S. Fischer Geschichte / Die Neue Geschichte
Eine Einführung in 16 Kapiteln. Mit e. Vorw. v. Jürgen Osterhammel
Global in der Perspektive, unvoreingenommen im Herangehen, narrativ in der Vermittlung: So geht Geschichtsschreibung heute.
Die Zeiten, in denen für Historiker der westlich-europäische Weg das Mass aller Beschäftigung mit Geschichte war, sind vorbei. Auf...
Die Zeiten, in denen für Historiker der westlich-europäische Weg das Mass aller Beschäftigung mit Geschichte war, sind vorbei. Auf...
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Klappentext zu „S. Fischer Geschichte / Die Neue Geschichte “
Global in der Perspektive, unvoreingenommen im Herangehen, narrativ in der Vermittlung: So geht Geschichtsschreibung heute.Die Zeiten, in denen für Historiker der westlich-europäische Weg das Mass aller Beschäftigung mit Geschichte war, sind vorbei. Auf der ganzen Welt arbeiten Historiker heute an einer neuen Art, Geschichte im globalen Kontext zu denken, zu verstehen, zu schreiben. In 16 Kapiteln - von Wirtschaft, über Macht, Gender und Kommunikation bis zu Umwelt, Religion und Gefühlen - legen international führende Gelehrte dar, welche Herausforderungen und Bereicherungen der Perspektivenwechsel für die Geschichtswissenschaften bereithält. Eine höchst anregende und abwechslungsreiche Einführung für alle, die sich im 21. Jahrhundert zeitgemäss mit Geschichte befassen wollen.
Mit Beiträgen u.a. von Christopher Clark, Peter Burke, Dorothy Ko, Eiko Ikegami, Anthony Grafton, Pat Thane, Christopher Bayly, Ulinka Rublack, Bin Wong und Kenneth Pomeranz.
»Ausgezeichnete Autoren stellen die interessantesten Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte vor.«
Times Literary Supplement
Lese-Probe zu „S. Fischer Geschichte / Die Neue Geschichte “
Die Neue Geschichte von Ulinka RublackAus dem Englischen von Ursel Schäfer
Einleitung
Im 20. Jahrhundert wurden traditionelle Vorstellungen von Objektivität und Narrative über die Exzeptionalität des Westens nachdrücklich in Frage gestellt. Heißt dies, dass unser Verhältnis zur Vergangenheit sowie Inhalt und Zweck von Geschichte heute nicht mehr so selbstverständlich sind wie früher? Bedeutet Geschichtsschreibung wirklich nicht mehr als »wir, einfach nur damals«, wenn Historiker ihre eigenen Anliegen in die Vergangenheit projizieren? Wie es aussieht, haben die Historiker vielfach frühere »Gewissheiten« aufgegeben, die irrigerweise den Eindruck erweckt hatten, dass es für unser Verständnis der Vergangenheit feste Anknüpfungspunkte gibt. Die beunruhigende Frage bleibt: Was soll an deren Stelle treten? Nur wenige werden heute John Seeleys berühmtem Diktum aus dem 19. Jahrhundert zustimmen: »Geschichte ist vergangene Politik, und vergangene Politik ist gegenwärtige Geschichte.« Aber wem gefällt umgekehrt die forsche Antwort des Postmodernisten Michel Foucault, der 1979 in einem Interview sagte: »Ich schreibe so etwas wie historische Romane«? Foucault gestand gerne zu, Historiker könnten durchaus die Meinung vertreten, seine Geschichte des Wahnsinns sei falsch. Es sei eine voreingenommene, sehr zugespitzte Darstellung, die ziemlich sicher manche Einwände übersehen habe. Die Wahrheit seiner Bücher aber liege in den politischen Wirkungen in seiner eigenen und in zukünftigen Gesellschaften. »Ich hoffe«, schloss er, »meine Bücher finden ihre Wahrheit, wenn sie geschrieben sind.«1 Das erfüllte Foucault mit messianischem Bewusstsein, als er die Geschichte als vergangene und zukünftige Politik radikal neu schrieb.
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Wie sollen wir mit dem Verhältnis zwischen Geschichte, Realität und Wahrheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts umgehen, das uns so zu schaffen macht? Die Geschichte erscheint nicht nur als ein tröstlicher Begleiter, erhellender Informant oder als Quelle, die kritisch neu gelesen wer den muss, sondern auch als ein unheimlicher Schatten, mit dem wir oft ringen und den wir abzuschütteln versuchen, während er uns beharrlich folgt und uns in weitere Tragödien und Katastrophen locken will. Wohin bewegen wir uns mit diesem Begleiter, und welche neuen Fragen stellen wir zu Vergangenem, das überwältigend und zugleich schwer fassbar, verstörend fremd und doch allzu vertraut erscheinen mag? Wie kann Geschichtswissenschaft heute auf die Anliegen von zunehmend mobilen und miteinander vernetzten Menschen reagieren, die umgetrieben werden von Problemen wie Ungleichheit, Konflikt und Umweltzerstörung? Wie greift sie breite Fragestellungen zu globalen Themen in ernsthafter und differenzierter Weise auf, ohne einmal mehr gefällige Meta-Erzählungen von unilinearem Wandel und festgefügten Identitäten zu produzieren oder diese einfach durch Relativismen von der Stange zu ersetzen?
Diese Einführung ist nur ein Buch, aber es bietet sich als Führer an, um sich durch Geschichte inspirieren zu lassen und neu darüber nachzudenken. Durch Beschreibung, Erklärung und Analyse zeigt es die wichtigsten Richtungen und Themen der gegenwärtigen Geschichtsschreibung auf, die uns voranbringen sollen. Es gibt eine Einschätzung, wie führende Vertreter des Faches gegenwärtig ihre eigene Forschung sehen und wie sie Themenbereiche angehen, die eine wichtige Rolle dabei spielen, wie Menschen im 21. Jahrhundert sich selbst historisch verorten. Viele Themenbereiche haben sich erst in den letzten 40 Jahren als neue, spannende Unterdisziplinen der Geschichtswissenschaft entwickelt: Kommunikation, Geschlecht, Emotionen, Ethnizität, Naturwissenschaft und Umwelt, um nur einige Beispiele zu nennen. Daneben gibt es eine Reihe von Kernthemen, die wie eh und je für das Verständnis von Gesellschaften wesentlich sind: Handel, Macht, Religion, Ideen, Bevölkerung. Diese Themen werden im zweiten Teil der Einführung behandelt, als Weiterführung der vier einleitenden Kapitel des ersten Teils: Geschichte und Geschichtswissenschaftler, der Status des historischen Wissens und die Rolle, die Kausalität in der historischen Erklärung spielt. Ich habe die Autoren eingeladen, sich anspruchsvoll informativ, solide und kritisch mit großen Themen über Raum und Zeit hinweg auseinanderzusetzen, aber auch mit theoretischen Aspekten, die uns helfen, Kategorien zu hinterfragen, in denen wir gegenwärtig Geschichte denken. Statt zwangsläufig knappe historiographische Überblicke zu präsentieren, sollten die Autoren sich die Freiheit nehmen und prägnante, anregende Aufsätze zu ihrem jeweiligen Thema schreiben und dabei die historischen Arbeiten einbeziehen, die sie für besonders wichtig hielten. Dies geschah, im Gegensatz zu Foucaults Äußerung von 1979, in voller Anerkennung von Nuancen, Lücken und Fragezeichen, was Beweismittel und Interpretationen als das zentrale Handwerkszeug des Historikers anbetrifft, während gleichzeitig an dem Ziel festgehalten wurde, einer nostalgischen oder naiv fortschrittsgläubigen Sicht auf die Vergangenheit entgegenzuwirken. Herausgekommen ist, so hoffe ich, ein lebendiges und fruchtbares intellektuelles Abenteuer.
