Die Schwestern vom Roten Haus / Rosina Bd.9
Ein historischer Hamburg-Krimi
Tanz mit dem Tod Hamburg, 1773. Nach dem letzten Karnevalsball treibt eine tote Frau in der Alster, eine zweite stirbt, eine dritte entkommt knapp einem Anschlag - in Hamburg geht wieder ein Mörder um. Die Komödiantin Rosina hat die erste Tote entdeckt,...
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Produktinformationen zu „Die Schwestern vom Roten Haus / Rosina Bd.9 “
Klappentext zu „Die Schwestern vom Roten Haus / Rosina Bd.9 “
Tanz mit dem Tod Hamburg, 1773. Nach dem letzten Karnevalsball treibt eine tote Frau in der Alster, eine zweite stirbt, eine dritte entkommt knapp einem Anschlag - in Hamburg geht wieder ein Mörder um. Die Komödiantin Rosina hat die erste Tote entdeckt, Anlass genug, selbst nach dem Täter zu suchen. Doch wer hatte einen Grund, die Frauen zu töten? Was verband sie?Die Spuren führen ins Waisenhaus und ins Gängeviertel, zu den Flössern am Holzhafen, in das Haus eines Seidenhändlers und zu einer schiesswütigen Gutsherrin nach Wandsbek.Rosina, Weddemeister Wagner und die Kaufmannsfamilie Herrmanns müssen sich beeilen, wenn sie dem nächsten Mord zuvorkommen wollen ... Rosinas neunter Fall
Lese-Probe zu „Die Schwestern vom Roten Haus / Rosina Bd.9 “
Die Schwestern vom Roten Haus von Petra Oelker Prolog Liebe Schwester, ... mehr
ich habe lange gezögert, diese Zeilen zu schreiben, denn sie können meine Zukunft zerstören. Um das zu erlauben, habe ich zu hart gerungen; ich möchte wie jeder Mensch ein gutes Leben haben, nie hungern oder frieren, nie mehr den Nacken beugen. Ich möchte, dass man mir mit Respekt begegnet. Es ist unendlich lange her, seit wir uns zuletzt trafen, manchmal glaube ich, jene Zeit zu vergessen. Nun sehe ich Dich lächeln. Ungeduldig über meine törichten, nur die Zeit verschwendenden Gedanken, zugleich nachsichtig, wie Du es auch mit mir warst. Wenn ich mich aber in meinen schlichten, für mein Empfinden immer noch ungemein schönen Kleidern sehe, meine helle Haut, das sorgfältig frisierte Haar, die Hände ohne Schwielen und Schrunden, bin ich manchmal noch verblüfft. Das ist gut, diese Fremdheit vor mir selbst bewahrt mich vor Hochmut. Denn natürlich kann ich nie wirklich vergessen, wer ich war, wer ich bin. Und wem ich Dank schulde. Ebenso wenig, wem ich alles andere als Dank schulde. Das allerdings würde ich gerne vergessen. Du hingegen wirst dich stets bemühen, nicht zu vergessen, wer Dir Leid zugefügt hat. Völlig ändern wir Menschen uns sicher nie. Gleichwohl würdest Du mich heute kaum mehr erkennen, sollten wir uns unversehens begegnen – und das könnte bald geschehen. Vor allem die Zeit, aber auch meine Stellung im Leben haben meine äußere Gestalt und Erscheinung verändert, meine Manieren, meine Sprache, sogar mein Denken. Ich musste nur wenig dazu tun, und da es mir leicht fiel, glaube ich, dass alles richtig war und auch der Weg in die Zukunft der richtige ist. Es geht um keine große oder gar gemeine Lüge, es geht nur um eine Kleinigkeit, genau genommen nur um ein corriger la fortune. Warum sollte es verwerflich sein, dem Glück ein wenig nachzuhelfen, wenn es doch niemandem schadet? Ich habe gewiss nicht alles alleine geschafft, letztlich das wenigste, ich hatte großzügige Hilfe, ohne die ich noch die Gleiche wäre wie vor Jahren. Obwohl es oft mühsam und demütigend war, erkannte ich die Chance und war willfährig. Vielleicht erschien ich darin schwach, tatsächlich war ich endlich stark. Du warst immer schon stark, kanntest Dein Ziel und wusstest den Weg, es zu erreichen. Und dass alles im Leben ein Handel ist und seinen Preis hat. Du warst bereit, ihn zu bezahlen, und ebenso bereit, von anderen ihren Preis zu fordern. Ich habe Dich dafür bewundert, wie für manches andere. Alles änderte sich, und schon nachdem es mich in diese Weltgegend verschlagen hatte, fühlte ich mich beinahe frei. Ich musste weiter mit gesenktem Blick meine Knickse machen, trotzdem ist das Leben hier so anders. Du solltest allein den Garten sehen. Seine wilde Üppigkeit ist nur mit viel Mühe im Zaum zu halten und bietet viele Verstecke. Womöglich lag es auch an der immer neuen Kraft dieses Gartens, als ich begann, meine Ziele höherzustecken. Noch einmal ist mir ein unerwartetes Glück zugefallen, ich war zu schwach, es auszuschlagen. Ich stellte mir vor, wie ich eines Tages in unserer Kutsche durch die vertrauten Straßen fahre, wie ich mit freundlichem Nicken hier und dort grüße und gegrüßt werde, stellte mir vor … mit so Törichtem will ich Dich verschonen. Ich stellte mir auch anderes vor, das will ich Dir sagen. In die eitlen Bilder drängte sich eine gefürchtete Wirklichkeit, nämlich dass mich niemand freundlich grüßen wird, dass man mich anspucken wird, davonjagen. Ach, Liebe, ich muss darauf vertrauen, dass mich niemand erkennt. Nur Du wirst mich erkennen, wenn Du mir nahe genug kommst, um in meine Augen zu sehen. Deshalb bitte ich Dich: ERKENNE MICH NICHT. Es ist die einzige Bitte seit so vielen Jahren und für alle zukünftigen. Mein Herz wird bluten, wenn wir uns begegnen und nicht erkennen, nicht umarmen dürfen … Kapitel 1 Fastnacht, 23. Februar 1773
