Die Maske des Mörders
Serientäter und ihre Opfer
Stephan Harbort ist Kriminalhauptkommissar und führender Spezialist für Serienkiller. Er sprach mit überlebenden Opfern und mehr als 50 Tätern. Hier schildert Harbort seine Erkenntnisse: beklemmende Einblicke in die absoluten Abgründe der menschlichen Seele.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Maske des Mörders “
Stephan Harbort ist Kriminalhauptkommissar und führender Spezialist für Serienkiller. Er sprach mit überlebenden Opfern und mehr als 50 Tätern. Hier schildert Harbort seine Erkenntnisse: beklemmende Einblicke in die absoluten Abgründe der menschlichen Seele.
Klappentext zu „Die Maske des Mörders “
Einem Serienmörder nur knapp zu entkommen verändert das Leben des Opfers auf einen Schlag. Wenn das Grauen in die Normalität eindringt, dauert es, bis die Wunden heilen. Kriminalhauptkommissar Stephan Harbort hat mit Hunderten Tätern und Opfern gesprochen und vermittelt beklemmende Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele.
Lese-Probe zu „Die Maske des Mörders “
Die Maske des Mörders von Stephan HarbortVorwort
»Es schien die gewünschte Wirkung zu haben. Ohne ein Wort zu sagen, kam er langsam auf sie zu. Sie machte einen Schritt nach vorne, seine Arme umfingen sie, sie schloss die Augen und hob das Gesicht. Er küsste sie, und sie bewegte sich ein wenig in seinen Armen. Dann spürte sie einen entsetzlichen, unerträglich stechenden Schmerz im Rücken und öffnete den Mund, um zu schreien.«
Ken Follett, Die Nadel
Kaum etwas ist bewältigt, wenig erklärt und noch weniger wirklich verstanden von dem, was unter dem Begriff »Serienmord « in den vergangenen 60 Jahren eine hässliche Blutspur in der deutschen Kriminalgeschichte hinterlassen hat - und auch künftig hinterlassen wird. Über die Täter weiß man einiges, über die Opfer hingegen so gut wie nichts. In Polizei- und Gerichtsakten ist alles Erdenkliche zu lesen - die Umstände der Verbrechen etwa, die Viten der Täter oder auch mehr als 100 Seiten starke Gutachten über sie. Verbrechen können allerdings nur dann zutreffend interpretiert und vollständig verstanden werden, wenn man beide Seiten kennt. Wenn man sich anschaut, wer es getan hat. Und wenn man sich anschaut, wem es angetan wurde. Beim Opfer wird häufig nur nach der Todesursache gefragt und nach Spuren gesucht, die der Täter an dessen geschundenem Körper hinterlassen haben könnte. Die Rollen des lebenden und des toten Opfers sind identisch: Mittel zum Zweck. Hat das Opfer jedoch überlebt, darf es wenigstens seine Leidensgeschichte erzählen. Nur beginnt die Beschreibung des eigenen Elends meist erst mit den Minuten vor der Tat und endet schon mit dem Sich-Davonmachen des Täters.
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Der Rest der Geschichte, aus der vieles abgeleitet und gelernt werden könnte, wird erst gar nicht geschildert. Die Sichtbarmachung der Dimensionen von mörderischer Gewalt erfordert aber auch eine präzise und schonungslose Darstellung des individuellen Leids. Amtsakten über Verbrechensopfer sind spärlich, auch die polizeiliche Kriminalstatistik behandelt Opfer von Tötungsdelikten eher stiefmütterlich - lediglich Geschlecht und Alter werden erfasst. Und wenn die Tat passiert ist, wird in der Regel nur der Täter amtlich und psychologisch betreut, das Opfer bleibt sich noch zu oft allein überlassen. Auch von diesem »Drama im Drama« werde ich berichten.
Das öffentliche Interesse an den Ursachen und Folgen des Opferwerdens sowie des Opferseins ist immer noch zu gering. Schlimmer noch: Wer Opfer eines Gewaltverbrechers geworden ist oder darunter leidet, dass Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Sohn oder Tochter zum Opfer wurde, stößt manchmal selbst bei den eigenen Angehörigen und Freunden auf Unverständnis oder gerät leicht ins soziale Abseits. Vor sich selbst und anderen stehen die Leidtragenden als Verlierer da, verzweifelt um Fassung und Verständnis ringend, denn nicht wenige unter uns mutmaßen: Wer Opfer eines Gewaltverbrechers wird, ist selber schuld. Punkt. Keine Diskussion. Offen ausgesprochene oder auch nur gedachte Schuldzuweisungen entbinden von der Verantwortung für sich selbst und andere: »Hätte sie doch besser aufgepasst!«, »Was lässt die sich auch mit diesem Typen ein!«, »Was macht die denn zu dieser Uhrzeit da, und dann auch noch allein!« Dem Opfer werden kurzerhand negative Verhaltensweisen und Eigenschaften unterstellt, die man selbst natürlich nicht hat.
Die meisten Menschen sind überdies gerne davon überzeugt, dass ihnen so etwas gar nicht passieren könne. Die Illusion der eigenen Unverwundbarkeit verstellt den Blick für die Verbrechenswirklichkeit. Auch die Wissenschaft hat über Generationen hinweg den Täter in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt - Kriminologen, Kriminalisten, Psychiater, Psychologen und Soziologen durchleuchteten Elternhaus, Persönlichkeit oder soziale Strukturen nach Faktoren, die das Begehen eines Verbrechens ermöglicht, gefördert oder gar ausgelöst haben könnten. Das alles war richtig und wichtig. Nur hätte man dabei die Opfer nicht so sehr außer Acht lassen dürfen. Erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs werden ernst zu nehmende viktimologische Studien durchgeführt. Auch das Opferentschädigungsgesetz kam spät - 1976. Die bereits vorliegenden Erkenntnisse zur Viktimologie bei Mord und Totschlag, Vergewaltigung oder Raub können nicht unbesehen auf den Serienmord übertragen werden, weil die Täter sich von Serienmördern unterscheiden und das TäterOpfer- Verhältnis ein anderes ist.
