Die Montagsangst
So beginnt die Geschichte des Pfarrerkindes, das für den Fahnenappell am Montagmorgen auf dem Schulhof weder die Pionierbluse noch das FDJ-Hemd hat. Und durch sein Anderssein allein dasteht gegen Lehrer, Mitschüler und die mächtige Unterdrückungsmaschinerie...
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Produktinformationen zu „Die Montagsangst “
Klappentext zu „Die Montagsangst “
So beginnt die Geschichte des Pfarrerkindes, das für den Fahnenappell am Montagmorgen auf dem Schulhof weder die Pionierbluse noch das FDJ-Hemd hat. Und durch sein Anderssein allein dasteht gegen Lehrer, Mitschüler und die mächtige Unterdrückungsmaschinerie des Staates. Mit der rigorosen Schilderung der Erfahrungen eines Kindes im Schulalltag der DDR geht die Autorin seit Jahren auf Lesereise. In dieser Neuauflage erzählt sie über ihre Erfahrungen, die sie auf ihren Reisen macht, und die verschiedenartigen Reaktionen der Zuhörer. Weit deutlicher als alle Reden zum Tag der Deutschen Einheit vermittelt dieses Buch dem Leser ein authentisches Stück deutsch-deutschen Alltags.Lese-Probe zu „Die Montagsangst “
Die Montagsangst von Caritas FührerDie Angst hat einen Namen. Sie heißt Montag. Die Angst hat viele Namen. Aber das Kind kann sie nicht nennen. Das Kind spürt nur, wie das Leben begonnen hat, sich aus vielen Ängsten zusammenzusetzen. Ein dunkles, unheimliches Mosaik. Das Kind weiß, dass es aus diesem Mosaik nicht herauskann.
Es lässt sich von der Mutter morgens die Zöpfe flechten, es wählt zwischen roten und blauen Schleifen, es packt die Fettbrote ein, isst seine Haferflockensuppe und denkt nur, dass alles wieder losgeht. Und dann, manchmal, schreit einer der Brüder oder eine der Schwestern dieses Wort, und sie müssen aufspringen und alles stehenlassen, und dann wird sie bei der Hand gefasst, und sie rennen. Schneller, so lauf doch, schreit es neben ihr, dabei rennt sie schon, was das Zeug hält; die jungen Ahornbäume rechts und links rasen vorbei, fern das hölzerne Tor, der Zaun, das dumpfe verwitterte Gebäude mit der Uhr, sie sehen es schon, schneller, das Kind keucht, sein Herz klopft wild, sie sind schon um die Ecke, da schiebt der Schüler mit der weißen Armbinde überm Blauhemd das Tor zu, langsam, lächelnd, aber doch zu schnell, um noch hineinzuschlüpfen, zu, aus. Sie hören die Fanfare im Schulhof, sie sind zu spät gekommen, sie lehnen sich an den Zaun, dem Kind ist schlecht. Verpasst, sagt jemand, Strafe, sagt jemand. Angst, denkt das Kind. Die Angst hat einen Namen. Sie heißt Montag. Montag ist Fahnenappell.
