Die Erzählungen
In seinen unvergleichlichen Erzählungen stellt der kolumbianische Schriftsteller auf fantastische und grotesk verzerrte Weise Gewalt, Einsamkeit und Tod dar und erzählt von der ewigen Wiederkehr der Dinge. Die hier versammelten Erzählungen...
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Produktinformationen zu „Die Erzählungen “
In seinen unvergleichlichen Erzählungen stellt der kolumbianische Schriftsteller auf fantastische und grotesk verzerrte Weise Gewalt, Einsamkeit und Tod dar und erzählt von der ewigen Wiederkehr der Dinge. Die hier versammelten Erzählungen entstanden in den Jahren zwischen 1947 und 1972.
Klappentext zu „Die Erzählungen “
Gabriel García Márquez: »Die Seele Lateinamerikas« CosmopolitanAls Meister des magischen Realismus erweist sich Gabriel García Márquez in dieser Sammlung seiner besten Erzählungen, die nach den erfolgreichen Ausgaben der Erzählungen von Heinrich Böll und Joseph Roth nun ebenfalls in einer schön gestalteten und preiswerten Ausgabe vorliegen werden.Die Erzählungen dieses Bandes sind thematisch und stilistisch miteinander verwoben. Immer wieder tauchen in unterschiedlichen Situationen die Menschen seines Kosmos auf, ob nun als Hauptpersonen oder als Randfiguren. Die ersten, jugendlich-schwermütigen Texte sind in einer phantastischen Wirklichkeit angesiedelt, deuten aber schon auf den Macondo-Mythos von Hundert Jahre Einsamkeit hin. Auf Mitglieder der Familie Buendía trifft der Leser dann in den Erzählungen, die im Umfeld dieses Jahrhundertromans entstanden sind. In den nach Hundert Jahre Einsamkeit geschriebenen Erzählungen führt García Márquez neue phantastische Figuren ein - den gefallenen Engel mit dem Aussehen eines gerupften Huhns, Blacamán, den Wunderverkäufer, die fast die ganze Welt beherrschende jungfräuliche Grosse Mama oder Eréndiras böse Grossmutter mit dem grünen Blut.Die Erzählungen dieses Bandes entstanden zwischen 1947 und 1972.Titel der Originalausgaben: Ojos de perro azul/ Los funerales de la Mamá Grande/ La incríble historia de la candida Eréndira y de su abuela desalmada.
Lese-Probe zu „Die Erzählungen “
Die Erzählungen von Gabriel Garcia Marquez LESEPROBEN Die dritte Entsagung
Da war wieder dieser Lärm. Jener kalte, schneidende, senkrechte Lärm, den er schon so gut kannte; der sich jetzt aber als scharf und schmerzhaft erwies, als sei er ihm von einem Tag auf den anderen ungewohnt geworden.
Der Lärm kreiste in seinem leeren Schädel, dumpf und stechend. Eine Wabe hatte sich in den vier Wänden seiner Gehirnschale gebildet. Sie wuchs zunehmend in aufeinanderfolgenden Spiralen und schlug drinnen und ließ seine Wirbelsäule erzittern, unmäßig und misstönend, im sicheren Rhythmus seines Körpers. Etwas war in seinem stofflichen Aufbau eines festgefügten Menschen aus der Ordnung geraten; etwas, das »bei den anderen Malen« normal funktioniert hatte und nun in seinem Kopf hart und trocken hämmerte, mit den Knochen einer abgezehrten Hand hämmerte und ihn an alle bitteren Empfindungen des Lebens erinnerte. Er fühlte den animalischen Drang, die Fäuste gegen die blauen, vom Druck des verzweifelten Schmerzes violett angeschwollenen Adern seiner Schläfen zu pressen. Er hätte den Lärm, der den Augenblick mit seiner scharfen Diamantspitze durchbohrte, zwischen seinen beiden empfindlichen Handflächen orten mögen. Mit der Bewegung einer Hauskatze zogen sich seine Muskeln zusammen, als er sich vorstellte, wie er durch die gepeinigten Winkel seines fieberzerfetzten heißen Kopfes verfolgt wurde. Er würde ihn gleich einholen. Nein. Der Lärm hatte ein glattes, fast unberührbares Fell.