Diese Feststellungen haben mich zu dem Entschluss gebracht, Serientötungen auch aus opferbezogener Sicht näher zu betrachten. Bei der ersten Auswertung meiner Unterlagen von 155 Mordserien (= 674 Einzeltaten) passierte genau das, was ich nicht unbedingt erwartet hatte: Die Ergebnisse waren durchaus interessant, aber zu unspezifisch. Es mangelte an Klarheit und Verbindlichkeit. Also bildete ich sechs Opfertypen, die ich zugrunde legte, und begann von vorn. Um nicht der Gefahr einer Etikettierung oder Stigmatisierung zu unterliegen, wählte ich nur solche Merkmale aus, die keinen personenbezogenen und wertenden Charakter haben.
Ausschlaggebend war die Beantwortung folgender Frage: Welches Opfermerkmal hat kausal dazu beigetragen, dass diese Person Opfer dieses Täters wurde? Und plötzlich öffneten sich Türen, die zuvor verschlossen geblieben oder gar nicht zu sehen gewesen waren. Eine Auswahl der Untersuchungsergebnisse findet sich im Anhang. Obwohl die Opfer im Blickpunkt meiner Arbeit und dieses Buches stehen, ist mir schnell bewusst geworden, dass eine ganzheitliche Betrachtung des Gewaltphänomens »Serienmord « vonnöten ist; denn nur der Täter kann beispielsweise sagen, nach welchen Kriterien er seine Opfer ausgesucht, warum er wie auf ein bestimmtes Opferverhalten reagiert oder weshalb er die Opfer getötet bzw. nicht getötet hat.
Also habe ich mit Opfern und Tätern gesprochen - und dabei eine Menge gelernt. Auch dieses Wissen möchte ich mit diesem Buch weitergeben. Mein besonderes Augenmerk richtete ich auf jene 107 Fälle, in denen die Täter ihr Opfer nicht töteten. Ich wollte herausfinden, ob es eventuell Verhaltensmuster gibt, die Täter davon abhalten können, ihr Vorhaben auszuführen, von dem sie noch kurz zuvor überzeugt gewesen waren, es unbedingt tun zu müssen. Ich beschäftigte mich auch mit der Frage, welche Formen der Kommunikation zwischen Opfer und Täter stattfinden und wie die Opfer diese für ihre Zwecke nutzen können. Und es ging mir darum, herauszufinden, welches Opferverhalten eine Nicht-Tötung zur Folge hatte. Auch hier stieß ich, insbesondere in den Gesprächen mit den Beteiligten, auf interessante und überraschende Erkenntnisse.
Wer einem Serienmörder in die Hände fällt und diese Begegnung überlebt, wird unvermittelt aus seinem Dasein und So- sein gerissen. Das Grauen, vermeintlich so weit weg, dringt ein in die Normalität und bemächtigt sich ihrer, vergewaltigt und unterjocht sie. Es dauert seine Zeit, bis die seelischen Wunden sich zu schließen beginnen, nur verheilen wollen sie nicht. Das Opfer bleibt beschädigt zurück. Auch von diesen leidvollen Erfahrungen haben mir Frauen und Männer erzählt, die Tätern und Tod sehr nahe gewesen sind. Als ich dieses Buchprojekt zu konzipieren begann, nahm ich mir fest vor, den Opfern gerecht zu werden und (nahezu) ausschließlich über sie zu berichten und nur sie zu Wort kommen zu lassen. Mittlerweile denke ich anders darüber. Es gibt nämlich kein Opfer ohne Täter. Und es gibt auch keinen Täter ohne Opfer. Beide Verbrechensteilnehmer sind untrennbar miteinander verbunden, sie reagieren aufeinander und agieren miteinander. Niemand kann im Vorhinein sagen, wie der Tathergang sich entwickeln, welchen Ausgang die Tat nehmen wird - auch nicht bei einem Serienmörder. Und aus diesem Grund möchte ich mit dem vorliegenden Buch dafür werben, nicht nur Täter oder Opfer und deren jeweiliges Verhalten zu betrachten und zu bewerten, sondern insbesondere die verschlungenen Wechselbeziehungen zwischen Tätern und Opfern gelten zu lassen.
Nur wer hier genau hinsieht, wird erkennen und verstehen, warum und wie Verbrechen begangen werden, wird imstande sein zu schlussfolgern, ob und wie sie zu verhindern sein könnten, und wenn ja, auf welche Weise man sich gegen diese Täter schützen kann. Und es ist mir auch ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass jeder von uns Opfer eines Serienmörders werden kann. Wer sich diesem Gedanken verschließt oder wer überhaupt davon überzeugt ist, ihn umwehe und schütze der Mantel der Unangreifbarkeit, der ist dem Verbrechen näher als jeder andere.
Stephan Harbort
Düsseldorf, im April 2008
»Nancys Zimmer. Nancy horchend auf die Geräusche von Stiefeln auf der Treppe, das Knarren der Stufen, während die Schritte näher kommen, Nancys Augen, Nancy, wie sie den Lichtkegel verfolgt, der sich auf sein Ziel zutastet. (Sie sagte: ›O nein, nein! Oh, bitte. Nein! Nein! Nein! Nein! Bitte nicht! O bitte nicht! Bitte!‹ Ich gab Dick das Gewehr. Ich sagte, ich könnte nicht mehr. Er legte an, und sie drehte das Gesicht zur Wand.) Der dunkle Flur, die Mörder, die auf die Tür zurannten. Nach allem, was sie gehört hatte, war Bonnie vielleicht froh, dass sie kamen.«
Truman Capote, Kaltblütig
»DIE ZEIT: Herr Schmidt, um dieses Gespräch mussten wir Sie lange bitten. Man hat den Eindruck, dass es Ihnen auch 30 Jahre nach diesen schicksalhaften Tagen schwerfällt, über den Deutschen Herbst zu sprechen.
