Die letzte Flut
Roman
Die Menschheit vor ihrer größten Herausforderung
Die nahe Zukunft: Der Meeresspiegel steigt rasant an. Städte werden überflutet, Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Was ist die Ursache für diese verheerende Flut? Der...
Die nahe Zukunft: Der Meeresspiegel steigt rasant an. Städte werden überflutet, Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Was ist die Ursache für diese verheerende Flut? Der...
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Produktinformationen zu „Die letzte Flut “
Die Menschheit vor ihrer größten Herausforderung
Die nahe Zukunft: Der Meeresspiegel steigt rasant an. Städte werden überflutet, Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Was ist die Ursache für diese verheerende Flut? Der Klimawandel? Oder ein anderes, bisher unbekanntes Phänomen? Als die Wissenschaftlerin Thandie Jones eine sensationelle Entdeckung macht, beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit. Denn die Flut bedroht das Überleben der ganzen menschlichen Zivilisation...
Die nahe Zukunft: Der Meeresspiegel steigt rasant an. Städte werden überflutet, Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Was ist die Ursache für diese verheerende Flut? Der Klimawandel? Oder ein anderes, bisher unbekanntes Phänomen? Als die Wissenschaftlerin Thandie Jones eine sensationelle Entdeckung macht, beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit. Denn die Flut bedroht das Überleben der ganzen menschlichen Zivilisation...
Klappentext zu „Die letzte Flut “
Die Menschheit vor ihrer grössten HerausforderungDie nahe Zukunft: Der Meeresspiegel steigt rasant an. Städte werden überflutet, Millionen von Menschen sind auf der Flucht. Was ist die Ursache für diese verheerende Flut? Der Klimawandel? Oder ein anderes, bisher unbekanntes Phänomen? Als die Wissenschaftlerin Thandie Jones eine sensationelle Entdeckung macht, beginnt ein gnadenloser Wettlauf mit der Zeit. Denn die Flut bedroht das Überleben der ganzen menschlichen Zivilisation...
Lese-Probe zu „Die letzte Flut “
Die Flut von Stephen BaxterErster Teil
2016
Anstieg des Meeresspiegels:
1-5 Meter
JULI 2016
... mehr
Jedes Schlagloch, jeder Riss im Asphalt war mit Wasser gefüllt. Als der Lastwagen durch die Straßen von Barcelona kurvte, spritzte das Wasser auf und durchnässte Lily in ihrem engen Transportfach unter dem Chassis - stinkendes, öliges Zeug, das sich einen Weg unter das Klebeband über ihren Augen und ihrem Mund bahnte. Außerdem regnete es, ein starker, anhaltender Regen, der auf das Metalldach des Lastwagens trommelte. Sein Prasseln gesellte sich zum Dröhnen des Motors und dem fernen Rattern von Maschinengewehren.
Ein weiterer Stoß rammte ihren Körper gegen die Metalldecke über ihr. Ächzend bewegte sie die Lippen, um das Klebeband zu lockern, und wand sich ein wenig in der Hoffnung, die Schmerzen in ihren Schultern und im Nacken zu lindern, die daher rührten, dass ihr die Arme auf den Rücken gebunden waren. Aber bei jeder Bewegung wanderte der Schmerz lediglich an eine andere Stelle.
Sie hatten noch eine weitere, mit Klebeband gefesselte Geisel unter der Karosserie des Lastwagens verstaut. Die beiden Frauen lagen verkehrt herum nebeneinander, wie Sardinen in der Büchse. Lily glaubte, dass es Helen war. Sie streckte die Beine ein wenig, so vorsichtig es bei dem Geholper eben ging. Man hatte ihr die Schuhe weggenommen, und ihre bloßen Füße berührten Haare. Aber Helen reagierte nicht. Lily hatte solche Fahrten schon sieben, acht oder neun Mal mitgemacht und beobachtet, dass jede der anderen Geiseln - Helen, Gary, John und Piers - diese Tortur auf ihre Weise bewältigte. Helen ließ einfach alles über sich ergehen. Für sie zählte nur, dass sie am Ende ihr Baby zurückbekam.
Der Lastwagen hielt ruckartig an, der Motor tuckerte im Leerlauf vor sich hin. Lily hörte Stimmen, die sich in rasendem Tempo unterhielten, ein Gebrabbel in Spanisch, das sie ein wenig kannte, und Katalanisch, von dem sie kaum ein Wort verstand. Eine der Stimmen gehörte Jaume, dem fetten, ewig schwitzenden jungen Mann, der so leicht nervös wurde. Wahrscheinlich verhandelte er gerade über die Durchfahrt durch eine Zollsperre, die von der einen oder anderen Miliz errichtet worden war.
Der Regen prasselte immer noch gegen die Seitenwände des Lastwagens, rauschte auf den Asphalt und klatschte auf die Kleidung der Männer draußen.
Lily hörte, wie Jaume hastig wieder einstieg. Schüsse ertönten. Eine Kugel schlug in die Karosserie des Wagens. Der Fahrer trat aufs Gas, der Laster schoss davon, und Lilys Schultern machten erneut unsanfte Bekanntschaft mit der Metallwand.
