Die Rache
Psychothriller
Megan und Duncan Richards haben eine glänzende Karriere hingelegt - alles im Leben des Ehepaars scheint perfekt. Doch dann werden sie plötzlich von ihrer Vergangenheit eingeholt: Als naive Studenten hatten sie sich einer radikalen Gruppe...
Jetzt vorbestellen
versandkostenfrei
Taschenbuch
Fr. 21.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Rache “
Megan und Duncan Richards haben eine glänzende Karriere hingelegt - alles im Leben des Ehepaars scheint perfekt. Doch dann werden sie plötzlich von ihrer Vergangenheit eingeholt: Als naive Studenten hatten sie sich einer radikalen Gruppe angeschlossen und bei dem gescheiterten Überfall auf einen Geldtransporter mitgemacht. Olivia Barrow, die einstige Rädelsführerin, ging dafür ins Gefängnis. Doch nun wird sie aus der Haft entlassen und hat sich geschworen, an den Verrätern von damals erbarmungslos Rache zu nehmen.
Klappentext zu „Die Rache “
Der Fluch. Die Vergangenheit. Die Rache.Megan und Duncan Richards haben Karriere gemacht und sich in ihrem bürgerlichen Wohlstand bequem eingerichtet - aber das war nicht immer so: Als naive Weltverbesserer hatten sie sich in ihrer Studentenzeit einer radikalen Gruppe angeschlossen und bei dem Überfall auf einen Geldtransporter mitgemacht. Doch nur Olivia Barrow, die Rädelsführerin, war dafür ins Gefängnis gewandert. Nun wird sie aus der Haft entlassen und hat sich geschworen, an den Verrätern von damals erbarmungslos Rache zu nehmen ...
Lese-Probe zu „Die Rache “
Die Rache von John KatzenbachEins
Dienstagnachmittag – 1986
Eins: Megan
Sie war, fand sie, ein Glückspilz. Noch vor wenigen Wochen schien klar, dass sie den Wrights nicht helfen konnte und die Bostoner Börsenmakler all ihr schönes Geld nach Hamden oder Duchess County tragen würden, um dort mit Hilfe eines anderen Maklers nach ihrer Bauernhofidylle zu suchen. Doch als sie sich ein letztes Mal das Hirn zermarterte, war ihr das alte Haus der Hallidays an der North Road eingefallen. Seit Jahren, genauer gesagt seit dem Tod der steinalten Mrs. Halliday, war es unbewohnt, und die Erbengemeinschaft – Nichten und Neffen, die in Los Angeles und Tucson lebten – hatte ihre Firma mit dem Verkauf beauftragt. Sämtliche Makler von Country Estates Realty hatten die obligatorische Pilgerfahrt über die ausgedehnten Landstraßen unternommen, um das Angebot zu inspizieren und ihre Kommentare über das undichte Dach, die maroden Rohrleitungen und die feuchten Wände abzugeben. Sie alle kamen zu dem Schluss, dass das Haus – besonders an einem Ort, der einen wahren Bauboom erlebte – nie einen Käufer fi nden würde. So war es auf ihrer Liste immer weiter nach hinten gerutscht und schließlich wie ein Brachfeld, das die Natur langsam, aber sicher zurückerobert, in Vergessenheit geraten.
Sie war mit den Wrights die halbe Meile durch den Wald auf einer kaum befestigten Straße bis vor die Haustür geholpert. Das letzte Herbstlicht fi el mit einer besonderen Klarheit durch die schattigen Bäume und verlieh jedem verwelkten Blatt mit seinen gezackten, eingerollten Rändern scharfe Konturen. Die große Masse der regenschwarzen Bäume fi ng die Sonne ein, die im Unterholz auf und ab zu hüpfen schien. »Sie sind sich natürlich im Klaren, dass Sie umfangreiche Renovierungsarbeiten vornehmen müssen …«,
... mehr
hatte sie gesagt, doch zu ihrer unendlichen Freude hatte das Ehepaar sie ignoriert und nur den letzten goldenen Herbst statt des nahen Winters gesehen. Kaum waren sie da, schmiedeten die beiden Pläne: »Da kommt ein Gewächshaus hin und an die Rückseite eine Veranda. Das Wohnzimmer ist kein Problem, bestimmt kann diese Zwischenwand raus …«
Als sie später bei ihr im Büro das Angebotsformular unterzeichneten, hatten sie immer noch lebhaft ihre Umbaupläne diskutiert. Megan hatte sich daran beteiligt und ihnen Architekten, Baufi rmen und Dekorateure genannt, während sie ihren Scheck entgegennahm. Sie hatte nicht daran gezweifelt, dass die Verkäufer das Angebot akzeptieren und die Wrights das Haus in ein Schmuckstück verwandeln würden. Sie verfügten über das nötige Kleingeld wie auch über Zeit und Phantasie.
Heute Morgen hatte sich Megans Zuversicht in Form eines unterzeichneten Kaufvertrags, der auf ihrem Schreibtisch landete, bestätigt.
»Also«, sagte sie laut zu sich selbst, als sie in ihre Einfahrt schwenkte. »Nicht schlecht, meine Liebe.«
Wie gewöhnlich hatten die Zwillinge ihren roten Sportwagen so geparkt, dass er teilweise den Weg zum Haus ver sperrte. Kaum waren sie aus der Highschool zurück, hingen sie wahrscheinlich schon am Telefon – Lauren an einem, Karen nebenan am zweiten, allerdings mit dem Stuhl in der offenen Tür, so dass sie sich, während sie endlos in ihrem Jargon plapperten, gegenseitig sehen konnten. Als Zugeständnis an die Teenagerbedürfnisse hatte jede jetzt eine eigene Leitung – ein bescheidener Preis dafür, nicht mehr alle fünf Minuten ans Telefon springen zu müssen.
Sie schmunzelte und sah auf die Uhr. Duncan würde erst in einer Stunde von der Bank zurückkommen. Falls er keine Überstunden machen musste. Sie nahm sich vor, mit ihm darüber zu reden, dass diese Zeit vor allem Tommy abging. Die Mädchen lebten in ihrer eigenen Welt, und solange kein Alkohol, Drogen und die falsche Art von Jungen im Spiel waren, war das gut so. Falls sie mit ihm reden wollten, wussten sie, wo sie ihn fanden. Sie musste an das besondere Verhältnis zwischen Vätern und Töchtern denken. Sie hatte es vor Augen gehabt, als die Zwillinge klein waren und Duncan sich mit ihnen auf dem Boden wälzte, sie kitzelte und pikste; sie kannte es auch von ihrem eigenen Vater. Bei Söhnen und ihren Vätern war das anders. Dort herrschten ein lebenslanger Wettbewerb, ein Kräftemessen, das Erobern neuer Terrains, die Rückzugsgefechte – der ganz normale Lebenskampf. So zumindest sollte es sein.