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Meistens hat die Mutter daran gedacht, meistens ist das Kind rechtzeitig durch das Holztor marschiert, hat den Block mit seiner Klasse gefunden, hat sich hinter die anderen gestellt, die in ihrer Pionierkleidung strammstanden, hat sich von der Lehrerin am Arm fassen und in die letzte Reihe schieben lassen. Rechts und links weiße Hemden, blaue und rote Halstücher, blaue Käppis. Das Kind im blauen Nylonanorak mit Kunstpelz an der Kapuze. Pioniere stimmt an, lasst uns vorwärts gehn, Pioniere voran, lasst die Fahnen wehn, unsre Straße, die führt in das Morgenlicht hinein, wir sind stolz, Pioniere zu sein. Die Straße des Kindes führt nicht in das Morgenlicht hinein, denn es ist kein Pionier, ist kein Jungpionier und wird auch kein Thälmannpionier sein, kann nicht stolz sein, Pionier zu sein. Kann also auch dieses Lied nicht singen. Weiß, dass Pionierlieder zum Liedgut einer sozialistischen Schule gehören, folglich zum Lernstoff im Unterrichtsfach Musik, kann aber dieses Lied nicht mitsingen, kann nicht, hat Angst, dass die Lehrerin es sieht, schaut zu Boden, krümmt sich, ist schon ganz klein, beinahe unsichtbar. Stillgestanden! Richt' euch! Augen geradeaus! Man muss nach vorn sehen, wo die Männer stehen, auf die das Wort Angst auch zutrifft, muss sie ansehen und anhören. Der Pionierleiter mit dem für seinen Beruf geradezu frevelhaft klingenden Namen Traugott Kirchner, der Direktor, der stellvertretende Direktor. Ältere Schüler im Blauhemd - Schüler mit Funktion. Die endlosen Ansagen, die jederzeit mögliche Gefahr, einer öffentlichen Rüge oder einem Verweis beiwohnen zu müssen; die sich von Jahr zu Jahr steigernde Angst, selbst einmal aufgerufen zu werden, nach vorn gehen zu müssen zu der Fahnenstange, dorthin, wo alle Kinder - Augen geradeaus - hinschauen, und dort allein zu stehen und einen Verweis erteilt zu bekommen. Einen Verweis für Nichtsingen von Pionierliedern während des Fahnenappells. Alles, nur nicht das, bitte, lieber Gott, nur nicht das. Die Augen links heißt Flagge. Schwarzrotgold umrahmt, klettern Hammer und Zirkel in den Himmel. Der Ährenkranz leuchtet. Thälmann ist niemals gefallen, Stimme und Faust der Nation. Wissen, dass es unwichtig ist, was die scheppernde Stimme erzählt. Wissen, dass Unwichtiges bewertet wird, dass man es einlassen muss in Herz und Hirn, um zu bestehen, um zu überleben.
Vielleicht daher noch Jahrzehnte später die Übelkeit beim Lesen von Leitartikeln in der Zeitung, die Mühe, öffentlichen Reden zu folgen, die Empfindlichkeit im Umgang mit dem deutschen Wort. Brechreiz beim Betreten einer Schule aus Anlass des Elternabends der eigenen Kinder. Rührt euch! Nehmt die Taschen auf! Die lederne Schultasche geschultert einreihen in die Herde vorm Mädcheneingang. Zwei und zwei. Erinnerung an lange, dunkle Gänge. Dunkles Schulgebäude, finstere Schulzeit. Grüne Ölsockel. Hohe, braungestrichene Türen. Neben der Bank stehen, wenn der Lehrer eintritt. Für Frieden und Sozialismus seid bereit! Die geordneten Finger der rechten Hand wie ein Hahnenkamm über dem Scheitel: Immer bereit!
Das Kind ist kein Pionier. Es muss den Pioniergruß nicht mitsprechen, aber es kann. Das Kind könnte extra begrüßt werden, mit »Guten Morgen«, mit seinem Namen. Aber es gibt keine Alternative zum Pioniergruß, denn es gibt auch längst keine Kinder mehr, keine Schüler, nur noch Pioniere.
In Klasse 1 a sitzen 10 Pioniere, in Klasse 1 b sitzen 15 Pioniere. Wie viele Pioniere sind das zusammen? Sie sind ins Rechenbuch gemalt mit ihrem blauen Halstuch. Später darf man auch das rote Tuch der Leninpioniere tragen, das im Freundschaftsbrief von Natascha oder Sergej aus dem Bruderland herüberkam.
Wer den Pioniergruß nicht mitspricht, ist nicht für den Frieden. Das Kind will bereit sein für den Frieden. In der Christenlehre sind sie auch für den Frieden. Aber für den Sozialismus bereit sein kann das Kind nicht. Der Sozialismus ist die Grenze; ist der Schreibwarenladen, in dem es monatelang kein Toilettenpapier gibt, ist der Fahnenappell, der gehasste letzte Schultag, ist die Pionierorganisation und die Lehrerin, die alle Christenlehrekinder aufstehen und auslachen lässt, ist der Biolehrer, der sagt: der Mensch stammt vom Affen ab, und Gott gibt es nicht. Der Sozialismus ist das Dilemma, kein Arbeiter- oder Bauernkind zu sein, der Sozialismus ist die Demonstration am 1. Mai und die rote Fahne, die das Kind nicht tragen will, ist das Abitur, das Christen nicht machen dürfen, und Pionierleiter Kirchner und die Wandzeitung zum Thema Waffenbrüderschaft und das verbotene Westfernsehen und das Wort Wanze, ist ... nein, für den Sozialismus seid bereit, das kann das Kind nicht bejahen, nie. Aber nicht ja dazu sagen heißt, dagegen zu sein. Und das wiederum darf man nicht. Sonst kommt man nach Bautzen. Bautzen ist etwas ganz Schlimmes, so viel weiß man schon mit sieben Jahren. Weitere sieben Jahre später die Überraschung beim Anblick der schönen alten Stadt im Herzen der Lausitz. Immer bereit. Manchmal der Wunsch, ein Halstuch zu tragen, irgendeins. Als Teenager Tücher um den Hals schlingen. Aber nie rote und blaue.