Dieser Band kann weder eine »vollständige« Einführung sein noch eine Ansammlung von Autoren, die mit einer Stimme sprechen und das Gleiche tun. Trotzdem hat er ein einheitliches Ziel: Er soll einen wichtigen Aufbruch in einem Genre bezeichnen, das bisher von Geschichten über Geschichte geprägt ist, die überwiegend westlich orientiert sind. Ein solches Verhältnis zur Vergangenheit passt schlecht in unsere Welt, und es spiegelt auch die Vielfalt der Perspektiven und Kompetenzen innerhalb der Profession nicht wider. Deshalb propagiert diese Einführung entschieden eine Form der Geschichtsschreibung, die globale Verbindungen sucht und den intensiven Dialog zwischen Historikern fördert, die auf die Geschichte bestimmter Kontinente spezialisiert sind. Sie will nicht, um Niall Fergusons spöttische Bemerkung zu zitieren, das Reich der Ashanti mit dem britischen Empire vergleichen.2 Aber wir müssen von dem heute sehr viel ausgeprägteren Bewusstsein ausgehen, dass die »westlichen« Leistungen und die »modernen Errungenschaften« oftmals nicht so einzigartig waren, wie sie früher dargestellt wurden, und dass die Geschichte von Verbindungen und multizentrischen Entwicklungen in unterschiedlichen Kulturen von entscheidender Bedeutung für ein angemessenes, kritisches Verständnis der Vergangenheit ist. Eine Einführung in die Geschichte darf heute nicht mehr eine Einführung in die westliche Geschichte sein, die den Westen als universelles Modell nimmt und die Vergangenheit aus diesem Blickwinkel darstellt. Doch erstaunlicherweise gibt es bisher kein ähnliches Buch mit vergleichenden Erörterungen von Themen und Konzepten, die uns alle auf dieser Welt betreffen. Deshalb versteht man diese Einführung am besten als ein Forschungsvorhaben, und ich lade die Leser ein, sich zusammen mit den Autoren der Beiträge darauf einzulassen, die allesamt ausgesprochen originelle Historiker mit unterschiedlichen Spezialgebieten sind - von Afrika bis zur Karibik, von China und Japan bis Indien, von Europa bis Lateinamerika.
Im Januar 1550 schickte Sebastian Münster seine bahnbrechende Kosmographie mit einer eleganten Entschuldigung auf Latein an König Gustav von Schweden: »Ich habe getan, was ich konnte, nicht was ich wollte. Deshalb will ich mir hier nicht als Fehler anrechnen lassen, dass ich manches unvollständig und mangelhaft unter die Leute bringe, vieles vielleicht ungeordnet und einiges, wie ich fürchte, sich widersprechend; denn nicht überall sind die Historiker mit sich selbst einig.«3 Man könnte sagen, dass sich seit damals nicht viel verändert hat: Die Historiker sind immer noch nicht mit sich einig, und jedes Werk, das umfassend und zugleich maßgeblich sein will, beginnt immer noch mit einer Entschuldigung für alles, was es nicht ist, um der Enttäuschung des Lesers zuvorzukommen. Sebastian Münster behandelte Amerika nicht. Doch wie ich hoffe und wie wir bereits gesehen haben, präsentiert das vorliegende Buch nicht nur eine Universalgeschichte als Gegenentwurf zur vorherrschenden nationalbezogenen Betrachtungsweise. Es experimentiert auch mit neuen Formen der Zusammenarbeit von Spezialisten für unterschiedliche Gesellschaften und will die Leser auf diese Weise anregen, Geschichte aus vielen Blickwinkeln und vergleichend zu betrachten, damit ein angemessen kritischer Blick auf die Disziplin und ihre Kategorien, Vergangenheit und Gegenwart, entstehen kann. Für dieses Vorgehen gibt es gewichtige Gründe.
Christopher Bayly macht also den Anfang mit einer eindringlichen Untersuchung, warum die Globalgeschichte für unser Verständnis der vielen transnationalen Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, etwa Migration, immer wichtiger wird. An späterer Stelle gibt John
R. McNeill einen umfassenden Überblick über die Umweltgeschichte, die seit knapp 40 Jahren existiert und heute eine der am schnellsten wachsenden Teildisziplinen darstellt, weil ökologische Probleme der gegenwärtigen Generation auf den Nägeln brennen. Die Auswirkungen von Kolonialherrschaft und Kapitalismus bestimmen die Agenda beider Historiker. McNeill und Bayly stimmen in ihren Prognosen überein, dass »Auseinandersetzungen über Wasser-, Öl-und Nahrungsressourcen [und] die Auswirkungen globaler Epidemien« sich deutlich darauf auswirken werden, »wie man Geschichte schreibt« - heute und in der Zukunft, in der die Geschichtsschreibung aus schierer Notwendigkeit über nationale Grenzen hinweg auf eine transnationale Bühne blicken wird.
Der Handel hatte den größten Anteil daran, Gesellschaften zusammenzubringen. Kenneth Pomeranz zeigt, wie Kulturen auf der ganzen Welt mit dem Handel leben und durch ihre zunehmende Integration in den Markt verändert werden. Er benennt die Träger des Wandels und erforscht die Wechselbeziehung von ökonomischer Entwicklung und Kultur. Pomeranz warnt, Europa vor 1800 eigne sich nicht als Fallbeispiel für Vorläuferformen der Globalisierung in unserem Verständnis des Begriffs. Die marktwirtschaftliche Integration sei vor dem Bau der Eisenbahnen in Europa auch nicht »notwendigerweise weiter fortgeschritten« gewesen als in China, obwohl Europa immer noch »oft als Heimat offener, wettbewerbsintensiver Märkte dargestellt wird«. Christopher Bayly betont in seinem Kommentar zu dieser wichtigen Debatte über das endgültige und eher späte Auseinanderdriften von Asien und Europa um 1800, der entscheidende ökonomische Durchbruch Europas »vollzog sich letztlich in den Beziehungen zwischen dem Staat, der Militärtechnik und der Bürgerelite, die den Staat und die Gesellschaft auf verschiedenen Wegen kontrollierte «, vor allem in Nordwesteuropa. Nach Baylys Ansicht waren besonders hoch entwickelte Formen der Besteuerung, der staatlichen Ausbildung und der militärischen Organisation zentral für den Vorsprung des Westens und die Entstehung der westlichen Weltreiche nach 1800, doch die Saat dazu ist in den vorangegangenen beiden Jahrhunderten gelegt und gehegt worden. Pomeranz und Bayly stimmen darin überein, dass es wichtig ist, komparativ zu argumentieren und die multikausale Natur wirtschaftlichen Erfolgs weiter zu untersuchen.
Das können wir nur unterstreichen, wenn wir Christopher Clarks Abhandlung über Macht im Verhältnis zu Baylys Ausführungen über die Fortschritte bei der Staatenbildung in Europa betrachten. Der Europahistoriker Clark beginnt mit der Feststellung, dass Historiker den Begriff »Macht« selten näher untersuchen und schon gar nicht über verschiedene Kulturen hinweg. Macht werde am besten analysiert als etwas, das »unablässig im Fluss [ist], zerstreut [wird], sich lokal manifestiert und [...] dabei ihr Wesen verändert«. Nach seiner Sicht neigt Macht dazu, der Konzentration zu widerstehen, und erreicht keinen statischen Zustand: »Sämtliche Beziehungen sind auf längere Sicht Neuverhandlungen unterworfen, und soziale Unruhen und Kriege können stets eintreten und das Gleichgewicht neu austarieren.« Deshalb betont Clark, dass staatliche Macht in Europa selbst Ende des 18. Jahrhunderts noch relativ begrenzt war und dass Vergleiche von Formen geteilter Machtausübung dort mit Asien und Lateinamerika einmal mehr äußerst fruchtbar sind.
R. Bin Wongs Beitrag über Kausalität erweist sich hier als besonders wertvoll. Wong argumentiert, es sei vorteilhaft, bei komplexen Phänomenen vergleichende Fragen nach der historischen Ursache zu stellen. Mit Blick auf die Entwicklung von Staaten, auf Kriegführung und die Besteuerung im 18. Jahrhundert in Europa und China zeigt er zum Beispiel, dass es auf beiden Kontinenten Proteste der Bevölkerung gegen die Besteuerung gab, aber diese waren »eingebettet in jeweils spezifische politische Ideologien und Institutionen, die sich auf die allgemeinere Bedeutung der Proteste für die Beteiligten ebenso auswirkten wie auf die Folgen ihres Handelns«. Während Europäer und Amerikaner die Besteuerung mit politischer Repräsentation verbinden konnten, »beruhten die chinesischen Vorstellungen darüber, was recht und billig war, auf Ansichten, die die Bevölkerung mit ihren Beamten teilte und die nicht in offizielle institutionelle Mechanismen politischer Partizipation übersetzt wurden«. Das hing zum Teil damit zusammen, dass paternalistische Ideologien eine konsistente chinesische Politik motivierten, die Bevölkerung mit Getreide zu versorgen, und die bestehenden Hierarchien effektiver aufrechterhielten als im Westen. Der Unterschied zwischen dem großen selbstgenügsamen chinesischen Reich und den kriegslüsternen europäischen Staaten, die um die Vormacht kämpften, hatte zur Folge, dass die Europäer Geld für Kriegszwecke ausgeben mussten statt für zivile Projekte zu Hause. Doch als unbeabsichtigter Nebeneffekt verstärkte das auch die Rufe nach Widerstand und politischen Rechten. Wong kommt zu dem Schluss: »Dass es auf unterschiedlichen Wegen des Wandels vergleichbare Episoden gibt, bedeutet, dass ähnliche Kausalketten oder Mechanismen in größere patterns of difference eingebettet werden können.« Dies wiederum habe zur Folge, dass wir »die einfachen Entwicklungslinien und den einen Weg des historischen Wandels«, wie ihn traditionelle Modernisierungstheorien postulierten, durch »vielfältigere Formen« er setzen könnten. Unsere Erklärungen für kulturelle Veränderungen müssen so flexibel sein, dass sie sowohl Wechselbeziehungen wie Unterschieden Rechnung tragen.