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Aber er war entschlossen, ihn dank seiner gut geübten Strategie einzuholen und mit der ganzen Kraft seiner Verzweiflung lange und endgültig zu zerquetschen. Er würde nicht zulassen, dass er nochmals in sein Ohr dränge, dass er durch seinen Mund entweiche, durch jede einzelne seiner Poren oder durch seine Augen, die dabei aus den Höhlen treten und dem fliehenden Lärm aus der Tiefe ihrer ausweglosen Dunkelheit blind nachschauen würden. Er würde nicht zulassen, dass er seine zermahlenen Kristalle, seine Sterne aus Eis an den Innenwänden des Schädels zerdrückte. So war dieser Lärm: nicht enden wollend, wie wenn ein Kinderkopf gegen eine Betonmauer geschlagen wird. Wie alles harte Schlagen auf feste Dinge der Natur.
Aber er würde ihn nicht mehr peinigen, wenn er ihn umzingeln, ihn isolieren könnte. Die wechselvolle Gestalt an ihrem eigenen Schatten abschneiden. Ihn packen. Ihn pressen, ein für alle Mal; ihn mit aller Kraft auf den Fußboden schleudern und so heftig auf ihm herumtrampeln, bis er sich nicht mehr regen konnte, bis er keuchend sagen könnte, er habe dem Lärm, der ihn quälte, der ihn wahnsinnig machte und der jetzt wie ein beliebiger Gegenstand, zu einem vollständigen Toten verwandelt, auf der Erde lag, den Todesstoß versetzt.
Aber er war außerstande, sich die Schläfen zu pressen. Seine Arme waren geschrumpft, waren jetzt die Arme eines Zwerges; kleine, plumpe, fette Arme. Er versuchte den Kopf zu schütteln. Er schüttelte ihn. Nun trat der Lärm lautstärker in seinem Schädel auf, der sich verhärtet, sich vergrößert hatte und von der Schwerkraft stärker angezogen fühlte. Der Lärm war schwer und hart. So schwer und hart, dass er, hätte er ihn erreicht und zerstört, den Eindruck gehabt hätte, eine Blüte aus Blei zu entblättern. »Bei den anderen Malen« hatte er diesen Lärm ebenso aufdringlich empfunden. Er hatte ihn zum Beispiel an dem Tage empfunden, da er zum ersten Mal gestorben war. Als er sich – angesichts eines Leichnams – bewusst wurde, dass es sein eigener Leichnam war. Er sah ihn und betastete sich. Er empfand sich als ungreifbar, unräumlich, unvorhanden. Er war wahrhaftig ein Leichnam und fühlte bereits auf seinem jungen, kränklichen Körper das Nahen des Todes. Die Atmosphäre hatte sich im ganzen Haus verhärtet, als sei es mit Zement angefüllt worden, und inmitten dieses Blocks – in dem er die Gegenstände zurückgelassen hatte, als noch eine Atmosphäre aus Luft geherrscht hatte – war er behutsam in einen harten, aber durchsichtigen Zementsarg gelegt worden. Damals war in seinem Kopf auch »dieser Lärm« gewesen. Wie fern und wie kalt fühlte er seine Fußsohlen; dort, am äußersten Ende des Sargs, wo ein Kissen hingelegt worden war, weil die Totenkiste für ihn zu groß war und man ihn einpassen, den toten Körper seinem neuen und letzten Gewand anpassen musste. Sie deckten ihn weiß zu und banden ein Taschentuch um seinen Kiefer. Er empfand sich als schön in seinem Leichentuch; tödlich schön.
Er lag in seinem Sarg, bereit, beerdigt zu werden, und wusste trotzdem, dass er nicht tot war. Hätte er sich aufrichten wollen, er hätte es mit aller Leichtigkeit zu tun vermocht. Zumindest »geistig«. Doch es lohnte nicht die Mühe. Es war besser, sich hier sterben zu lassen; am »Tode« zu sterben, der seine Krankheit war. Vor geraumer Zeit hatte der Arzt zu seiner Mutter einsilbig gesagt: »Sen˜ ora, Ihr Kind hat eine schwere Krankheit: Es ist tot. Trotzdem«, fuhr er fort, »werden wir alles tun, um ihm über seinen Tod hinaus das Leben zu bewahren. Wir werden es fertigbringen, dass seine Organe mittels eines komplizierten Systems der Selbsternährung weiterfunktionieren. Nur die Triebfunktionen, die unmittelbaren Bewegungen werden unterschiedlich arbeiten. Wir werden über sein Leben durch das Wachstum erfahren, das gleichfalls normal weitergehen wird. Es wird einfach ›sein lebendiger Tod‹ sein. Ein wirklicher und wahrhaftiger Tod ...«
Er erinnerte sich an die Worte, wenn auch wirr. Vielleicht hatte er sie nie gehört, und das Ganze war ein Auswuchs seiner Fantasie, als das Fieber während seiner Typhuserkrankung stieg.
