Luft heraus. Mit einer angerauchten Zigarette, die er im Aschenbecher gefunden hatte, streifte er ziellos durch das Dämmerlicht seiner beiden Zimmer. Auf einem Tisch stand eine Reiseschreibmaschine mit dem Manuskript seiner nächsten Sendung und ein Teller eingetrockneter Bohnen. Lacan überflog den Text, schüttelte den Kopf und drückte die Kippe am Rand des Tellers aus.
Im Gang stolperte er aber seine Jacke und seine Hose. In den Taschen der Blue jeans waren fünf Mark achtzig. Lacan versuchte sich zu erinnern, wieviel Geld er mitgenommen hatte, um zu rekonstruieren, wie betrunken er gewesen war, aber es fiel ihm nicht mehr ein.
Die Wände der Küche waren von der Explosion einer Espressokanne gesprenkelt wie das Fell eines exotischen Tieres. Made sank er auf einen Hocker und wartete auf das Kochen des Kaffeewassers.
Bernhard Lacan hatte lockige, kurze braune Haare, braune Augen; er war zweiunddreißig Jahre alt und arbeitete bei einer Berliner Radiostation, Abteilung Musikprogramm. Von dort stammten auch die Schallplatten, die er Mahmut in Kommission überließ.
Das Kabel des Telefons schlängelte sich um seine Füße und verschwand im Kahlschrank. Staunend holte er den Apparat, auf dessen Gehäuse mit rotem Filzstift Nummern notiert waren, aus der Kälte. Eine Dose marinierter Heringe stand verloren auf dem oberen Rost.
Plötzlich kam ihm eine erschreckende Idee. Er trat in den Flur und rief: »Renate?« Keine Antwort. »Renate, bist du da?« Zu seiner Erleichterung war er alleine. Hatte er gestern nicht mit einer Renate engumschlungen irgendwo auf einem Barhocker gesessen? Es war so anstrengend, sich zu erinnern.
In der Kleingeldschüssel auf dem Fensterbrett lagen fünf Mark. Mit dem Geld aus der Hose würde es reichen, den Opel einmal zu tanken. Zwanzig vor zwei, noch aber eine Stunde Zeit, bis er zum Sender mußte. Lacan warf sich aufs Bett und lauschte den Stra8engeräuschen an einem Winternachmittag, da klingelte es. Mit angehaltenem Atem schlich er in den Flur. Es klingelte zum zweitenmal, und eine Stimme, die er zu gut kannte, rief: »Mach auf! Ich weiß, daß du zu Hause bist, dein Auto steht unten falsch geparkt!«
»The postman never rings twice«, summte Lacan und öffnete die Türe.
»Was singst du da?« Sie drängte sich an ihm vorbei in die Wohnung. »Das Singen wird dir gleich vergehen.«
»Welch ein Lichtblick«, sagte er erleichtert. Mit Valeska, seiner geschiedenen Frau, würde er heute noch fertigwerden. Sie war etwa fünfunddrei8ig, und ihre Figur begann unaufhaltsam, die Form zu verlieren. Sie hatte kurzgeschnittene blonde Haare und trug ein weites modernes Kleid mit gro8en aufgenähten Taschen, im linken Ohr baumelte ein dreieckiger Plastikohrring, und in einem Strumpf war eine Laufmasche.
»Du hast da 'ne Laufmasche«, sagte Lacan.
Sie sah erstaunt an sich herunter, hob den Unterschenkel und strich über das lädierte Nylongewebe. Die erste Runde ging an Lacan.
»Wie geht's denn ...«
»Weißt du, der Wievielte heute ist?« unterbrach ihn Valeska. Sie hatte sich vor ihm aufgebaut, nicht bereit, auch nur einen Punkt noch abzugeben.
»Mittwoch vielleicht?« Lacan zog die Schultern hoch. Kein Gong in Sicht, und er wußte, was nun folgte.
»Seit sechs Wochen warte ich schon wieder auf deine gerichtsnotorischen Verpflichtungen«, sie machte eine kleine Pause, um das Wort gerichtsnotorisch auszukosten. »Soll deine Tochter nackt rumlaufen?«
Lacan schüttelte schuldbewußt den Kopf.
»Um genau zu sein: Du schuldest mir 1360 Mark!«
Das war ein halber Niederschlag, es ging nur noch darum, über die Runden zu kommen. Valeska wurde lauter und vorwurfsvoller.