Diese Ansätze verbinden sich nahtlos mit Peter Burkes Analyse, warum wir auch Veränderungen in der Kommunikation multizentrisch betrachten müssen und uns nicht auf Europa als einziges Zentrum des Wandels konzentrieren dürfen. Zum Beispiel müssen wir uns die »Buchdruckrevolution « als eine Reihe separater Revolutionen in China, Korea und im Westen vorstellen; möglicherweise kannte Gutenberg koreanische Techniken. Doch die Kommerzialisierung des Buchdrucks schritt im Westen rasch voran und verbreitete sich von dort aus in andere Teile der Welt. Viele andere Formen der Kommunikation existierten nebeneinander und hatten unterschiedliche Auswirkungen auf Teile der Gesellschaft; insofern wäre es unklug, anzunehmen, man könnte die Wirkungen neuer Medien vorhersagen und Cyber-Demokratien seien eine Option für alle. Cyber-Demokratien sind aber auch nicht die Instrumente der ultimativen modernen Befreiung im Westen. So schreibt Bayly in seinem Beitrag, politische »Ideen« hätten viele Orte, und der Westen solle vorsichtig sein mit Behauptungen, er allein sei die Wiege demokratischer Denkweisen. Bayly fragt: »Wie würde sich die ›Cambridge School‹ mit ihrer Analyse von der Geburt des bürgerlichen Republikanismus schlagen, wenn man Analogien in der islamischen Welt, in Indien oder China suchte?« Und er stellt fest: »Indiens Locke hieß Ram Mohan Roy.«
Als ich dieses Buch plante, fragte ich mich, was wohl passiert, wenn eine Afrikaexpertin über »Kultur« schreibt und eine Chinaspezialistin über »Geschlecht«. Das Ergebnis sind prägnante Überblicke von Megan Vaughan und Dorothy Ko, die kritisch Themen hinterfragen, deren Kategorien vielen Darstellungen von Historikern der westlichen Geschichte zugrunde liegen. Ko zeigt, dass man Geschlecht auch als etwas jenseits der binären Kategorien männlich/weiblich verstehen kann - als ein »weniger rigides System«, als unterschiedliche Arten, Körper und Geschlecht zu ordnen. In ihrem Beitrag diskutiert sie Fallstudien außerhalb von Europa und Amerika wie Iran, Lateinamerika und Japan. Sie ordnet Bezugsrahmen, die oft auf problematische Weise die Schriften von Historikern prägten, zum Beispiel normative Modelle eines männlichen Familienoberhaupts, das den Unterhalt für die Familie verdient, in einen Kontext ein. Ko hebt Untersuchungen hervor, die gezeigt haben, was für eine enorme kulturelle Leistung es war, bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit hervorzubringen; denn weder das eine noch das andere wird man »an einem Tag«. Weiterhin stellt Ko Verbindungen zu Bemühungen her, den Gender-Aspekt in der Weltgeschichte, in Kolonialismus und ethnischer Forschung herauszuarbeiten. Die auf das Geschlecht ausgerichtete Fortpflanzung stand im Mittelpunkt der spanischen Eroberung der Neuen Welt, denn Mischlingstöchter konnten »eine Art ›kulturelles Kapital‹ für ihre Väter« sein. In Kos Darstellung ist Sex wie Wissenschaft und Ethnizität ein Produkt der Kultur, und die Natur kann nur mit Hilfe der Kultur begriffen werden.
Vaughan wiederum untersucht kritisch, was wir als »Kultur« ansehen. Sie erinnert daran, welches Unbehagen die Anthropologen noch in den 1960er Jahren mit dieser Kategorie hatten, als der Begriff Kultur »Gefahr lief, gleichsam alles und nichts zu umfassen. Kultur beinhaltete die Gesellschaft, das menschliche Bewusstsein, wirtschaftliche Strukturen, Religion, Politik.« Inwiefern war Kultur überhaupt etwas anderes als »Natur «? Vaughan übt erheblichen methodischen Druck auf diese Kategorie aus, indem sie das Erbe der Konnotationen aus der Aufklärung betrachtet - Kultur als romantische Diversität oder fortschreitende Zivilisation - und die Kolonialpolitik sowie ihre komplizierte Rolle in der Identitätspolitik der postkolonialen Welt untersucht, wenn etwa der kulturelle Unterschied wieder neu erfunden wird, um damit Rechte einzufordern. Vaughans Ansatz unterstreicht, wie nötig eine politisch orientierte, diskursive Lesart unterschiedlicher Definitionen von Kultur auf den verschiedenen Feldern der Macht ist: »Es gibt keine historische Abhandlung über kulturelles Schaffen in Afrika«, schreibt sie, »die sich der politisch aufgeladenen Definition dessen, was zum Bereich der Kultur gehört, entziehen könnte.« In einem postkolonialen Kontext werden Konzepte von Kultur und Kulturgeschichte problematisch, weil sie implizieren, »Kultur« sei ein Feld für sich; wie können wir entscheiden, was Kultur ist und was nicht? Kulturgeschichte, so schließt sie, funktioniert nicht als separates Feld der Analyse. Sie muss Geschichte sein, insofern sie fragt, wie unterschiedliche Institutionen und Akteure in Gesellschaften immer wieder neu Sinn erzeugen. Diese Art der Geschichtsschreibung zeichnet dann eher Prozesse nach, als dass sie Ursprünge und bestimmte, feste Identitäten aufspürt, und nicht zuletzt erkundet sie die emotionalen Auswirkungen solcher Prozesse auf die Menschen. Dazu zählen Trauma, Verlust und Konflikt; die glückliche Vorstellung einer unkomplizierten, fröhlichen Vermischung, die sich nach Auffassung mancher mit der Globalisierung einfach so einstellt, wird Lügen gestraft. Die Beiträge von Vaughan und Ko betonen beide, wie wichtig es ist, die Begriffe Natur und Kultur flexibel zu halten und zugleich die Aufmerksamkeit zum Beispiel auf den Kampf zu lenken, den es bedeutet, herkömmliche feste sexuelle Identifikationen zu überwinden oder auch nur zu begreifen und eine angemessene Sprache dafür zu finden.
Parallel zu Vaughans Kritik daran, den Begriff der Kultur als verschieden von der Natur und von anderen Sphären der Gesellschaft zu verstehen, wendet sich Elizabeth Buettner gegen die Politik der Differenz, die oft der Verwendung von »Ethnizität« als Kategorie zugrunde liegt: »Sich der Ethnizität mit Bezug auf das ›Selbst‹wie auf das ›Andere‹-auf den ›Mainstream‹ der ethnischen Mehrheit ebenso wie auf Minderheiten -zuzuwenden, ist und bleibt ein unvollendetes, gleichwohl aber dringliches Unterfangen.« Sie zeigt, wie sich die Macht der Kolonialherrschaft darin manifestierte, die tief von Geschlechtervorstellungen durchdrungenen Begriffe von Stammeszugehörigkeit und Rasse zu prägen, die die gelebte Heterogenität von Völkern überdeckten. Ethnische Zugehörigkeit ist demnach keine objektive Kategorie für Historiker, die einen »natürlichen « Ursprung beschreiben, sondern muss in ihrer historischen Konstruktion als Identität analysiert werden, die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgezwungen, von ihnen übernommen oder angepasst wurde. Buettner erinnert uns daran, dass dieser Prozess in unseren Gesellschaften weitergeht, weil viele neue ethnische Zugehörigkeiten auftauchen. Auch ihren Beitrag liest man am besten parallel zu Vaughans ähnlich faszinierender Analyse der Dynamik postkolonialer Identitätspolitik.
Pat Thane schildert, wie und warum Historiker sich mit Bevölkerungsfragen und Bevölkerungsentwicklung befasst haben und wie sie mit den immensen Mengen an präzisen Daten umgegangen sind, die in den letzten 50 Jahren gesammelt wurden. Sie bewertet in ihrem Kapitel sorgfältig den Nutzen unterschiedlicher Quellen und bringt uns auf den neuesten Stand der breitgefächerten Forschung zu Schlüsselfragen unserer Zeit wie Veränderungen bei Mortalität und Fertilität, jeweils in Wechselwirkung mit anderen Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Bevölkerungspolitik oder Sklavenhandel. Die Bedeutung komparativer Daten liegt auf der Hand: Wie Clark schreibt, erreichte beispielsweise die Bevölkerungsdichte in Afrika erst 1975 Werte wie um 1500 in Europa; um 1900 entfielen auf Afrika 18 Prozent der weltweiten Fläche, aber nur 5 bis 7 Prozent der Weltbevölkerung. Thane wie Clark präsentieren Modelle, wie man Fragen zu den Auswirkungen solcher konstitutiver Unterschiede stellt und sie analysiert, um die Entwicklung der Weltgesellschaften angemessen zu begreifen.