Ihr Blick fiel auf Tommys rotes Fahrrad, das er achtlos in die Büsche geworfen hatte.
Nicht bei meinem Sohn. Allein von dem Gedanken wurden ihr die Wangen heiß. Es schnürte ihr die Kehle zu. Bei ihm war nichts ganz normal.
Wie immer merkte sie auch diesmal, wie es ihr in den Augen brannte, bevor sie sich in gespielt strengem Ton innerlich zur Ordnung rief: Megan, du hast sämtliche Tränen geweint, die du hattest. Und außerdem wird alles schon besser mit ihm. Viel besser sogar. Nahezu normal.
Plötzlich sah sie das Kind an ihrer Brust. Schon im Kreißsaal hatte sie gewusst, dass ihr Sohn nicht wie die Zwillinge sein würde, die mit ihren regelmäßigen Essens- und Schlafenszeiten, Schule und Pubertät problemlos in jedes Schema passten, in einen klugen, nachvollziehbaren Plan. Sie hatte seine winzige, strampelnde Gestalt betrachtet, die in einer Mischung aus Instinkt und Staunen versuchte, ihre Brustwarze zu finden, und gewusst, dass er ihr hundertmal das Herz brechen, dann einmal kurz Luft holen und von vorn anfangen würde.
Sie stieg aus und stapfte zur feuchten Hecke, zog das Fahrrad heraus und unterdrückte ein Schimpfwort, das ihr auf der Zunge lag, als Regenwasser auf ihren Rock spritzte. Sie hielt das Lenkrad vorsichtig und versuchte, den Ständer her unterzuklappen, ohne sich die Schuhspitzen aufzuschaben. Sie ließ das Rad auf dem Gehweg stehen.
Und so habe ich ihn, dachte sie, einfach umso mehr geliebt.
Sie lächelte.Ich habe immer gewusst, dass es keine bessere Therapie gibt. Ihn einfach nur noch mehr lieben. Sie starrte auf das Rad. Und ich hatte recht.
Die Ärzte hatten ihre Diagnose ein paar Dutzend Male revidiert, von geistiger Behinderung zu Autismus zu Kindheitsschizophrenie zu Lernschwäche zu – mal sehen, was als Nächstes kam.
Irgendwie war sie stolz darauf, dass er in kein medizinisches Schubfach passte, dass sich jede Expertenmeinung bisher als falsch, verzerrt oder ungenau erwiesen hatte. Es war, als hätte er einfach gesagt, »Rutscht mir alle den Buckel runter«, und wäre auf eigene Faust ins Leben los gelaufen, indem er den einen mitzog und den anderen bremste, um grundsätzlich nicht selbst aus dem Tritt zu kommen.
So hart das auch sein mochte, war sie trotzdem stolz darauf.
Sie drehte sich um und betrachtete ihr Heim. Es war ein Haus im Kolonialstil, wenn auch neu, im besten Viertel von Greenfield, etwa fünfunddreißig Meter von der Straße zurückgesetzt. Es war weder das größte noch das kleinste Haus in der Straße. Mitten auf dem Rasen stand eine mächtige Eiche, und sie erinnerte sich, wie die Zwillinge vor ungefähr fünf, sechs Jahren einen Autoreifen daran aufgehängt hatten, teils, um selbst zu schaukeln, vor allem aber auch, um die Nachbarskinder und ihre Spielkameraden anzulocken. Sie waren immer einen Schritt voraus. Der Reifen hing jetzt reglos in der Abenddämmerung. Wieder dachte sie an Tommy, der dort Stunde um Stunde endlos geschaukelt hatte: Ohne die anderen Kinder oder auch Wind und Regen, Schnee oder sonst irgendetwas zu registrieren, hatte er die Füße in die Luft geschwungen und mit weit geöffneten, wilden Augen in den Himmel gestarrt.
Solche Dinge machen mir keine Angst mehr, dachte sie. Und sie weinte auch nicht mehr über sein exzentrisches Verhalten. Wie damals, als er sich zwei Stunden lang die Zähne putzte. Oder drei Tage lang nichts aß. Als er ein andermal eine Woche lang kein Wort sprach, und dann wieder nicht schlafen konnte, weil er zu viel mitzuteilen hatte, aber nicht über das Vokabular verfügte, um sich auszudrücken. Sie sah auf die Armbanduhr. Er würde bald nach Hause kommen, und sie würde ihm Gerstensuppe mit Fleischklößchen und frische Pizza machen, sein Lieblingsessen. Sie konnten den Verkauf des Halliday-Hauses auch mit Pfi rsicheiscreme feiern. Während sie ihr Menü plante, überschlug sie im Kopf ihre Maklercourtage. Genug für eine Woche Disneyland im Winter. Tommy würde es gefallen, die Zwillinge würden sich beklagen, das sei was für kleine Kinder, und sich dann trotzdem prächtig amüsieren. Duncan würde die Achterbahnfahrten insgeheim genießen, und sie konnte am Pool sitzen und ein bisschen Sonne tanken.
Wieso also nicht, verdammt?
Megan warf einen Blick die Straße hinunter, um nach dem Wagen ihres Vaters Ausschau zu halten. Dreimal die Woche holte er Tommy von der neuen Schule ab. Sie war dem Himmel dankbar, dass der Junge nur zweimal pro Woche mit dem Bus fahren musste, und sie wusste es zu schätzen, dass ihr Vater trotz seiner grauen Haare und seines faltigen Gesichts seinem Namensvetter so viel Spaß bereitete. Sie stürmten mit wilden Plänen ins Haus und überschlugen sich, wenn sie darüber redeten, was der Schultag Neues gebracht hatte. Die beiden Tommys, dachte sie. Die beiden sind sich ähnlicher, als sie ahnen.
Sie öffnete die Haustür und rief: »Mädels, ich bin zu Hause!«
Unüberhörbar murmelten zwei Teenagerstimmen in Telefone.
Für einen Moment überkam Megan die altvertraute Unruhe. Ich wünschte, Tommy wäre schon da, dachte sie. Ich hasse es, wenn er irgendwo unterwegs ist und ich ihn nicht in die Arme nehmen kann, bis er sich beklagt, dass ich ihn erdrücke. Als sie auf der Straße einen Wagen kommen hörte, atmete sie langsam aus. Das sind sie wahrscheinlich, dachte sie erleichtert und ärgerte sich augenblicklich darüber, erleichtert zu sein.
