Die Nacht, die Lichter
Stories. Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Bellestristik 2008
Er setzt alles auf eine Karte, der Hundebesitzer, der auf der Rennbahn sein Geld verwettet, um eine teure OP zahlen zu können. Sie will es allen zeigen, die junge Frau, und sich vom Flüchtlingsschiff in die erste Liga hochboxen. Clemens Meyers Geschichten...
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Produktinformationen zu „Die Nacht, die Lichter “
Klappentext zu „Die Nacht, die Lichter “
Er setzt alles auf eine Karte, der Hundebesitzer, der auf der Rennbahn sein Geld verwettet, um eine teure OP zahlen zu können. Sie will es allen zeigen, die junge Frau, und sich vom Flüchtlingsschiff in die erste Liga hochboxen. Clemens Meyers Geschichten spielen in der stillen Wohnung, in der Lagerhalle und am Fluss. Seine Helden sind dem Leben ausgesetzt, es sind die Heimatlosen und Träumer, die die nächtliche Stadt durchstreifen. Meyer trifft die Töne unserer Zeit: In seinen rauen, präzisen und zarten Sätzen erzählt er von grossen Illusionen, von Sehnsucht und Einsamkeit.»Ich will Geschichten schreiben, die leuchten.«
Clemens Meyer
Lese-Probe zu „Die Nacht, die Lichter “
Die Nacht, die Lichter von Clemens Meyer LESEPROBE Die Nacht, die Lichter
Es ist die letzte Nacht, die ich habe, aber das sage ich ihr nicht, und wir laufen durch die Straßen, und ich blicke auf die Lichter und dann auf sie, denn sie ist genauso schön wie früher, als wären wir immer noch fünfzehn, sechzehn, nein, sie war dreizehn gewesen, und irgendwie ist ein Teil von damals noch in ihr, und ich blicke auf die Lichter und erzähle so dies und das.
Sie sagt irgendwas, und ich sage: »Ja, stimmt«, und dann schweigen wir eine Weile und laufen weiter, bis sie vor einer dieser feinen Bars stehen bleibt, in denen es schicke Cocktails und schicke Leute gibt, und sie sagt: »Hier.«
... mehr
Ich will ihr die Tür aufhalten, aber sie ist schneller, und ich gehe an ihr vorbei nach drinnen. Ich blicke zur Bar und durch den halb dunklen Raum und spüre, wie sie hinter mir steht, und ich gehe zu einem der kleinen Tische. Wir setzen uns. An den anderen Tischen und an der Bar sitzen Frauen und Männer im Dämmerlicht und trinken bunte Cocktails oder Kaffee aus großen, runden Tassen ohne Henkel. Ich blicke kurz zu ihr, sie liest in der Karte, und ich beobachte ihre Hand, die sich ganz langsam übers Papier bewegt. Ich blicke auf ihr Gesicht, und auch ihre Lippen bewegen sich ganz langsam, viele schöne Cocktails mit bunten Strohhalmen und kleinen Schirmchen und Kaffee in großen, runden Tassen ohne Henkel, sie bewegt die Lippen und starrt auf das Papier, und dann zerknüllt sie es und sagt: »Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe, warum kapierst du nicht, dass ich nichts mit dir zu tun haben will«, und obwohl sie das schon so oft gesagt hat, nicke ich nur und blicke sie an. Sie nimmt den zerknüllten Brief mit, als sie aufsteht, warum lässt sie ihn nicht liegen?, und ich blicke ihr hinterher, bis sie an der Tür ist und sich nochmal umdreht und mich böse anguckt, mit einer kleinen Falte über ihrer Nase bis hoch zur Stirn, und dann ist sie weg.
Ein kleines Bier steht vor mir, ich weiß nicht, wo das herkommt, und sie sagt: »Na dann ... zum Wohl«, ich nicke und sage: »Zum Wohl«, und wir stoßen an.
Wir stellen unsere Gläser fast gleichzeitig wieder ab, sie trinkt einen dunkelroten Cocktail, Blutorange oder so was, und ein Streifen von dem Zeug ist über ihrer Oberlippe. Ich versuche, ihr nicht zu lange in die Augen zu sehen, und streiche mit meinem Zeigefinger ein paar Mal über meinen Mund. Sie lächelt, nimmt eine Serviette und wischt den roten Streifen weg. Ich trinke einen Schluck und blicke dann in mein Glas. Ich höre, wie auch sie was trinkt, ich höre sie husten, dann nur noch die Musik und das leise Gerede von den Nachbartischen.