Helmut Schmidt: Es ist nicht so, dass mir das schwerfällt. Aber ich habe wenig Lust, darüber zu reden.
ZEIT: Was verdrießt Sie so?
Schmidt: Einer der Gründe hat mit euch Journalisten zu tun: Fast alle beschäftigen sich mit den Terroristen, ihren Motiven und deren persönlicher Entwicklung und kümmern sich überhaupt nicht um die Opfer dieser entsetzlichen Verbrechen.«
Interview mit Alt-Bundeskanzler
Helmut Schmidt,
DIE ZEIT vom 30.08.2007
Die geschilderten Ereignisse sind authentisch, soweit man dies überhaupt sagen kann. Jedenfalls entsprechen sie der festgestellten prozessualen Wahrheit. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation der Ereignisse dienten ins besondere Gerichtsurteile, Anklageschriften, forensische Gutachten, Vernehmungs- und Obduktionsprotokolle, Tatortbefundberichte und seriöse Pressemitteilungen. Die für das vorliegende Buch verwendeten Aussagen der Opfer und Täter stammen aus Interviews, die ich in der jüngeren Vergangenheit geführt habe, oder aus Briefen, die an mich gerichtet worden sind. Die Gespräche habe ich jeweils mit einem Diktaphon aufgezeichnet. Vereinzelt sind die Aussagen kriminalpolizeilichen Vernehmungsprotokollen entlehnt worden. Um ein Höchstmaß an Authentizität garantieren zu können, habe ich in den Interviews und Briefen nur marginale redaktionelle Veränderungen vorgenommen, ohne den Wahrheitsgehalt zu schmälern. Aus Gründen der Vereinheitlichung haben generell die Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung Anwendung gefunden. Die Namen der handelnden Personen sind pseudonymisiert, ausgenommen diejenigen von Personen der Zeitgeschichte. Vereinzelt wurden auch biographische Angaben oder Angaben zu Ort und Zeit verändert, um eine Erkennbarkeit der Personen zu verhindern. Diese Verfahrensweise ist dem Schutz der Persönlichkeitsrechte geschuldet.
Kapitel 1
Im Auge des Sturms
»Tja, ich war den ganzen Tag über rumgefahren, bin dann an diesem Parkplatz unten an der Commonwealth Avenue, und da hab ich dann meinen Wagen stehen gelassen und bin zu Fuß zur Hausnummer 1940 gegangen. Es war fürchterlich heiß, und ich spürte den Schweiß auf meiner Haut, konnte ihn auch riechen, und das gefällt mir gar nicht, weil ich darauf achte, immer einen sauberen Körper zu haben. Ich sehe mir die Namen auf den Briefkästen und an den Klingeln im Haus Nummer 1940 an, suche mir die Namen von Frauen raus und drücke auf die erste Klingel. Ich stehe da und warte, spüre, wie sich das Bild aufbaut, und denke nicht darüber nach, was ich zu ihr sagen werde, denn ich weiß, dass mir wie immer schon etwas einfallen wird. Nichts passiert. Ich probiere die zweite Türklingel, und eine Minute später drückt sie mir auf, zweimal, und ich betrete den Hausflur. Die Treppe führt um einen Aufzug rum, ich gehe rauf, hab es nicht eilig oder so, einfach immer nur Stufe um Stufe. Ist schon komisch, oder?, dass die erste Frau nicht auf mein Klingeln reagiert hat oder nicht zu Hause war oder so, nur ein ganz kleiner Zufall, verstehen Sie, was ich meine?«
Sebastian Junger,
Tod in Belmont
Serienmörder und ihre Opfer sind zum Zeitpunkt der Tat keineswegs autark, sondern durch die Brücke der Gewalttätigkeit untrennbar miteinander verbunden - erst ihr Verhältnis zueinander und ihr Verhalten untereinander formen das Verbrechen.
Es passt einfach alles zusammen: Endlich Wochenende, die Sonne scheint vom nahezu wolkenlosen Himmel herab, angenehme 26 Grad, der Frühsommer hat nun auch Hamburg erreicht.
Bianca Möbus und Bernd Hartung schlendern eng umschlungen durch den Öjendorfer Park, ein weitläufiges Waldgebiet zwischen den Außenbezirken Jenfeld und Öjendorf. Die frisch Verliebten sind auf der Suche nach einer abgelegenen Stelle, sie wollen allein sein und möglichst nicht gesehen werden. Bianca, gerade 24 Jahre alt geworden, wohnt noch bei ihren Eltern. Die bildhübsche, aufgeschlossene, unternehmungslustige junge Frau studiert Architektur und jobbt nebenher als Fotomodell. Ihr vier Jahre älterer Freund kommt gebürtig aus Köln und lebt seit zwei Jahren in Hamburg, wo er als Informatiker arbeitet. Zu dieser Zeit kann das Pärchen nicht ahnen, dass es sich mit jedem Schritt einem Jagdgebiet nähert. Dieses Revier kennt und nutzt indes nur jener Mann, der sich dort regelmäßig aufhält, vornehmlich an Wochenenden, wenn Ausflugswetter junge Spaziergängerinnen, Joggerinnen oder Radfahrerinnen in den Wald lockt.
Der Mann stellt diesen Frauen dort nach - um sie zu überfallen, zu foltern und zu vergewaltigen, falls erforderlich, auch zu töten. Bianca und Bernd sind jetzt vielleicht noch zwei Kilometer von jenem Ort entfernt, den Ralf Hollerbach als Ausgangspunkt für seine Jagdausflüge nutzt. Der Lagerplatz liegt abseits von Wald- und Wanderwegen, wird von Bäumen, Ästen und dichtem Gestrüpp umgeben und ist auch aus geringer Entfernung kaum auszumachen - ein idealer Unterschlupf. Gerade ist der 36-jährige Bürokaufmann damit beschäftigt, seine braune Einkaufstasche zu leeren. Zum Vorschein kommen eine schmuddelige Decke, ein blauer Jeans-Anzug, Turnschuhe, und schließlich sein Handwerkszeug: Gasrevolver, Machete, Schere, Schnüre, Heftpflaster. Er zieht seine Alltagsklamotten aus und die Jagdbekleidung an. Den Gasrevolver steckt er in den Hosenbund, die Machete befestigt er am Gürtel. Dann beginnt er seinen Beutezug.