Sie wurde hin und her geschleudert. Die dahinrasende Straßendecke befand sich nur Zentimeter unter ihr. Da sie sich kaum bewegen konnte, wand sie sich wie ein Aal in ihren Fesseln und kämpfte gegen den Schmerz und die aufsteigende Panik an. Helen gab noch immer keinen Laut von sich.
Lily gehörte zu den am längsten festgehaltenen Geiseln.
Als man sie vor fünf Jahren an die hiesige amerikanische Botschaft versetzt hatte, war Spanien bereits im Zusammenbruch begriffen gewesen. Das Land wurde von seinen einzigartigen, teilweise jahrhundertealten separatistischen Bestrebungen und ethnischen Spannungen zerrissen, die vom Erbe der muslimischen Invasion im achten Jahrhundert bis zu den alles vergiftenden Spaltungen des Bürgerkriegs im zwanzigsten Jahrhundert reichten. Und der aktuelle Zustrom von Migranten aus dem dürregeplagten Afrika verschärfte die Lage noch. Ein Staatsstreich der Rechten gegen die Regierung läutete letztlich den Zerfall ein.
Während die Friedenswächter und Hilfsorganisationen sich abrackerten, waren die großen Gestalter der Globalisierung gekommen, aggressive Konzerne und Finanzinstitutionen, die aus dem Wiederaufbau eines zerbröckelnden Staates Profi t zu schlagen versuchten; auf der anderen Seite sorgten die Schürer des Volkszorns für Aufstände und terroristische Aktionen. Die Spaltungen verästelten und überlappten sich mehr und mehr - Spanien wurde zu einem fraktalen Trümmerstaat, einem Libanon des Westens. Mittlerweile, so schien es, waren selbst Großstädte wie Barcelona von bewaffneten Splittergruppen übernommen worden.
Wenn man sich inmitten des Geschehens befand, war das Kaleidoskop der Konfl ikte und fragilen Bündnisse verwirrend und schien in rasanter Bewegung begriffen. So war Lily beim Abschuss ihres Chinooks vor all diesen Jahren in die Hände einer fundamentalistischen Muslimgruppe gefallen, wurde gegenwärtig jedoch von christlichen Extremisten festgehalten. Im Lauf der Zeit war sie wie der Taler in dem alten Kinderspiel von einer Hand zur anderen gewandert. Nun hatte man sie erneut mit Klebeband gefesselt und unter einen Lastwagen gestopft.
Ein paar Minuten später hielten sie ein weiteres Mal an. Türen knallten. Lily hörte, wie Jaume und die anderen Bewacher um den Wagen herumgingen. Sie unterhielten sich in schnellen, leisen Worten.
Dann wurde sie an den Knöcheln gepackt und unter dem Wagen hervorgezerrt. Sie landete rücklings auf einer harten, nassen, unebenen Fläche - Kopfsteinpf aster? Es tat weh. Regen peitschte auf sie nieder, durchnässte ihr T-Shirt, ihren Bauch und die nackten Beine zwischen den Klebestreifen. Sie konnte nichts sehen, und sie hatte keine Ahnung, was mit Helen geschah.
Sie wurde von groben Händen an den Füßen und unter den Achseln genommen, wie ein Kind hochgehoben, auf den Bauch gedreht und über eine Schulter geworfen. Ein Arm legte sich über ihre Beine, und der Mann, der sie trug, trabte im Laufschritt los. Wer immer es war, er musste stark sein. Lupo oder Severo. Das Auf und Ab seiner Schritte schüttelte sie durch, zerrte an ihren Armen, die noch immer stramm auf den Rücken gefesselt waren, und ihr Kopf flog hin und her. Der Regen durchnässte ihren Rücken, ihre Füße waren kalt. Sie fühlte sich alt, älter als ihre vierzig Jahre, alt und schwach im starken, jugendlichen Griff des Mannes.
Endlich wurde sie aus dem Regen in einen geschlossenen Raum gebracht. Die Art der Geräusche änderte sich, die schnellen Schritte hallten. Irgendein großer, weiter, leerer Raum? Der Mann stolperte über etwas, so dass Lily nach vorn gerissen wurde. Er fluchte auf Katalanisch und eilte weiter. Jetzt ging es Treppen hinunter, in einen weiteren hallenden Raum, vielleicht einen Keller. Die Stufen waren massiv, wohl aus Stein. Ihr Kopf streifte eine Schwelle; sie hatte Glück, dass sie nicht verletzt wurde.
Keuchend beugte sich der Mann vor und ließ sie unsanft von seinen Schultern rutschen. Sie spannte die Muskeln an, weil sie damit rechnete, auf den Boden zu prallen, aber sie polterte auf einen harten Holzstuhl. Ein Messer arbeitete sich an ihrem Körper hoch, durchtrennte das Klebeband über ihren Beinen und ihrem Rumpf, befreite ihre auf den Rücken gebundenen Arme. Sie spürte die harte Spitze der Klinge, wurde jedoch nicht geschnitten. Vor ihrem Gesicht war heißer Atem, und sie roch den Gestank von billigem, fettigem Fraß. Also war es Lupo, er liebte seine Hamburger.