Pamela H. Smith bringt uns die wichtigen Einsichten der Wissenschaftshistoriker aus den letzten 30 Jahren näher. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden eindeutig weniger als Hervorbringungen einzelner Genies denn als Leistungen der gesamten Gesellschaft gesehen. Wissen ist »bedingt durch und konstruiert innerhalb bestimmter Gemeinschaften und ihrer Verortung in sozialen und intellektuellen Strukturen - die Menschen nutzen Ideen, Informationen und Techniken, die in der jeweiligen Gesellschaft zur Verfügung stehen«. Viele Entdeckungen im Laufe der Geschichte sind in kollektiven und kooperativen Prozessen entstanden und hingen nicht notwendigerweise von der Schriftlichkeit ab. Smith lenkt unsere Aufmerksamkeit außerdem auf die Wirkung der Kolonialherrschaft und darauf, wie der »Besitz« von Wissenschaft soziale Abgrenzungen erleichtert hat. Die Wissenschaft war eingebettet in Ideologien von europäischer Überlegenheit dank der Moderne. Wissenschaftshistoriker bemühen sich mittlerweile, die Gewissheit ins Wanken zu bringen, die westliches Wissen mit Objektivität und Rationalität verbindet, indem sie auf die globalen Ursprünge des Wissens über die Natur und die Zufälligkeiten seiner Entstehung in sozialen Prozessen verweisen.
Wissenschaftshistoriker haben in der Tat unsere Vorstellung, was Wissen über die Welt bedeutet, verändert. Ihr Einfluss auf Darstellungen historischer Formen des Wissens geht deutlich aus den in Kapitel 3 dieses Bandes vorgestellten Arbeiten hervor. Seit Heisenberg haben sich Wissenschaftler und Wissenschaftshistoriker von einem idealisierten Begriff von »Objektivität« verabschiedet, die angeblich völlig unbeeinflusst durch den Beobachter ist. Statt von Objektivität sprechen sie davon, dass wir uns durch »geschultes Urteil« die Natur oder die Welt verständlich machen. Das betrifft auch das Verständnis der Historiker für die Vergangenheit, das von ihren Werkzeugen, den Formen und Kontexten ihrer Arbeit abhängt. So können idealisierte Vorstellungen von Wahrheit durch Genauigkeit und Verlässlichkeit ersetzt werden statt durch willkürlichen Relativismus und virtuelle Geschichte. Wir brauchen außerdem eine komplexe Analyse dessen, was die Historiker selbst in den Prozess einbringen, durch den sie Erkenntnisse über die Vergangenheit gewinnen, und auf welche Werte und Konzepte sie sich stützen, wenn sie ihre Ideale verteidigen. Mit anderen Worten: Die Historiker können bei der Herstellung der Vergangenheit der gleichen Analyse unterworfen werden wie die Naturwissenschaftler bei ihrer Herstellung von Wissen über die Natur. Das erweitert die Geistesgeschichte von einer Geschichte der Ideen zu einer Geschichte der Praktiken, wie Wissen entsteht, jeweils eingebettet in bestimmte Kontexte und Konventionen konkreter Gemeinschaften überall auf der Welt.
Dieses Thema wird in dem Beitrag von Bonnie G. Smith und Donald
R. Kelley behandelt. Sie zeichnen nach, wer wann für wen und in welcher Zeit als »Historiker« galt, der »richtige« Geschichte betrieb. Sie erläutern, wie unterschiedliche Definitionen von Geschichte sich dahingehend auswirkten, dass chinesische Geschichte typischerweise als Geschichte von Dynastien geschrieben wurde und europäische Geschichte als Geschichte von Staaten. Ihr Beitrag zeigt außerdem die Folgen der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft an den Universitäten und lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf den beachtlichen Elan und die alternativen Sichtweisen von »Amateur«-Historikern und sonstigen Praktikern der Geschichte, vielfach Frauen, in unterschiedlichen Teilen der Erde. Smith und Kelley betonen interessanterweise die europäische Vorstellung des 20. Jahrhunderts, der Historiker müsse zu einem »Übermenschen « werden, »der immer größere Teile vergangener Erfahrungen verarbeiten und dabei auch fachfremde Methoden anwenden sollte, er sollte nicht nur Historiker, sondern auch Geograph, Soziologe, Kunst- und Literaturkritiker und vieles andere sein«. Dies komme insbesondere in der Annales-Schule zum Tragen mit ihrem Anspruch, Geschichtsschreibung solle »totale Geschichte« sein und alle Aspekte einer Gesellschaft umfassen. Diese Entwicklung führte gleichzeitig zu Befürchtungen hinsichtlich der Reichweite von Geschichte und der professionellen Rollen; die Angst vor übermäßiger Spezialisierung ist genauso groß wie die vor übermäßiger Generalisierung. Gleichzeitig entstand eine ganz neue professionelle Vielfalt im Hinblick darauf, welche Arten von Geschichte geschrieben werden und wie.
Diese Veränderungen finden Ausdruck in dem Beitrag von Miri Rubin. Sie zeigt, wie stark sich die Religionsgeschichte seit dem späten 20. Jahrhundert ausdifferenziert hat. Heute schreiben nicht mehr vorwiegend praktizierende Vertreter bestimmter Konfessionen über ihre jeweilige Religion oder über Ideen, die angeblich ein festes Lehrgebäude ergeben. Religionsgeschichte ist, wie andere Felder der Geschichtsschreibung auch, längst nicht mehr so von männlichen Forschern dominiert, wie das früher der Fall war. Durch den Dialog mit anthropologischen Ansätzen schenken die Forscher mittlerweile den »Erfahrungen der großen Masse der Gläubigen größere Aufmerksamkeit [...], den Formen, in denen eine religiöse Kosmologie - ein Weltverständnis - das Leben von Menschen strukturiert«. Dabei ist das Verhältnis von Geschlecht, Körper und Raum zu religiösen Identitäten in den Mittelpunkt gerückt. Rubin macht deutlich, wie lohnend Fragestellungen sind, die spirituelle Kulturen als konstitutiv für Identitäten untersuchen und sich mit ihrer Weitergabe quer durch Weltreligionen befassen. Zwiesprache mit dem Übernatürlichen ist ein wichtiges Element, wenn es darum geht, wie Kulturen Emotionen, etwa Trauer oder Hoffnung, kanalisieren. Eiko Ikegami untersucht, wie Gesellschaften generell Methoden entwickelt haben, um Gefühle auszudrücken und zu beherrschen, und führt uns damit in die jüngste der heute bestehenden Unterdisziplinen von Clio ein: die Emotionsgeschichte. Sie stellt das Konzept eines natürlichen Dualismus von Körper und Geist in Frage und konfrontiert Norbert Elias' Annahme einer fortschreitenden und spezifisch westlichen Entwicklung hin zu immer zivilisierteren Formen des Verhaltens mit japanischen Belegen. Das wirft neue Fragen auf: Warum kam es nicht einmal im Mittelalter japanischen Höflingen in den Sinn, sich in die Ärmel zu schnäuzen, während in Europa noch im 16. Jahrhundert der Humanist Erasmus solche Gepflogenheiten kritisierte? Erzählen uns unterschiedliche Körpertechniken am meisten darüber, wie die Menschen Grenzen zwischen sich und anderen zogen und ob sie ein Schamgefühl verinnerlicht hatten? Was sollen wir von neurowissenschaftlichen Aussagen halten, in denen wir oft als Spezies ohne spezifische Geschichte und Gesellschaften behandelt werden?
Unter Historikern werden Ideen und Methoden, Menschen zu verstehen und zu kategorisieren, über lange Zeiträume weitergegeben und angepasst. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, endgültige »Paradigmenwechsel« aufzuspüren, den Augenblick, da alte Ideen auf einmal abgenutzt erscheinen und reif, aufgegeben zu werden, wie Anthony Grafton im letzten Beitrag dieser Einführung darlegt. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die lebhaften Debatten unter Ideengeschichtlern, wie man am besten die Kontexte erklären kann, in denen Ideen auftauchen und Gestalt annehmen, und warum jeder Determinismus bei präzisen kausalen Faktoren üblicherweise durch die Komplexität der Fakten widerlegt wird. Grafton zeigt außerdem, warum zentrale »große Erzählungen« wie Max Webers Idee, der westliche Kapitalismus sei eine Ausnahmeerscheinung und kausal mit der protestantischen Einstellung zu Arbeit und Konsum verknüpft, nicht länger Unterstützung finden. Wie Christopher Bayly betont auch Grafton, dass Ideengeschichte »ein neues Verständnis vieler Geschichten in der Weltgeschichte« liefern kann, wenn sie Kulturgrenzen überwindet und mit anderen Unterdisziplinen der Geschichtswissenschaft zusammenarbeitet.