»Alexandra braucht neue Klamotten. Außerdem hab' ich 'ne Mieterhöhung gekriegt.«
Ich auch, dachte Lacan.
»Also basta, Geld her. Ich laß mich nicht länger verarschen.«
Valeska ging in den Infight. Lacan versuchte sich zu befreien, und trat zwei, drei Schritte zurück. Hinhalten, dachte er.
»Hör mal, Walli, ich will dich jetzt wirklich nicht abwimmeln ...«
»Soweit kommt's noch!«
»... aber ich muß zum Sender ...«
»Das ist mir völlig egal. Ich will nur das, was mir zusteht.«
Sie gab nicht nach. Lacan wies mit einer galant verunglückten Handbewegung in seine Wohnung. »Nimm dir, was du brauchst.«
Das war ein rechter Haken auf die Leber. Valeska rang nach Worten. Lacan blinzelte mit den Augen und überlegte, ob er mit ihr noch einmal ins Bett gehen sollte, aber der Gedanke war abwegig, so wie sie vor ihm stand, in ihrem weiten schwarzen Kleid. Sie hatte die Fäuste geballt in die Taschen gesteckt. Er mußte schnell etwas sagen, bevor sie wieder auf ihn losging.
»Paß auf, ich laß mir heute einen Vorschuß geben, den bringe ich dir morgen vorbei. In Ordnung?«
Sie senkte den Kopf und fuhr gedankenverloren mit einem Fuß über den Teppich.
»Ach Bernhard, das kenn' ich doch schon.« Der Angriffsschwung war weg. Er nahm sie bei den Schultern und versuchte, in ihre Augen zu sehen.
»In Ordnung, Walli? Du kriegst das Geld, spätestens morgen. In Ordnung, ja?«
Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Sie zögerte. Lacan schüttelte sie vorsichtig.
»Los komm, Valeska. Ich versprech's dir.«
»Na gut. Zum letztenmal.« Sie lächelte. »Oder besser noch, ich komm' gleich mit zum Sender.«
Lacan verdrehte die Augen. »Aber Valeska, ich bitte dich!« Sie nickte und löste sich aus seinem Griff.
»Gut, ich vertrau' dir, obwohl alles dagegen spricht.« Sie wollte gehen. »Überweist du das Geld oder bringst du es vorbei?«
»Ich überweis' es«, sagte Lacan hastig. Das gab ihm eine Woche Zeit. »Noch immer dieselbe Nummer?«
»Ja.« Valeska ging langsam zur Türe, die Arme vor der Brust verschränkt. Auf der Schwelle drehte sie sich um und warf einen Blick auf die Unordnung.
»Übrigens, richtig nett hast du es jetzt bei dir, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
»Ich weiß, ich hab' mir bei der Einrichtung auch Mühe gegeben.«
»Das sieht man auf den ersten Blick. Ich warte auf mein Geld. Ciao.« Sie verschwand auf der Treppe. Punktsieg.
Bernhard Lacan steckte das Geld aus der Kleingeldschüssel ein, kämmte sich, zog einen schwarzen Pullover und seine Lederjacke an und ging auch.
Im Briefkasten war eine Ansichtskarte aus Neapel. Vengo ai primi di febbraio, Arturo. Soll er kommen, dachte Lacan und schob die Karte in den Kasten zurück. Er verließ das Haus durch den Hof, stieg über ein Mäuerchen auf ein Trümmergrundstück und fand sich auf einer Querstraße zur Kantstraße, auf die er von seinem Bett geblickt hatte. Er mußte Siebert aus dem Weg gehen, der am Hinterkopf ein drittes Auge besaß und ihn zur Rede gestellt hätte, den Zettel vor seinem dicken, roten Gesicht wedelnd: »So jeht dit aba nich, Herr Lakann!«
Das diesige Grau eines Berliner Januarhimmels spannte sich über die Stadt. Vermummte Passanten eilten frierend aneinander vorbei. Auf den Bürgersteigen lag gefrorener Schnee, der an einigen Stellen vom Kot der Hunde dunkel gefärbt war. An den Ampeln bildeten sich kleine Abgasskulpturen, die beim Anfahren der Wagen schnell verflogen. Ein Liebespaar hatte sich einen langen Schal um die Hälse gewickelt und küßte sich alle Meter. Lacan drehte sich nach ihm um, er mußte sich nach allen Liebespaaren umdrehen.