Als ihre Arme frei waren, hätte sie sich am liebsten gereckt und die Schmerzen aus ihren Muskeln massiert. Aber sie kannte die weitere Prozedur. Sie hob den rechten Arm und streckte das rechte Bein aus. Die Schellen schlossen sich fest um ihr Handgelenk und ihren Knöchel, das Metall war kalt und eng. Sie zerrte versuchsweise daran. Eine Kette rasselte, nur ein kurzes, fest verankertes Stück.
Ihre Augen waren noch immer zugeklebt, ihr Mund verschlossen. Aber der Mann entfernte sich, und sie hörte die anderen irgendwo im Raum, die leisen Gespräche der Bewacher, das Stöhnen der unsanft abgeladenen Gefangenen. Sie fasste an ihren Mund, zog das Klebeband herunter und schnappte nach Luft. Dann tastete sie nach dem Ende der Streifen und entfernte das Band ganz. Sie kniff die Augen fest zu, denn es zerrte schmerzhaft an ihren Lidern. Ihr Hinterkopf brannte, doch die geschorene Kopfhaut bewahrte sie vor weiterem Schmerz. Sie warf das Klebeband zu Boden.
Jeder Muskel tat ihr weh. Erschöpft blickte sie sich um.
Dies war keiner der üblichen Keller, in denen sie sonst versteckt wurden, sondern eine Art Gewölbe mit Steinwänden, schmutzig, sehr alt und von zwölf Bogen unterteilt. Eine batteriebetriebene Laterne, die auf dem Boden stand, spendete das einzige Licht. An den Wänden prangten Reliefs - Bilder einer Unglücklichen, die Folterqualen erlitt -, und Lily erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Reihe von Sarkophagen. Eine Krypta?
Es roch modrig. Lily sah Wasserfl ecken an den Wänden, träge Rinnsale unter den steinernen Bogen, staubige Pfützen auf dem Boden.
Sie saß auf einem harten Holzstuhl und war an einen altertümlich wirkenden Heizkörper gekettet. Drei Bewacher - Jaume, Lupo und Severo - standen in der Mitte des Gewölbes, ihre Armalites über der Schulter, und rauchten nervös. Severo trug sogar im Dunkeln seine Sonnenbrille - tatsächlich war es Lilys US-Air-Force-Sonnenbrille, die man ihr an dem Tag, als der Chinook heruntergeholt worden war, zusammen mit all ihren anderen Besitztümern abgenommen hatte.
Auf weiteren, im Kreis an den Wänden aufgestellten Stühlen saßen die Geiseln in ihren T-Shirts und Shorts, mit bloßen Füßen; silberne Paketbandstreifen klebten noch an ihnen. Vier außer ihr: Also waren alle hier; sie waren noch zusammen. Helen Gray drückte Grace an sich, ihr Baby, das man ihr nach der Verlegung zurückgegeben hatte, der Mittelpunkt ihrer ganzen Welt. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen und auffallend blass unter ihren Sommersprossen. Sie sah sehr englisch aus, sehr zerbrechlich. Gary Boyle, der noch jüngere amerikanische Wissenschaftler, saß verwirrt und wie betäubt da. Seine Angst und Verzweifl ung brachten stets das Tyrannenhafte in ihren Bewachern zum Vorschein; seine Arme und Beine waren voller blauer Flecken von den Schlägen, die er bekam.
Piers hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl, ein schmutziges Handtuch über dem Gesicht. Piers Michaelmas, ein hoher britischer Offi zier, war damals Lilys Hauptpassagier im Hubschrauber gewesen. Er hatte für eine westliche Allianz gearbeitet, die bestrebt gewesen war, die neue Militärregierung zu stützen. Schon vor vielen Monaten hatte er sich hinter seine Handtücher und Augenbinden zurückgezogen und sprach nur mehr selten ein Wort.
John Foreshaw schließlich, ein amerikanischer Zivilist, der für ein ausländisches Unternehmen tätig war, prüfte seine Handschellen, wie immer gereizt und ungeduldig; am gefährlichsten war er in solchen Übergangssituationen.
In den schmutzigen Kleidern, käsebleich vom Mangel an Tageslicht, sahen sie sich mit ihren tief in den Höhlen liegenden Augen, ihren abgeschnittenen Haaren und ausgemergelten Gesichtern alle so ähnlich, dachte Lily. Männer und Frauen, Briten und Amerikaner, Militärs und Zivilisten, Junge und nicht mehr so Junge. Aber sie waren allesamt weiß, waren allesamt Briten oder Amerikaner - und das waren die Kategorien, die sie als Geiseln wertvoll machten. Ansonsten gab es hier nichts, keine der üblichen Utensilien einer langen Gefangenschaft, die Schaumstoffmatratzen und schmutzigen Decken, die Plastikbeutel, in die sie sich entleeren mussten, die alten Cola-Flaschen, die ihr Trinkwasser und ihren Urin enthielten. Diesmal waren nur sie selbst hier.
John sprach als Erster. »Und wo, zum Teufel, sind wir jetzt?«
Jaume nahm die Zigarette aus dem Mund und blies eine Wolke kaum inhalierten Rauchs aus. Wie die anderen dieser »Väter der Auserwählten« war er kaum älter als zwanzig, nur halb so alt wie John, Piers und Lily.
»La Seu«, sagte er.