Ich habe die einzelnen Kapitel nicht in der Reihenfolge vorgestellt, wie sie im Buch erscheinen, sondern mit Blick auf die Verbindungen zwischen ihnen. Alle Autoren machen die außerordentliche Dynamik der historischen Forschung in den letzten Jahrzehnten deutlich. Ich habe auf Fäden hingewiesen, die aus meiner Sicht das Gewebe dieses Buches bilden, in dem sich vielleicht ein neues Muster der Geschichtswissenschaft abzuzeichnen beginnt. Es bleibt den Lesern überlassen, zu beurteilen, welche Löcher das Gewebe noch aufweist, oder ob Dichtheit, Struktur, Farbe und die reichen Möglichkeiten, die bereits jetzt sichtbar sind, aufwiegen, dass noch manches fehlt.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wie sollen wir mit dem Verhältnis zwischen Geschichte, Realität und Wahrheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts umgehen, das uns so zu schaffen macht? Die Geschichte erscheint nicht nur als ein tröstlicher Begleiter, erhellender Informant oder als Quelle, die kritisch neu gelesen wer den muss, sondern auch als ein unheimlicher Schatten, mit dem wir oft ringen und den wir abzuschütteln versuchen, während er uns beharrlich folgt und uns in weitere Tragödien und Katastrophen locken will. Wohin bewegen wir uns mit diesem Begleiter, und welche neuen Fragen stellen wir zu Vergangenem, das überwältigend und zugleich schwer fassbar, verstörend fremd und doch allzu vertraut erscheinen mag? Wie kann Geschichtswissenschaft heute auf die Anliegen von zunehmend mobilen und miteinander vernetzten Menschen reagieren, die umgetrieben werden von Problemen wie Ungleichheit, Konflikt und Umweltzerstörung? Wie greift sie breite Fragestellungen zu globalen Themen in ernsthafter und differenzierter Weise auf, ohne einmal mehr gefällige Meta-Erzählungen von unilinearem Wandel und festgefügten Identitäten zu produzieren oder diese einfach durch Relativismen von der Stange zu ersetzen?
Diese Einführung ist nur ein Buch, aber es bietet sich als Führer an, um sich durch Geschichte inspirieren zu lassen und neu darüber nachzudenken. Durch Beschreibung, Erklärung und Analyse zeigt es die wichtigsten Richtungen und Themen der gegenwärtigen Geschichtsschreibung auf, die uns voranbringen sollen. Es gibt eine Einschätzung, wie führende Vertreter des Faches gegenwärtig ihre eigene Forschung sehen und wie sie Themenbereiche angehen, die eine wichtige Rolle dabei spielen, wie Menschen im 21. Jahrhundert sich selbst historisch verorten. Viele Themenbereiche haben sich erst in den letzten 40 Jahren als neue, spannende Unterdisziplinen der Geschichtswissenschaft entwickelt: Kommunikation, Geschlecht, Emotionen, Ethnizität, Naturwissenschaft und Umwelt, um nur einige Beispiele zu nennen. Daneben gibt es eine Reihe von Kernthemen, die wie eh und je für das Verständnis von Gesellschaften wesentlich sind: Handel, Macht, Religion, Ideen, Bevölkerung. Diese Themen werden im zweiten Teil der Einführung behandelt, als Weiterführung der vier einleitenden Kapitel des ersten Teils: Geschichte und Geschichtswissenschaftler, der Status des historischen Wissens und die Rolle, die Kausalität in der historischen Erklärung spielt. Ich habe die Autoren eingeladen, sich anspruchsvoll informativ, solide und kritisch mit großen Themen über Raum und Zeit hinweg auseinanderzusetzen, aber auch mit theoretischen Aspekten, die uns helfen, Kategorien zu hinterfragen, in denen wir gegenwärtig Geschichte denken. Statt zwangsläufig knappe historiographische Überblicke zu präsentieren, sollten die Autoren sich die Freiheit nehmen und prägnante, anregende Aufsätze zu ihrem jeweiligen Thema schreiben und dabei die historischen Arbeiten einbeziehen, die sie für besonders wichtig hielten. Dies geschah, im Gegensatz zu Foucaults Äußerung von 1979, in voller Anerkennung von Nuancen, Lücken und Fragezeichen, was Beweismittel und Interpretationen als das zentrale Handwerkszeug des Historikers anbetrifft, während gleichzeitig an dem Ziel festgehalten wurde, einer nostalgischen oder naiv fortschrittsgläubigen Sicht auf die Vergangenheit entgegenzuwirken. Herausgekommen ist, so hoffe ich, ein lebendiges und fruchtbares intellektuelles Abenteuer.
Dieser Band kann weder eine »vollständige« Einführung sein noch eine Ansammlung von Autoren, die mit einer Stimme sprechen und das Gleiche tun. Trotzdem hat er ein einheitliches Ziel: Er soll einen wichtigen Aufbruch in einem Genre bezeichnen, das bisher von Geschichten über Geschichte geprägt ist, die überwiegend westlich orientiert sind. Ein solches Verhältnis zur Vergangenheit passt schlecht in unsere Welt, und es spiegelt auch die Vielfalt der Perspektiven und Kompetenzen innerhalb der Profession nicht wider. Deshalb propagiert diese Einführung entschieden eine Form der Geschichtsschreibung, die globale Verbindungen sucht und den intensiven Dialog zwischen Historikern fördert, die auf die Geschichte bestimmter Kontinente spezialisiert sind. Sie will nicht, um Niall Fergusons spöttische Bemerkung zu zitieren, das Reich der Ashanti mit dem britischen Empire vergleichen.2 Aber wir müssen von dem heute sehr viel ausgeprägteren Bewusstsein ausgehen, dass die »westlichen« Leistungen und die »modernen Errungenschaften« oftmals nicht so einzigartig waren, wie sie früher dargestellt wurden, und dass die Geschichte von Verbindungen und multizentrischen Entwicklungen in unterschiedlichen Kulturen von entscheidender Bedeutung für ein angemessenes, kritisches Verständnis der Vergangenheit ist. Eine Einführung in die Geschichte darf heute nicht mehr eine Einführung in die westliche Geschichte sein, die den Westen als universelles Modell nimmt und die Vergangenheit aus diesem Blickwinkel darstellt. Doch erstaunlicherweise gibt es bisher kein ähnliches Buch mit vergleichenden Erörterungen von Themen und Konzepten, die uns alle auf dieser Welt betreffen. Deshalb versteht man diese Einführung am besten als ein Forschungsvorhaben, und ich lade die Leser ein, sich zusammen mit den Autoren der Beiträge darauf einzulassen, die allesamt ausgesprochen originelle Historiker mit unterschiedlichen Spezialgebieten sind - von Afrika bis zur Karibik, von China und Japan bis Indien, von Europa bis Lateinamerika.
Im Januar 1550 schickte Sebastian Münster seine bahnbrechende Kosmographie mit einer eleganten Entschuldigung auf Latein an König Gustav von Schweden: »Ich habe getan, was ich konnte, nicht was ich wollte. Deshalb will ich mir hier nicht als Fehler anrechnen lassen, dass ich manches unvollständig und mangelhaft unter die Leute bringe, vieles vielleicht ungeordnet und einiges, wie ich fürchte, sich widersprechend; denn nicht überall sind die Historiker mit sich selbst einig.«3 Man könnte sagen, dass sich seit damals nicht viel verändert hat: Die Historiker sind immer noch nicht mit sich einig, und jedes Werk, das umfassend und zugleich maßgeblich sein will, beginnt immer noch mit einer Entschuldigung für alles, was es nicht ist, um der Enttäuschung des Lesers zuvorzukommen. Sebastian Münster behandelte Amerika nicht. Doch wie ich hoffe und wie wir bereits gesehen haben, präsentiert das vorliegende Buch nicht nur eine Universalgeschichte als Gegenentwurf zur vorherrschenden nationalbezogenen Betrachtungsweise. Es experimentiert auch mit neuen Formen der Zusammenarbeit von Spezialisten für unterschiedliche Gesellschaften und will die Leser auf diese Weise anregen, Geschichte aus vielen Blickwinkeln und vergleichend zu betrachten, damit ein angemessen kritischer Blick auf die Disziplin und ihre Kategorien, Vergangenheit und Gegenwart, entstehen kann. Für dieses Vorgehen gibt es gewichtige Gründe.