Die Zuckertüte versüßt den Weg zur Schule. Ich habe zwei Tüten bekommen, eine große und eine kleine. An dem alten hölzernen Küchenbüfett hängen vier Stundenpläne. Die Geschwister haben ihre Ranzen mit Bohnerwachs eingefettet. Ich muss nie allein zur Schule gehen. In der Hofpause suche ich die anderen. Jede Klasse hat einen Baum. Meine Schwester beschützt mich vor schlagenden Jungen. Am liebsten bin ich im Klassenzimmer, wenn es regnet. In Heimatkunde lernen wir, dass unsere Stadt »Stadt der sieben Täler« heißt. Wir können alle Täler aufzählen. Unsere Lehrerin ist jung und außerdem die Kusine meiner Banknachbarin. Maria muss aber »Sie« und »Frau Sommer« zu ihr sagen. Sie darf es keinem verraten. Unsere Lehrerin kann Geige spielen. Weil ich auch Geige lerne, bilde ich mir ein, dass sie mich deshalb besonders mag. Meine Lehrerin hat ein Baby, das in die Kinderkrippe gebracht wird. Manchmal darf ich meine Aufsätze vor der Klasse vorlesen. Wenn Frau Sommer mich lobt, habe ich das Gefühl, dass es ein glücklicher Tag ist. In der zweiten Klasse schreibe ich kleine Verse in ein Schulheft, Verse, die ich mir ausgedacht habe. Ich male Bilder dazu und lege das Heft so, dass die Lehrerin es sehen muss. Sie nimmt es von meiner Bank und liest. Was sie gesagt hat, weiß ich nicht mehr.
Am Wandertag will ich, dass meine Lehrerin mich an die Hand nimmt. Aber andere Kinder sind immer vor mir da. Ich will, dass sie sieht, wie weit ich springen kann. Ich rufe sie. Ich rufe sie laut. Im Wald wird nicht laut gerufen. Sie hat nicht hergesehen. Lange trotte ich hinter ihr her und überlege. Dann biete ich ihr meine halbe Tüte Puffmais an, wenn sie mich an die Hand nimmt. Sie ist sehr ärgerlich. Zu Hause sage ich, der Wandertag war blöd.
Mein kleiner Bruder will auch Geige lernen. Er hat die Aufnahmeprüfung in der Musikschule bestanden. Er konnte sogar Noten lesen, weil er schon gut Blockflöte spielt. Die Geigenlehrerin hat ihn gelobt und ihm die Geige mit nach Hause gegeben. Mein kleiner Bruder hat die Geige ausgepackt und angeschaut, an den Saiten gezupft und den Bogen gespannt. Er hat mich gefragt, wie die Saiten heißen. Dann hat er ein geblümtes Taschentuch geholt und vorm Einpacken über die Saiten gelegt. Bevor er zur ersten Stunde gehen konnte, kam ein Brief von der Musikschule. Mein Bruder war aufgeregt und wollte, dass Mutter ihn vorliest. Da ist Mutter hinausgegangen und hat die Tür geknallt. Am nächsten Tag hat jemand die Geige geholt. Mein Bruder hat im Treppenhaus gestanden und geweint. Er konnte schon gut Blockflöte spielen. Aber er hatte einen Vater mit dem falschen Beruf. Und er trug das blaue Halstuch nicht. Und das braucht man doch, später, zum Schülerkonzert in der Aula. Wenn man Geige spielt zum Wohle des Volkes und zum Dank an den Arbeiter-und-Bauern-Staat. Mein kleiner Bruder kann auch Klavier lernen. Er kann zum Herrn Kantor gehen, er kann daheim an dem alten schwarzen Kasten üben. Er kann sogar sehr gut werden, wenn er fleißig übt. Aber er kann kein geblümtes Taschentuch über die grimmigen schwarz-weiß-gebleckten Tastenzähne legen. Denn das Taschentuch ist mit der Geige gegangen. Unerreichbar.