»Wo? Was hast du gesagt? Warum könnt ihr Scheißkerle nicht vernünftig reden?« John war einmal fett gewesen; jetzt hing ihm die Haut schlaff von den Wangen und unter dem Kinn, als wäre sie ausgeleert worden.
Gary Boyle ergriff das Wort. »La Seu. Das ist die Kathedrale. Der heiligen Eulalia geweiht, einer dreizehnjährigen Märtyrerin. Als Kind war ich mal mit meinen Eltern hier ... « Er blickte sich um. »Mein Gott. Das ist die Krypta. Wir sind in der Krypta einer Kathedrale angekettet!«
»Ist bloß ein weiteres Dreckloch, mehr nicht«, stieß John zwischen den Zähnen hervor. »An den Wänden läuft Wasser runter. Wir werden ertrinken, verdammt noch mal, wenn wir nicht vorher an Lungenentzündung verrecken!«
»Heilige Stätte«, warf Jaume ihnen in seinem alles andere als akzentfreien Englisch lässig hin. »Gott hier bei euch.« Er machte sich auf den Weg zu einer im Schatten liegenden Treppe. Die anderen folgten ihm.
»Hey!«, rief John ihnen nach. »Wo wollt ihr hin? Wo sind unsere Matratzen? Hier gibt's nichts zu essen. Nicht mal einen Beutel zum Reinscheißen.«
»Gott sorgt für euch«, erwiderte Jaume. »Hat sich seit neuntem Jahrhundert um Heilige gekümmert, wird sich auch um euch kümmern.«
John zerrte an seinen Ketten, sie rasselten laut in dem geschlossenen Raum. »Ihr wollt uns hier krepieren lassen, stimmt's?«
Lily fragte sich im Stillen, ob er recht haben könnte. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein längerer Aufenthalt vorgesehen war. Sie ließ sich auf den Gedanken ein, auf die Vorstellung, dass sie sterben würde, und merkte, dass sie keine Angst davor hatte. Fünf Jahre lang hatte sie sich in der launenhaften Obhut ängstlicher, unwissender junger Männer befunden; auch ohne die grausamen Spielchen und all die Scheinhinrichtungen hatte sie sich längst an den Gedanken gewöhnt, dass ihrem Leben jederzeit aus einer Laune heraus ein Ende gesetzt werden könnte. Aber sie wollte nicht in diesem Loch sterben. Sie verspürte eine tiefe, starke Sehnsucht, den Himmel zu sehen.
Die Bewacher entfernten sich weiter treppaufwärts, und John riss noch heftiger an seinen Ketten. »Ihr verfl uchten Mistkerle, ihr schnappt euch eine Handvoll Geiseln und glaubt, ihr könntet die ganze Welt beherrschen!«
»Immer mit der Ruhe, John«, mahnte Lily.
John geriet jetzt in Rage; sein Gesicht färbte sich purpurrot. »Verdammte Feiglinge! Ihr könnt euren Job nicht mal richtig zu Ende bringen, dazu seid ihr wohl nicht Manns genug ... «
Severo drehte sich um und schoss mit seiner Armalite. Die Salve dröhnte laut in dem geschlossenen Raum. Johns Körper erzitterte, als ihn die Kugeln trafen. Eine erwischte ihn im Gesicht, das zu blutigem Matsch implodierte.
»John!«, schrie Gary. »O Gott, o Gott!«
»Kein Feigling«, sagte Severo, die Zigarette im Mund. Dann folgte er den anderen die Treppe hinauf, bis er aus Lilys Blickfeld verschwunden war.
John hing schräg über dem Stuhl. Auf dem Boden bildete sich eine dickfl üssige Blutlache. Helen beugte sich über ihr Baby, drückte es fest an sich, schaukelte hin und her, als existierte sonst nichts auf der Welt. Piers wandte den verhüllten Kopf ab und sackte in sich zusammen.
Gary saß vornübergebeugt da und weinte Tränen des Schocks. Lily, die nur ein paar Meter von ihm entfernt angekettet war, kam nicht an ihn heran.
John war in mancherlei Hinsicht ein Arschloch gewesen, aber Lily kannte ihn nun seit vier Jahren. Jetzt war er tot, von einer Sekunde auf die andere - vor ihren Augen erschossen. Noch schlimmer, ausrangiert. Nicht mehr von Wert für diejenigen, die sie in ihrer Gewalt hatten. Und das bedeutete: alle anderen hier auch nicht.
»Es ist vorbei.« Helen sprach zum ersten Mal, seit sie hierhergebracht worden waren. Sie drückte das Baby an die Brust, ihr Kinn ruhte auf Graces Kopf. »Ich habe recht, nicht wahr?« Sie hatte einen forschen, nordenglischen Akzent. Sie war Sprachlehrerin gewesen.
»Das kann man nicht wissen«, sagte Lily mit Nachdruck. »Vielleicht hat sich irgendeine andere Gruppe bei der Übergabe verspätet, das ist alles.«
»Sie haben John getötet«, keuchte Gary mit schwerer Stimme.