Hollerbach läuft kreuz und quer durch den Wald, streift am Ufer des Öjendorfer Sees umher. Ihm begegnen auch einige Frauen, mal allein, mal mit Hund, mal in Begleitung. Doch er ist wählerisch, er hat exakte Vorstellungen von seiner Beute. Würde er sich eine Frau greifen, die nicht nach seinem Geschmack ist, er hätte keinen echten Genuss dabei. Es muss »klick« machen, sein perverses Verlangen will ansprechend bedient werden. In all den Jahren hat er zudem gelernt, auf seine Chance zu warten - gespannt und gewaltbereit, vor allem aber geduldig. Es ist gegen 18.30 Uhr, als Bianca und Bernd sich auf den Rückweg machen. Ein wunderbarer und erfüllter Tag neigt sich dem Ende entgegen. Als die beiden Hand in Hand Richtung Parkplatz marschieren, kommt ihnen Hollerbach entgegen. Er ist immer noch auf der Jagd. Er bemerkt das Paar, mustert es. Dann kleben seine Augen nur noch an Bianca. Sie sieht genauso aus, wie sie aussehen soll: dunkelblondes Haar, schulterlang, in der Mitte gescheitelt, hellblaue Augen, schlank, feminin. Genau diese Frau hat er im Kopf, wenn er phantasiert, wie sie sich gegen ihn verzweifelt wehrt, wie er sie auf dem Rücken eines Pferdes festbindet, wie er immer wieder mit einem Stock auf ihren nackten Po schlägt und wie er sie schließlich brutal missbraucht. Er will sie haben. Er muss sie haben. Jetzt! Während Bianca und Bernd sich angeregt unterhalten und Hollerbach kaum wahrnehmen, schmiedet der einen Plan: das Pärchen erst vorbeilaufen lassen, dann sofort kehrtmachen, es von hinten ansprechen, mit dem Gasrevolver bedrohen, beide zum Lagerplatz verschleppen, den Mann fesseln - und dann sie!
Einige Augenblicke später. Hollerbach ist jetzt nur noch etwa fünf Meter hinter seinen Opfern. »Hey! Umdrehen!«, zischt er. Bianca und Bernd drehen sich tatsächlich um.
Hollerbach richtet den Gasrevolver auf das Pärchen: »Keinen Mucks! Mitkommen!« Bianca und Bernd schauen sich verdutzt an. Bernd versucht, die Situation zu entschärfen: »Mach doch keinen Blödsinn.« »Schnauze! Ich sag's nicht noch mal! Mitkommen!« Hollerbach kommt einen Schritt näher. »Lass doch den Quatsch.« Bernd hebt beschwichtigend die Hände. »Wir machen es so: Du haust einfach ab, und wir vergessen das Ganze. Okay?« Hollerbach schweigt. Er steht einfach nur da. Ihm ist anzusehen, dass er nicht recht weiß, was er weiter tun soll. Bernd erkennt die Unschlüssigkeit und die Unsicherheit des Unbekannten, der auch bewaffnet keine ernst zu nehmende Bedrohung zu sein scheint. Er macht einen Schritt auf Hollerbach zu und wird energischer: »Es reicht jetzt! Mach bloß, dass du wegkommst!« Plötzlich krachen drei Schüsse, kurz hintereinander. Hollerbach hat auf Bernd geschossen, der aber bleibt unverletzt und unbeeindruckt. Er versucht, nach Hollerbach zu treten. Der weicht einige Meter zurück und zieht wild entschlossen seine Machete: 58 Zentimeter lang, sieben Zentimeter breit, etwa 700 Gramm schwer. Bianca schreit einmal laut auf.
Dann versagt ihr die Stimme. Hollerbach will nicht nachgeben, nicht aufgeben, nicht jetzt, nicht so kurz vor dem Ziel. Nein! Er glotzt noch einmal kurz zu Bianca hinüber, sein Gesicht gerät zu einer grotesken Grimasse. Schließlich stürmt er unvermittelt und blitzschnell auf Bernd los und spaltet ihm mit einem wuchtigen Hieb den Schädel. Bernd stöhnt leise, hält eine Hand auf die stark blutende Wunde, versucht noch zu flüchten; Hollerbach aber setzt nach und stößt immer wieder zu, blindwütig, erbarmungslos. Auch als Bernd schon am Boden liegt und keine Gefahr mehr darstellt, Hollerbachs perversen Plänen nicht mehr im Wege stehen kann, hört er nicht auf. Er schlägt auf den Sterbenden ein, als würde er Holz hacken. Schon Sekunden darauf ist Bernd tot. Der Gerichtsmediziner wird später mindestens 20 erhebliche Hiebwunden im Bereich des Kopfes feststellen. Hollerbach steht neben dem Toten und betrachtet ihn eine Weile. Wieder ist er unschlüssig, was nun geschehen soll. Die sexuelle Spannung ist während dieses Gewaltexzesses in sich zusammengefallen. In seinem Kopfkino ist das nicht vorgesehen.