Ich lege die Fingerspitzen an mein Bierglas und streiche über die Wölbung und den langen, dünnen Stiel, auf dem es steht, ist eins von diesen kleinen Gläsern, die wir früher »Tulpe« nannten, aber das habe ich schon lange nicht mehr gehört.
»Warst du oft in der Stadt in den letzten Jahren?« »Nein«, sage ich, ohne aufzublicken.
»Nur, wenn du Geschäfte gemacht hast.« Sie lacht, und ich weiß nicht, warum, und das macht mir Angst, und ich frage: »Warum lachst du?« Und sie lacht, und ich blicke auf ihre oberen Vorderzähne, die beiden in der Mitte sind ein kleines bisschen länger als die daneben, aber nur ein ganz kleines bisschen, und ich sehe sie lachen und ihre Zähne, obwohl sie so weit weg ist, sie läuft mit den anderen Mädchen durch die Sporthalle, aber ich sehe nur sie und lehne die Stirn an die Scheibe.
»Ich stell mir vor«, sagt sie und lacht immer noch, »ich kann mir nicht vorstellen, weißt du, wie du in einem Anzug...«
Ich nicke. »Konnt ich früher auch nicht.«
Sie hört auf zu lachen. »Tut mir leid«, sagt sie. »Nein«, sage ich, »muss es nicht.«
»Ich freu mich doch«, sie beugt sich vor, und ihr Gesicht ist ziemlich nah an meinem, »dass es dir gut geht. Ich hab manchmal gedacht in den Jahren ...«
»Was hast du gedacht in den Jahren?«
»Na ja, weißt du«, sie beugt sich noch weiter vor, und ich spüre einen winzigen Tropfen von ihr irgendwo unter meinem Jochbein, »dass ich so böse zu dir war, früher, und dann tut’s mir leid.«
»Nein«, sage ich, »muss es nicht«, und spüre immer noch den kleinen Tropfen und neige meinen Kopf und wische ihn mit der Schulter weg.
»Ich«, sagt sie, »ich ...« Sie nimmt diesen dunkelroten Cocktail, zieht den Strohhalm raus und legt ihn auf den Tisch, dann trinkt sie ein paar Schlucke und hält das Glas mit beiden Händen fest. »Vielleicht ... ich war wohl noch nicht so weit, damals.«
»Warum, warum sagst du so was?« Ich trinke mein Bier in einem Zug aus und knalle das Glas auf den Tisch, nein, ich habe alles unter Kontrolle und setze es vorsichtig zurück auf den Untersetzer. »Nach all den Jahren ...«
»Ich hab dich ... hab dich so lange nicht gesehen«, sagt sie, »und jetzt ... und jetzt, versteh mich nicht falsch ...«
»Nein, nein«, sage ich, »ich versteh dich nicht falsch, hab dich auch damals gut verstanden.« Ich setze das leere Glas nochmal an und spüre den kleinen Rest des Biers auf der Lippe, dann sage ich: »Tut mir leid.«
»Nein«, sagt sie, und der kleine Tisch bewegt sich, weil auch sie sich bewegt, »muss es nicht.«
Wir blicken uns an, ich nicke, sie lächelt, ich drehe mich um und winke den Kellner ran. Der Typ sieht ziemlich schwul aus in seinem hautengen lila Hemd, und ich lächele ihn an, so wie ich sie anlächeln will, »Na, Schwuchtel«, sage ich, »bist einsam, was«, nein, ich denke es bloß und bestelle ein kleines Bier. »Willst du noch was«, frage ich sie, und sie schüttelt den Kopf. Der Kellner nimmt mein leeres Glas und trippelt langsam vor zur Bar.