Sie hängte ihren Regenmantel auf und schlüpfte aus den Schuhen. Nein, dachte sie, ich würde nichts ändern. Nicht ein bisschen. Nicht einmal all die Probleme mit Tommy. Ich habe einfach gewaltiges Glück.
Zwei: Die beiden Tommys
Richter Thomas Pearson schritt genau in dem Moment den Flur entlang, als die Schulglocke das Ende des Unterrichts einläutete. Zu beiden Seiten wurden Türen aufgerissen, und der Korridor füllte sich mit Kindern. Ihm schlug eine Woge Kinderstimmen entgegen, und die fröhliche Schar, die ihre Büchertaschen und Regenjacken einsammelte, öffnete sich, um ihn durchzulassen, und schloss sich hinter ihm. Als eine Gruppe Jungen an ihm vorbeistürmte und die Jacken wie die Umhänge von Musketieren schwang, wich er den Kindern tänzelnd aus. Er stieß gegen ein kleines rothaariges Mädchen, dessen Haar in Schleifchen und Zöpfchen um den Kopf flog. »Entschuldigung«, sagte es in wohlerzogener Kindermanier. Er trat beiseite und verneigte sich übertrieben höfl ich. Er fühlte sich, als stünde er im Meeresschaum am Strand und ließe sich das gurgelnde Wasser der letzten Welle um die Beine spülen.
Er winkte einigen Gesichtern zu, die er wiedererkannte, und lächelte die anderen in der Hoffnung an, sich trotz seiner Körpergröße und seiner Altersfalten leicht unter das fröhliche junge Treiben des Schulflurs mischen zu können. Er entdeckte Tommys Klassenzimmer und manövrierte sich durch das Gedränge der Kinder in dessen Richtung. An der Außenseite der Tür war ein bunter Ballon aufgemalt, und auf einem Schild daneben stand: Sonderabteilung A.
Er beugte sich nach unten und dachte, als er den Türknauf drehte, wie viel Freude es ihm machte, seinen Enkel abzuholen, und wie jung er sich dabei fühlte.
Plötzlich flog die Tür von innen auf. Er blieb stehen, und vor ihm tauchte ein brauner Haarschopf auf, danach eine Stirn, und zuletzt spähte ein Paar blaue Augen um die Ecke.
Für Sekunden starrte er in diese Augen und erkannte darin seine verstorbene Frau, dann seine Tochter und schließlich seinen Enkel wieder.
»Hallo, Großvater, ich wusste, dass du’s bist.«
»Hallo, Tommy, ich umgekehrt auch.«
»Ich komm gleich. Kann ich noch mein Bild fertigzeichnen?«
»Wenn du möchtest.«
»Kommst du rein und siehst mir dabei zu?«
»Warum nicht.« Als er den festen Griff seines Enkels spürte, musste er daran denken, wie hartnäckig Kinder an etwas festhalten konnten. Wie sie das Leben mit beiden Händen packten. Die Erwachsenen verkannten das vielfach. Er ließ sich ins Klassenzimmer ziehen. Dort nickte er Tommys Lehrerin zu, die seinen Gruß mit einem Lächeln erwiderte.
»Er will seine Zeichnung fertigmachen«, sagte Richter Pearson.
»Gut. Und es macht Ihnen nichts aus, zu warten?«
»Ganz und gar nicht.«
Tommy ließ seine Hand los und setzte sich auf einen Stuhl an einem langen Tisch. Ein paar andere Kinder zeichneten ebenfalls noch. Alle schienen in ihre Arbeit vertieft. Während Tommy einen roten Kreidestift nahm und emsig malte, blieb sein Großvater stehen und sah zu.
»Was zeichnest du?«
»Brennende Blätter. Und das Feuer breitet sich im Wald aus.«
»Ah.« Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Manchmal ist es irritierend.«
Er drehte sich um und sah Tommys Lehrerin neben sich stehen. »Wie bitte?«
»Es ist irritierend. Wir setzen die Kinder zum Zeichnen oder Malen an den Tisch, und ehe wir’s merken, haben sie eine Schlachtszene zu Papier gebracht oder ein Haus, das niederbrennt, oder ein Erdbeben, unter dem eine ganze Stadt verschüttet wird. Eins der anderen Kinder hat das letzte Woche gezeichnet. Ziemlich drastisch. In allen Einzelheiten. Bis hin zu den Menschen, die in die Spalten stürzen.«
»Ein wenig …« Er sprach den Satz nicht weiter.
»Makaber? Kann man wohl sagen. Aber die meisten Kinder in diesem Zweig hier haben derartige Probleme mit ihren Gefühlen, dass wir sie zu solchen Phantasien ermuntern, wenn es ihnen dabei hilft, sich mit tiefer sitzenden Ängsten auseinanderzusetzen. Eigentlich eine einfache Methode.«
Richter Pearson nickte. »Trotzdem«, meinte er. »Ich wette, Blumen wären Ihnen lieber.«
Die Lehrerin grinste. »Wär mal was anderes.«
Dann fügte sie hinzu: »Würden Sie bitte Mr. und Mrs. Richards sagen, sie möchten mich anrufen, um einen Termin mit mir zu vereinbaren?«
Der Richter sah zu Tommy herunter, der mit seinem Bild beschäftigt war. »Gibt es Probleme?«
Die Lehrerin lächelte. »Liegt wahrscheinlich in der menschlichen Natur, immer das Schlimmste anzunehmen. Im Gegenteil, er hat den ganzen Herbst hindurch große Fortschritte gemacht, wie auch schon im Sommer. Ich möchte, dass er nach den Weihnachtsferien in ein paar Fächern ins reguläre dritte Schuljahr wechselt.«
Sie machte eine kurze Pause. »Oh, das hier wird nach wie vor seine Hauptklasse bleiben, und wahrscheinlich gibt es den einen oder anderen Rückschlag, aber wir denken, wir können ihn ein wenig mehr fordern. Er ist eigentlich sehr intelligent, nur wenn er frustriert ist …«
»… dann gerät er außer Kontrolle«, führte der Richter ihren Satz zu Ende.
»Ja. Daran hat sich nichts geändert. Er kann immer noch ziemlich wild werden. Andererseits hat er seit Wochen nicht mehr diese apathischen Phasen gehabt.«
»Ich weiß«, sagte der Richter. Er musste daran denken, welche Angst er gehabt hatte, als er zum ersten Mal gesehen hatte, wie sein Enkel als kleines Kind einfach nur ins Leere starrte und die Welt um sich herum vergaß.
Der Junge blieb stundenlang in diesem Zustand, ohne zu schlafen, ohne zu sprechen, zu weinen, ja beinahe, ohne zu atmen, als befände er sich an einem anderen Ort. Dann kehrte er ebenso plötzlich zurück und tat, als wäre nichts gewesen.