Christopher Bayly macht also den Anfang mit einer eindringlichen Untersuchung, warum die Globalgeschichte für unser Verständnis der vielen transnationalen Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, etwa Migration, immer wichtiger wird. An späterer Stelle gibt John
R. McNeill einen umfassenden Überblick über die Umweltgeschichte, die seit knapp 40 Jahren existiert und heute eine der am schnellsten wachsenden Teildisziplinen darstellt, weil ökologische Probleme der gegenwärtigen Generation auf den Nägeln brennen. Die Auswirkungen von Kolonialherrschaft und Kapitalismus bestimmen die Agenda beider Historiker. McNeill und Bayly stimmen in ihren Prognosen überein, dass »Auseinandersetzungen über Wasser-, Öl-und Nahrungsressourcen [und] die Auswirkungen globaler Epidemien« sich deutlich darauf auswirken werden, »wie man Geschichte schreibt« - heute und in der Zukunft, in der die Geschichtsschreibung aus schierer Notwendigkeit über nationale Grenzen hinweg auf eine transnationale Bühne blicken wird.
Der Handel hatte den größten Anteil daran, Gesellschaften zusammenzubringen. Kenneth Pomeranz zeigt, wie Kulturen auf der ganzen Welt mit dem Handel leben und durch ihre zunehmende Integration in den Markt verändert werden. Er benennt die Träger des Wandels und erforscht die Wechselbeziehung von ökonomischer Entwicklung und Kultur. Pomeranz warnt, Europa vor 1800 eigne sich nicht als Fallbeispiel für Vorläuferformen der Globalisierung in unserem Verständnis des Begriffs. Die marktwirtschaftliche Integration sei vor dem Bau der Eisenbahnen in Europa auch nicht »notwendigerweise weiter fortgeschritten« gewesen als in China, obwohl Europa immer noch »oft als Heimat offener, wettbewerbsintensiver Märkte dargestellt wird«. Christopher Bayly betont in seinem Kommentar zu dieser wichtigen Debatte über das endgültige und eher späte Auseinanderdriften von Asien und Europa um 1800, der entscheidende ökonomische Durchbruch Europas »vollzog sich letztlich in den Beziehungen zwischen dem Staat, der Militärtechnik und der Bürgerelite, die den Staat und die Gesellschaft auf verschiedenen Wegen kontrollierte «, vor allem in Nordwesteuropa. Nach Baylys Ansicht waren besonders hoch entwickelte Formen der Besteuerung, der staatlichen Ausbildung und der militärischen Organisation zentral für den Vorsprung des Westens und die Entstehung der westlichen Weltreiche nach 1800, doch die Saat dazu ist in den vorangegangenen beiden Jahrhunderten gelegt und gehegt worden. Pomeranz und Bayly stimmen darin überein, dass es wichtig ist, komparativ zu argumentieren und die multikausale Natur wirtschaftlichen Erfolgs weiter zu untersuchen.
Das können wir nur unterstreichen, wenn wir Christopher Clarks Abhandlung über Macht im Verhältnis zu Baylys Ausführungen über die Fortschritte bei der Staatenbildung in Europa betrachten. Der Europahistoriker Clark beginnt mit der Feststellung, dass Historiker den Begriff »Macht« selten näher untersuchen und schon gar nicht über verschiedene Kulturen hinweg. Macht werde am besten analysiert als etwas, das »unablässig im Fluss [ist], zerstreut [wird], sich lokal manifestiert und [...] dabei ihr Wesen verändert«. Nach seiner Sicht neigt Macht dazu, der Konzentration zu widerstehen, und erreicht keinen statischen Zustand: »Sämtliche Beziehungen sind auf längere Sicht Neuverhandlungen unterworfen, und soziale Unruhen und Kriege können stets eintreten und das Gleichgewicht neu austarieren.« Deshalb betont Clark, dass staatliche Macht in Europa selbst Ende des 18. Jahrhunderts noch relativ begrenzt war und dass Vergleiche von Formen geteilter Machtausübung dort mit Asien und Lateinamerika einmal mehr äußerst fruchtbar sind.
R. Bin Wongs Beitrag über Kausalität erweist sich hier als besonders wertvoll. Wong argumentiert, es sei vorteilhaft, bei komplexen Phänomenen vergleichende Fragen nach der historischen Ursache zu stellen. Mit Blick auf die Entwicklung von Staaten, auf Kriegführung und die Besteuerung im 18. Jahrhundert in Europa und China zeigt er zum Beispiel, dass es auf beiden Kontinenten Proteste der Bevölkerung gegen die Besteuerung gab, aber diese waren »eingebettet in jeweils spezifische politische Ideologien und Institutionen, die sich auf die allgemeinere Bedeutung der Proteste für die Beteiligten ebenso auswirkten wie auf die Folgen ihres Handelns«. Während Europäer und Amerikaner die Besteuerung mit politischer Repräsentation verbinden konnten, »beruhten die chinesischen Vorstellungen darüber, was recht und billig war, auf Ansichten, die die Bevölkerung mit ihren Beamten teilte und die nicht in offizielle institutionelle Mechanismen politischer Partizipation übersetzt wurden«. Das hing zum Teil damit zusammen, dass paternalistische Ideologien eine konsistente chinesische Politik motivierten, die Bevölkerung mit Getreide zu versorgen, und die bestehenden Hierarchien effektiver aufrechterhielten als im Westen. Der Unterschied zwischen dem großen selbstgenügsamen chinesischen Reich und den kriegslüsternen europäischen Staaten, die um die Vormacht kämpften, hatte zur Folge, dass die Europäer Geld für Kriegszwecke ausgeben mussten statt für zivile Projekte zu Hause. Doch als unbeabsichtigter Nebeneffekt verstärkte das auch die Rufe nach Widerstand und politischen Rechten. Wong kommt zu dem Schluss: »Dass es auf unterschiedlichen Wegen des Wandels vergleichbare Episoden gibt, bedeutet, dass ähnliche Kausalketten oder Mechanismen in größere patterns of difference eingebettet werden können.« Dies wiederum habe zur Folge, dass wir »die einfachen Entwicklungslinien und den einen Weg des historischen Wandels«, wie ihn traditionelle Modernisierungstheorien postulierten, durch »vielfältigere Formen« er setzen könnten. Unsere Erklärungen für kulturelle Veränderungen müssen so flexibel sein, dass sie sowohl Wechselbeziehungen wie Unterschieden Rechnung tragen.
Diese Ansätze verbinden sich nahtlos mit Peter Burkes Analyse, warum wir auch Veränderungen in der Kommunikation multizentrisch betrachten müssen und uns nicht auf Europa als einziges Zentrum des Wandels konzentrieren dürfen. Zum Beispiel müssen wir uns die »Buchdruckrevolution « als eine Reihe separater Revolutionen in China, Korea und im Westen vorstellen; möglicherweise kannte Gutenberg koreanische Techniken. Doch die Kommerzialisierung des Buchdrucks schritt im Westen rasch voran und verbreitete sich von dort aus in andere Teile der Welt. Viele andere Formen der Kommunikation existierten nebeneinander und hatten unterschiedliche Auswirkungen auf Teile der Gesellschaft; insofern wäre es unklug, anzunehmen, man könnte die Wirkungen neuer Medien vorhersagen und Cyber-Demokratien seien eine Option für alle. Cyber-Demokratien sind aber auch nicht die Instrumente der ultimativen modernen Befreiung im Westen. So schreibt Bayly in seinem Beitrag, politische »Ideen« hätten viele Orte, und der Westen solle vorsichtig sein mit Behauptungen, er allein sei die Wiege demokratischer Denkweisen. Bayly fragt: »Wie würde sich die ›Cambridge School‹ mit ihrer Analyse von der Geburt des bürgerlichen Republikanismus schlagen, wenn man Analogien in der islamischen Welt, in Indien oder China suchte?« Und er stellt fest: »Indiens Locke hieß Ram Mohan Roy.«
Als ich dieses Buch plante, fragte ich mich, was wohl passiert, wenn eine Afrikaexpertin über »Kultur« schreibt und eine Chinaspezialistin über »Geschlecht«. Das Ergebnis sind prägnante Überblicke von Megan Vaughan und Dorothy Ko, die kritisch Themen hinterfragen, deren Kategorien vielen Darstellungen von Historikern der westlichen Geschichte zugrunde liegen. Ko zeigt, dass man Geschlecht auch als etwas jenseits der binären Kategorien männlich/weiblich verstehen kann - als ein »weniger rigides System«, als unterschiedliche Arten, Körper und Geschlecht zu ordnen. In ihrem Beitrag diskutiert sie Fallstudien außerhalb von Europa und Amerika wie Iran, Lateinamerika und Japan. Sie ordnet Bezugsrahmen, die oft auf problematische Weise die Schriften von Historikern prägten, zum Beispiel normative Modelle eines männlichen Familienoberhaupts, das den Unterhalt für die Familie verdient, in einen Kontext ein. Ko hebt Untersuchungen hervor, die gezeigt haben, was für eine enorme kulturelle Leistung es war, bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit hervorzubringen; denn weder das eine noch das andere wird man »an einem Tag«. Weiterhin stellt Ko Verbindungen zu Bemühungen her, den Gender-Aspekt in der Weltgeschichte, in Kolonialismus und ethnischer Forschung herauszuarbeiten. Die auf das Geschlecht ausgerichtete Fortpflanzung stand im Mittelpunkt der spanischen Eroberung der Neuen Welt, denn Mischlingstöchter konnten »eine Art ›kulturelles Kapital‹ für ihre Väter« sein. In Kos Darstellung ist Sex wie Wissenschaft und Ethnizität ein Produkt der Kultur, und die Natur kann nur mit Hilfe der Kultur begriffen werden.