»Und du willst wirklich in der Stadt bleiben?« Sie stützt
ihr Kinn auf beide Hände, und ich nicke und versuche zu lächeln und sage: »Mal sehen.«
»Und die Geschäfte?«
»Ja, ja«, sage ich, »die gehen ... gehen ganz gut. Kann nicht klagen.«
»Ist ein schönes Hotel, wo du wohnst.«
»Ja«, sage ich, »ist nicht schlecht, ist wirklich nicht ... aber auf Dauer ...«
»Stimmt«, sagt sie, »du kannst dir ja eine Wohnung, ich kenn da ... also ich meine, wenn du willst ...«
»Mal sehen«, sage ich, und dann ist endlich mein Bier da, und ich setze das Glas an und trinke und denke an das Hotel und an die Wohnung und an sie, wie ich sie vor drei Tagen getroffen habe, obwohl sie ja vor mir sitzt, denke an ihre Teetasse, die noch in dem Zimmer steht, das nicht mir gehört, seit drei Tagen steht sie auf dem Tisch, Hagebuttentee, ich kenne niemanden sonst, der so was trinkt, und der Teebeutel liegt noch neben der Tasse, klein, braun und verschrumpelt. Ich stelle das leere Bierglas auf den Tisch und stehe auf. »Muss nur mal.« Ich laufe zwischen den Tischen rum und suche das Klo, Frau und Mann, an vier, fünf kleinen Tischen, überall eine Kerze auf den Tischen, genau wie bei uns, Frau – Frau – Frau, zwei Männer alleine an einem Tisch, auch mit Kerze, aber keiner ganz allein, der schwule Kellner steht hinter der Bar und flirtet mit einer Frau und sieht plötzlich gar nicht mehr schwul aus, und dann sehe ich endlich die Klotüren in einer Nische neben der Bar. Links ein Mann, rechts eine Frau, und ich stolpere gegen die Tür, und bevor ich sie aufmache, drehe ich mich nochmal um. Unser Tisch ist weit weg jetzt, sie sitzt mit dem Rücken zu mir und stützt das Kinn auf beide Arme und bewegt sich nicht.
Ich stehe am Waschbecken, das kalte Wasser läuft mir aus den Haaren und übers Gesicht. Ich blicke in den Spiegel. Ich trage ein weißes Hemd, das ich mir am Morgen gekauft habe, ich trage sonst keine weißen Hemden und auch keinen Anzug, und jetzt tropft das Wasser aus meinen Haaren und meinem Gesicht auf das Hemd und macht kleine Flecken auf dem Stoff. Ich sehe mein bleiches Gesicht und versuche zu lächeln und stütze mich auf den Rand des Waschbeckens.
»Ob ich allein bin?« Ich nicke. »Keine Frau, keine Kinder. Die ... die Geschäfte, weißt du ...«»Und ...«
»Ob ich über so was nachdenke, meinst du? Ja, manchmal.« Ich blicke auf die Tasse, die zwischen uns auf dem Tisch des Hotelzimmers steht, ich habe mir einen Whisky bestellt, ich halte das Glas seit zehn Minuten in der rechten Hand, und die drei Eiswürfel werden immer kleiner, Hagebuttentee, ich kenne keinen, der so was trinkt, und dann ist die Tasse plötzlich leer, und der Teebeutel liegt neben der Tasse auf dem Tisch, klein, braun und verschrumpelt.
»Ob ich allein bin?« Ich grinse in den Spiegel und sage: »Noch nicht, aber bald«, und als die Tür auf- und wieder zugeht und irgendein Typ hinter mir ist, drehe ich mich um, packe ihn mit der Linken am Hals, stoße ihn gegen die Wand und drücke seinen Kopf gegen die Fliesen. »Lass die Finger von ihr, du Arsch, lass bloß deine scheiß Finger von ihr.«
Er will was sagen, aber ich habe ihn so fest am Hals, dass nur seine Lippen sich bewegen, und ich lege meine rechte Hand auf seinen Mund und drücke seinen Kopf noch fester an die Wand. »Fass sie nicht an«, flüstere ich in sein Ohr, »lass bloß deine scheiß Finger von ihr.« Er ist jetzt still und rührt sich nicht und atmet ganz schnell ein und wieder aus, und ich spüre seinen Atem auf meiner Hand. Ich lasse ihn los. Ich drehe mich um und sehe ihn im Spiegel. Er ist bleich und still.