Er sah aufs Neue Tommy dabei zu, wie er seine Zeichnung mit energischen Strichen in Orange quer über dem Himmel fertigstellte. Was für Angst du uns eingejagt hast. Wo bist du in diesen Momenten?
Wahrscheinlich an einem besseren Ort als hier, dachte er.
»Ich richte es ihnen aus«, versprach er. »Sie werden sich umgehend bei Ihnen melden. Klingt nach einer guten Nachricht.«
»Drücken wir uns die Daumen.«
Sie traten aus dem Schulportal, und einen Moment lang war der Richter darüber erstaunt, wie schnell die Freude über den Schulschluss verflogen war. Auf dem Parkplatz standen nur noch wenige Autos. Ihm schlug eine kalte Brise entgegen, die ihm unter die Jacke, durch den Pullover und das Hemd bis auf die Haut kroch. Er zitterte und machte die Knöpfe zu.
»Schließ den Anorak, Tommy. Meine alten Knochen sagen mir, dass es Winter wird.«
»Was sind alte Knochen, Großvater?«
»Also, du hast junge Knochen, deine Knochen wachsen noch, sie werden größer und kräftiger. Meine Knochen dagegen, die sind alt und müde, weil sie eben schon eine ganze Weile da sind.«
»Gar nicht so lange.«
»Doch, schon fast einundsiebzig Jahre.«
Tommy überlegte einen Moment.
»Das ist wirklich lang. Werden meine so lange wachsen?«
»Wahrscheinlich länger.«
»Und wieso kannst du was mit deinen Knochen spüren? Ich kann den Wind im Gesicht und an den Händen spüren, aber nicht mit meinen Knochen. Wie macht man das?«
Der Richter lachte. »Das merkst du selbst, wenn du älter wirst, wart’s ab.«
»Ich hasse das.«
»Was?«
»Wenn mir jemand sagt, ›wart’s ab‹. Ich will es jetzt gleich wissen.«
Der Richter beugte sich herunter und nahm seinen Enkel bei der Hand. »Du hast absolut recht. Wenn du etwas lernen willst, lass dir nie von jemandem sagen: ›Wart’s ab.‹ Lern’s einfach sofort.«
»Knochen?«
»Na ja, das ist so eine Redensart. Du weißt doch, was das heißt?«
Tommy nickte.
»Aber tatsächlich werden die Knochen mit zunehmendem Alter spröde – steckt nicht mehr so viel Leben drin. Wenn ein kalter Wind bläst, dann friere ich, bis ins Mark. Das tut nicht weh, ich merke es nur stärker, verstehst du?«
»Glaub schon.«
Der Junge ging ein paar Schritte stumm neben seinem Großvater her. Dann sagte er, mehr zu sich selbst: »Gibt eine Menge zu lernen«, und seufzte.
Sein Großvater hätte über diese außergewöhnliche Einsicht beinahe schallend gelacht, doch stattdessen drückte er seinem Enkel nur die Hand ein wenig fester, und durch den grauen Nachmittag liefen sie weiter zum Wagen. Richter Pearson registrierte die moderne Limousine, die neben seinem eigenen Fahrzeug parkte. Als er und Tommy näher kamen, stieg eine Frau aus dem Fond. Sie war groß und drahtig; unter der breiten Krempe ihres Huts quoll leuchtend rotes Haar hervor, und sie trug eine große dunkle Sonnenbrille. Einen Augenblick hatte der Richter ein unbehagliches Gefühl. Wie konnte sie damit sehen? Zögernd ging er der Frau entgegen, die mit forschen Schritten auf ihn und Tommy zukam.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Richter.
Die Frau knöpfte ihre hellbraune Regenjacke auf und griff hinein. Sie lächelte.
»Richter Pearson«, grüßte sie. »Hallo.« Ihr Blick fiel auf seinen Enkel. »Das muss Tommy sein. Also wirklich, deinem Vater und deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich sehe sie buchstäblich vor mir.«
»Verzeihen Sie«, fragte der Richter. »Kennen wir uns?«
»Sie waren Strafrichter, nicht wahr?«, sagte die Frau und ignorierte seine Frage. Sie lächelte weiter.
»Ja, aber …«
»Viele Jahre lang.«
»Ja, aber würden Sie mir bitte …«
»Dann sind Sie zweifellos mit so etwas bestens vertraut.«
Langsam zog sie die Rechte aus der Jacke. Sie hielt einen großen Revolver in der Hand, den sie auf seine Magengegend richtete.
Verwirrt starrte der Richter auf die Waffe. »Das ist übrigens eine Magnum .357«, fuhr die Frau fort. Dem Richter fi el die monotone Sprechweise auf, hinter der er mühsam beherrschte, blanke Wut vermutete. »Ein Schuss damit, und Sie haben ein großes Loch im Bauch. Bei Klein Tommy wäre es riesig. Und ihn würde ich mir als Ersten vornehmen, so dass Sie in Ihren letzten Sekunden begreifen würden, dass Sie für seinen Tod verantwortlich sind. Sorgen Sie also dafür, dass nicht alles zu Ende ist, bevor es richtig angefangen hat. Steigen Sie einfach ruhig in meinen Wagen.«
»Nehmen Sie meinetwegen mich, aber lassen Sie …«, setzte der Richter an. Unwillkürlich stiegen in seinem Kopf endlos viele Fälle auf, die er bearbeitet hatte, Urteile, die er gefällt, Schuldsprüche, die er verkündet hatte, und er fragte sich, bei welchem dieser Verfahren der normale Hass des Angeklagten aus dem Ruder gelaufen und eskaliert war. Er sah die Gesichter von hundert wütenden Männern vor sich, Augen, die Alter und Verbrechen gezeichnet hatten. Doch er konnte sich an keine Frau erinnern, schon gar nicht an die Frau, die ihm den Lauf des Revolvers in die Rippen drückte.
»O nein, nein, nein«, sagte sie, »auf den Jungen können wir nicht verzichten, er ist der Schlüssel zu dem Ganzen.«
Sie gestikulierte mit der Waffe.
»Hübsch langsam. Bleiben Sie so ruhig wie ich. Keine plötzlichen Bewegungen, Richter Pearson. Denken Sie daran, wie dumm es wäre, wenn Sie beide hier sterben würden. Denken Sie nur, was Sie Ihrem Enkel antäten. Sie würden ihm das Leben stehlen. Natürlich sind Sie so etwas gewöhnt. Sie haben den Leuten Jahre gestohlen, ohne mit der Wimper zu zucken, Sie Schwein! Aber hier – lassen Sie es einfach bleiben.«
Er sah, dass jemand die Wagentür aufgestoßen hatte und dass drinnen Leute saßen
Tausend Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Schrei! Ruf um Hilfe! Wehr dich!