Hollerbach kann sich nicht mehr stimulieren. Es ist vorbei. Er wendet sich Bianca zu. Sie steht da wie versteinert, unfähig, etwas zu sagen oder etwas zu tun. Sie will weglaufen, aber sie kann nicht. Sie will schreien, aber sie bringt keinen Laut heraus. Sie starrt nur ungläubig auf Bernds grässlich zugerichteten Leichnam. Eben noch ist Hollerbach sogar bereit gewesen, für Bianca zu morden. Er hat sie besitzen wollen. Das ist nun anders. Wut und Hass brechen sich ihre Bahn. Je länger er die vollkommen verängstigte Frau anstarrt, desto stärker wird der Wunsch, auch sie zu bestrafen. Und ihm wird klar, dass Bianca alles mitangesehen hat. Er kann sie jetzt nicht einfach gehen lassen. Er muss nicht lange überlegen, was nun zu tun ist. Die Machete hoch erhoben, stürzt er sich wortlos auf Bianca, die kurz darauf zusammensackt, nach unzähligen Hieben gegen Kopf und Hals tödlich verwundet. Hollerbach läuft zurück zu seinem Lagerplatz, zieht sich um, versteckt Gasrevolver und Machete unter einem Baumstamm. Danach kehrt er an den Tatort zurück, zieht die Leichen bergabwärts in dichtes Gebüsch und Unterholz. Die großen Blutlachen auf dem Weg deckt er mit Sand ab. Dann macht er sich auf den Heimweg.
© 2008 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Der Rest der Geschichte, aus der vieles abgeleitet und gelernt werden könnte, wird erst gar nicht geschildert. Die Sichtbarmachung der Dimensionen von mörderischer Gewalt erfordert aber auch eine präzise und schonungslose Darstellung des individuellen Leids. Amtsakten über Verbrechensopfer sind spärlich, auch die polizeiliche Kriminalstatistik behandelt Opfer von Tötungsdelikten eher stiefmütterlich - lediglich Geschlecht und Alter werden erfasst. Und wenn die Tat passiert ist, wird in der Regel nur der Täter amtlich und psychologisch betreut, das Opfer bleibt sich noch zu oft allein überlassen. Auch von diesem »Drama im Drama« werde ich berichten.
Das öffentliche Interesse an den Ursachen und Folgen des Opferwerdens sowie des Opferseins ist immer noch zu gering. Schlimmer noch: Wer Opfer eines Gewaltverbrechers geworden ist oder darunter leidet, dass Mutter, Vater, Bruder, Schwester, Sohn oder Tochter zum Opfer wurde, stößt manchmal selbst bei den eigenen Angehörigen und Freunden auf Unverständnis oder gerät leicht ins soziale Abseits. Vor sich selbst und anderen stehen die Leidtragenden als Verlierer da, verzweifelt um Fassung und Verständnis ringend, denn nicht wenige unter uns mutmaßen: Wer Opfer eines Gewaltverbrechers wird, ist selber schuld. Punkt. Keine Diskussion. Offen ausgesprochene oder auch nur gedachte Schuldzuweisungen entbinden von der Verantwortung für sich selbst und andere: »Hätte sie doch besser aufgepasst!«, »Was lässt die sich auch mit diesem Typen ein!«, »Was macht die denn zu dieser Uhrzeit da, und dann auch noch allein!« Dem Opfer werden kurzerhand negative Verhaltensweisen und Eigenschaften unterstellt, die man selbst natürlich nicht hat.
Die meisten Menschen sind überdies gerne davon überzeugt, dass ihnen so etwas gar nicht passieren könne. Die Illusion der eigenen Unverwundbarkeit verstellt den Blick für die Verbrechenswirklichkeit. Auch die Wissenschaft hat über Generationen hinweg den Täter in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt - Kriminologen, Kriminalisten, Psychiater, Psychologen und Soziologen durchleuchteten Elternhaus, Persönlichkeit oder soziale Strukturen nach Faktoren, die das Begehen eines Verbrechens ermöglicht, gefördert oder gar ausgelöst haben könnten. Das alles war richtig und wichtig. Nur hätte man dabei die Opfer nicht so sehr außer Acht lassen dürfen. Erst seit Ende des Zweiten Weltkriegs werden ernst zu nehmende viktimologische Studien durchgeführt. Auch das Opferentschädigungsgesetz kam spät - 1976. Die bereits vorliegenden Erkenntnisse zur Viktimologie bei Mord und Totschlag, Vergewaltigung oder Raub können nicht unbesehen auf den Serienmord übertragen werden, weil die Täter sich von Serienmördern unterscheiden und das TäterOpfer- Verhältnis ein anderes ist.
Diese Feststellungen haben mich zu dem Entschluss gebracht, Serientötungen auch aus opferbezogener Sicht näher zu betrachten. Bei der ersten Auswertung meiner Unterlagen von 155 Mordserien (= 674 Einzeltaten) passierte genau das, was ich nicht unbedingt erwartet hatte: Die Ergebnisse waren durchaus interessant, aber zu unspezifisch. Es mangelte an Klarheit und Verbindlichkeit. Also bildete ich sechs Opfertypen, die ich zugrunde legte, und begann von vorn. Um nicht der Gefahr einer Etikettierung oder Stigmatisierung zu unterliegen, wählte ich nur solche Merkmale aus, die keinen personenbezogenen und wertenden Charakter haben.
Ausschlaggebend war die Beantwortung folgender Frage: Welches Opfermerkmal hat kausal dazu beigetragen, dass diese Person Opfer dieses Täters wurde? Und plötzlich öffneten sich Türen, die zuvor verschlossen geblieben oder gar nicht zu sehen gewesen waren. Eine Auswahl der Untersuchungsergebnisse findet sich im Anhang. Obwohl die Opfer im Blickpunkt meiner Arbeit und dieses Buches stehen, ist mir schnell bewusst geworden, dass eine ganzheitliche Betrachtung des Gewaltphänomens »Serienmord « vonnöten ist; denn nur der Täter kann beispielsweise sagen, nach welchen Kriterien er seine Opfer ausgesucht, warum er wie auf ein bestimmtes Opferverhalten reagiert oder weshalb er die Opfer getötet bzw. nicht getötet hat.