»Tut mir leid«, sage ich, »du Arschloch hast ja nichts damit zu tun.«
Ich trockne mir das Gesicht mit einem Papierhandtuch ab. Ich habe Angst, dass jemand durch die Tür kommt, denn ich will doch noch ein wenig bei ihr sein. Ich mache die Tür auf und sehe sie weit weg an unserem Tisch, sie schiebt die Kerze hin und her, und ich spüre, wie ich lächeln muss. Ich gehe zur Bar und bezahle, und dann bin ich wieder bei ihr. »Lass uns hier abhauen«, sage ich und lege meine Hand ganz vorsichtig auf ihre Schulter, »lass uns woanders hingehen. Bitte.« Ihre Schulter bewegt sich, und ich nehme meine Hand wieder weg.
»Geht’s dir nicht gut?« Sie steht auf, und ich trete ein paar Schritte zurück.
»Nein, nein«, ich sehe, wie jemand aufs Klo geht, ist aber eine Frau, »ich brauch nur bisschen frische Luft. Lass uns woanders hingehen. Billard, kannst du Billard spielen?«
»Ein bisschen«, sagt sie, und dann gehen wir an all den Tischen und Kerzen vorbei nach draußen. © Fischer Verlag
Ein kleines Bier steht vor mir, ich weiß nicht, wo das herkommt, und sie sagt: »Na dann ... zum Wohl«, ich nicke und sage: »Zum Wohl«, und wir stoßen an.
Wir stellen unsere Gläser fast gleichzeitig wieder ab, sie trinkt einen dunkelroten Cocktail, Blutorange oder so was, und ein Streifen von dem Zeug ist über ihrer Oberlippe. Ich versuche, ihr nicht zu lange in die Augen zu sehen, und streiche mit meinem Zeigefinger ein paar Mal über meinen Mund. Sie lächelt, nimmt eine Serviette und wischt den roten Streifen weg. Ich trinke einen Schluck und blicke dann in mein Glas. Ich höre, wie auch sie was trinkt, ich höre sie husten, dann nur noch die Musik und das leise Gerede von den Nachbartischen.
Ich lege die Fingerspitzen an mein Bierglas und streiche über die Wölbung und den langen, dünnen Stiel, auf dem es steht, ist eins von diesen kleinen Gläsern, die wir früher »Tulpe« nannten, aber das habe ich schon lange nicht mehr gehört.
»Warst du oft in der Stadt in den letzten Jahren?« »Nein«, sage ich, ohne aufzublicken.
»Nur, wenn du Geschäfte gemacht hast.« Sie lacht, und ich weiß nicht, warum, und das macht mir Angst, und ich frage: »Warum lachst du?« Und sie lacht, und ich blicke auf ihre oberen Vorderzähne, die beiden in der Mitte sind ein kleines bisschen länger als die daneben, aber nur ein ganz kleines bisschen, und ich sehe sie lachen und ihre Zähne, obwohl sie so weit weg ist, sie läuft mit den anderen Mädchen durch die Sporthalle, aber ich sehe nur sie und lehne die Stirn an die Scheibe.
»Ich stell mir vor«, sagt sie und lacht immer noch, »ich kann mir nicht vorstellen, weißt du, wie du in einem Anzug...«
Ich nicke. »Konnt ich früher auch nicht.«
Sie hört auf zu lachen. »Tut mir leid«, sagt sie. »Nein«, sage ich, »muss es nicht.«
»Ich freu mich doch«, sie beugt sich vor, und ihr Gesicht ist ziemlich nah an meinem, »dass es dir gut geht. Ich hab manchmal gedacht in den Jahren ...«
»Was hast du gedacht in den Jahren?«
»Na ja, weißt du«, sie beugt sich noch weiter vor, und ich spüre einen winzigen Tropfen von ihr irgendwo unter meinem Jochbein, »dass ich so böse zu dir war, früher, und dann tut’s mir leid.«
»Nein«, sage ich, »muss es nicht«, und spüre immer noch den kleinen Tropfen und neige meinen Kopf und wische ihn mit der Schulter weg.