Dieser Winter war unberechenbar. Nachdem er noch zu Beginn des Advents eine solche Milde vortäuschte, dass an sonnigen Plätzen Veilchen blühten, ließ er zur Weihnachtszeit plötzlich Teiche und Bäche zufrieren, dann Bille und Alster, endlich verschwand sogar die Elbe unter einer Eisdecke. Bald lieferten sich Schlittschuhläufer und Pferdeschlitten Wettrennen, und die Spaziergänger wärmten sich an den eilig errichteten Buden mit Punsch, warmem Bier oder fetten Suppen. Ganz Hamburg war auf dem Eis unterwegs, ob in Geschäften oder zum Vergnügen. Die Elbe fror in vielen, sogar in den meisten Wintern zu, so dick und sicher wie in diesem war das Eis jedoch selten. Es trug auch große Schlitten und Wagen bis nach Harburg an der Süderelbe, wer dort Geschäfte hatte, beeilte sich, hinüberzukommen. Wenn das Eis erst zu brechen begann, gab es für viele Tage, womöglich für Wochen kein Hinüberkommen, bis es völlig geschmolzen war und die Ewer wieder Segel setzen und ihren Weg durch die Windungen der verzweigten Flussarme suchen konnten. Bei schlechtem Wind oder mit einem unfähigen Schiffer dauerte die Reise viele Stunden. So war in diesen Winterwochen immer viel Betrieb auf der Elbe, in einigen, nämlich den mondhellen Nächten bis weit in die nachtschlafende Zeit. Von den südlichen Wällen oder Bastionen wirkten die sich rasch vorwärtsbewegenden und endlich im fernen Dunkel verlierenden Laternen, ohne die sich kein Schlitten auf das nächtliche Eis wagte, wie Irrlichter. Im Februar, zur eigentlich kältesten Zeit des Jahres, wehte plötzlich ein trügerischer frühlingswarmer Wind aus Südwest und ließ das Eis brüchig werden. Wem sein Leben lieb war, blieb nun wieder an den sicheren Ufern. Nur die Milchbauern von den Strominseln kamen weiter mit ihren Lastschlitten nach Hamburg und riskierten alle Tage ihr Leben, um ihre schnell verderbliche Ware zu verkaufen. Dort, wo der Fluss sich unter dem Eis am stärksten bewegte, sei es schon mürbe, so berichteten sie; wer zu sehen verstehe, erkenne die Schollen, die bald aufbrechen würden. Wenn sie unter sich waren, sprachen sie auch darüber, dass es nun bald geschehen werde. Dass einer unters Eis müsse. Mindestens einer. Wie in jedem Jahr. Es gab alte Geschichten von Neunmalklugen, die einen Hund oder eine Katze, einmal sogar ein zu früh geborenes halbtotes Kalb ins eisige Wasser gestoßen hatten. Gerade die hatte es getroffen. Der Winterfluss ließ sich nicht um den fälligen Tribut betrügen. Das wusste jeder, es hatte auch lange keiner mehr versucht. So blieb stets nur die Hoffnung, der Fluss sei noch satt vom letzten Jahr und werde sich milde zeigen. Denn er war nicht gierig. Das war er noch nie gewesen, auch das wusste jeder. Unters Eis? Müsse? Ein junger Mann, der manchmal bei ihnen saß, wenn sie sich mit einem Krug heißen Bieres wärmten, bevor sie den langen Rückweg antraten, und diesmal unbemerkt herangetreten war, lachte spöttisch. «Das ist doch Unsinn», rief er, «der Fluss ist ein Fluss, kein Gott oder Teufel.» Wer gut achtgebe und schnell sei, wer die Geräusche, die das Eis bei Tauwetter mache, zu deuten verstehe, seine Färbungen auch, gerate nicht unters Eis und saufe ab wie eine Ratte. «Es sei denn», fügte er dann doch hinzu, «er hat Pech. Verdammt viel Pech.» Das Letzte klang, als spucke er es aus. Jedes Wort einzeln. Die andern starrten schweigend in ihre Bierkrüge. Was sollte man dazu auch sagen? Der Junge wusste es eben nicht besser, er war keiner von den Inseln. Überhaupt nicht von hier. Nur ein Flößer, der im Herbst mit dem Holz aus dem Osten die Elbe heruntergekommen und für den Winter in der Vorstadt St. Georg hängen geblieben war. Sie wussten nicht genau, warum. Da war wohl irgendwas mit seinem Bein, das rechte zog er nach, nur leicht, aber ein Flößer brauchte zwei gesunde und starke Beine. Sonst gehörte er zu den Ersten, die der Fluss, egal welcher, sich holte. Wahrscheinlich war er zwischen die Stämme geraten, sie hatten nicht darüber nachgedacht, auch nicht gefragt. Jeder konnte sich zu ihnen setzen, sogar eine Kanne Bier spendieren, wenn aber so einer anfing, Reden zu führen oder seltsame Fragen zu stellen, dann mochten sie ihn nicht. Ob er nach dem Eis fragte, wie lange es noch halte oder ob es in jedem Winter so sei, oder wissen wollte, ob sich schon mal Fremde auf den Inseln angesiedelt hätten, er überlege das selbst – so einer bekam auch keine Antworten. Der Flößer war ein Schwätzer. Mochte sein, der kannte sich mit fließendem, sogar reißendem Wasser aus – die Arbeit mit dem Holz war gefährlich –, von den besonderen Tücken der Wasserläufe zwischen den Elbinseln wusste er trotzdem nichts. Schon gar nichts bei Eisgang. Niemand hatte es ausgesprochen, alle hatten es gedacht: Wer so redet, während das Eis knackte, ächzte und flüsterte und erste Spalten und Pfützen bildete, beleidigte den Fluss. Womöglich erübrigte sich nun die Frage, wen sich die Elbe als Nächsten holte. Der Gedanke war nicht schlecht – besser ein Fremder blieb unterm Eis als ein Bruder oder Nachbar. Ja, die Sache mit dem Eis war in diesem Jahr vertrackt. Mal deckte es den Fluss sicher und hart wie Granit, mal war es brüchig, das Wetter schlug alle Tage Kapriolen, und die Alten sagten, es sei fast wie früher, als sie jung und die Winter milder gewesen waren. Was nichts zu bedeuten hatte, von jeher gaukelt das Alter den Menschen vor, früher sei alles besser gewesen, selbst denen, die in ihrer Jugend nichts als Krieg und Pestilenz erlebt hatten. In der Woche vor Fastnacht war das Eis überall dünn und brüchig, hatte hier und da, wo der Wind nicht so kalt darüber fegte, Löcher von schwarzem Wasser, in dem die Enten nach Würmern gründelten. Kaufleute und Reeder, Schiffer und Seeleute standen am Hafen zusammen, beobachteten, wie sich die eisige Umklammerung ihrer Schiffe löste, und nickten voller Zuversicht. Wenn es so weiterging, würde die Elbe schon bald wieder schiffbar sein. Doch es war erst Februar – am Tag des letzten Maskenballs zeigte der Winter noch einmal, was er vermochte. Im Theatersaal am Gänsemarkt fanden zwischen Neujahr und Fastnacht fünf Maskenbälle statt, es waren die größten in der Stadt. Als sich das Theater in dieser Nacht nach dem letzten Ball endlich geleert hatte und selbst die auf der oberen Galerie weinselig schnarchenden Gäste geweckt und aus dem Haus gescheucht waren, öffnete sich das Portal endlich auch für die etwa zwei Dutzend Frauen und Männer, die in dieser Nacht bei der Bedienung der Gäste eine einträgliche Arbeit gehabt hatten. Der Atem vor ihren Mündern gerann umgehend zu eisigen weißen Wölkchen, Schultertücher wurden schützend über die Köpfe gezogen, Mützen in die Stirn gedrückt, als die Gruppe sich in Grüppchen auflöste, die sich, jede von einem der wenigen Männer mit einer Laterne begleitet, in die verschiedenen Richtungen der Stadt auf den Heimweg machten. Die meisten verschwanden in Richtung Neustadt, eine kleine Gruppe in Richtung Dammtor, eine weitere eilte an Malthus’ Garten vorbei über den Jungfernstieg, wo ein schneidender Nordwind fast den Atem nahm, und teilte sich hinter der Brücke an seinem Ende für das letzte Stück des Weges. Niemand nahm sich Zeit, einen Blick auf die großen Räder der Wasserkunst zu werfen. Am Tag zuvor hatte Hoffnung bestanden, dass sie sich bald wieder drehten und Wasser in die Röhren pumpten. Das in dieser Nacht mit erschreckender Geschwindigkeit wieder gefrierende Eis sorgte dafür, dass sie auch während der nächsten Wochen stillstehen würden. Es war fast Mitternacht, der während der letzten Stunden gefrorene Schneematsch knirschte unter den Holzpantinen, sonst war es still. Die ganze Stadt schien zu schlafen, selbst was sich gewöhnlich um diese Stunde noch herumtrieb, Trunkenbold, Spitzbube oder heimatloser Hund, hatte sich mit der plötzlichen Rückkehr der bitteren Kälte hinter schützenden Mauern verkrochen. Nur einige der letzten Gäste des Maskenballs waren noch unterwegs. Bei der Einmündung der Großen Bleichen waren zwei Paare kichernd und schwatzend vorbeigehuscht, kurz vor der Wasserkunst eine einzelne Person, alle in dicken Mänteln und noch mit Masken, die ihre Gesichter verbargen; aus einer der Gassen klang trunkenes Johlen, das abrupt verstummte, als die Schnarren der Nachtwächter antworteten. Eine Kutsche rollte mit schwankenden Laternen und geschlossenen Vorhängen vorüber, auf dem Bock der unter einer Pferdedecke zusammengekauerte Kutscher, auf den Rücktritten zwei frierende Lakaien. Manchmal klang es nach schleichenden Schritten, irgendwo auch nach Wispern, das war nur der Wind, der über den Alstersee heranfegte und kleine Wolken von Schnee vor sich hertrieb, staubfein wie gefrorener Nebel. Eine der Frauen, die nun mit ihrem Begleiter am Werk und Zuchthaus vorbei zu den Raboisen gingen, blieb plötzlich stehen und blickte zum Himmel hinauf. Die Nacht war schwarz, der Mond verbarg sich hinter einer Wolkendecke,