Er tat nichts dergleichen.
»Tu, was sie sagt, Tommy«, forderte er seinen Enkel auf. »Keine Angst, ich bin bei dir.«
Zwei kräftige Hände packten den Richter und warfen ihn mit einem Ruck auf den Boden des Wagens.
Einen Moment lang roch er Schuhcreme und Schmutz, vermischt mit dem beißenden Geruch von Angstschweiß. Er sah Jeans und Stiefel, dann zwängte ihm jemand einen schwarzen Stoffsack über den Kopf, in dem er nur schwer Luft bekam. Er musste an die Kapuze denken, die ein Henker seinen Opfern überstülpt, und er fing an, sich zu wehren, doch ein paar Hände drückten ihn augenblicklich zu Boden. Er spürte, wie Tommys leichter Körper auf ihm landete, und er ächzte. Er versuchte, ihm etwas zu sagen, doch statt der beruhigenden Worte – ›hab keine Angst, ich bin bei dir‹ – brachte er nur ein Stöhnen heraus.
Er hörte eine ruhige, doch bissige Männerstimme: »Will kommen bei der Revolution. Und jetzt gute Nacht, alter Mann.«
Etwas Schweres traf ihn an der Schläfe, es wurde schwarz um ihn, und er verlor das Bewusstsein.
Copyright © 1989 by John Katzenbach
Copyright © 2009 für die deutschsprachige Ausgabe bei Knaur Taschenbuch.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Als sie später bei ihr im Büro das Angebotsformular unterzeichneten, hatten sie immer noch lebhaft ihre Umbaupläne diskutiert. Megan hatte sich daran beteiligt und ihnen Architekten, Baufi rmen und Dekorateure genannt, während sie ihren Scheck entgegennahm. Sie hatte nicht daran gezweifelt, dass die Verkäufer das Angebot akzeptieren und die Wrights das Haus in ein Schmuckstück verwandeln würden. Sie verfügten über das nötige Kleingeld wie auch über Zeit und Phantasie.
Heute Morgen hatte sich Megans Zuversicht in Form eines unterzeichneten Kaufvertrags, der auf ihrem Schreibtisch landete, bestätigt.
»Also«, sagte sie laut zu sich selbst, als sie in ihre Einfahrt schwenkte. »Nicht schlecht, meine Liebe.«
Wie gewöhnlich hatten die Zwillinge ihren roten Sportwagen so geparkt, dass er teilweise den Weg zum Haus ver sperrte. Kaum waren sie aus der Highschool zurück, hingen sie wahrscheinlich schon am Telefon – Lauren an einem, Karen nebenan am zweiten, allerdings mit dem Stuhl in der offenen Tür, so dass sie sich, während sie endlos in ihrem Jargon plapperten, gegenseitig sehen konnten. Als Zugeständnis an die Teenagerbedürfnisse hatte jede jetzt eine eigene Leitung – ein bescheidener Preis dafür, nicht mehr alle fünf Minuten ans Telefon springen zu müssen.
Sie schmunzelte und sah auf die Uhr. Duncan würde erst in einer Stunde von der Bank zurückkommen. Falls er keine Überstunden machen musste. Sie nahm sich vor, mit ihm darüber zu reden, dass diese Zeit vor allem Tommy abging. Die Mädchen lebten in ihrer eigenen Welt, und solange kein Alkohol, Drogen und die falsche Art von Jungen im Spiel waren, war das gut so. Falls sie mit ihm reden wollten, wussten sie, wo sie ihn fanden. Sie musste an das besondere Verhältnis zwischen Vätern und Töchtern denken. Sie hatte es vor Augen gehabt, als die Zwillinge klein waren und Duncan sich mit ihnen auf dem Boden wälzte, sie kitzelte und pikste; sie kannte es auch von ihrem eigenen Vater. Bei Söhnen und ihren Vätern war das anders. Dort herrschten ein lebenslanger Wettbewerb, ein Kräftemessen, das Erobern neuer Terrains, die Rückzugsgefechte – der ganz normale Lebenskampf. So zumindest sollte es sein.
Ihr Blick fiel auf Tommys rotes Fahrrad, das er achtlos in die Büsche geworfen hatte.
Nicht bei meinem Sohn. Allein von dem Gedanken wurden ihr die Wangen heiß. Es schnürte ihr die Kehle zu. Bei ihm war nichts ganz normal.
Wie immer merkte sie auch diesmal, wie es ihr in den Augen brannte, bevor sie sich in gespielt strengem Ton innerlich zur Ordnung rief: Megan, du hast sämtliche Tränen geweint, die du hattest. Und außerdem wird alles schon besser mit ihm. Viel besser sogar. Nahezu normal.
Plötzlich sah sie das Kind an ihrer Brust. Schon im Kreißsaal hatte sie gewusst, dass ihr Sohn nicht wie die Zwillinge sein würde, die mit ihren regelmäßigen Essens- und Schlafenszeiten, Schule und Pubertät problemlos in jedes Schema passten, in einen klugen, nachvollziehbaren Plan. Sie hatte seine winzige, strampelnde Gestalt betrachtet, die in einer Mischung aus Instinkt und Staunen versuchte, ihre Brustwarze zu finden, und gewusst, dass er ihr hundertmal das Herz brechen, dann einmal kurz Luft holen und von vorn anfangen würde.
Sie stieg aus und stapfte zur feuchten Hecke, zog das Fahrrad heraus und unterdrückte ein Schimpfwort, das ihr auf der Zunge lag, als Regenwasser auf ihren Rock spritzte. Sie hielt das Lenkrad vorsichtig und versuchte, den Ständer her unterzuklappen, ohne sich die Schuhspitzen aufzuschaben. Sie ließ das Rad auf dem Gehweg stehen.
Und so habe ich ihn, dachte sie, einfach umso mehr geliebt.
Sie lächelte.Ich habe immer gewusst, dass es keine bessere Therapie gibt. Ihn einfach nur noch mehr lieben. Sie starrte auf das Rad. Und ich hatte recht.
Die Ärzte hatten ihre Diagnose ein paar Dutzend Male revidiert, von geistiger Behinderung zu Autismus zu Kindheitsschizophrenie zu Lernschwäche zu – mal sehen, was als Nächstes kam.