»Ich«, sagt sie, »ich ...« Sie nimmt diesen dunkelroten Cocktail, zieht den Strohhalm raus und legt ihn auf den Tisch, dann trinkt sie ein paar Schlucke und hält das Glas mit beiden Händen fest. »Vielleicht ... ich war wohl noch nicht so weit, damals.«
»Warum, warum sagst du so was?« Ich trinke mein Bier in einem Zug aus und knalle das Glas auf den Tisch, nein, ich habe alles unter Kontrolle und setze es vorsichtig zurück auf den Untersetzer. »Nach all den Jahren ...«
»Ich hab dich ... hab dich so lange nicht gesehen«, sagt sie, »und jetzt ... und jetzt, versteh mich nicht falsch ...«
»Nein, nein«, sage ich, »ich versteh dich nicht falsch, hab dich auch damals gut verstanden.« Ich setze das leere Glas nochmal an und spüre den kleinen Rest des Biers auf der Lippe, dann sage ich: »Tut mir leid.«
»Nein«, sagt sie, und der kleine Tisch bewegt sich, weil auch sie sich bewegt, »muss es nicht.«
Wir blicken uns an, ich nicke, sie lächelt, ich drehe mich um und winke den Kellner ran. Der Typ sieht ziemlich schwul aus in seinem hautengen lila Hemd, und ich lächele ihn an, so wie ich sie anlächeln will, »Na, Schwuchtel«, sage ich, »bist einsam, was«, nein, ich denke es bloß und bestelle ein kleines Bier. »Willst du noch was«, frage ich sie, und sie schüttelt den Kopf. Der Kellner nimmt mein leeres Glas und trippelt langsam vor zur Bar.
»Und du willst wirklich in der Stadt bleiben?« Sie stützt
ihr Kinn auf beide Hände, und ich nicke und versuche zu lächeln und sage: »Mal sehen.«
»Und die Geschäfte?«
»Ja, ja«, sage ich, »die gehen ... gehen ganz gut. Kann nicht klagen.«
»Ist ein schönes Hotel, wo du wohnst.«
»Ja«, sage ich, »ist nicht schlecht, ist wirklich nicht ... aber auf Dauer ...«
»Stimmt«, sagt sie, »du kannst dir ja eine Wohnung, ich kenn da ... also ich meine, wenn du willst ...«
»Mal sehen«, sage ich, und dann ist endlich mein Bier da, und ich setze das Glas an und trinke und denke an das Hotel und an die Wohnung und an sie, wie ich sie vor drei Tagen getroffen habe, obwohl sie ja vor mir sitzt, denke an ihre Teetasse, die noch in dem Zimmer steht, das nicht mir gehört, seit drei Tagen steht sie auf dem Tisch, Hagebuttentee, ich kenne niemanden sonst, der so was trinkt, und der Teebeutel liegt noch neben der Tasse, klein, braun und verschrumpelt. Ich stelle das leere Bierglas auf den Tisch und stehe auf. »Muss nur mal.« Ich laufe zwischen den Tischen rum und suche das Klo, Frau und Mann, an vier, fünf kleinen Tischen, überall eine Kerze auf den Tischen, genau wie bei uns, Frau – Frau – Frau, zwei Männer alleine an einem Tisch, auch mit Kerze, aber keiner ganz allein, der schwule Kellner steht hinter der Bar und flirtet mit einer Frau und sieht plötzlich gar nicht mehr schwul aus, und dann sehe ich endlich die Klotüren in einer Nische neben der Bar. Links ein Mann, rechts eine Frau, und ich stolpere gegen die Tür, und bevor ich sie aufmache, drehe ich mich nochmal um. Unser Tisch ist weit weg jetzt, sie sitzt mit dem Rücken zu mir und stützt das Kinn auf beide Arme und bewegt sich nicht.
Ich stehe am Waschbecken, das kalte Wasser läuft mir aus den Haaren und übers Gesicht. Ich blicke in den Spiegel. Ich trage ein weißes Hemd, das ich mir am Morgen gekauft habe, ich trage sonst keine weißen Hemden und auch keinen Anzug, und jetzt tropft das Wasser aus meinen Haaren und meinem Gesicht auf das Hemd und macht kleine Flecken auf dem Stoff. Ich sehe mein bleiches Gesicht und versuche zu lächeln und stütze mich auf den Rand des Waschbeckens.
»Ob ich allein bin?« Ich nicke. »Keine Frau, keine Kinder. Die ... die Geschäfte, weißt du ...«»Und ...«
»Ob ich über so was nachdenke, meinst du? Ja, manchmal.« Ich blicke auf die Tasse, die zwischen uns auf dem Tisch des Hotelzimmers steht, ich habe mir einen Whisky bestellt, ich halte das Glas seit zehn Minuten in der rechten Hand, und die drei Eiswürfel werden immer kleiner, Hagebuttentee, ich kenne keinen, der so was trinkt, und dann ist die Tasse plötzlich leer, und der Teebeutel liegt neben der Tasse auf dem Tisch, klein, braun und verschrumpelt.