doch die Reste von Schnee gaben ein wenig Licht, mehr als der nur glimmende Schein der Laternen an den Brücken und einigen Hausecken. Tatsächlich, dort flogen Wildgänse über die Stadt, majestätische dunkle Schatten, lautlos wie Gespenster. Warum flogen sie mitten in dieser eiskalten Nacht? Wohin? Sie spürte ein Lächeln in ihren von der Kälte steifen Wangen. Die Wildgänse waren frei, sie hielt nichts auf. Nicht die Festungsmauern mit den seit Sonnenuntergang geschlossenen Stadttoren, auch keine Pflicht. Sie breiteten einfach ihre Schwingen aus und flogen auf und davon. Als sie ein Kind gewesen war, ein pummeliges ängstliches Mädchen in kratzenden blauen Kleidern, und auf dem von hohen, festen Mauern umschlossenen Hof in den Himmel hinaufträumte, hatte sie sich vorgestellt, es ihnen gleichzutun. Manchmal tat sie es auch jetzt noch. Dann fühlte sie sich wie einer dieser Vögel, kraftvoll und schwerelos immer höher aufsteigend, tief unten die Welt nur als ein fernes Bild. Das waren glückliche Momente. Berauschende kleine Fluchten aus den unsichtbaren Mauern, die nun ihr Leben bestimmten und sie festhielten. Stets flog sie dann über sommerliches Land und hoch genug, um die Menschen nicht mehr zu erkennen. Niemand konnte ihr etwas anhaben, nichts befehlen, nichts fordern, sie nicht beleidigen. Sie auch keiner Schuld bezichtigen oder – schlimmer noch – wortlos an eine Schuld erinnern. Auch nicht lieben, dachte sie im Weitergehen, aber … «Pass auf!» Eine feste Hand griff durch ihr wollenes Schultertuch ihren Arm, gerade rechtzeitig, als sie auf einem spiegelglatt gefrorenen Eisflecken mitten im Weg ausrutschte. Der Mann mit der Laterne sah sie prüfend an. «Müde?», fragte er leise. «Was denkst du denn?», antwortete sie knapp und entzog ihm ihren Arm. «Ich habe den ganzen Tag für Madam Pauli gearbeitet und dann die halbe Nacht Gläser gespült und Krüge geschleppt. Was wird man da? Wach?» «Dumme Frage», gestand er mit einem schiefen Lächeln zu und ging weiter, die Hand wieder leicht an ihrem Arm. «Steht nicht rum», rief er den beiden anderen Frauen leise zu, die in ihre Schultertücher gehüllt stehen geblieben waren, «oder wollt ihr festfrieren? Verdammt», murmelte er in die grobe Wolldecke, die er um Hals und Schultern gehängt hatte, «ich hab gedacht, mit solcher Hundekälte sei es für dieses Jahr vorbei.» «Du hättest das nicht tun müssen, Wanda», fuhr er nach wenigen Schritten fort. Sie antwortete nicht. Sie würde doch nur wieder ruppig sein, das hatte er nicht verdient. Und was gab es darauf zu sagen? Dass sie glücklich war, wenn sie ein paar Schillinge dazuverdienen konnte? Das verstand sich von selbst. Dass solche Gelegenheiten selten waren wie Schnee im Mai? Auch das wusste er so gut wie sie. Im Übrigen ging ihn nichts an, was sie tat oder nicht tat. Auch wenn er es sich vielleicht anders wünschte. In diesen Ballnächten am Tresen zu arbeiten war aus gutem Grund sehr begehrt, selbst bei Frauen aus den besseren Häusern, die sich sonst niemals als Schankmagd verdingt hätten. Im Karneval herrschte auch in dieser, für ihre strikte protestantische Moral bekannte Stadt ein wenig mehr Großzügigkeit, vor allem aber gab es nirgends so gute Trinkgelder wie bei den Maskenbällen im Theater. Die Bälle im Baumhaus am Hafen mochten vornehmer sein, aber wen interessierte das im Karneval? Die im großen Theatersaal beim Gänsemarkt waren ganz gewiss die turbulentesten. Natürlich hätte sie nicht aushelfen müssen, nachdem der Wirt festgestellt hatte, dass er für die beiden letzten, stets am besten besuchten Maskenbälle dieses Winters zu wenig Schankmägde hatte. Sie war dankbar gewesen, als Madam Pauli ihr erlaubte, einzuspringen. Auch überrascht, denn sosehr sie es sich erhofft hatte – sie brauchte dieses zusätzliche Salär ja viel dringender, als Madam sich vorstellen konnte –, so wenig hatte sie mit der Erlaubnis gerechnet. Bisher waren solche kleinen Dienste außerhalb des Pauli’schen Hauses strikt verboten gewesen, erst recht, wenn sie sich so öffentlich gestalteten wie bei diesem Anlass hinter dem Schanktisch auf einem Maskenball. Allerdings hatte Madam Pauli Wanda verboten, mit den Bier- und Weinkrügen in der Menge herumzulaufen und im Saal und auf den Galerien zu bedienen, das sei für ein Mitglied des Hauses Pauli nun wirklich unschicklich. Wanda hatte brav geknickst und den Ärger hinuntergeschluckt. Just darauf hatte sie gehofft, dort gab es die allerbesten Trinkgelder, und gegen unerwünschte Berührungen von Männerhänden wusste sie sich zu wehren, seit sie Röcke trug. Obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war, hatte sie gehorcht, alles andere wäre gegen ihre Natur gewesen. Vielleicht auch nur gegen ihre Erziehung. Es hatte sich trotzdem gelohnt, vor allem an diesem, dem letzten Ballabend. Sie tastete nach den Münzen in ihren Rocktaschen und sah sich noch einmal nach den Wildgänsen um. Die schwarzen Schatten waren verschwunden, doch der Gedanke an die Freiheit der großen Vögel, an ihre langen Reisen nach dem Norden, machte ihr Herz leicht. Sie würde nicht nach Norden reisen, sondern nach Süden. Es musste schön dort sein, ganz sicher auch wärmer. Genau bedacht, würde sie überallhin reisen, wenn sie nur die Möglichkeit dazu bekäme. Sie hatte ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, weiter als die anderthalb Meilen an die Bille