Also habe ich mit Opfern und Tätern gesprochen - und dabei eine Menge gelernt. Auch dieses Wissen möchte ich mit diesem Buch weitergeben. Mein besonderes Augenmerk richtete ich auf jene 107 Fälle, in denen die Täter ihr Opfer nicht töteten. Ich wollte herausfinden, ob es eventuell Verhaltensmuster gibt, die Täter davon abhalten können, ihr Vorhaben auszuführen, von dem sie noch kurz zuvor überzeugt gewesen waren, es unbedingt tun zu müssen. Ich beschäftigte mich auch mit der Frage, welche Formen der Kommunikation zwischen Opfer und Täter stattfinden und wie die Opfer diese für ihre Zwecke nutzen können. Und es ging mir darum, herauszufinden, welches Opferverhalten eine Nicht-Tötung zur Folge hatte. Auch hier stieß ich, insbesondere in den Gesprächen mit den Beteiligten, auf interessante und überraschende Erkenntnisse.
Wer einem Serienmörder in die Hände fällt und diese Begegnung überlebt, wird unvermittelt aus seinem Dasein und So- sein gerissen. Das Grauen, vermeintlich so weit weg, dringt ein in die Normalität und bemächtigt sich ihrer, vergewaltigt und unterjocht sie. Es dauert seine Zeit, bis die seelischen Wunden sich zu schließen beginnen, nur verheilen wollen sie nicht. Das Opfer bleibt beschädigt zurück. Auch von diesen leidvollen Erfahrungen haben mir Frauen und Männer erzählt, die Tätern und Tod sehr nahe gewesen sind. Als ich dieses Buchprojekt zu konzipieren begann, nahm ich mir fest vor, den Opfern gerecht zu werden und (nahezu) ausschließlich über sie zu berichten und nur sie zu Wort kommen zu lassen. Mittlerweile denke ich anders darüber. Es gibt nämlich kein Opfer ohne Täter. Und es gibt auch keinen Täter ohne Opfer. Beide Verbrechensteilnehmer sind untrennbar miteinander verbunden, sie reagieren aufeinander und agieren miteinander. Niemand kann im Vorhinein sagen, wie der Tathergang sich entwickeln, welchen Ausgang die Tat nehmen wird - auch nicht bei einem Serienmörder. Und aus diesem Grund möchte ich mit dem vorliegenden Buch dafür werben, nicht nur Täter oder Opfer und deren jeweiliges Verhalten zu betrachten und zu bewerten, sondern insbesondere die verschlungenen Wechselbeziehungen zwischen Tätern und Opfern gelten zu lassen.
Nur wer hier genau hinsieht, wird erkennen und verstehen, warum und wie Verbrechen begangen werden, wird imstande sein zu schlussfolgern, ob und wie sie zu verhindern sein könnten, und wenn ja, auf welche Weise man sich gegen diese Täter schützen kann. Und es ist mir auch ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass jeder von uns Opfer eines Serienmörders werden kann. Wer sich diesem Gedanken verschließt oder wer überhaupt davon überzeugt ist, ihn umwehe und schütze der Mantel der Unangreifbarkeit, der ist dem Verbrechen näher als jeder andere.
Stephan Harbort
Düsseldorf, im April 2008
»Nancys Zimmer. Nancy horchend auf die Geräusche von Stiefeln auf der Treppe, das Knarren der Stufen, während die Schritte näher kommen, Nancys Augen, Nancy, wie sie den Lichtkegel verfolgt, der sich auf sein Ziel zutastet. (Sie sagte: ›O nein, nein! Oh, bitte. Nein! Nein! Nein! Nein! Bitte nicht! O bitte nicht! Bitte!‹ Ich gab Dick das Gewehr. Ich sagte, ich könnte nicht mehr. Er legte an, und sie drehte das Gesicht zur Wand.) Der dunkle Flur, die Mörder, die auf die Tür zurannten. Nach allem, was sie gehört hatte, war Bonnie vielleicht froh, dass sie kamen.«
Truman Capote, Kaltblütig
»DIE ZEIT: Herr Schmidt, um dieses Gespräch mussten wir Sie lange bitten. Man hat den Eindruck, dass es Ihnen auch 30 Jahre nach diesen schicksalhaften Tagen schwerfällt, über den Deutschen Herbst zu sprechen.
Helmut Schmidt: Es ist nicht so, dass mir das schwerfällt. Aber ich habe wenig Lust, darüber zu reden.
ZEIT: Was verdrießt Sie so?
Schmidt: Einer der Gründe hat mit euch Journalisten zu tun: Fast alle beschäftigen sich mit den Terroristen, ihren Motiven und deren persönlicher Entwicklung und kümmern sich überhaupt nicht um die Opfer dieser entsetzlichen Verbrechen.«
Interview mit Alt-Bundeskanzler
Helmut Schmidt,
DIE ZEIT vom 30.08.2007
Die geschilderten Ereignisse sind authentisch, soweit man dies überhaupt sagen kann. Jedenfalls entsprechen sie der festgestellten prozessualen Wahrheit. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation der Ereignisse dienten ins besondere Gerichtsurteile, Anklageschriften, forensische Gutachten, Vernehmungs- und Obduktionsprotokolle, Tatortbefundberichte und seriöse Pressemitteilungen. Die für das vorliegende Buch verwendeten Aussagen der Opfer und Täter stammen aus Interviews, die ich in der jüngeren Vergangenheit geführt habe, oder aus Briefen, die an mich gerichtet worden sind. Die Gespräche habe ich jeweils mit einem Diktaphon aufgezeichnet. Vereinzelt sind die Aussagen kriminalpolizeilichen Vernehmungsprotokollen entlehnt worden. Um ein Höchstmaß an Authentizität garantieren zu können, habe ich in den Interviews und Briefen nur marginale redaktionelle Veränderungen vorgenommen, ohne den Wahrheitsgehalt zu schmälern. Aus Gründen der Vereinheitlichung haben generell die Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung Anwendung gefunden. Die Namen der handelnden Personen sind pseudonymisiert, ausgenommen diejenigen von Personen der Zeitgeschichte. Vereinzelt wurden auch biographische Angaben oder Angaben zu Ort und Zeit verändert, um eine Erkennbarkeit der Personen zu verhindern. Diese Verfahrensweise ist dem Schutz der Persönlichkeitsrechte geschuldet.
