Die Identitätsfalle
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Während die Welt zunehmend aufgeteilt wird in Blöcke aus Religionen, Kulturen oder Zivilisationen, geraten uns andere Faktoren des menschlichen Daseins wie Klasse, Geschlecht, Bildung, Beruf, Sprache, Kunst, Wissenschaft, Moral oder Politik immer mehr aus dem Blick. Globale Bemühungen, der eskalierenden Gewalt Einhalt zu gebieten, scheitern zudem an einer Konzeptlosigkeit, die das direkte Resultat dieser undifferenzierten und eindimensionalen Konstruktion von Identität ist. Wenn die Beziehungen zwischen menschlichen Individuen auf einen "Krieg der Kulturen" reduziert werden, dann schnappt die "Identitätsfalle" zu. Menschen, die eine Fülle von Identitätsmerkmalen haben, werden auf ein einziges reduziert und verschwinden in kleinen übersichtlichen Schubladen. Das Geschäft der Fundamentalisten besteht in dieser Miniaturisierung menschlicher Existenz, mit der alle Ideologie der Gewalt ihren Anfang nimmt. Doch Amartya Sen zeigt nicht nur, wie die Spirale aus Identität und Gewalt entsteht, sondern auch, wie sie durchbrochen werden kann. Denn niemand ist zu einer einzigen Identität verdammt, jeder kann seine Persönlichkeit gestalten und mitbestimmen. Sens brillante Analyse von Multikulturalismus, Postkolonialismus, Fundamentalismus, Terrorismus und Globalisierung macht vor allem eines klar: Die Welt kann sich ebenso in Richtung Frieden bewegen, wie sie jetzt auf Gewalt und Krieg hinzusteuern scheint.
Die Identitätsfalle von Amartya Sen
LESEPROBE
Freiheit zu denken
Meinen ersten Mord erlebte ich mitelf Jahren. Das war 1944 während der Zusammenstösse zwischen Hindus undMuslimen, zu denen es während der letzten Jahre der britischen Herrschaft, die 1947endete, immer wieder kam. Plötzlich erblickte ich einen Unbekannten, derblutüberströmt durch das Tor in unseren Garten taumelte und um Hilfe und etwasWasser bat. Ich rief nach meinen Eltern, während ich ihm Wasser holte. MeinVater brachte ihn sofort ins Krankenhaus, aber er erlag dort seinenVerletzungen. Sein Name war Kader Mia.
Die Zusammenstösse zwischen Hindusund Muslimen, die der Unabhängigkeit vorausgingen, zeichneten zugleich den Wegzur Aufteilung des Landes in Indien und Pakistan vor. Das Gemetzel brach mitdramatischer Plötzlichkeit aus, und es verschonte auch das sonst so friedlicheBengalen nicht. Kader Mia wurde in Dhaka getötet, damals nach Kalkutta diezweitgrösste Stadt des ungeteilten Bengalen, die nach der Teilung zur HauptstadtOstpakistans werden sollte. Mein Vater lehrte an der Universität Dhaka, und wirwohnten in einem Stadtteil namens Wari in Alt-Dhakaunweit der Universität, in dem überwiegend Hindus lebten. Kader Mia war Muslim,und alle anderen Identitäten zählten nicht für die üblen Hindu-Schläger, diesich auf ihn gestürzt hatten. An jenem Tag des Aufruhrs brachten sich Muslimeund Hindus gegenseitig zu Hunderten um, und so sollte es noch tagelangweitergehen.