»Und diese verfl uchte Laterne geht aus«, sagte Helen. »Schaut euch das an! Die Mistkerle konnten uns nicht mal eine frische Batterie geben. Sie lassen uns hier im Dunkeln sitzen, mit einer stinkenden Leiche. Wir werden hier hocken, bis wir verschimmeln.«
»O Jesus Christus«, wimmerte Gary. Und Lily hörte ihn leise stöhnen. Sie wusste, was das bedeutete: Seine Blase hatte sich entleert.
»So weit wird es nicht kommen«, fauchte sie. »Sehen wir zu, dass wir diese Ketten loswerden.« Sie zog versuchsweise an ihrer. Der Heizkörper war fest mit der Steinwand verschraubt. »Schaut euch um, bevor das Licht ausgeht. Hier unten muss es doch irgendwas geben, was wir hernehmen können ... «
»Wie wär's mit Bolzenschneidern?«
Übersetzung: Peter Robert
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Jedes Schlagloch, jeder Riss im Asphalt war mit Wasser gefüllt. Als der Lastwagen durch die Straßen von Barcelona kurvte, spritzte das Wasser auf und durchnässte Lily in ihrem engen Transportfach unter dem Chassis - stinkendes, öliges Zeug, das sich einen Weg unter das Klebeband über ihren Augen und ihrem Mund bahnte. Außerdem regnete es, ein starker, anhaltender Regen, der auf das Metalldach des Lastwagens trommelte. Sein Prasseln gesellte sich zum Dröhnen des Motors und dem fernen Rattern von Maschinengewehren.
Ein weiterer Stoß rammte ihren Körper gegen die Metalldecke über ihr. Ächzend bewegte sie die Lippen, um das Klebeband zu lockern, und wand sich ein wenig in der Hoffnung, die Schmerzen in ihren Schultern und im Nacken zu lindern, die daher rührten, dass ihr die Arme auf den Rücken gebunden waren. Aber bei jeder Bewegung wanderte der Schmerz lediglich an eine andere Stelle.
Sie hatten noch eine weitere, mit Klebeband gefesselte Geisel unter der Karosserie des Lastwagens verstaut. Die beiden Frauen lagen verkehrt herum nebeneinander, wie Sardinen in der Büchse. Lily glaubte, dass es Helen war. Sie streckte die Beine ein wenig, so vorsichtig es bei dem Geholper eben ging. Man hatte ihr die Schuhe weggenommen, und ihre bloßen Füße berührten Haare. Aber Helen reagierte nicht. Lily hatte solche Fahrten schon sieben, acht oder neun Mal mitgemacht und beobachtet, dass jede der anderen Geiseln - Helen, Gary, John und Piers - diese Tortur auf ihre Weise bewältigte. Helen ließ einfach alles über sich ergehen. Für sie zählte nur, dass sie am Ende ihr Baby zurückbekam.
Der Lastwagen hielt ruckartig an, der Motor tuckerte im Leerlauf vor sich hin. Lily hörte Stimmen, die sich in rasendem Tempo unterhielten, ein Gebrabbel in Spanisch, das sie ein wenig kannte, und Katalanisch, von dem sie kaum ein Wort verstand. Eine der Stimmen gehörte Jaume, dem fetten, ewig schwitzenden jungen Mann, der so leicht nervös wurde. Wahrscheinlich verhandelte er gerade über die Durchfahrt durch eine Zollsperre, die von der einen oder anderen Miliz errichtet worden war.
Der Regen prasselte immer noch gegen die Seitenwände des Lastwagens, rauschte auf den Asphalt und klatschte auf die Kleidung der Männer draußen.
Lily hörte, wie Jaume hastig wieder einstieg. Schüsse ertönten. Eine Kugel schlug in die Karosserie des Wagens. Der Fahrer trat aufs Gas, der Laster schoss davon, und Lilys Schultern machten erneut unsanfte Bekanntschaft mit der Metallwand.
Sie wurde hin und her geschleudert. Die dahinrasende Straßendecke befand sich nur Zentimeter unter ihr. Da sie sich kaum bewegen konnte, wand sie sich wie ein Aal in ihren Fesseln und kämpfte gegen den Schmerz und die aufsteigende Panik an. Helen gab noch immer keinen Laut von sich.
Lily gehörte zu den am längsten festgehaltenen Geiseln.
Als man sie vor fünf Jahren an die hiesige amerikanische Botschaft versetzt hatte, war Spanien bereits im Zusammenbruch begriffen gewesen. Das Land wurde von seinen einzigartigen, teilweise jahrhundertealten separatistischen Bestrebungen und ethnischen Spannungen zerrissen, die vom Erbe der muslimischen Invasion im achten Jahrhundert bis zu den alles vergiftenden Spaltungen des Bürgerkriegs im zwanzigsten Jahrhundert reichten. Und der aktuelle Zustrom von Migranten aus dem dürregeplagten Afrika verschärfte die Lage noch. Ein Staatsstreich der Rechten gegen die Regierung läutete letztlich den Zerfall ein.