und einmal über die Elbe nach Finkenwerder war sie nie gekommen. Wanda musste dankbar sein, dass sie in einem guten Haus leben durfte, das immerhin hatte sie geschafft. Sie wurde alle Tage satt, bekam reine Kleidung, und niemand schlug sie mehr. Sie hatte gedacht, diese Unruhe, diese Sehnsucht nach der Welt dort draußen und nach einem besseren, vor allem aufregenderen Leben werde mit den Jahren vergehen. Sie war nur größer geworden. Vielleicht würde sie ihren Entschluss eines Tages bereuen und büßen müssen, das war ihr egal. Die über das Eis und die Wälle davonziehenden Vögel mitten in der Nacht und bei dieser Kälte – das konnte nur ein gutes Omen sein. Plötzlich war ihr Kopf wieder voller Melodien, wie zuvor, als sie hinter dem Schanktisch im Theatersaal gestanden und Wein und Bier, Punsch und Branntwein ausgeschenkt, dem Orchester gelauscht und den Tanzenden zugesehen hatte. Nie zuvor hatte Wanda so wunderbare Musik gehört wie in dieser Nacht, nie zuvor eine so große vergnügte Menge in so bunten Kleidern und Masken gesehen – auch das war ein gutes Omen. Oder nicht? Schwarze Schatten bedeuteten selten Glück. Dann würde sie eben ein Glück daraus machen. Als kurz vor dem Ende der schmalen, Raboisen genannten Straße der Heimweg zu den Wohnungen der beiden anderen Frauen und des Mannes mit der Laterne abzweigte, blieb Wanda wieder stehen. «Die letzten Schritte gehe ich allein», sagte sie bestimmt. Der Mann mit der Laterne wollte widersprechen, doch sie schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. Es sei zu kalt, um sich mit unnötigem Streit aufzuhalten. Er solle die anderen heimbringen. «Es sind doch nur noch ein paar Schritte», sagte sie, «Magda hustet schon den ganzen Abend, besser, ihr beeilt euch, sonst holt sie sich den Tod.» Sie berührte flüchtig seinen Arm, nickte den beiden anderen Frauen zu und eilte davon, die Raboisen hinunter zum Holzplatz an der Binnenalster, in dessen Nähe das Haus der Paulis stand. Der Mann sah ihr nach, sah, wie sie beim Holzplatz kurz zögerte, um dann umso entschlossener weiterzueilen. Rasch hatte die Dunkelheit sie verschluckt.
© 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Dieser Winter war unberechenbar. Nachdem er noch zu Beginn des Advents eine solche Milde vortäuschte, dass an sonnigen Plätzen Veilchen blühten, ließ er zur Weihnachtszeit plötzlich Teiche und Bäche zufrieren, dann Bille und Alster, endlich verschwand sogar die Elbe unter einer Eisdecke. Bald lieferten sich Schlittschuhläufer und Pferdeschlitten Wettrennen, und die Spaziergänger wärmten sich an den eilig errichteten Buden mit Punsch, warmem Bier oder fetten Suppen. Ganz Hamburg war auf dem Eis unterwegs, ob in Geschäften oder zum Vergnügen. Die Elbe fror in vielen, sogar in den meisten Wintern zu, so dick und sicher wie in diesem war das Eis jedoch selten. Es trug auch große Schlitten und Wagen bis nach Harburg an der Süderelbe, wer dort Geschäfte hatte, beeilte sich, hinüberzukommen. Wenn das Eis erst zu brechen begann, gab es für viele Tage, womöglich für Wochen kein Hinüberkommen, bis es völlig geschmolzen war und die Ewer wieder Segel setzen und ihren Weg durch die Windungen der verzweigten Flussarme suchen konnten. Bei schlechtem Wind oder mit einem unfähigen Schiffer dauerte die Reise viele Stunden. So war in diesen Winterwochen immer viel Betrieb auf der Elbe, in einigen, nämlich den mondhellen Nächten bis weit in die nachtschlafende Zeit. Von den südlichen Wällen oder Bastionen wirkten die sich rasch vorwärtsbewegenden und endlich im fernen Dunkel verlierenden Laternen, ohne die sich kein Schlitten auf das nächtliche Eis wagte, wie Irrlichter. Im Februar, zur eigentlich kältesten Zeit des Jahres, wehte plötzlich ein trügerischer frühlingswarmer Wind aus Südwest und ließ das Eis brüchig werden. Wem sein Leben lieb war, blieb nun wieder an den sicheren Ufern. Nur die Milchbauern von den Strominseln kamen weiter mit ihren Lastschlitten nach Hamburg und riskierten alle Tage ihr Leben, um ihre schnell verderbliche Ware zu verkaufen. Dort, wo der Fluss sich unter dem Eis am stärksten bewegte, sei es schon mürbe, so berichteten sie; wer zu sehen verstehe, erkenne die Schollen, die bald aufbrechen würden. Wenn sie unter sich waren, sprachen sie auch darüber, dass es nun bald geschehen werde. Dass einer unters Eis müsse. Mindestens einer. Wie in jedem Jahr. Es gab alte Geschichten von Neunmalklugen, die einen Hund oder eine Katze, einmal sogar ein zu früh geborenes halbtotes Kalb ins eisige Wasser gestoßen hatten. Gerade die hatte es getroffen. Der Winterfluss ließ sich nicht um den fälligen Tribut betrügen. Das wusste jeder, es hatte auch lange keiner mehr versucht. So blieb stets nur die Hoffnung, der Fluss sei noch satt vom letzten Jahr und werde sich milde zeigen. Denn er war nicht gierig. Das war er noch nie gewesen, auch