Irgendwie war sie stolz darauf, dass er in kein medizinisches Schubfach passte, dass sich jede Expertenmeinung bisher als falsch, verzerrt oder ungenau erwiesen hatte. Es war, als hätte er einfach gesagt, »Rutscht mir alle den Buckel runter«, und wäre auf eigene Faust ins Leben los gelaufen, indem er den einen mitzog und den anderen bremste, um grundsätzlich nicht selbst aus dem Tritt zu kommen.
So hart das auch sein mochte, war sie trotzdem stolz darauf.
Sie drehte sich um und betrachtete ihr Heim. Es war ein Haus im Kolonialstil, wenn auch neu, im besten Viertel von Greenfield, etwa fünfunddreißig Meter von der Straße zurückgesetzt. Es war weder das größte noch das kleinste Haus in der Straße. Mitten auf dem Rasen stand eine mächtige Eiche, und sie erinnerte sich, wie die Zwillinge vor ungefähr fünf, sechs Jahren einen Autoreifen daran aufgehängt hatten, teils, um selbst zu schaukeln, vor allem aber auch, um die Nachbarskinder und ihre Spielkameraden anzulocken. Sie waren immer einen Schritt voraus. Der Reifen hing jetzt reglos in der Abenddämmerung. Wieder dachte sie an Tommy, der dort Stunde um Stunde endlos geschaukelt hatte: Ohne die anderen Kinder oder auch Wind und Regen, Schnee oder sonst irgendetwas zu registrieren, hatte er die Füße in die Luft geschwungen und mit weit geöffneten, wilden Augen in den Himmel gestarrt.
Solche Dinge machen mir keine Angst mehr, dachte sie. Und sie weinte auch nicht mehr über sein exzentrisches Verhalten. Wie damals, als er sich zwei Stunden lang die Zähne putzte. Oder drei Tage lang nichts aß. Als er ein andermal eine Woche lang kein Wort sprach, und dann wieder nicht schlafen konnte, weil er zu viel mitzuteilen hatte, aber nicht über das Vokabular verfügte, um sich auszudrücken. Sie sah auf die Armbanduhr. Er würde bald nach Hause kommen, und sie würde ihm Gerstensuppe mit Fleischklößchen und frische Pizza machen, sein Lieblingsessen. Sie konnten den Verkauf des Halliday-Hauses auch mit Pfi rsicheiscreme feiern. Während sie ihr Menü plante, überschlug sie im Kopf ihre Maklercourtage. Genug für eine Woche Disneyland im Winter. Tommy würde es gefallen, die Zwillinge würden sich beklagen, das sei was für kleine Kinder, und sich dann trotzdem prächtig amüsieren. Duncan würde die Achterbahnfahrten insgeheim genießen, und sie konnte am Pool sitzen und ein bisschen Sonne tanken.
Wieso also nicht, verdammt?
Megan warf einen Blick die Straße hinunter, um nach dem Wagen ihres Vaters Ausschau zu halten. Dreimal die Woche holte er Tommy von der neuen Schule ab. Sie war dem Himmel dankbar, dass der Junge nur zweimal pro Woche mit dem Bus fahren musste, und sie wusste es zu schätzen, dass ihr Vater trotz seiner grauen Haare und seines faltigen Gesichts seinem Namensvetter so viel Spaß bereitete. Sie stürmten mit wilden Plänen ins Haus und überschlugen sich, wenn sie darüber redeten, was der Schultag Neues gebracht hatte. Die beiden Tommys, dachte sie. Die beiden sind sich ähnlicher, als sie ahnen.
Sie öffnete die Haustür und rief: »Mädels, ich bin zu Hause!«
Unüberhörbar murmelten zwei Teenagerstimmen in Telefone.
Für einen Moment überkam Megan die altvertraute Unruhe. Ich wünschte, Tommy wäre schon da, dachte sie. Ich hasse es, wenn er irgendwo unterwegs ist und ich ihn nicht in die Arme nehmen kann, bis er sich beklagt, dass ich ihn erdrücke. Als sie auf der Straße einen Wagen kommen hörte, atmete sie langsam aus. Das sind sie wahrscheinlich, dachte sie erleichtert und ärgerte sich augenblicklich darüber, erleichtert zu sein.
Sie hängte ihren Regenmantel auf und schlüpfte aus den Schuhen. Nein, dachte sie, ich würde nichts ändern. Nicht ein bisschen. Nicht einmal all die Probleme mit Tommy. Ich habe einfach gewaltiges Glück.
Zwei: Die beiden Tommys
Richter Thomas Pearson schritt genau in dem Moment den Flur entlang, als die Schulglocke das Ende des Unterrichts einläutete. Zu beiden Seiten wurden Türen aufgerissen, und der Korridor füllte sich mit Kindern. Ihm schlug eine Woge Kinderstimmen entgegen, und die fröhliche Schar, die ihre Büchertaschen und Regenjacken einsammelte, öffnete sich, um ihn durchzulassen, und schloss sich hinter ihm. Als eine Gruppe Jungen an ihm vorbeistürmte und die Jacken wie die Umhänge von Musketieren schwang, wich er den Kindern tänzelnd aus. Er stieß gegen ein kleines rothaariges Mädchen, dessen Haar in Schleifchen und Zöpfchen um den Kopf flog. »Entschuldigung«, sagte es in wohlerzogener Kindermanier. Er trat beiseite und verneigte sich übertrieben höfl ich. Er fühlte sich, als stünde er im Meeresschaum am Strand und ließe sich das gurgelnde Wasser der letzten Welle um die Beine spülen.
Er winkte einigen Gesichtern zu, die er wiedererkannte, und lächelte die anderen in der Hoffnung an, sich trotz seiner Körpergröße und seiner Altersfalten leicht unter das fröhliche junge Treiben des Schulflurs mischen zu können. Er entdeckte Tommys Klassenzimmer und manövrierte sich durch das Gedränge der Kinder in dessen Richtung. An der Außenseite der Tür war ein bunter Ballon aufgemalt, und auf einem Schild daneben stand: Sonderabteilung A.
Er beugte sich nach unten und dachte, als er den Türknauf drehte, wie viel Freude es ihm machte, seinen Enkel abzuholen, und wie jung er sich dabei fühlte.
Plötzlich flog die Tür von innen auf. Er blieb stehen, und vor ihm tauchte ein brauner Haarschopf auf, danach eine Stirn, und zuletzt spähte ein Paar blaue Augen um die Ecke.
Für Sekunden starrte er in diese Augen und erkannte darin seine verstorbene Frau, dann seine Tochter und schließlich seinen Enkel wieder.