Wenn ich niemanden zum Spielen habe, sitze ich am Kindertisch und male. Mein Vater bringt mir aus der Pfarramtskanzlei alte Blätter mit, die noch eine freie Rückseite haben. An Geburtstagen bekomme ich auch Zeichenblöcke. Meine Mutter schreibt auf die Bilder das Datum und legt sie in eine Mappe, oben auf den Küchenschrank. Auf vielen Bildern sind Engel gezeichnet. Mit riesigen Flügeln schweben sie über kleinen Menschen. Oft sind meine Eltern oder Geschwister zu sehen, über denen ein Engel seine Hände ausbreitet wie Schirme.
Ich habe mich wieder geprügelt. Meine Mutter steht am Aufwaschtisch. Ihr Rücken drückt Enttäuschung aus. Ich soll mich nicht prügeln. Ich bin ein Mädchen. Und Pfarrerskinder prügeln sich nicht. Überhaupt nicht. Auch dann nicht, wenn sie verspottet werden. Spott kann man ertragen. Auch nicht, wenn sie geschlagen werden. Keinen Anlass für übles Gerede geben. Die linke Backe hinhalten. Schweigen. Ich sitze am Küchentisch und kann nicht gut sein. Wenn ich aus der Christenlehre komme, weiß ich, dass ich gut sein will. Für eine Stunde. Du sollst nicht prügeln. Du sollst nicht zurückschimpfen, du sollst nicht schreien. Morgens mit Geschwistern und Freunden im Flur stehen, eng im Kreis. Mit der Mutter das Morgengebet sprechen, den Segen mitnehmen. Hier bin ich noch gut. Hier ist alles noch gut. Entlassen in den Tag mit der Last der Ermahnungen. Wissen, dass ich mich wieder prügeln werde. Weil keiner mich fragt, warum ich das tue. Ich habe zwei Waffen - die Faust und den Mund. Meine Mutter ist traurig über mich. Du bist ganz anders als deine Geschwister. Wieder ein Loch in der Strumpfhose. Lange brauche ich, um zu begreifen, dass andere Waffen mir zugedacht sind: Leistung und Wissen. Gut sein um den Preis der Gewaltlosigkeit. Lernen für den Triumph, an der Klassenspitze zu stehen. Mehr wissen müssen als andere. Geige spielen in der Elternversammlung, singen beim Fest junger Talente. Immer wieder beweisen müssen, dass ich zwar kein Pionier, aber trotzdem gut bin. Und Jahr für Jahr die Eintragung ins Zeugnisheft: Keine gesellschaftliche Tätigkeit. Gesellschaftlich tätig ist nur, wer das Halstuch trägt. Dieses Wissen allein reicht aus, um das Hirn eines Kindes für Jahre zu beschäftigen.