das wusste jeder. Unters Eis? Müsse? Ein junger Mann, der manchmal bei ihnen saß, wenn sie sich mit einem Krug heißen Bieres wärmten, bevor sie den langen Rückweg antraten, und diesmal unbemerkt herangetreten war, lachte spöttisch. «Das ist doch Unsinn», rief er, «der Fluss ist ein Fluss, kein Gott oder Teufel.» Wer gut achtgebe und schnell sei, wer die Geräusche, die das Eis bei Tauwetter mache, zu deuten verstehe, seine Färbungen auch, gerate nicht unters Eis und saufe ab wie eine Ratte. «Es sei denn», fügte er dann doch hinzu, «er hat Pech. Verdammt viel Pech.» Das Letzte klang, als spucke er es aus. Jedes Wort einzeln. Die andern starrten schweigend in ihre Bierkrüge. Was sollte man dazu auch sagen? Der Junge wusste es eben nicht besser, er war keiner von den Inseln. Überhaupt nicht von hier. Nur ein Flößer, der im Herbst mit dem Holz aus dem Osten die Elbe heruntergekommen und für den Winter in der Vorstadt St. Georg hängen geblieben war. Sie wussten nicht genau, warum. Da war wohl irgendwas mit seinem Bein, das rechte zog er nach, nur leicht, aber ein Flößer brauchte zwei gesunde und starke Beine. Sonst gehörte er zu den Ersten, die der Fluss, egal welcher, sich holte. Wahrscheinlich war er zwischen die Stämme geraten, sie hatten nicht darüber nachgedacht, auch nicht gefragt. Jeder konnte sich zu ihnen setzen, sogar eine Kanne Bier spendieren, wenn aber so einer anfing, Reden zu führen oder seltsame Fragen zu stellen, dann mochten sie ihn nicht. Ob er nach dem Eis fragte, wie lange es noch halte oder ob es in jedem Winter so sei, oder wissen wollte, ob sich schon mal Fremde auf den Inseln angesiedelt hätten, er überlege das selbst – so einer bekam auch keine Antworten. Der Flößer war ein Schwätzer. Mochte sein, der kannte sich mit fließendem, sogar reißendem Wasser aus – die Arbeit mit dem Holz war gefährlich –, von den besonderen Tücken der Wasserläufe zwischen den Elbinseln wusste er trotzdem nichts. Schon gar nichts bei Eisgang. Niemand hatte es ausgesprochen, alle hatten es gedacht: Wer so redet, während das Eis knackte, ächzte und flüsterte und erste Spalten und Pfützen bildete, beleidigte den Fluss. Womöglich erübrigte sich nun die Frage, wen sich die Elbe als Nächsten holte. Der Gedanke war nicht schlecht – besser ein Fremder blieb unterm Eis als ein Bruder oder Nachbar. Ja, die Sache mit dem Eis war in diesem Jahr vertrackt. Mal deckte es den Fluss sicher und hart wie Granit, mal war es brüchig, das Wetter schlug alle Tage Kapriolen, und die Alten sagten, es sei fast wie früher, als sie jung und die Winter milder gewesen waren. Was nichts zu bedeuten hatte, von jeher gaukelt das Alter den Menschen vor, früher sei alles besser gewesen, selbst denen, die in ihrer Jugend nichts als Krieg und Pestilenz erlebt hatten. In der Woche vor Fastnacht war das Eis überall dünn und brüchig, hatte hier und da, wo der Wind nicht so kalt darüber fegte, Löcher von schwarzem Wasser, in dem die Enten nach Würmern gründelten. Kaufleute und Reeder, Schiffer und Seeleute standen am Hafen zusammen, beobachteten, wie sich die eisige Umklammerung ihrer Schiffe löste, und nickten voller Zuversicht. Wenn es so weiterging, würde die Elbe schon bald wieder schiffbar sein. Doch es war erst Februar – am Tag des letzten Maskenballs zeigte der Winter noch einmal, was er vermochte. Im Theatersaal am Gänsemarkt fanden zwischen Neujahr und Fastnacht fünf Maskenbälle statt, es waren die größten in der Stadt. Als sich das Theater in dieser Nacht nach dem letzten Ball endlich geleert hatte und selbst die auf der oberen Galerie weinselig schnarchenden Gäste geweckt und aus dem Haus gescheucht waren, öffnete sich das Portal endlich auch für die etwa zwei Dutzend Frauen und Männer, die in dieser Nacht bei der Bedienung der Gäste eine einträgliche Arbeit gehabt hatten. Der Atem vor ihren Mündern gerann umgehend zu eisigen weißen Wölkchen, Schultertücher wurden schützend über die Köpfe gezogen, Mützen in die Stirn gedrückt, als die Gruppe sich in Grüppchen auflöste, die sich, jede von einem der wenigen Männer mit einer Laterne begleitet, in die verschiedenen Richtungen der Stadt auf den Heimweg machten. Die meisten verschwanden in Richtung Neustadt, eine kleine Gruppe in Richtung Dammtor, eine weitere eilte an Malthus’ Garten vorbei über den Jungfernstieg, wo ein schneidender Nordwind fast den Atem nahm, und teilte sich hinter der Brücke an seinem Ende für das letzte Stück des Weges. Niemand nahm sich Zeit, einen Blick auf die großen Räder der Wasserkunst zu werfen. Am Tag zuvor hatte Hoffnung bestanden, dass sie sich bald wieder drehten und Wasser in die Röhren pumpten. Das in dieser Nacht mit erschreckender Geschwindigkeit wieder gefrierende Eis sorgte dafür, dass sie auch während der nächsten Wochen stillstehen würden. Es war fast Mitternacht, der während der letzten