Während die Friedenswächter und Hilfsorganisationen sich abrackerten, waren die großen Gestalter der Globalisierung gekommen, aggressive Konzerne und Finanzinstitutionen, die aus dem Wiederaufbau eines zerbröckelnden Staates Profi t zu schlagen versuchten; auf der anderen Seite sorgten die Schürer des Volkszorns für Aufstände und terroristische Aktionen. Die Spaltungen verästelten und überlappten sich mehr und mehr - Spanien wurde zu einem fraktalen Trümmerstaat, einem Libanon des Westens. Mittlerweile, so schien es, waren selbst Großstädte wie Barcelona von bewaffneten Splittergruppen übernommen worden.
Wenn man sich inmitten des Geschehens befand, war das Kaleidoskop der Konfl ikte und fragilen Bündnisse verwirrend und schien in rasanter Bewegung begriffen. So war Lily beim Abschuss ihres Chinooks vor all diesen Jahren in die Hände einer fundamentalistischen Muslimgruppe gefallen, wurde gegenwärtig jedoch von christlichen Extremisten festgehalten. Im Lauf der Zeit war sie wie der Taler in dem alten Kinderspiel von einer Hand zur anderen gewandert. Nun hatte man sie erneut mit Klebeband gefesselt und unter einen Lastwagen gestopft.
Ein paar Minuten später hielten sie ein weiteres Mal an. Türen knallten. Lily hörte, wie Jaume und die anderen Bewacher um den Wagen herumgingen. Sie unterhielten sich in schnellen, leisen Worten.
Dann wurde sie an den Knöcheln gepackt und unter dem Wagen hervorgezerrt. Sie landete rücklings auf einer harten, nassen, unebenen Fläche - Kopfsteinpf aster? Es tat weh. Regen peitschte auf sie nieder, durchnässte ihr T-Shirt, ihren Bauch und die nackten Beine zwischen den Klebestreifen. Sie konnte nichts sehen, und sie hatte keine Ahnung, was mit Helen geschah.
Sie wurde von groben Händen an den Füßen und unter den Achseln genommen, wie ein Kind hochgehoben, auf den Bauch gedreht und über eine Schulter geworfen. Ein Arm legte sich über ihre Beine, und der Mann, der sie trug, trabte im Laufschritt los. Wer immer es war, er musste stark sein. Lupo oder Severo. Das Auf und Ab seiner Schritte schüttelte sie durch, zerrte an ihren Armen, die noch immer stramm auf den Rücken gefesselt waren, und ihr Kopf flog hin und her. Der Regen durchnässte ihren Rücken, ihre Füße waren kalt. Sie fühlte sich alt, älter als ihre vierzig Jahre, alt und schwach im starken, jugendlichen Griff des Mannes.
Endlich wurde sie aus dem Regen in einen geschlossenen Raum gebracht. Die Art der Geräusche änderte sich, die schnellen Schritte hallten. Irgendein großer, weiter, leerer Raum? Der Mann stolperte über etwas, so dass Lily nach vorn gerissen wurde. Er fluchte auf Katalanisch und eilte weiter. Jetzt ging es Treppen hinunter, in einen weiteren hallenden Raum, vielleicht einen Keller. Die Stufen waren massiv, wohl aus Stein. Ihr Kopf streifte eine Schwelle; sie hatte Glück, dass sie nicht verletzt wurde.
Keuchend beugte sich der Mann vor und ließ sie unsanft von seinen Schultern rutschen. Sie spannte die Muskeln an, weil sie damit rechnete, auf den Boden zu prallen, aber sie polterte auf einen harten Holzstuhl. Ein Messer arbeitete sich an ihrem Körper hoch, durchtrennte das Klebeband über ihren Beinen und ihrem Rumpf, befreite ihre auf den Rücken gebundenen Arme. Sie spürte die harte Spitze der Klinge, wurde jedoch nicht geschnitten. Vor ihrem Gesicht war heißer Atem, und sie roch den Gestank von billigem, fettigem Fraß. Also war es Lupo, er liebte seine Hamburger.
Als ihre Arme frei waren, hätte sie sich am liebsten gereckt und die Schmerzen aus ihren Muskeln massiert. Aber sie kannte die weitere Prozedur. Sie hob den rechten Arm und streckte das rechte Bein aus. Die Schellen schlossen sich fest um ihr Handgelenk und ihren Knöchel, das Metall war kalt und eng. Sie zerrte versuchsweise daran. Eine Kette rasselte, nur ein kurzes, fest verankertes Stück.
Ihre Augen waren noch immer zugeklebt, ihr Mund verschlossen. Aber der Mann entfernte sich, und sie hörte die anderen irgendwo im Raum, die leisen Gespräche der Bewacher, das Stöhnen der unsanft abgeladenen Gefangenen. Sie fasste an ihren Mund, zog das Klebeband herunter und schnappte nach Luft. Dann tastete sie nach dem Ende der Streifen und entfernte das Band ganz. Sie kniff die Augen fest zu, denn es zerrte schmerzhaft an ihren Lidern. Ihr Hinterkopf brannte, doch die geschorene Kopfhaut bewahrte sie vor weiterem Schmerz. Sie warf das Klebeband zu Boden.
Jeder Muskel tat ihr weh. Erschöpft blickte sie sich um.
Dies war keiner der üblichen Keller, in denen sie sonst versteckt wurden, sondern eine Art Gewölbe mit Steinwänden, schmutzig, sehr alt und von zwölf Bogen unterteilt. Eine batteriebetriebene Laterne, die auf dem Boden stand, spendete das einzige Licht. An den Wänden prangten Reliefs - Bilder einer Unglücklichen, die Folterqualen erlitt -, und Lily erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Reihe von Sarkophagen. Eine Krypta?