Meistens hat die Mutter daran gedacht, meistens ist das Kind rechtzeitig durch das Holztor marschiert, hat den Block mit seiner Klasse gefunden, hat sich hinter die anderen gestellt, die in ihrer Pionierkleidung strammstanden, hat sich von der Lehrerin am Arm fassen und in die letzte Reihe schieben lassen. Rechts und links weiße Hemden, blaue und rote Halstücher, blaue Käppis. Das Kind im blauen Nylonanorak mit Kunstpelz an der Kapuze. Pioniere stimmt an, lasst uns vorwärts gehn, Pioniere voran, lasst die Fahnen wehn, unsre Straße, die führt in das Morgenlicht hinein, wir sind stolz, Pioniere zu sein. Die Straße des Kindes führt nicht in das Morgenlicht hinein, denn es ist kein Pionier, ist kein Jungpionier und wird auch kein Thälmannpionier sein, kann nicht stolz sein, Pionier zu sein. Kann also auch dieses Lied nicht singen. Weiß, dass Pionierlieder zum Liedgut einer sozialistischen Schule gehören, folglich zum Lernstoff im Unterrichtsfach Musik, kann aber dieses Lied nicht mitsingen, kann nicht, hat Angst, dass die Lehrerin es sieht, schaut zu Boden, krümmt sich, ist schon ganz klein, beinahe unsichtbar. Stillgestanden! Richt' euch! Augen geradeaus! Man muss nach vorn sehen, wo die Männer stehen, auf die das Wort Angst auch zutrifft, muss sie ansehen und anhören. Der Pionierleiter mit dem für seinen Beruf geradezu frevelhaft klingenden Namen Traugott Kirchner, der Direktor, der stellvertretende Direktor. Ältere Schüler im Blauhemd - Schüler mit Funktion. Die endlosen Ansagen, die jederzeit mögliche Gefahr, einer öffentlichen Rüge oder einem Verweis beiwohnen zu müssen; die sich von Jahr zu Jahr steigernde Angst, selbst einmal aufgerufen zu werden, nach vorn gehen zu müssen zu der Fahnenstange, dorthin, wo alle Kinder - Augen geradeaus - hinschauen, und dort allein zu stehen und einen Verweis erteilt zu bekommen. Einen Verweis für Nichtsingen von Pionierliedern während des Fahnenappells. Alles, nur nicht das, bitte, lieber Gott, nur nicht das. Die Augen links heißt Flagge. Schwarzrotgold umrahmt, klettern Hammer und Zirkel in den Himmel. Der Ährenkranz leuchtet. Thälmann ist niemals gefallen, Stimme und Faust der Nation. Wissen, dass es unwichtig ist, was die scheppernde Stimme erzählt. Wissen, dass Unwichtiges bewertet wird, dass man es einlassen muss in Herz und Hirn, um zu bestehen, um zu überleben.
Vielleicht daher noch Jahrzehnte später die Übelkeit beim Lesen von Leitartikeln in der Zeitung, die Mühe, öffentlichen Reden zu folgen, die Empfindlichkeit im Umgang mit dem deutschen Wort. Brechreiz beim Betreten einer Schule aus Anlass des Elternabends der eigenen Kinder. Rührt euch! Nehmt die Taschen auf! Die lederne Schultasche geschultert einreihen in die Herde vorm Mädcheneingang. Zwei und zwei. Erinnerung an lange, dunkle Gänge. Dunkles Schulgebäude, finstere Schulzeit. Grüne Ölsockel. Hohe, braungestrichene Türen. Neben der Bank stehen, wenn der Lehrer eintritt. Für Frieden und Sozialismus seid bereit! Die geordneten Finger der rechten Hand wie ein Hahnenkamm über dem Scheitel: Immer bereit!
Das Kind ist kein Pionier. Es muss den Pioniergruß nicht mitsprechen, aber es kann. Das Kind könnte extra begrüßt werden, mit »Guten Morgen«, mit seinem Namen. Aber es gibt keine Alternative zum Pioniergruß, denn es gibt auch längst keine Kinder mehr, keine Schüler, nur noch Pioniere.
In Klasse 1 a sitzen 10 Pioniere, in Klasse 1 b sitzen 15 Pioniere. Wie viele Pioniere sind das zusammen? Sie sind ins Rechenbuch gemalt mit ihrem blauen Halstuch. Später darf man auch das rote Tuch der Leninpioniere tragen, das im Freundschaftsbrief von Natascha oder Sergej aus dem Bruderland herüberkam.