Kapitel 1
Im Auge des Sturms
»Tja, ich war den ganzen Tag über rumgefahren, bin dann an diesem Parkplatz unten an der Commonwealth Avenue, und da hab ich dann meinen Wagen stehen gelassen und bin zu Fuß zur Hausnummer 1940 gegangen. Es war fürchterlich heiß, und ich spürte den Schweiß auf meiner Haut, konnte ihn auch riechen, und das gefällt mir gar nicht, weil ich darauf achte, immer einen sauberen Körper zu haben. Ich sehe mir die Namen auf den Briefkästen und an den Klingeln im Haus Nummer 1940 an, suche mir die Namen von Frauen raus und drücke auf die erste Klingel. Ich stehe da und warte, spüre, wie sich das Bild aufbaut, und denke nicht darüber nach, was ich zu ihr sagen werde, denn ich weiß, dass mir wie immer schon etwas einfallen wird. Nichts passiert. Ich probiere die zweite Türklingel, und eine Minute später drückt sie mir auf, zweimal, und ich betrete den Hausflur. Die Treppe führt um einen Aufzug rum, ich gehe rauf, hab es nicht eilig oder so, einfach immer nur Stufe um Stufe. Ist schon komisch, oder?, dass die erste Frau nicht auf mein Klingeln reagiert hat oder nicht zu Hause war oder so, nur ein ganz kleiner Zufall, verstehen Sie, was ich meine?«
Sebastian Junger,
Tod in Belmont
Serienmörder und ihre Opfer sind zum Zeitpunkt der Tat keineswegs autark, sondern durch die Brücke der Gewalttätigkeit untrennbar miteinander verbunden - erst ihr Verhältnis zueinander und ihr Verhalten untereinander formen das Verbrechen.
Es passt einfach alles zusammen: Endlich Wochenende, die Sonne scheint vom nahezu wolkenlosen Himmel herab, angenehme 26 Grad, der Frühsommer hat nun auch Hamburg erreicht.
Bianca Möbus und Bernd Hartung schlendern eng umschlungen durch den Öjendorfer Park, ein weitläufiges Waldgebiet zwischen den Außenbezirken Jenfeld und Öjendorf. Die frisch Verliebten sind auf der Suche nach einer abgelegenen Stelle, sie wollen allein sein und möglichst nicht gesehen werden. Bianca, gerade 24 Jahre alt geworden, wohnt noch bei ihren Eltern. Die bildhübsche, aufgeschlossene, unternehmungslustige junge Frau studiert Architektur und jobbt nebenher als Fotomodell. Ihr vier Jahre älterer Freund kommt gebürtig aus Köln und lebt seit zwei Jahren in Hamburg, wo er als Informatiker arbeitet. Zu dieser Zeit kann das Pärchen nicht ahnen, dass es sich mit jedem Schritt einem Jagdgebiet nähert. Dieses Revier kennt und nutzt indes nur jener Mann, der sich dort regelmäßig aufhält, vornehmlich an Wochenenden, wenn Ausflugswetter junge Spaziergängerinnen, Joggerinnen oder Radfahrerinnen in den Wald lockt.
Der Mann stellt diesen Frauen dort nach - um sie zu überfallen, zu foltern und zu vergewaltigen, falls erforderlich, auch zu töten. Bianca und Bernd sind jetzt vielleicht noch zwei Kilometer von jenem Ort entfernt, den Ralf Hollerbach als Ausgangspunkt für seine Jagdausflüge nutzt. Der Lagerplatz liegt abseits von Wald- und Wanderwegen, wird von Bäumen, Ästen und dichtem Gestrüpp umgeben und ist auch aus geringer Entfernung kaum auszumachen - ein idealer Unterschlupf. Gerade ist der 36-jährige Bürokaufmann damit beschäftigt, seine braune Einkaufstasche zu leeren. Zum Vorschein kommen eine schmuddelige Decke, ein blauer Jeans-Anzug, Turnschuhe, und schließlich sein Handwerkszeug: Gasrevolver, Machete, Schere, Schnüre, Heftpflaster. Er zieht seine Alltagsklamotten aus und die Jagdbekleidung an. Den Gasrevolver steckt er in den Hosenbund, die Machete befestigt er am Gürtel. Dann beginnt er seinen Beutezug.
Hollerbach läuft kreuz und quer durch den Wald, streift am Ufer des Öjendorfer Sees umher. Ihm begegnen auch einige Frauen, mal allein, mal mit Hund, mal in Begleitung. Doch er ist wählerisch, er hat exakte Vorstellungen von seiner Beute. Würde er sich eine Frau greifen, die nicht nach seinem Geschmack ist, er hätte keinen echten Genuss dabei. Es muss »klick« machen, sein perverses Verlangen will ansprechend bedient werden. In all den Jahren hat er zudem gelernt, auf seine Chance zu warten - gespannt und gewaltbereit, vor allem aber geduldig. Es ist gegen 18.30 Uhr, als Bianca und Bernd sich auf den Rückweg machen. Ein wunderbarer und erfüllter Tag neigt sich dem Ende entgegen. Als die beiden Hand in Hand Richtung Parkplatz marschieren, kommt ihnen Hollerbach entgegen. Er ist immer noch auf der Jagd. Er bemerkt das Paar, mustert es. Dann kleben seine Augen nur noch an Bianca. Sie sieht genauso aus, wie sie aussehen soll: dunkelblondes Haar, schulterlang, in der Mitte gescheitelt, hellblaue Augen, schlank, feminin. Genau diese Frau hat er im Kopf, wenn er phantasiert, wie sie sich gegen ihn verzweifelt wehrt, wie er sie auf dem Rücken eines Pferdes festbindet, wie er immer wieder mit einem Stock auf ihren nackten Po schlägt und wie er sie schließlich brutal missbraucht. Er will sie haben. Er muss sie haben. Jetzt! Während Bianca und Bernd sich angeregt unterhalten und Hollerbach kaum wahrnehmen, schmiedet der einen Plan: das Pärchen erst vorbeilaufen lassen, dann sofort kehrtmachen, es von hinten ansprechen, mit dem Gasrevolver bedrohen, beide zum Lagerplatz verschleppen, den Mann fesseln - und dann sie!