Das Türschloß des Opels war eingefroren. Lacan hielt ein Einwegfeuerzeug an das Blech, und die Flamme schlang sich blau um den Griff, bis er sich die Finger verbrannte und es fallen ließ. Bevor er losfuhr, zündete er sich eine der Notzigaretten an, die im Handschuhfach lagen. Im Autoradio war ein Interview mit dem Wirtschaftsminister, der für das Frühjahr einen neuen Aufschwung prognostizierte. Nach ein paar hundert Metern bog Lacan in die Kantgaragen. Aus einem Verschlag hinter den Zapfsäulen trat der Tankwart in einem verölten blauen Overall. Es war gleichgültig, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man hier vorfuhr, es war immer derselbe Hüne, der schwerfällig nach draußen kam. Alle nannten ihn Dschingis wegen seiner blonden Bartlocken, die rechts und links der Mundwinkel herunterhingen bis in den Hemdkragen. Dschingis strich über seinen Stoppelkopf.
»Kannste zahlen?«
»Für zehn Mark normal!«
Der Tankwart zögerte einen Augenblick. Lacan kramte in seiner Hosentasche und holte das Kleingeld heraus.
»Ick bin doch keen Spielautomat.«
»Komm, Geld ist Geld.«
»Mach ma die Kippe aus, is 'ne Tankstelle hier.«
Lacan legte die Zigarette in den Autoaschenbecher. Nachdem Dschingis die Zapfpistole eingehängt hatte, gab Lacan ihm die abgezählten Münzen und wollte wieder einsteigen, als der Hüne ihn festhielt und sich zu ihm herabbeugte.
»Eh Alter, dit jeht uns allen mal so.« Bernhard lächelte. »Und wennde ma wat fürt Auto brauchst, ick hab allet billich da.«
»Ich werd' dran denken, sicher.«
Auf der Straße schaltete Lacan den Scheibenwischer ein, nasser Schnee fiel. Im Radio waren immer noch Nachrichten. So schlecht hatte der Tag wirklich nicht angefangen.
Florence Blumenfeldt saß in einem blauen Kimono, auf dessen Rücken ein von Schilfgras bewachsenes Seeufer vor schneebedeckten Bergen gestickt war und den ihr Vater einmal von einer Reise nach Japan mitgebracht hatte, in ihrer Küche und trank eine Schale Milchkaffee.
Vor ihr auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks:
Toast, Hüttenkäse und Konfitüre in zueinander passenden Edelmetallschalen. Die schwarzen Küchenschränke und die Anrichte waren an den Kanten mit Chromschienen verkleidet, in denen sich das Licht einer hellen, tief über den Tisch gezogenen Neonröhre spiegelte.
Florence Blumenfeldt war an diesem Morgen lange vor Bernhard Lacan aufgestanden, obwohl auch sie nicht genug geschlafen hatte.
Sie haßte es, wach im Bett zu liegen und über Dinge nachzudenken, über die nachzudenken sie sich verboten hatte. Meist setzte sie sich dann an ihren Schreibtisch, rauchte, las in einem der Bücher, die auf dem Tisch und zu ihren Füßen lagen, und machte Notizen auf blauen Karteikarten, die sie in einen Kasten ordnete. Später hatte sie mit angezogenen Beinen auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer gesessen und sich gegen jede Gewohnheit ein Glas Likör eingeschenkt, an dem sie von Zeit zu Zeit nippte.
Im Wohnzimmer brannte kein Licht, nur die Lampe des Schreibtisches warf einen schwachen Schein durch den Flur und zeichnete verschwimmende Schatten auf die Vorhänge. Draußen war es noch dunkel. Ein Auto nach dem anderen startete, doch Florence schien nichts zu hören. Sie hatte die Augen geschlossen und träumte und trank den süßen, klebrigen Likör. Eigentlich träumte sie nicht, sondern Erinnerungen an ihren Vater und das Haus in Hamburg, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, fuhren ihr durch den Kopf. Als sie den Likör getrunken hatte, mußte sie der Versuchung widerstehen, noch ein Glas zu nehmen, zu angenehm war die Betäubung.
Im Bad hatte sie einige Zeit vor dem Spiegel gestanden und mit den Fingerspitzen die gleichmäßigen Linien ihres Gesichts nachgezogen, ihr langes, dickes schwarzes Haar gekämmt und es mit einer Klammer aus Perlmutt hochgesteckt.