Wer den Pioniergruß nicht mitspricht, ist nicht für den Frieden. Das Kind will bereit sein für den Frieden. In der Christenlehre sind sie auch für den Frieden. Aber für den Sozialismus bereit sein kann das Kind nicht. Der Sozialismus ist die Grenze; ist der Schreibwarenladen, in dem es monatelang kein Toilettenpapier gibt, ist der Fahnenappell, der gehasste letzte Schultag, ist die Pionierorganisation und die Lehrerin, die alle Christenlehrekinder aufstehen und auslachen lässt, ist der Biolehrer, der sagt: der Mensch stammt vom Affen ab, und Gott gibt es nicht. Der Sozialismus ist das Dilemma, kein Arbeiter- oder Bauernkind zu sein, der Sozialismus ist die Demonstration am 1. Mai und die rote Fahne, die das Kind nicht tragen will, ist das Abitur, das Christen nicht machen dürfen, und Pionierleiter Kirchner und die Wandzeitung zum Thema Waffenbrüderschaft und das verbotene Westfernsehen und das Wort Wanze, ist ... nein, für den Sozialismus seid bereit, das kann das Kind nicht bejahen, nie. Aber nicht ja dazu sagen heißt, dagegen zu sein. Und das wiederum darf man nicht. Sonst kommt man nach Bautzen. Bautzen ist etwas ganz Schlimmes, so viel weiß man schon mit sieben Jahren. Weitere sieben Jahre später die Überraschung beim Anblick der schönen alten Stadt im Herzen der Lausitz. Immer bereit. Manchmal der Wunsch, ein Halstuch zu tragen, irgendeins. Als Teenager Tücher um den Hals schlingen. Aber nie rote und blaue.
Die Zuckertüte versüßt den Weg zur Schule. Ich habe zwei Tüten bekommen, eine große und eine kleine. An dem alten hölzernen Küchenbüfett hängen vier Stundenpläne. Die Geschwister haben ihre Ranzen mit Bohnerwachs eingefettet. Ich muss nie allein zur Schule gehen. In der Hofpause suche ich die anderen. Jede Klasse hat einen Baum. Meine Schwester beschützt mich vor schlagenden Jungen. Am liebsten bin ich im Klassenzimmer, wenn es regnet. In Heimatkunde lernen wir, dass unsere Stadt »Stadt der sieben Täler« heißt. Wir können alle Täler aufzählen. Unsere Lehrerin ist jung und außerdem die Kusine meiner Banknachbarin. Maria muss aber »Sie« und »Frau Sommer« zu ihr sagen. Sie darf es keinem verraten. Unsere Lehrerin kann Geige spielen. Weil ich auch Geige lerne, bilde ich mir ein, dass sie mich deshalb besonders mag. Meine Lehrerin hat ein Baby, das in die Kinderkrippe gebracht wird. Manchmal darf ich meine Aufsätze vor der Klasse vorlesen. Wenn Frau Sommer mich lobt, habe ich das Gefühl, dass es ein glücklicher Tag ist. In der zweiten Klasse schreibe ich kleine Verse in ein Schulheft, Verse, die ich mir ausgedacht habe. Ich male Bilder dazu und lege das Heft so, dass die Lehrerin es sehen muss. Sie nimmt es von meiner Bank und liest. Was sie gesagt hat, weiß ich nicht mehr.
Am Wandertag will ich, dass meine Lehrerin mich an die Hand nimmt. Aber andere Kinder sind immer vor mir da. Ich will, dass sie sieht, wie weit ich springen kann. Ich rufe sie. Ich rufe sie laut. Im Wald wird nicht laut gerufen. Sie hat nicht hergesehen. Lange trotte ich hinter ihr her und überlege. Dann biete ich ihr meine halbe Tüte Puffmais an, wenn sie mich an die Hand nimmt. Sie ist sehr ärgerlich. Zu Hause sage ich, der Wandertag war blöd.
Mein kleiner Bruder will auch Geige lernen. Er hat die Aufnahmeprüfung in der Musikschule bestanden. Er konnte sogar Noten lesen, weil er schon gut Blockflöte spielt. Die Geigenlehrerin hat ihn gelobt und ihm die Geige mit nach Hause gegeben. Mein kleiner Bruder hat die Geige ausgepackt und angeschaut, an den Saiten gezupft und den Bogen gespannt. Er hat mich gefragt, wie die Saiten heißen. Dann hat er ein geblümtes Taschentuch geholt und vorm Einpacken über die Saiten gelegt. Bevor er zur ersten Stunde gehen konnte, kam ein Brief von der Musikschule. Mein Bruder war aufgeregt und wollte, dass Mutter ihn vorliest. Da ist Mutter hinausgegangen und hat die Tür geknallt. Am nächsten Tag hat jemand die Geige geholt. Mein Bruder hat im Treppenhaus gestanden und geweint. Er konnte schon gut Blockflöte spielen. Aber er hatte einen Vater mit dem falschen Beruf. Und er trug das blaue Halstuch nicht. Und das braucht man doch, später, zum Schülerkonzert in der Aula. Wenn man Geige spielt zum Wohle des Volkes und zum Dank an den Arbeiter-und-Bauern-Staat. Mein kleiner Bruder kann auch Klavier lernen. Er kann zum Herrn Kantor gehen, er kann daheim an dem alten schwarzen Kasten üben. Er kann sogar sehr gut werden, wenn er fleißig übt. Aber er kann kein geblümtes Taschentuch über die grimmigen schwarz-weiß-gebleckten Tastenzähne legen. Denn das Taschentuch ist mit der Geige gegangen. Unerreichbar.