Einige Augenblicke später. Hollerbach ist jetzt nur noch etwa fünf Meter hinter seinen Opfern. »Hey! Umdrehen!«, zischt er. Bianca und Bernd drehen sich tatsächlich um.
Hollerbach richtet den Gasrevolver auf das Pärchen: »Keinen Mucks! Mitkommen!« Bianca und Bernd schauen sich verdutzt an. Bernd versucht, die Situation zu entschärfen: »Mach doch keinen Blödsinn.« »Schnauze! Ich sag's nicht noch mal! Mitkommen!« Hollerbach kommt einen Schritt näher. »Lass doch den Quatsch.« Bernd hebt beschwichtigend die Hände. »Wir machen es so: Du haust einfach ab, und wir vergessen das Ganze. Okay?« Hollerbach schweigt. Er steht einfach nur da. Ihm ist anzusehen, dass er nicht recht weiß, was er weiter tun soll. Bernd erkennt die Unschlüssigkeit und die Unsicherheit des Unbekannten, der auch bewaffnet keine ernst zu nehmende Bedrohung zu sein scheint. Er macht einen Schritt auf Hollerbach zu und wird energischer: »Es reicht jetzt! Mach bloß, dass du wegkommst!« Plötzlich krachen drei Schüsse, kurz hintereinander. Hollerbach hat auf Bernd geschossen, der aber bleibt unverletzt und unbeeindruckt. Er versucht, nach Hollerbach zu treten. Der weicht einige Meter zurück und zieht wild entschlossen seine Machete: 58 Zentimeter lang, sieben Zentimeter breit, etwa 700 Gramm schwer. Bianca schreit einmal laut auf.
Dann versagt ihr die Stimme. Hollerbach will nicht nachgeben, nicht aufgeben, nicht jetzt, nicht so kurz vor dem Ziel. Nein! Er glotzt noch einmal kurz zu Bianca hinüber, sein Gesicht gerät zu einer grotesken Grimasse. Schließlich stürmt er unvermittelt und blitzschnell auf Bernd los und spaltet ihm mit einem wuchtigen Hieb den Schädel. Bernd stöhnt leise, hält eine Hand auf die stark blutende Wunde, versucht noch zu flüchten; Hollerbach aber setzt nach und stößt immer wieder zu, blindwütig, erbarmungslos. Auch als Bernd schon am Boden liegt und keine Gefahr mehr darstellt, Hollerbachs perversen Plänen nicht mehr im Wege stehen kann, hört er nicht auf. Er schlägt auf den Sterbenden ein, als würde er Holz hacken. Schon Sekunden darauf ist Bernd tot. Der Gerichtsmediziner wird später mindestens 20 erhebliche Hiebwunden im Bereich des Kopfes feststellen. Hollerbach steht neben dem Toten und betrachtet ihn eine Weile. Wieder ist er unschlüssig, was nun geschehen soll. Die sexuelle Spannung ist während dieses Gewaltexzesses in sich zusammengefallen. In seinem Kopfkino ist das nicht vorgesehen.
Hollerbach kann sich nicht mehr stimulieren. Es ist vorbei. Er wendet sich Bianca zu. Sie steht da wie versteinert, unfähig, etwas zu sagen oder etwas zu tun. Sie will weglaufen, aber sie kann nicht. Sie will schreien, aber sie bringt keinen Laut heraus. Sie starrt nur ungläubig auf Bernds grässlich zugerichteten Leichnam. Eben noch ist Hollerbach sogar bereit gewesen, für Bianca zu morden. Er hat sie besitzen wollen. Das ist nun anders. Wut und Hass brechen sich ihre Bahn. Je länger er die vollkommen verängstigte Frau anstarrt, desto stärker wird der Wunsch, auch sie zu bestrafen. Und ihm wird klar, dass Bianca alles mitangesehen hat. Er kann sie jetzt nicht einfach gehen lassen. Er muss nicht lange überlegen, was nun zu tun ist. Die Machete hoch erhoben, stürzt er sich wortlos auf Bianca, die kurz darauf zusammensackt, nach unzähligen Hieben gegen Kopf und Hals tödlich verwundet. Hollerbach läuft zurück zu seinem Lagerplatz, zieht sich um, versteckt Gasrevolver und Machete unter einem Baumstamm. Danach kehrt er an den Tatort zurück, zieht die Leichen bergabwärts in dichtes Gebüsch und Unterholz. Die großen Blutlachen auf dem Weg deckt er mit Sand ab. Dann macht er sich auf den Heimweg.
© 2008 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
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Autoren-Porträt von Stephan Harbort
Stephan Harbort, Jahrgang 1964, ist Kriminalhauptkommissar und führender Serienmordexperte. Er sprach mit mehr als 50 Serienmördern, entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Gewalttätern und ist Fachberater bei TV-Dokumentationen und Krimi-Serien. Stephan Harbort lebt in Düsseldorf.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephan Harbort
- 2013, 5., erw. Aufl., 352 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426786060
- ISBN-13: 9783426786062
- Erscheinungsdatum: 25.04.2013
Rezension zu „Die Maske des Mörders “
"Wenn das Grauen in die Normalität eindringt, dauert es, bis die Wunden heilen. Kriminalhauptkommissar Stephan Harbort hat mit Hunderten Tätern und Opfern gesprochen und vermittelt beklemmende Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele.Eine sehr interessante Gegenüberstellung von Täter- und Opferaussagen. Daraus ergeben sich Texte mit extremer Authentizität, die buchstäblich unter die Haut gehen." -- buchlemmi.de, 05.09.2013
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