Stunden gefrorene Schneematsch knirschte unter den Holzpantinen, sonst war es still. Die ganze Stadt schien zu schlafen, selbst was sich gewöhnlich um diese Stunde noch herumtrieb, Trunkenbold, Spitzbube oder heimatloser Hund, hatte sich mit der plötzlichen Rückkehr der bitteren Kälte hinter schützenden Mauern verkrochen. Nur einige der letzten Gäste des Maskenballs waren noch unterwegs. Bei der Einmündung der Großen Bleichen waren zwei Paare kichernd und schwatzend vorbeigehuscht, kurz vor der Wasserkunst eine einzelne Person, alle in dicken Mänteln und noch mit Masken, die ihre Gesichter verbargen; aus einer der Gassen klang trunkenes Johlen, das abrupt verstummte, als die Schnarren der Nachtwächter antworteten. Eine Kutsche rollte mit schwankenden Laternen und geschlossenen Vorhängen vorüber, auf dem Bock der unter einer Pferdedecke zusammengekauerte Kutscher, auf den Rücktritten zwei frierende Lakaien. Manchmal klang es nach schleichenden Schritten, irgendwo auch nach Wispern, das war nur der Wind, der über den Alstersee heranfegte und kleine Wolken von Schnee vor sich hertrieb, staubfein wie gefrorener Nebel. Eine der Frauen, die nun mit ihrem Begleiter am Werk und Zuchthaus vorbei zu den Raboisen gingen, blieb plötzlich stehen und blickte zum Himmel hinauf. Die Nacht war schwarz, der Mond verbarg sich hinter einer Wolkendecke,
doch die Reste von Schnee gaben ein wenig Licht, mehr als der nur glimmende Schein der Laternen an den Brücken und einigen Hausecken. Tatsächlich, dort flogen Wildgänse über die Stadt, majestätische dunkle Schatten, lautlos wie Gespenster. Warum flogen sie mitten in dieser eiskalten Nacht? Wohin? Sie spürte ein Lächeln in ihren von der Kälte steifen Wangen. Die Wildgänse waren frei, sie hielt nichts auf. Nicht die Festungsmauern mit den seit Sonnenuntergang geschlossenen Stadttoren, auch keine Pflicht. Sie breiteten einfach ihre Schwingen aus und flogen auf und davon. Als sie ein Kind gewesen war, ein pummeliges ängstliches Mädchen in kratzenden blauen Kleidern, und auf dem von hohen, festen Mauern umschlossenen Hof in den Himmel hinaufträumte, hatte sie sich vorgestellt, es ihnen gleichzutun. Manchmal tat sie es auch jetzt noch. Dann fühlte sie sich wie einer dieser Vögel, kraftvoll und schwerelos immer höher aufsteigend, tief unten die Welt nur als ein fernes Bild. Das waren glückliche Momente. Berauschende kleine Fluchten aus den unsichtbaren Mauern, die nun ihr Leben bestimmten und sie festhielten. Stets flog sie dann über sommerliches Land und hoch genug, um die Menschen nicht mehr zu erkennen. Niemand konnte ihr etwas anhaben, nichts befehlen, nichts fordern, sie nicht beleidigen. Sie auch keiner Schuld bezichtigen oder – schlimmer noch – wortlos an eine Schuld erinnern. Auch nicht lieben, dachte sie im Weitergehen, aber … «Pass auf!» Eine feste Hand griff durch ihr wollenes Schultertuch ihren Arm, gerade rechtzeitig, als sie auf einem spiegelglatt gefrorenen Eisflecken mitten im Weg ausrutschte. Der Mann mit der Laterne sah sie prüfend an. «Müde?», fragte er leise. «Was denkst du denn?», antwortete sie knapp und entzog ihm ihren Arm. «Ich habe den ganzen Tag für Madam Pauli gearbeitet und dann die halbe Nacht Gläser gespült und Krüge geschleppt. Was wird man da? Wach?» «Dumme Frage», gestand er mit einem schiefen Lächeln zu und ging weiter, die Hand wieder leicht an ihrem Arm. «Steht nicht rum», rief er den beiden anderen Frauen leise zu, die in ihre Schultertücher gehüllt stehen geblieben waren, «oder wollt ihr festfrieren? Verdammt», murmelte er in die grobe Wolldecke, die er um Hals und Schultern gehängt hatte, «ich hab gedacht, mit solcher Hundekälte sei es für dieses Jahr vorbei.» «Du hättest das nicht tun müssen, Wanda», fuhr er nach wenigen Schritten fort. Sie antwortete nicht. Sie würde doch nur wieder ruppig sein, das hatte er nicht verdient. Und was gab es darauf zu sagen? Dass sie glücklich war, wenn sie ein paar Schillinge dazuverdienen konnte? Das verstand sich von selbst. Dass solche Gelegenheiten selten waren wie Schnee im Mai? Auch das wusste er so gut wie sie. Im Übrigen ging ihn nichts an, was sie tat oder nicht tat. Auch wenn er es sich vielleicht anders wünschte. In diesen Ballnächten am Tresen zu arbeiten war aus gutem Grund sehr begehrt, selbst bei Frauen aus den besseren Häusern, die sich sonst niemals als Schankmagd verdingt hätten. Im Karneval herrschte auch in dieser, für ihre strikte protestantische Moral bekannte Stadt ein wenig mehr Großzügigkeit, vor allem aber gab es nirgends so gute Trinkgelder wie bei den Maskenbällen im Theater. Die Bälle im Baumhaus am Hafen mochten vornehmer sein, aber wen interessierte das im Karneval? Die im großen Theatersaal beim Gänsemarkt waren ganz gewiss die turbulentesten. Natürlich hätte sie nicht aushelfen müssen, nachdem der Wirt festgestellt