Vaughan wiederum untersucht kritisch, was wir als »Kultur« ansehen. Sie erinnert daran, welches Unbehagen die Anthropologen noch in den 1960er Jahren mit dieser Kategorie hatten, als der Begriff Kultur »Gefahr lief, gleichsam alles und nichts zu umfassen. Kultur beinhaltete die Gesellschaft, das menschliche Bewusstsein, wirtschaftliche Strukturen, Religion, Politik.« Inwiefern war Kultur überhaupt etwas anderes als »Natur «? Vaughan übt erheblichen methodischen Druck auf diese Kategorie aus, indem sie das Erbe der Konnotationen aus der Aufklärung betrachtet - Kultur als romantische Diversität oder fortschreitende Zivilisation - und die Kolonialpolitik sowie ihre komplizierte Rolle in der Identitätspolitik der postkolonialen Welt untersucht, wenn etwa der kulturelle Unterschied wieder neu erfunden wird, um damit Rechte einzufordern. Vaughans Ansatz unterstreicht, wie nötig eine politisch orientierte, diskursive Lesart unterschiedlicher Definitionen von Kultur auf den verschiedenen Feldern der Macht ist: »Es gibt keine historische Abhandlung über kulturelles Schaffen in Afrika«, schreibt sie, »die sich der politisch aufgeladenen Definition dessen, was zum Bereich der Kultur gehört, entziehen könnte.« In einem postkolonialen Kontext werden Konzepte von Kultur und Kulturgeschichte problematisch, weil sie implizieren, »Kultur« sei ein Feld für sich; wie können wir entscheiden, was Kultur ist und was nicht? Kulturgeschichte, so schließt sie, funktioniert nicht als separates Feld der Analyse. Sie muss Geschichte sein, insofern sie fragt, wie unterschiedliche Institutionen und Akteure in Gesellschaften immer wieder neu Sinn erzeugen. Diese Art der Geschichtsschreibung zeichnet dann eher Prozesse nach, als dass sie Ursprünge und bestimmte, feste Identitäten aufspürt, und nicht zuletzt erkundet sie die emotionalen Auswirkungen solcher Prozesse auf die Menschen. Dazu zählen Trauma, Verlust und Konflikt; die glückliche Vorstellung einer unkomplizierten, fröhlichen Vermischung, die sich nach Auffassung mancher mit der Globalisierung einfach so einstellt, wird Lügen gestraft. Die Beiträge von Vaughan und Ko betonen beide, wie wichtig es ist, die Begriffe Natur und Kultur flexibel zu halten und zugleich die Aufmerksamkeit zum Beispiel auf den Kampf zu lenken, den es bedeutet, herkömmliche feste sexuelle Identifikationen zu überwinden oder auch nur zu begreifen und eine angemessene Sprache dafür zu finden.
Parallel zu Vaughans Kritik daran, den Begriff der Kultur als verschieden von der Natur und von anderen Sphären der Gesellschaft zu verstehen, wendet sich Elizabeth Buettner gegen die Politik der Differenz, die oft der Verwendung von »Ethnizität« als Kategorie zugrunde liegt: »Sich der Ethnizität mit Bezug auf das ›Selbst‹wie auf das ›Andere‹-auf den ›Mainstream‹ der ethnischen Mehrheit ebenso wie auf Minderheiten -zuzuwenden, ist und bleibt ein unvollendetes, gleichwohl aber dringliches Unterfangen.« Sie zeigt, wie sich die Macht der Kolonialherrschaft darin manifestierte, die tief von Geschlechtervorstellungen durchdrungenen Begriffe von Stammeszugehörigkeit und Rasse zu prägen, die die gelebte Heterogenität von Völkern überdeckten. Ethnische Zugehörigkeit ist demnach keine objektive Kategorie für Historiker, die einen »natürlichen « Ursprung beschreiben, sondern muss in ihrer historischen Konstruktion als Identität analysiert werden, die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgezwungen, von ihnen übernommen oder angepasst wurde. Buettner erinnert uns daran, dass dieser Prozess in unseren Gesellschaften weitergeht, weil viele neue ethnische Zugehörigkeiten auftauchen. Auch ihren Beitrag liest man am besten parallel zu Vaughans ähnlich faszinierender Analyse der Dynamik postkolonialer Identitätspolitik.
Pat Thane schildert, wie und warum Historiker sich mit Bevölkerungsfragen und Bevölkerungsentwicklung befasst haben und wie sie mit den immensen Mengen an präzisen Daten umgegangen sind, die in den letzten 50 Jahren gesammelt wurden. Sie bewertet in ihrem Kapitel sorgfältig den Nutzen unterschiedlicher Quellen und bringt uns auf den neuesten Stand der breitgefächerten Forschung zu Schlüsselfragen unserer Zeit wie Veränderungen bei Mortalität und Fertilität, jeweils in Wechselwirkung mit anderen Kategorien wie Geschlecht, Schicht, Bevölkerungspolitik oder Sklavenhandel. Die Bedeutung komparativer Daten liegt auf der Hand: Wie Clark schreibt, erreichte beispielsweise die Bevölkerungsdichte in Afrika erst 1975 Werte wie um 1500 in Europa; um 1900 entfielen auf Afrika 18 Prozent der weltweiten Fläche, aber nur 5 bis 7 Prozent der Weltbevölkerung. Thane wie Clark präsentieren Modelle, wie man Fragen zu den Auswirkungen solcher konstitutiver Unterschiede stellt und sie analysiert, um die Entwicklung der Weltgesellschaften angemessen zu begreifen.
Pamela H. Smith bringt uns die wichtigen Einsichten der Wissenschaftshistoriker aus den letzten 30 Jahren näher. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden eindeutig weniger als Hervorbringungen einzelner Genies denn als Leistungen der gesamten Gesellschaft gesehen. Wissen ist »bedingt durch und konstruiert innerhalb bestimmter Gemeinschaften und ihrer Verortung in sozialen und intellektuellen Strukturen - die Menschen nutzen Ideen, Informationen und Techniken, die in der jeweiligen Gesellschaft zur Verfügung stehen«. Viele Entdeckungen im Laufe der Geschichte sind in kollektiven und kooperativen Prozessen entstanden und hingen nicht notwendigerweise von der Schriftlichkeit ab. Smith lenkt unsere Aufmerksamkeit außerdem auf die Wirkung der Kolonialherrschaft und darauf, wie der »Besitz« von Wissenschaft soziale Abgrenzungen erleichtert hat. Die Wissenschaft war eingebettet in Ideologien von europäischer Überlegenheit dank der Moderne. Wissenschaftshistoriker bemühen sich mittlerweile, die Gewissheit ins Wanken zu bringen, die westliches Wissen mit Objektivität und Rationalität verbindet, indem sie auf die globalen Ursprünge des Wissens über die Natur und die Zufälligkeiten seiner Entstehung in sozialen Prozessen verweisen.
Wissenschaftshistoriker haben in der Tat unsere Vorstellung, was Wissen über die Welt bedeutet, verändert. Ihr Einfluss auf Darstellungen historischer Formen des Wissens geht deutlich aus den in Kapitel 3 dieses Bandes vorgestellten Arbeiten hervor. Seit Heisenberg haben sich Wissenschaftler und Wissenschaftshistoriker von einem idealisierten Begriff von »Objektivität« verabschiedet, die angeblich völlig unbeeinflusst durch den Beobachter ist. Statt von Objektivität sprechen sie davon, dass wir uns durch »geschultes Urteil« die Natur oder die Welt verständlich machen. Das betrifft auch das Verständnis der Historiker für die Vergangenheit, das von ihren Werkzeugen, den Formen und Kontexten ihrer Arbeit abhängt. So können idealisierte Vorstellungen von Wahrheit durch Genauigkeit und Verlässlichkeit ersetzt werden statt durch willkürlichen Relativismus und virtuelle Geschichte. Wir brauchen außerdem eine komplexe Analyse dessen, was die Historiker selbst in den Prozess einbringen, durch den sie Erkenntnisse über die Vergangenheit gewinnen, und auf welche Werte und Konzepte sie sich stützen, wenn sie ihre Ideale verteidigen. Mit anderen Worten: Die Historiker können bei der Herstellung der Vergangenheit der gleichen Analyse unterworfen werden wie die Naturwissenschaftler bei ihrer Herstellung von Wissen über die Natur. Das erweitert die Geistesgeschichte von einer Geschichte der Ideen zu einer Geschichte der Praktiken, wie Wissen entsteht, jeweils eingebettet in bestimmte Kontexte und Konventionen konkreter Gemeinschaften überall auf der Welt.