Nun saß Florence Blumenfeldt rauchend in der Küche, trank Milchkaffee und blätterte gelangweilt in einem großformatigen Buch, das sie auf ihre Schenkel und vor die Tischkante stützte, als es klingelte. Aus dem Lautsprecher neben der Türe schnarrte verzerrt:
»Lydia hier!«
Florence drückte auf und ging ins Bad, um Wasser in die Wanne zu lassen. Als sie eine Emulsion mit der Hand verteilte, schlug die Türe zu, und eine helle Stimme rief: »Florence, wo steckst du?«
In der Diele pellte sich Lydia Wenzel aus einem weiten blauen Cape und prüfte im Spiegel ihre Haare. Florence trat aus dem Bad.
»Küßchen, meine Süße.« Lydia hielt Florence an den Händen und drehte sie ein wenig.
»Was ist das für ein schönes Teil! Weißt du, Maja hat so was Ähnliches«, sie schnalzte leise mit der Zunge. »Aber kein Vergleich. Außerdem isse zu dick für Seide.«
Wahrscheinlich wäre Lydia zu alt für Seide, der Kimono hätte aus ihr eine Puffmutter gemacht.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Florence zog die Vorhänge zurück.
»Magst du einen Kaffee?«
»Ne, hast du Sherry oder so was?«
»Auf dem Tisch dort. Bedien' dich. Warte, ich bringe dir ein Glas.«
Lydia Wenzel besaß eine Galerie in der Nähe des Kudamms, die sich vor Jahren auf die Wilden spezialisiert hatte und astronomische Umsätze erzielte, seitdem der Kunstmarkt ihre Protegés entdeckt hatte. Jetzt sammelte Lydia afrikanische Primitive und deutsche Kubisten »für später«. Ihr ehemaliger Mann, mit dem sie in den 60er Jahren Prolart vertrieb, meditierte seit der Scheidung in einem Trappistenkloster.
»Ich nehme rasch ein Bad«, sagte Florence.
»Laß dir Zeit.«
»Ich habe dir die Sachen da hingestellt.« Florence deutete im Hinausgehen auf eine Mappe mit Zeichnungen, die an der Wand lehnte.
Während Florence in der Wanne lag, sah sich Lydia auf dem Sofa die Blätter an.
»Die gefallen mir gut«, rief sie. »Glaubst du, du kannst Ölbilder auftreiben, die der in der Emigration gemalt hat?«
Florence seifte sich ein. »Ich denk' schon. Ich habe letztens eine Liste gemacht, also, das ließe sich mit etwas Mühe machen.«
»Im Osten muß noch 'ne ganze Menge auf irgendwelchen Speichern schimmeln, habe ich so gehört.«
»Kann sein, ich weiß nicht.«
Lydia schrieb etwas in einen kleinen Kalender, trank den Sherry, telefonierte.
»Ach übrigens, die Vernissage von Wenningstedt übermorgen, hilfst du mir wieder, Gäste und Kunden zu sortieren?« Sie zündete sich eine Menthol-Zigarette an. »Der nervt, das kannst du dir nicht vorstellen. Faselt nur dummes Zeug, und ich muß eine Tüte nach der andern mit ihm rauchen. Die Bilder hängen schon, aber nun will er sie wieder umhängen ... das Licht und was weiß ich. Der hat nach Zürich Geld gerochen.«
Sie lehnte sich im Sofa zurück und betrachtete die Bilder an der Wand gegenüber.
»Diese Trinkerserie gefällt mir prima, wo hängt denn der Rest?«
»Keine Ahnung.« Florence trat hinter sie. Sie trug einen schwarzen knielangen Rock, rote Strümpfe, einen schwarzen Pullover, den ein breiter Lackgürtel in der Taille schnürte. Ihre Haltung war zu störrisch, als daß jemals ein Modell aus ihr geworden wäre, auch wenn sie sich ein paar Mal aus Spaß hatte fotografieren lassen. Eine Strähne ihres Haares hatte sich gelöst und fiel in ihr Gesicht. Lydia wandte den Kopf und sah sie lächelnd an. Das Telefon schellte. Florence hockte sich neben sie, und Lydia strich ihr durchs Haar.