Das plötzliche Gemetzel, scheinbaraus heiterem Himmel, war natürlich bewusst inszeniertworden, angestiftet von Fanatikern, die mit allen Mitteln die Teilung desLandes herbeiführen wollten. Die mörderischen Zusammenstösse liessen bald nach,und kaum war Bengalen geteilt, verflüchtigte sich auf beiden Seiten jede Spurdavon. Die Heftigkeit, mit der Hindus und Muslime aufeinander losgegangenwaren, löste sich in nichts auf, wich einem anderen Bild, das man sich von sichselbst und den anderen machte, liess andere Merkmale der menschlichen Identitätin den Vordergrund treten. Wenige Jahre später überschlug sich meineHeimatstadt Dhaka geradezu vor bengalischem Patriotismus, und das, was denMuslimen und Hindus Bengalens gemeinsam war - diebengalische Sprache, Literatur, Musik und Kultur -, wurde begeistert gefeiert. Dass man nun wieder stolz war auf den Reichtum dergemeinsamen bengalischen Kultur, war an sich schon bedeutsam genug, dennwährend der unverständlichen Grausamkeiten zwischen Hindus und Muslimen wardavon kaum etwas zu ahnen. Dieser Stolz hatte aber noch eine gewichtigepolitische Nebenwirkung: In Ostpakistan (der bengalischen Hälfte Pakistans)empfand man mit wachsendem Groll die starke Ungleichheit der beiden Hälften desunvollkommen integrierten islamischen Staates, was das politische Gewicht, densprachlichen Status und die wirtschaftlichen Chancen betraf.
Die Entfremdung, welche die Bengaleninnerhalb Pakistans empfanden, führte schliesslich imDezember 1971 zur Teilung Pakistans und zur Bildung des neuen, säkularen unddemokratischen Staates Bangladesh, dessen Hauptstadt nun Dhaka war. Während desschmerzhaften Prozesses der Loslösung versuchte die pakistanische Armeeverzweifelt, der bengalischen Rebellion Herr zu werden, und als es im März 1971in Dhaka zu einem Blutbad kam, waren es die Sprache und die politische Haltung,woran sich die Identitäten schieden - und nicht die Religion, denn es warenmuslimische Soldaten aus Westpakistan, die brutal gegen überwiegend muslimischeRebellen (oder vermeintliche Rebellen) in Ostpakistan vorgingen. Von da ankämpfte die neugebildete «MuktiBahini» («Freiheitsbrigade») für die volleUnabhängigkeit Bangladeshs von Pakistan. Die Identität, an die der«Freiheitskampf» anknüpfte, hatte eindeutig mit Sprache und Kultur (undnatürlich auch mit Politik) zu tun, nicht aber mit einem religiösenUnterschied.
Bei dem Versuch, mir mehr alssechzig Jahre nach dem Tod von Kader Mia die blutigen Zusammenstösse zwischenHindus und Muslimen in den 1940er Jahren in Erinnerung zu rufen, fällt es mirschwer, daran zu glauben, dass diese schrecklichenDinge wirklich geschehen sind. Aber so flüchtig und kurzlebig die Zusammenstössein Bengalen auch waren (und die wenigen Fälle eines später künstlich geschürtenAufruhrs in anderen Teilen Indiens reichen in Umfang und Tragweite nichtentfernt an die damaligen Ereignisse heran), hinterliessen sie doch Abertausendevon toten Hindus und Muslimen. Die politischen Anstifter, die dazu aufriefen,im Namen - wie es auf beiden Seiten hiess - «unseres Volkes» zu töten, konntenfür gewöhnlich friedliche Menschen dazu bringen, sich in fanatische Schläger zuverwandeln, die sich selbst ausschliesslich als Hindus beziehungsweise Muslime(die an «der anderen Gemeinschaft» Rache zu üben hatten) und als nichts anderesverstanden: nicht als Inder, nicht als Bewohner des indischen Subkontinents,nicht als Asiaten, nicht als Angehörige der Menschheit.
Die meisten Menschen in beidenGemeinschaften machten sich diese wahnhaft verengte Sicht nicht zu eigen, aberallzu viele liessen sich von dieser bös artigen Denkweise einfangen, und diebrutaleren unter ihnen - oft aus den einfachsten Schichten - liessen sichverleiten zur Tötung «der Feinde, die uns töten» (so die jeweiligeBezeichnung). Menschen, die viele Seiten hatten, wurden durch die unscharfeOptik fanatischer Singularität auf eine einzige Identität reduziert, und diehing zusammen mit der Religion oder genauer mit der religiösen Zugehörigkeit(denn auch wer seine angestammte Religion nichtpraktizierte, war vor Angriffen keineswegs geschützt).