Dieses Thema wird in dem Beitrag von Bonnie G. Smith und Donald
R. Kelley behandelt. Sie zeichnen nach, wer wann für wen und in welcher Zeit als »Historiker« galt, der »richtige« Geschichte betrieb. Sie erläutern, wie unterschiedliche Definitionen von Geschichte sich dahingehend auswirkten, dass chinesische Geschichte typischerweise als Geschichte von Dynastien geschrieben wurde und europäische Geschichte als Geschichte von Staaten. Ihr Beitrag zeigt außerdem die Folgen der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft an den Universitäten und lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf den beachtlichen Elan und die alternativen Sichtweisen von »Amateur«-Historikern und sonstigen Praktikern der Geschichte, vielfach Frauen, in unterschiedlichen Teilen der Erde. Smith und Kelley betonen interessanterweise die europäische Vorstellung des 20. Jahrhunderts, der Historiker müsse zu einem »Übermenschen « werden, »der immer größere Teile vergangener Erfahrungen verarbeiten und dabei auch fachfremde Methoden anwenden sollte, er sollte nicht nur Historiker, sondern auch Geograph, Soziologe, Kunst- und Literaturkritiker und vieles andere sein«. Dies komme insbesondere in der Annales-Schule zum Tragen mit ihrem Anspruch, Geschichtsschreibung solle »totale Geschichte« sein und alle Aspekte einer Gesellschaft umfassen. Diese Entwicklung führte gleichzeitig zu Befürchtungen hinsichtlich der Reichweite von Geschichte und der professionellen Rollen; die Angst vor übermäßiger Spezialisierung ist genauso groß wie die vor übermäßiger Generalisierung. Gleichzeitig entstand eine ganz neue professionelle Vielfalt im Hinblick darauf, welche Arten von Geschichte geschrieben werden und wie.
Diese Veränderungen finden Ausdruck in dem Beitrag von Miri Rubin. Sie zeigt, wie stark sich die Religionsgeschichte seit dem späten 20. Jahrhundert ausdifferenziert hat. Heute schreiben nicht mehr vorwiegend praktizierende Vertreter bestimmter Konfessionen über ihre jeweilige Religion oder über Ideen, die angeblich ein festes Lehrgebäude ergeben. Religionsgeschichte ist, wie andere Felder der Geschichtsschreibung auch, längst nicht mehr so von männlichen Forschern dominiert, wie das früher der Fall war. Durch den Dialog mit anthropologischen Ansätzen schenken die Forscher mittlerweile den »Erfahrungen der großen Masse der Gläubigen größere Aufmerksamkeit [...], den Formen, in denen eine religiöse Kosmologie - ein Weltverständnis - das Leben von Menschen strukturiert«. Dabei ist das Verhältnis von Geschlecht, Körper und Raum zu religiösen Identitäten in den Mittelpunkt gerückt. Rubin macht deutlich, wie lohnend Fragestellungen sind, die spirituelle Kulturen als konstitutiv für Identitäten untersuchen und sich mit ihrer Weitergabe quer durch Weltreligionen befassen. Zwiesprache mit dem Übernatürlichen ist ein wichtiges Element, wenn es darum geht, wie Kulturen Emotionen, etwa Trauer oder Hoffnung, kanalisieren. Eiko Ikegami untersucht, wie Gesellschaften generell Methoden entwickelt haben, um Gefühle auszudrücken und zu beherrschen, und führt uns damit in die jüngste der heute bestehenden Unterdisziplinen von Clio ein: die Emotionsgeschichte. Sie stellt das Konzept eines natürlichen Dualismus von Körper und Geist in Frage und konfrontiert Norbert Elias' Annahme einer fortschreitenden und spezifisch westlichen Entwicklung hin zu immer zivilisierteren Formen des Verhaltens mit japanischen Belegen. Das wirft neue Fragen auf: Warum kam es nicht einmal im Mittelalter japanischen Höflingen in den Sinn, sich in die Ärmel zu schnäuzen, während in Europa noch im 16. Jahrhundert der Humanist Erasmus solche Gepflogenheiten kritisierte? Erzählen uns unterschiedliche Körpertechniken am meisten darüber, wie die Menschen Grenzen zwischen sich und anderen zogen und ob sie ein Schamgefühl verinnerlicht hatten? Was sollen wir von neurowissenschaftlichen Aussagen halten, in denen wir oft als Spezies ohne spezifische Geschichte und Gesellschaften behandelt werden?
Unter Historikern werden Ideen und Methoden, Menschen zu verstehen und zu kategorisieren, über lange Zeiträume weitergegeben und angepasst. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, endgültige »Paradigmenwechsel« aufzuspüren, den Augenblick, da alte Ideen auf einmal abgenutzt erscheinen und reif, aufgegeben zu werden, wie Anthony Grafton im letzten Beitrag dieser Einführung darlegt. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die lebhaften Debatten unter Ideengeschichtlern, wie man am besten die Kontexte erklären kann, in denen Ideen auftauchen und Gestalt annehmen, und warum jeder Determinismus bei präzisen kausalen Faktoren üblicherweise durch die Komplexität der Fakten widerlegt wird. Grafton zeigt außerdem, warum zentrale »große Erzählungen« wie Max Webers Idee, der westliche Kapitalismus sei eine Ausnahmeerscheinung und kausal mit der protestantischen Einstellung zu Arbeit und Konsum verknüpft, nicht länger Unterstützung finden. Wie Christopher Bayly betont auch Grafton, dass Ideengeschichte »ein neues Verständnis vieler Geschichten in der Weltgeschichte« liefern kann, wenn sie Kulturgrenzen überwindet und mit anderen Unterdisziplinen der Geschichtswissenschaft zusammenarbeitet.
Ich habe die einzelnen Kapitel nicht in der Reihenfolge vorgestellt, wie sie im Buch erscheinen, sondern mit Blick auf die Verbindungen zwischen ihnen. Alle Autoren machen die außerordentliche Dynamik der historischen Forschung in den letzten Jahrzehnten deutlich. Ich habe auf Fäden hingewiesen, die aus meiner Sicht das Gewebe dieses Buches bilden, in dem sich vielleicht ein neues Muster der Geschichtswissenschaft abzuzeichnen beginnt. Es bleibt den Lesern überlassen, zu beurteilen, welche Löcher das Gewebe noch aufweist, oder ob Dichtheit, Struktur, Farbe und die reichen Möglichkeiten, die bereits jetzt sichtbar sind, aufwiegen, dass noch manches fehlt.
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Autoren-Porträt
Rublack, UlinkaUlinka Rublack, geboren 1967, studierte in Hamburg und Cambridge und lehrt seit 1996 Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit am St John's College in Cambridge/GB. Sie gehört zu den Begründerinnen des Cambridge Centre for Gender Studies. Zu ihren wichtigen Veröffentlichungen zählen u.a. "Magd, Metz' oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten" (1998), "Die Reformation in Europa" (2003), "Dressing Up: Cultural Identity in Renaissance Europa" (2010).
Bibliographische Angaben
- 2013, 1. Auflage, 576 Seiten, Masse: 15,1 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Ulinka Rublack
- Übersetzer: Michael Bayer, Norbert Grasmück, Norbert Juraschitz
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 310067605X
- ISBN-13: 9783100676054
- Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Rezension zu „S. Fischer Geschichte / Die Neue Geschichte “
verständlich und für ein breiteres Publikum geschrieben. [...] Mit diesem Buch sollte sich jeder intensiv auseinandersetzen, der sich für kritische, suchende und innovative Geschichtsschreibung interessiert. Hubertus Büschel H-Soz-u-Kult 20131008
Pressezitat
verständlich und für ein breiteres Publikum geschrieben. [...] Mit diesem Buch sollte sich jeder intensiv auseinandersetzen, der sich für kritische, suchende und innovative Geschichtsschreibung interessiert. Hubertus Büschel H-Soz-u-Kult 20131008
Kommentar zu "S. Fischer Geschichte / Die Neue Geschichte"
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