Es roch modrig. Lily sah Wasserfl ecken an den Wänden, träge Rinnsale unter den steinernen Bogen, staubige Pfützen auf dem Boden.
Sie saß auf einem harten Holzstuhl und war an einen altertümlich wirkenden Heizkörper gekettet. Drei Bewacher - Jaume, Lupo und Severo - standen in der Mitte des Gewölbes, ihre Armalites über der Schulter, und rauchten nervös. Severo trug sogar im Dunkeln seine Sonnenbrille - tatsächlich war es Lilys US-Air-Force-Sonnenbrille, die man ihr an dem Tag, als der Chinook heruntergeholt worden war, zusammen mit all ihren anderen Besitztümern abgenommen hatte.
Auf weiteren, im Kreis an den Wänden aufgestellten Stühlen saßen die Geiseln in ihren T-Shirts und Shorts, mit bloßen Füßen; silberne Paketbandstreifen klebten noch an ihnen. Vier außer ihr: Also waren alle hier; sie waren noch zusammen. Helen Gray drückte Grace an sich, ihr Baby, das man ihr nach der Verlegung zurückgegeben hatte, der Mittelpunkt ihrer ganzen Welt. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen und auffallend blass unter ihren Sommersprossen. Sie sah sehr englisch aus, sehr zerbrechlich. Gary Boyle, der noch jüngere amerikanische Wissenschaftler, saß verwirrt und wie betäubt da. Seine Angst und Verzweifl ung brachten stets das Tyrannenhafte in ihren Bewachern zum Vorschein; seine Arme und Beine waren voller blauer Flecken von den Schlägen, die er bekam.
Piers hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl, ein schmutziges Handtuch über dem Gesicht. Piers Michaelmas, ein hoher britischer Offi zier, war damals Lilys Hauptpassagier im Hubschrauber gewesen. Er hatte für eine westliche Allianz gearbeitet, die bestrebt gewesen war, die neue Militärregierung zu stützen. Schon vor vielen Monaten hatte er sich hinter seine Handtücher und Augenbinden zurückgezogen und sprach nur mehr selten ein Wort.
John Foreshaw schließlich, ein amerikanischer Zivilist, der für ein ausländisches Unternehmen tätig war, prüfte seine Handschellen, wie immer gereizt und ungeduldig; am gefährlichsten war er in solchen Übergangssituationen.
In den schmutzigen Kleidern, käsebleich vom Mangel an Tageslicht, sahen sie sich mit ihren tief in den Höhlen liegenden Augen, ihren abgeschnittenen Haaren und ausgemergelten Gesichtern alle so ähnlich, dachte Lily. Männer und Frauen, Briten und Amerikaner, Militärs und Zivilisten, Junge und nicht mehr so Junge. Aber sie waren allesamt weiß, waren allesamt Briten oder Amerikaner - und das waren die Kategorien, die sie als Geiseln wertvoll machten. Ansonsten gab es hier nichts, keine der üblichen Utensilien einer langen Gefangenschaft, die Schaumstoffmatratzen und schmutzigen Decken, die Plastikbeutel, in die sie sich entleeren mussten, die alten Cola-Flaschen, die ihr Trinkwasser und ihren Urin enthielten. Diesmal waren nur sie selbst hier.
John sprach als Erster. »Und wo, zum Teufel, sind wir jetzt?«
Jaume nahm die Zigarette aus dem Mund und blies eine Wolke kaum inhalierten Rauchs aus. Wie die anderen dieser »Väter der Auserwählten« war er kaum älter als zwanzig, nur halb so alt wie John, Piers und Lily.
»La Seu«, sagte er.
»Wo? Was hast du gesagt? Warum könnt ihr Scheißkerle nicht vernünftig reden?« John war einmal fett gewesen; jetzt hing ihm die Haut schlaff von den Wangen und unter dem Kinn, als wäre sie ausgeleert worden.
Gary Boyle ergriff das Wort. »La Seu. Das ist die Kathedrale. Der heiligen Eulalia geweiht, einer dreizehnjährigen Märtyrerin. Als Kind war ich mal mit meinen Eltern hier ... « Er blickte sich um. »Mein Gott. Das ist die Krypta. Wir sind in der Krypta einer Kathedrale angekettet!«
»Ist bloß ein weiteres Dreckloch, mehr nicht«, stieß John zwischen den Zähnen hervor. »An den Wänden läuft Wasser runter. Wir werden ertrinken, verdammt noch mal, wenn wir nicht vorher an Lungenentzündung verrecken!«
»Heilige Stätte«, warf Jaume ihnen in seinem alles andere als akzentfreien Englisch lässig hin. »Gott hier bei euch.« Er machte sich auf den Weg zu einer im Schatten liegenden Treppe. Die anderen folgten ihm.