»Ob ich allein bin?« Ich grinse in den Spiegel und sage: »Noch nicht, aber bald«, und als die Tür auf- und wieder zugeht und irgendein Typ hinter mir ist, drehe ich mich um, packe ihn mit der Linken am Hals, stoße ihn gegen die Wand und drücke seinen Kopf gegen die Fliesen. »Lass die Finger von ihr, du Arsch, lass bloß deine scheiß Finger von ihr.«
Er will was sagen, aber ich habe ihn so fest am Hals, dass nur seine Lippen sich bewegen, und ich lege meine rechte Hand auf seinen Mund und drücke seinen Kopf noch fester an die Wand. »Fass sie nicht an«, flüstere ich in sein Ohr, »lass bloß deine scheiß Finger von ihr.« Er ist jetzt still und rührt sich nicht und atmet ganz schnell ein und wieder aus, und ich spüre seinen Atem auf meiner Hand. Ich lasse ihn los. Ich drehe mich um und sehe ihn im Spiegel. Er ist bleich und still.
»Tut mir leid«, sage ich, »du Arschloch hast ja nichts damit zu tun.«
Ich trockne mir das Gesicht mit einem Papierhandtuch ab. Ich habe Angst, dass jemand durch die Tür kommt, denn ich will doch noch ein wenig bei ihr sein. Ich mache die Tür auf und sehe sie weit weg an unserem Tisch, sie schiebt die Kerze hin und her, und ich spüre, wie ich lächeln muss. Ich gehe zur Bar und bezahle, und dann bin ich wieder bei ihr. »Lass uns hier abhauen«, sage ich und lege meine Hand ganz vorsichtig auf ihre Schulter, »lass uns woanders hingehen. Bitte.« Ihre Schulter bewegt sich, und ich nehme meine Hand wieder weg.
»Geht’s dir nicht gut?« Sie steht auf, und ich trete ein paar Schritte zurück.
»Nein, nein«, ich sehe, wie jemand aufs Klo geht, ist aber eine Frau, »ich brauch nur bisschen frische Luft. Lass uns woanders hingehen. Billard, kannst du Billard spielen?«
»Ein bisschen«, sagt sie, und dann gehen wir an all den Tischen und Kerzen vorbei nach draußen. © Fischer Verlag
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Autoren-Porträt von Clemens Meyer
Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle / Saale, lebt in Leipzig. 2006 erschien sein Debütroman »Als wir träumten«, es folgten »Die Nacht, die Lichter. Stories« (2008), »Gewalten. Ein Tagebuch« (2010), der Roman »Im Stein« (2013), die Frankfurter Poetikvorlesungen »Der Untergang der Äkschn GmbH« (2016) und die Erzählungen »Die stillen Trabanten« (2017). Für sein Werk erhielt Clemens Meyer zahlreiche Preise, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse. »Im Stein« stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, wurde mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet. Literaturpreise:Klopstock-Preis für neue Literatur 2020Stadtschreiber von Bergen-Enkheim 2018/2019Premio Salerno Libro d'Europa 2017Finalist Premio Gregor von Rezzori 2017Longlist Man Booker International Prize 2017Mainzer Stadtschreiber 2016Bremer Literaturpreis 2013Shortlist Deutscher Buchpreis 2013Stahl-Literaturpreis, 2010TAGEWERK-Stipendium der Guntram und Irene Rinke-Stiftung, 2009Preis der Leipziger Buchmesse, 2008Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg, 2007Märkisches Stipendium für Literatur, 2007Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, 2007Mara-Cassens-Preis, 2006Rheingau-Literatur-Preis, 2006Einladung zum Ingeborg Bachmann-Wettbewerb, 2006Nominierung zum Preis der Leipziger Buchmesse, 20062. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2003Literatur-Stipendium des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, 20021. Platz MDR-Literaturwettbewerb, 2001
Bibliographische Angaben
- Autor: Clemens Meyer
- 2008, 3. Aufl., 272 Seiten, Masse: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100486013
- ISBN-13: 9783100486011
- Erscheinungsdatum: 06.02.2008
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