»Hallo, Großvater, ich wusste, dass du’s bist.«
»Hallo, Tommy, ich umgekehrt auch.«
»Ich komm gleich. Kann ich noch mein Bild fertigzeichnen?«
»Wenn du möchtest.«
»Kommst du rein und siehst mir dabei zu?«
»Warum nicht.« Als er den festen Griff seines Enkels spürte, musste er daran denken, wie hartnäckig Kinder an etwas festhalten konnten. Wie sie das Leben mit beiden Händen packten. Die Erwachsenen verkannten das vielfach. Er ließ sich ins Klassenzimmer ziehen. Dort nickte er Tommys Lehrerin zu, die seinen Gruß mit einem Lächeln erwiderte.
»Er will seine Zeichnung fertigmachen«, sagte Richter Pearson.
»Gut. Und es macht Ihnen nichts aus, zu warten?«
»Ganz und gar nicht.«
Tommy ließ seine Hand los und setzte sich auf einen Stuhl an einem langen Tisch. Ein paar andere Kinder zeichneten ebenfalls noch. Alle schienen in ihre Arbeit vertieft. Während Tommy einen roten Kreidestift nahm und emsig malte, blieb sein Großvater stehen und sah zu.
»Was zeichnest du?«
»Brennende Blätter. Und das Feuer breitet sich im Wald aus.«
»Ah.« Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Manchmal ist es irritierend.«
Er drehte sich um und sah Tommys Lehrerin neben sich stehen. »Wie bitte?«
»Es ist irritierend. Wir setzen die Kinder zum Zeichnen oder Malen an den Tisch, und ehe wir’s merken, haben sie eine Schlachtszene zu Papier gebracht oder ein Haus, das niederbrennt, oder ein Erdbeben, unter dem eine ganze Stadt verschüttet wird. Eins der anderen Kinder hat das letzte Woche gezeichnet. Ziemlich drastisch. In allen Einzelheiten. Bis hin zu den Menschen, die in die Spalten stürzen.«
»Ein wenig …« Er sprach den Satz nicht weiter.
»Makaber? Kann man wohl sagen. Aber die meisten Kinder in diesem Zweig hier haben derartige Probleme mit ihren Gefühlen, dass wir sie zu solchen Phantasien ermuntern, wenn es ihnen dabei hilft, sich mit tiefer sitzenden Ängsten auseinanderzusetzen. Eigentlich eine einfache Methode.«
Richter Pearson nickte. »Trotzdem«, meinte er. »Ich wette, Blumen wären Ihnen lieber.«
Die Lehrerin grinste. »Wär mal was anderes.«
Dann fügte sie hinzu: »Würden Sie bitte Mr. und Mrs. Richards sagen, sie möchten mich anrufen, um einen Termin mit mir zu vereinbaren?«
Der Richter sah zu Tommy herunter, der mit seinem Bild beschäftigt war. »Gibt es Probleme?«
Die Lehrerin lächelte. »Liegt wahrscheinlich in der menschlichen Natur, immer das Schlimmste anzunehmen. Im Gegenteil, er hat den ganzen Herbst hindurch große Fortschritte gemacht, wie auch schon im Sommer. Ich möchte, dass er nach den Weihnachtsferien in ein paar Fächern ins reguläre dritte Schuljahr wechselt.«
Sie machte eine kurze Pause. »Oh, das hier wird nach wie vor seine Hauptklasse bleiben, und wahrscheinlich gibt es den einen oder anderen Rückschlag, aber wir denken, wir können ihn ein wenig mehr fordern. Er ist eigentlich sehr intelligent, nur wenn er frustriert ist …«
»… dann gerät er außer Kontrolle«, führte der Richter ihren Satz zu Ende.
»Ja. Daran hat sich nichts geändert. Er kann immer noch ziemlich wild werden. Andererseits hat er seit Wochen nicht mehr diese apathischen Phasen gehabt.«
»Ich weiß«, sagte der Richter. Er musste daran denken, welche Angst er gehabt hatte, als er zum ersten Mal gesehen hatte, wie sein Enkel als kleines Kind einfach nur ins Leere starrte und die Welt um sich herum vergaß.
Der Junge blieb stundenlang in diesem Zustand, ohne zu schlafen, ohne zu sprechen, zu weinen, ja beinahe, ohne zu atmen, als befände er sich an einem anderen Ort. Dann kehrte er ebenso plötzlich zurück und tat, als wäre nichts gewesen.
Er sah aufs Neue Tommy dabei zu, wie er seine Zeichnung mit energischen Strichen in Orange quer über dem Himmel fertigstellte. Was für Angst du uns eingejagt hast. Wo bist du in diesen Momenten?
Wahrscheinlich an einem besseren Ort als hier, dachte er.
»Ich richte es ihnen aus«, versprach er. »Sie werden sich umgehend bei Ihnen melden. Klingt nach einer guten Nachricht.«
»Drücken wir uns die Daumen.«
Sie traten aus dem Schulportal, und einen Moment lang war der Richter darüber erstaunt, wie schnell die Freude über den Schulschluss verflogen war. Auf dem Parkplatz standen nur noch wenige Autos. Ihm schlug eine kalte Brise entgegen, die ihm unter die Jacke, durch den Pullover und das Hemd bis auf die Haut kroch. Er zitterte und machte die Knöpfe zu.
»Schließ den Anorak, Tommy. Meine alten Knochen sagen mir, dass es Winter wird.«
»Was sind alte Knochen, Großvater?«
»Also, du hast junge Knochen, deine Knochen wachsen noch, sie werden größer und kräftiger. Meine Knochen dagegen, die sind alt und müde, weil sie eben schon eine ganze Weile da sind.«
»Gar nicht so lange.«
»Doch, schon fast einundsiebzig Jahre.«
Tommy überlegte einen Moment.
»Das ist wirklich lang. Werden meine so lange wachsen?«
»Wahrscheinlich länger.«
»Und wieso kannst du was mit deinen Knochen spüren? Ich kann den Wind im Gesicht und an den Händen spüren, aber nicht mit meinen Knochen. Wie macht man das?«
Der Richter lachte. »Das merkst du selbst, wenn du älter wirst, wart’s ab.«
»Ich hasse das.«
»Was?«
»Wenn mir jemand sagt, ›wart’s ab‹. Ich will es jetzt gleich wissen.«
Der Richter beugte sich herunter und nahm seinen Enkel bei der Hand. »Du hast absolut recht. Wenn du etwas lernen willst, lass dir nie von jemandem sagen: ›Wart’s ab.‹ Lern’s einfach sofort.«
»Knochen?«
»Na ja, das ist so eine Redensart. Du weißt doch, was das heißt?«
Tommy nickte.