»Hey!«, rief John ihnen nach. »Wo wollt ihr hin? Wo sind unsere Matratzen? Hier gibt's nichts zu essen. Nicht mal einen Beutel zum Reinscheißen.«
»Gott sorgt für euch«, erwiderte Jaume. »Hat sich seit neuntem Jahrhundert um Heilige gekümmert, wird sich auch um euch kümmern.«
John zerrte an seinen Ketten, sie rasselten laut in dem geschlossenen Raum. »Ihr wollt uns hier krepieren lassen, stimmt's?«
Lily fragte sich im Stillen, ob er recht haben könnte. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein längerer Aufenthalt vorgesehen war. Sie ließ sich auf den Gedanken ein, auf die Vorstellung, dass sie sterben würde, und merkte, dass sie keine Angst davor hatte. Fünf Jahre lang hatte sie sich in der launenhaften Obhut ängstlicher, unwissender junger Männer befunden; auch ohne die grausamen Spielchen und all die Scheinhinrichtungen hatte sie sich längst an den Gedanken gewöhnt, dass ihrem Leben jederzeit aus einer Laune heraus ein Ende gesetzt werden könnte. Aber sie wollte nicht in diesem Loch sterben. Sie verspürte eine tiefe, starke Sehnsucht, den Himmel zu sehen.
Die Bewacher entfernten sich weiter treppaufwärts, und John riss noch heftiger an seinen Ketten. »Ihr verfl uchten Mistkerle, ihr schnappt euch eine Handvoll Geiseln und glaubt, ihr könntet die ganze Welt beherrschen!«
»Immer mit der Ruhe, John«, mahnte Lily.
John geriet jetzt in Rage; sein Gesicht färbte sich purpurrot. »Verdammte Feiglinge! Ihr könnt euren Job nicht mal richtig zu Ende bringen, dazu seid ihr wohl nicht Manns genug ... «
Severo drehte sich um und schoss mit seiner Armalite. Die Salve dröhnte laut in dem geschlossenen Raum. Johns Körper erzitterte, als ihn die Kugeln trafen. Eine erwischte ihn im Gesicht, das zu blutigem Matsch implodierte.
»John!«, schrie Gary. »O Gott, o Gott!«
»Kein Feigling«, sagte Severo, die Zigarette im Mund. Dann folgte er den anderen die Treppe hinauf, bis er aus Lilys Blickfeld verschwunden war.
John hing schräg über dem Stuhl. Auf dem Boden bildete sich eine dickfl üssige Blutlache. Helen beugte sich über ihr Baby, drückte es fest an sich, schaukelte hin und her, als existierte sonst nichts auf der Welt. Piers wandte den verhüllten Kopf ab und sackte in sich zusammen.
Gary saß vornübergebeugt da und weinte Tränen des Schocks. Lily, die nur ein paar Meter von ihm entfernt angekettet war, kam nicht an ihn heran.
John war in mancherlei Hinsicht ein Arschloch gewesen, aber Lily kannte ihn nun seit vier Jahren. Jetzt war er tot, von einer Sekunde auf die andere - vor ihren Augen erschossen. Noch schlimmer, ausrangiert. Nicht mehr von Wert für diejenigen, die sie in ihrer Gewalt hatten. Und das bedeutete: alle anderen hier auch nicht.
»Es ist vorbei.« Helen sprach zum ersten Mal, seit sie hierhergebracht worden waren. Sie drückte das Baby an die Brust, ihr Kinn ruhte auf Graces Kopf. »Ich habe recht, nicht wahr?« Sie hatte einen forschen, nordenglischen Akzent. Sie war Sprachlehrerin gewesen.
»Das kann man nicht wissen«, sagte Lily mit Nachdruck. »Vielleicht hat sich irgendeine andere Gruppe bei der Übergabe verspätet, das ist alles.«
»Sie haben John getötet«, keuchte Gary mit schwerer Stimme.
»Und diese verfl uchte Laterne geht aus«, sagte Helen. »Schaut euch das an! Die Mistkerle konnten uns nicht mal eine frische Batterie geben. Sie lassen uns hier im Dunkeln sitzen, mit einer stinkenden Leiche. Wir werden hier hocken, bis wir verschimmeln.«
»O Jesus Christus«, wimmerte Gary. Und Lily hörte ihn leise stöhnen. Sie wusste, was das bedeutete: Seine Blase hatte sich entleert.
»So weit wird es nicht kommen«, fauchte sie. »Sehen wir zu, dass wir diese Ketten loswerden.« Sie zog versuchsweise an ihrer. Der Heizkörper war fest mit der Steinwand verschraubt. »Schaut euch um, bevor das Licht ausgeht. Hier unten muss es doch irgendwas geben, was wir hernehmen können ... «
»Wie wär's mit Bolzenschneidern?«
Übersetzung: Peter Robert
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Stephen Baxter
Stephen Baxter, 1957 in Liverpool geboren, studierte Mathematik und Astronomie, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er zählt zu den international bedeutendsten Autoren wissenschaftlich orientierter Literatur. Etliche seiner Romane wurden mehrfach preisgekrönt und zu internationalen Bestsellern. Stephen Baxter lebt und arbeitet im englischen Buckinghamshire.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen Baxter
- 2011, Erstmals im TB, 752 Seiten, Masse: 11,9 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Peter Robert
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453533593
- ISBN-13: 9783453533592
- Erscheinungsdatum: 05.01.2011
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