hatte, dass er für die beiden letzten, stets am besten besuchten Maskenbälle dieses Winters zu wenig Schankmägde hatte. Sie war dankbar gewesen, als Madam Pauli ihr erlaubte, einzuspringen. Auch überrascht, denn sosehr sie es sich erhofft hatte – sie brauchte dieses zusätzliche Salär ja viel dringender, als Madam sich vorstellen konnte –, so wenig hatte sie mit der Erlaubnis gerechnet. Bisher waren solche kleinen Dienste außerhalb des Pauli’schen Hauses strikt verboten gewesen, erst recht, wenn sie sich so öffentlich gestalteten wie bei diesem Anlass hinter dem Schanktisch auf einem Maskenball. Allerdings hatte Madam Pauli Wanda verboten, mit den Bier- und Weinkrügen in der Menge herumzulaufen und im Saal und auf den Galerien zu bedienen, das sei für ein Mitglied des Hauses Pauli nun wirklich unschicklich. Wanda hatte brav geknickst und den Ärger hinuntergeschluckt. Just darauf hatte sie gehofft, dort gab es die allerbesten Trinkgelder, und gegen unerwünschte Berührungen von Männerhänden wusste sie sich zu wehren, seit sie Röcke trug. Obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war, hatte sie gehorcht, alles andere wäre gegen ihre Natur gewesen. Vielleicht auch nur gegen ihre Erziehung. Es hatte sich trotzdem gelohnt, vor allem an diesem, dem letzten Ballabend. Sie tastete nach den Münzen in ihren Rocktaschen und sah sich noch einmal nach den Wildgänsen um. Die schwarzen Schatten waren verschwunden, doch der Gedanke an die Freiheit der großen Vögel, an ihre langen Reisen nach dem Norden, machte ihr Herz leicht. Sie würde nicht nach Norden reisen, sondern nach Süden. Es musste schön dort sein, ganz sicher auch wärmer. Genau bedacht, würde sie überallhin reisen, wenn sie nur die Möglichkeit dazu bekäme. Sie hatte ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, weiter als die anderthalb Meilen an die Bille und einmal über die Elbe nach Finkenwerder war sie nie gekommen. Wanda musste dankbar sein, dass sie in einem guten Haus leben durfte, das immerhin hatte sie geschafft. Sie wurde alle Tage satt, bekam reine Kleidung, und niemand schlug sie mehr. Sie hatte gedacht, diese Unruhe, diese Sehnsucht nach der Welt dort draußen und nach einem besseren, vor allem aufregenderen Leben werde mit den Jahren vergehen. Sie war nur größer geworden. Vielleicht würde sie ihren Entschluss eines Tages bereuen und büßen müssen, das war ihr egal. Die über das Eis und die Wälle davonziehenden Vögel mitten in der Nacht und bei dieser Kälte – das konnte nur ein gutes Omen sein. Plötzlich war ihr Kopf wieder voller Melodien, wie zuvor, als sie hinter dem Schanktisch im Theatersaal gestanden und Wein und Bier, Punsch und Branntwein ausgeschenkt, dem Orchester gelauscht und den Tanzenden zugesehen hatte. Nie zuvor hatte Wanda so wunderbare Musik gehört wie in dieser Nacht, nie zuvor eine so große vergnügte Menge in so bunten Kleidern und Masken gesehen – auch das war ein gutes Omen. Oder nicht? Schwarze Schatten bedeuteten selten Glück. Dann würde sie eben ein Glück daraus machen. Als kurz vor dem Ende der schmalen, Raboisen genannten Straße der Heimweg zu den Wohnungen der beiden anderen Frauen und des Mannes mit der Laterne abzweigte, blieb Wanda wieder stehen. «Die letzten Schritte gehe ich allein», sagte sie bestimmt. Der Mann mit der Laterne wollte widersprechen, doch sie schnitt ihm mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. Es sei zu kalt, um sich mit unnötigem Streit aufzuhalten. Er solle die anderen heimbringen. «Es sind doch nur noch ein paar Schritte», sagte sie, «Magda hustet schon den ganzen Abend, besser, ihr beeilt euch, sonst holt sie sich den Tod.» Sie berührte flüchtig seinen Arm, nickte den beiden anderen Frauen zu und eilte davon, die Raboisen hinunter zum Holzplatz an der Binnenalster, in dessen Nähe das Haus der Paulis stand. Der Mann sah ihr nach, sah, wie sie beim Holzplatz kurz zögerte, um dann umso entschlossener weiterzueilen. Rasch hatte die Dunkelheit sie verschluckt.
© 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
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Autoren-Porträt von Petra Oelker
Petra Oelker arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern und Biographien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane um die Komödiantin Rosina, zehn weitere folgten. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» und «Tod auf dem Jakobsweg». Zuletzt begeisterte sie mit «Das klare Sommerlicht des Nordens», «Emmas Reise» sowie dem in Konstantinopel angesiedelten Roman «Die Brücke zwischen den Welten».
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Oelker
- 2009, 6. Aufl., 447 Seiten, mit Abbildungen, Masse: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499246112
- ISBN-13: 9783499246111
- Erscheinungsdatum: 07.04.2022
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