»Hallo, Onkel Pieter. Gut, ja, wie immer, mmh, an Freitag habe ich schon gedacht, ja, ich werde mit Mertens den Termin noch einmal vorbereiten. Ja, wir gehen die Kataloglisten durch ... auch die beiden Heckels. Die Galerie?« Sie kniff Lydia ein Auge. »Weißt du, übermorgen ist die Vernissage von Wenningstedt, auch ein Schüler von ... ja genau. Ich suche dir was aus, wenn es mir gefällt.«
Sie zündete sich eine Zigarette an, den Hörer mit der Schulter haltend. »Du kommst doch nächste Woche nach Berlin, Onkel Pieter ... zu mir zum Essen? Nein, Mertens wird bestimmt nicht das ein, nein ... bis dann ... ciao.«
»Kauft er was?«
»Aber sicher!«
»Sag mal, der macht mit seinem Im- und Export ganz gute Geschäfte, was?«
»Ich denke schon«, wich Florence aus.
Niemand wußte so genau, wovon sie lebte, ihre Arbeit in der Galerie und das Buch, das sie schrieb, waren nur ein besserer Zeitvertreib. Lacan hatte sie mal erzählt, ihr Vater habe ihr nach seinem Tode etwas hinterlassen. Ihre Wohnung jedenfalls war nicht billig und die Bilder an den Wänden nicht von Karstadt.
Lydia packte ihre Sachen zusammen und gab Florence einen Kuß auf die Stirn. Als sie sich das blaue Cape überwarf, fragte sie ihre Freundin:
»Biste eigentlich noch mit dem Dings, dem Dingsda oder wie der heißt, zusammen?«
Florence nickte zögernd.
»Und? Alles in Ordnung?« Sie wurde vertraulich. »Maja hat ihn neulich im ›Amazonas‹ gesehen, der war ziemlich blau, hat Unmengen Sekt getrunken.«
»Soso«, murmelte Florence und strich die Strähne hinters Ohr.
»Eigentlich sieht er ja ganz gut aus, na ja«, Lydia sah auf die Uhr. »Ich muß zurück, sonst überlegt sich Wenningstedt schon wieder alles anders. Tschüß, meine Liebe, ich seh' dich übermorgen.«
Florence schloß die Türe und blies lustlos hellen Rauch an die Decke.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Ulrich Peltzer
Ulrich Peltzer, geboren 1956 in Krefeld, studierte Philosophie und Psychologie in Berlin, wo er seit 1975 lebt. Er veröffentlichte die Romane »Die Sünden der Faulheit« (1987), »Stefan Martinez« (1995), »'Alle oder keiner'« (1999), »Bryant Park« (2002) und »Teil der Lösung« (2007) sowie die Frankfurter Poetikvorlesungen »Angefangen wird mittendrin« (2011). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Preis der SWR-Bestenliste, dem Berliner Literaturpreis und dem Heinrich-Böll-Preis. Ulrich Peltzers Roman »Das bessere Leben« (2015) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde unter anderem mit dem Marieluise-Fleisser-Preis, dem Peter-Weiss-Preis und dem Franz-Hessel-Preis geehrt. Zuletzt erschien der Roman »Das bist du« (2021).Literaturpreise:Gerty-Spies-Literaturpreis 2016Franz-Hessel-Preis 2015Peter-Weiss-Preis 2015Platz 1 SWR Bestenliste September 2015Marieluise Fleisser-Preis 2015Shortlist Deutscher Buchpreis 2015Carl-Amery-Literaturpreis 2013Heinrich-Böll-Preis 2011Frankfurter Poetik-Dozentur 2010/11Mitglied der Akademie der Künste in Berlin 2010Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 2009/2010Spycher: Literaturpreis Leuk 2008Düsseldorfer Literaturpreis 2008Berliner Literaturpreis für sein Gesamtwerk 2008Literaturpreis der Stadt Bremen 2003Niederrheinischer Literaturpreis der Stadt Krefeld 2001Preis der SWR-Bestenliste 2000Anna Seghers-Preis 1997Berliner Literaturpreis der Stiftung Preussische Seehandlung 1996Bertelsmann-Stipendium beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1992
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulrich Peltzer
- 2013, 1. Auflage, 304 Seiten, Masse: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359618908X
- ISBN-13: 9783596189083
- Erscheinungsdatum: 15.01.2013
Rezension zu „Die Sünden der Faulheit “
ein Grossstadt-Movie mit Thrillerelementen und einem für deutsche Texte ungewohnten Drive, zwischen Don DeLillo und zeitlosen Schwarzweissfilmen wechselnd. Helmut Böttiger Süddeutsche Zeitung
Pressezitat
ein Grossstadt-Movie mit Thrillerelementen und einem für deutsche Texte ungewohnten Drive, zwischen Don DeLillo und zeitlosen Schwarzweissfilmen wechselnd. Helmut Böttiger Süddeutsche Zeitung
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