Kader Mia, ein muslimischer Tagelöhner,wurde auf dem Weg zur Arbeit erstochen, einer schlechtbezahltenArbeit in einem Nachbarhaus. Er wurde auf der Strasse von Leuten erstochen, dieihn nicht kannten und wahrscheinlich nie zuvor gesehen hatten. Für einenelfjährigen Jungen war der Vorfall ein wahrer Albtraum und völlig rätselhaft.Warum sollte jemand plötzlich umgebracht werden? Und warum von Leuten, die dasOpfer nicht einmal kannten, das ihnen also nichts getan haben konnte? Dass man Kader Mia als Menschen mit nur einer Identitätbetrachten könnte, nämlich der des Mitglieds einer «feindlichen» Gemeinschaft,das man überfallen und nach Möglichkeit töten «sollte», erschien unglaublich.Für ein verwirrtes Kind war die Gewalt der Identität schwer verständlich.Selbst für einen noch immer verwirrten, nicht mehr ganz jungen Erwachsenen istsie nicht ganz einfach zu verstehen.
Meinem Vater, der ihn in unseremAuto ins Krankenhaus brachte, erzählte Kader Mia während der Fahrt, seine Frauhabe ihn angefleht, während des Aufruhrs nicht ins feindliche Gebiet zu gehen.Er habe jedoch hinausgemusst, um Arbeit zu suchen, füreinen kleinen Lohn, weil seine Familie nichts zu essen gehabt habe. Die Strafefür diese durch wirtschaftliche Entbehrung verursachte Notwendigkeit war, wiesich herausstellte, der Tod. Meine kindliche Seele war überwältigt von derschockierenden Erkenntnis, dass wirtschaftliche Armutund totale Unfreiheit - das Opfer hatte nicht einmal die Freiheit zu leben -aufs engste zusammenhängen.
Kader Mia starb als ein zum Opfergemachter Muslim, aber er starb auch als armer, arbeitsloser Arbeiter, derverzweifelt nach etwas Arbeit und ein bisschen Geldsuchte, um seine Familie in schwerer Zeit durchzubringen. Am einfachsten ist eswährend dieser Unruhen, die ärmsten Mitglieder der anderen Gemeinschaft zutöten, denn sie müssen auf der Suche nach dem täglichen Unterhalt vollkommenschutzlos hinaus, und für Banden ist es ein leichtes, in ihre baufälligenHütten einzudringen und sie zu verwüsten. Bei den Zusammenstössen zwischenHindus und Muslimen töteten hinduistische Schläger ohne Mühe arme muslimischeUnderdogs, während muslimische Schläger in ausgelassener Stimmung verarmtehinduistische Opfer umbrachten. Die beiden Gruppen misshandelter Opfer hatteneine ganz unterschiedliche Gemeinschafts-Identität, aber in ihrerKlassen-Identität (als arme Arbeiter) stimmten sie überein. Doch zählen durftein jenen Tagen, da der polarisierte Blick nur einen Unterschied zwischen denMenschen gelten liess, keine andere Identität als die religiöse Zugehörigkeit. DieIllusion, alles sei von der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gruppenbestimmt, hatte die Menschen völlig reduziert und in den Hintergrund tretenlassen, dass die Handelnden die Freiheit zu denkenbesassen.
© Verlag C.H. Beck oHG
Übersetzung: Friedrich Griese
- Autor: Amartya Sen
- 2020, 4. Aufl., 208 Seiten, Masse: 14,9 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Friedrich Griese
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406558127
- ISBN-13: 9783406558122
- Erscheinungsdatum: 19.07.2020
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