»Aber tatsächlich werden die Knochen mit zunehmendem Alter spröde – steckt nicht mehr so viel Leben drin. Wenn ein kalter Wind bläst, dann friere ich, bis ins Mark. Das tut nicht weh, ich merke es nur stärker, verstehst du?«
»Glaub schon.«
Der Junge ging ein paar Schritte stumm neben seinem Großvater her. Dann sagte er, mehr zu sich selbst: »Gibt eine Menge zu lernen«, und seufzte.
Sein Großvater hätte über diese außergewöhnliche Einsicht beinahe schallend gelacht, doch stattdessen drückte er seinem Enkel nur die Hand ein wenig fester, und durch den grauen Nachmittag liefen sie weiter zum Wagen. Richter Pearson registrierte die moderne Limousine, die neben seinem eigenen Fahrzeug parkte. Als er und Tommy näher kamen, stieg eine Frau aus dem Fond. Sie war groß und drahtig; unter der breiten Krempe ihres Huts quoll leuchtend rotes Haar hervor, und sie trug eine große dunkle Sonnenbrille. Einen Augenblick hatte der Richter ein unbehagliches Gefühl. Wie konnte sie damit sehen? Zögernd ging er der Frau entgegen, die mit forschen Schritten auf ihn und Tommy zukam.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Richter.
Die Frau knöpfte ihre hellbraune Regenjacke auf und griff hinein. Sie lächelte.
»Richter Pearson«, grüßte sie. »Hallo.« Ihr Blick fiel auf seinen Enkel. »Das muss Tommy sein. Also wirklich, deinem Vater und deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich sehe sie buchstäblich vor mir.«
»Verzeihen Sie«, fragte der Richter. »Kennen wir uns?«
»Sie waren Strafrichter, nicht wahr?«, sagte die Frau und ignorierte seine Frage. Sie lächelte weiter.
»Ja, aber …«
»Viele Jahre lang.«
»Ja, aber würden Sie mir bitte …«
»Dann sind Sie zweifellos mit so etwas bestens vertraut.«
Langsam zog sie die Rechte aus der Jacke. Sie hielt einen großen Revolver in der Hand, den sie auf seine Magengegend richtete.
Verwirrt starrte der Richter auf die Waffe. »Das ist übrigens eine Magnum .357«, fuhr die Frau fort. Dem Richter fi el die monotone Sprechweise auf, hinter der er mühsam beherrschte, blanke Wut vermutete. »Ein Schuss damit, und Sie haben ein großes Loch im Bauch. Bei Klein Tommy wäre es riesig. Und ihn würde ich mir als Ersten vornehmen, so dass Sie in Ihren letzten Sekunden begreifen würden, dass Sie für seinen Tod verantwortlich sind. Sorgen Sie also dafür, dass nicht alles zu Ende ist, bevor es richtig angefangen hat. Steigen Sie einfach ruhig in meinen Wagen.«
»Nehmen Sie meinetwegen mich, aber lassen Sie …«, setzte der Richter an. Unwillkürlich stiegen in seinem Kopf endlos viele Fälle auf, die er bearbeitet hatte, Urteile, die er gefällt, Schuldsprüche, die er verkündet hatte, und er fragte sich, bei welchem dieser Verfahren der normale Hass des Angeklagten aus dem Ruder gelaufen und eskaliert war. Er sah die Gesichter von hundert wütenden Männern vor sich, Augen, die Alter und Verbrechen gezeichnet hatten. Doch er konnte sich an keine Frau erinnern, schon gar nicht an die Frau, die ihm den Lauf des Revolvers in die Rippen drückte.
»O nein, nein, nein«, sagte sie, »auf den Jungen können wir nicht verzichten, er ist der Schlüssel zu dem Ganzen.«
Sie gestikulierte mit der Waffe.
»Hübsch langsam. Bleiben Sie so ruhig wie ich. Keine plötzlichen Bewegungen, Richter Pearson. Denken Sie daran, wie dumm es wäre, wenn Sie beide hier sterben würden. Denken Sie nur, was Sie Ihrem Enkel antäten. Sie würden ihm das Leben stehlen. Natürlich sind Sie so etwas gewöhnt. Sie haben den Leuten Jahre gestohlen, ohne mit der Wimper zu zucken, Sie Schwein! Aber hier – lassen Sie es einfach bleiben.«
Er sah, dass jemand die Wagentür aufgestoßen hatte und dass drinnen Leute saßen
Tausend Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Schrei! Ruf um Hilfe! Wehr dich!
Er tat nichts dergleichen.
»Tu, was sie sagt, Tommy«, forderte er seinen Enkel auf. »Keine Angst, ich bin bei dir.«
Zwei kräftige Hände packten den Richter und warfen ihn mit einem Ruck auf den Boden des Wagens.
Einen Moment lang roch er Schuhcreme und Schmutz, vermischt mit dem beißenden Geruch von Angstschweiß. Er sah Jeans und Stiefel, dann zwängte ihm jemand einen schwarzen Stoffsack über den Kopf, in dem er nur schwer Luft bekam. Er musste an die Kapuze denken, die ein Henker seinen Opfern überstülpt, und er fing an, sich zu wehren, doch ein paar Hände drückten ihn augenblicklich zu Boden. Er spürte, wie Tommys leichter Körper auf ihm landete, und er ächzte. Er versuchte, ihm etwas zu sagen, doch statt der beruhigenden Worte – ›hab keine Angst, ich bin bei dir‹ – brachte er nur ein Stöhnen heraus.
Er hörte eine ruhige, doch bissige Männerstimme: »Will kommen bei der Revolution. Und jetzt gute Nacht, alter Mann.«
Etwas Schweres traf ihn an der Schläfe, es wurde schwarz um ihn, und er verlor das Bewusstsein.
Copyright © 1989 by John Katzenbach
Copyright © 2009 für die deutschsprachige Ausgabe bei Knaur Taschenbuch.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
... weniger
Autoren-Porträt von John Katzenbach
John Katzenbach, geboren 1950, war ursprünglich Gerichtsreporter für den »Miami Herald« und die »Miami News«. Bei Droemer Knaur sind inzwischen zahlreiche Kriminalromane von ihm erschienen, darunter die Bestseller »Die Anstalt«, »Der Patient«, »Der Professor« und »Der Bruder". Zweimal war Katzenbach für den Edgar Award, den renommiertesten Krimipreis der USA, nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Amherst im Westen des US-Bundesstaates Massachusetts.Weitere Informationen unter www.john-katzenbach.de und www.johnkatzenbach.com
Bibliographische Angaben
- Autor: John Katzenbach
- 2009, 6. Aufl., 508 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Anke Kreutzer, Eberhard Kreutzer
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426503573
- ISBN-13: 9783426503577
- Erscheinungsdatum: 11.05.2009
Kommentare zu "Die Rache"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Rache“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Rache".
Kommentar verfassen