Wenn ich niemanden zum Spielen habe, sitze ich am Kindertisch und male. Mein Vater bringt mir aus der Pfarramtskanzlei alte Blätter mit, die noch eine freie Rückseite haben. An Geburtstagen bekomme ich auch Zeichenblöcke. Meine Mutter schreibt auf die Bilder das Datum und legt sie in eine Mappe, oben auf den Küchenschrank. Auf vielen Bildern sind Engel gezeichnet. Mit riesigen Flügeln schweben sie über kleinen Menschen. Oft sind meine Eltern oder Geschwister zu sehen, über denen ein Engel seine Hände ausbreitet wie Schirme.
Ich habe mich wieder geprügelt. Meine Mutter steht am Aufwaschtisch. Ihr Rücken drückt Enttäuschung aus. Ich soll mich nicht prügeln. Ich bin ein Mädchen. Und Pfarrerskinder prügeln sich nicht. Überhaupt nicht. Auch dann nicht, wenn sie verspottet werden. Spott kann man ertragen. Auch nicht, wenn sie geschlagen werden. Keinen Anlass für übles Gerede geben. Die linke Backe hinhalten. Schweigen. Ich sitze am Küchentisch und kann nicht gut sein. Wenn ich aus der Christenlehre komme, weiß ich, dass ich gut sein will. Für eine Stunde. Du sollst nicht prügeln. Du sollst nicht zurückschimpfen, du sollst nicht schreien. Morgens mit Geschwistern und Freunden im Flur stehen, eng im Kreis. Mit der Mutter das Morgengebet sprechen, den Segen mitnehmen. Hier bin ich noch gut. Hier ist alles noch gut. Entlassen in den Tag mit der Last der Ermahnungen. Wissen, dass ich mich wieder prügeln werde. Weil keiner mich fragt, warum ich das tue. Ich habe zwei Waffen - die Faust und den Mund. Meine Mutter ist traurig über mich. Du bist ganz anders als deine Geschwister. Wieder ein Loch in der Strumpfhose. Lange brauche ich, um zu begreifen, dass andere Waffen mir zugedacht sind: Leistung und Wissen. Gut sein um den Preis der Gewaltlosigkeit. Lernen für den Triumph, an der Klassenspitze zu stehen. Mehr wissen müssen als andere. Geige spielen in der Elternversammlung, singen beim Fest junger Talente. Immer wieder beweisen müssen, dass ich zwar kein Pionier, aber trotzdem gut bin. Und Jahr für Jahr die Eintragung ins Zeugnisheft: Keine gesellschaftliche Tätigkeit. Gesellschaftlich tätig ist nur, wer das Halstuch trägt. Dieses Wissen allein reicht aus, um das Hirn eines Kindes für Jahre zu beschäftigen.
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Autoren-Porträt von Caritas Führer
Führer, CaritasCaritas Führer, geboren 1957 in Karl-Marx-Stadt, jetzt Chemnitz, lebt in Dresden. Die freischaffende Schriftstellerin hat zunächst eine Ausbildung zur Porzellangestalterin in Meissen absolviert. In den 80er Jahren studierte sie am Johannes-R.-Becher-Institut für Literatur in Leipzig. Sie ist Mitglied im "Verband deutscher Schriftsteller" (VS). "Die Montagsangst" erschien erstmals 1998 als ihr Debüt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Caritas Führer
- 2012, 2. Aufl., 304 Seiten, Masse: 12 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Mitarbeit:Birthler, Marianne
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610935
- ISBN-13: 9783548610931
- Erscheinungsdatum: 29.02.2012
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