Als er delirierte. Als er die Geschichte von den einbalsamierten Pharaonen las. Als das Fieber stieg, fühlte er sich selbst als deren Protagonist. Eine Art Leere war in sein Leben getreten. Seither vermochte er nicht mehr zu unterscheiden, sich nicht mehr zu erinnern, welche Ereignisse Teil seines Deliriums und welche Teil seines wirklichen Lebens waren. Daher zweifelte er jetzt. Vielleicht hatte der Arzt nie von diesem seltsamen »lebendigen Tod« gesprochen. Er ist unlogisch, widersprüchlich, regelrecht widersinnig. Und das ließ ihn jetzt vermuten, dass er in Wahrheit tatsächlich tot war. Dass er es seit achtzehn Jahren war.
Schon damals – zur Zeit seines Todes war er sieben Jahre alt – ließ seine Mutter ihm einen kleinen Sarg herstellen, aus frischem Holz, einen Sarg für ein Kind; doch der Arzt gab die Anweisung, es solle eine größere Totenkiste gezimmert werden, eine Kiste für einen normalen Erwachsenen, denn jene kleine könne das Wachstum hemmen, und er könnte so ein deformierter Toter werden oder ein anormaler Lebender. Oder das Aufhalten des Wachstums könnte verhindern, eine Besserung festzustellen. Angesichts dieser Warnung ließ seine Mutter einen großen Sarg für ihn bauen, für einen erwachsenen Leichnam, und legte drei Kissen an das Fußende, damit er besser hineinpasste. Und schon begann er in dem Sarg zu wachsen, sodass man jedes Jahr etwas Wolle aus dem äußersten Kissen nehmen konnte, um ihm das Wachsen zu erleichtern. So war ein halbes Leben vergangen. Achtzehn Jahre. Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt und hatte seine endgültige, normale Statur erreicht. Der Tischler und der Arzt hatten sich in ihrer Berechnung geirrt und den Sarg um einen halben Meter zu groß gemacht. Sie hatten vermutet, er würde die Statur seines Vaters bekommen, der ein halbbarbarischer Riese war. Doch das wurde er nicht. Das Einzige, was er von ihm geerbt hatte, war der Vollbart. Ein blauer Bart, dicht, den seine Mutter ihm kämmte, damit er anständig in seinem Sarg lag. Dieser Bart belästigte ihn schrecklich an heißen Tagen.
Doch da war etwas, was ihn mehr als »dieser Lärm« beschäftigte. Das waren die Mäuse. Nichts hatte ihn, als er Kind war, auf der Welt so sehr beschäftigt, hatte ihm solch einen Schrecken eingejagt wie die Mäuse. Und genau diese widerlichen Tiere ließen sich von den Kerzen anlocken, die zu seinen Füßen brannten. Sie hatten bereits seine Kleidung zernagt, und er wusste, sie würden sehr bald beginnen, ihn zu benagen, seinen Körper aufzufressen. Eines Tages konnte er sie sehen: Es waren fünf glänzende, glatte Mäuse, die am Tischbein zu seiner Totenkiste hochkletterten und sich über ihn hermachten. Sobald seine Mutter es merken würde, wären von ihm nur noch Trümmer übrig, die harten, kalten Knochen. Was ihm den größten Schrecken einjagte, war nicht gerade, dass die Mäuse ihn auffraßen. Schließlich und endlich würde er mit seinem Gerippe weiterleben können. Was ihn quälte, war das ihm angeborene Entsetzen, das er vor diesen Tierchen empfand. Das Haar stand ihm zu Berge, sobald er an diese samtigen Wesen dachte, die über seinen ganzen Leib wuselten, die in seine Hautfalten eindrangen und mit ihren eisigen Pfoten über seine Lippen strichen. Eine von ihnen kroch sogar bis zu seinen Lidern herauf und versuchte seine Hornhaut zu benagen. Er sah sie groß, ungeheuerlich bei ihrem verzweifelten Kampf, seine Netzhaut zu durchstoßen. Nun glaubte er an einen neuen Tod und überließ sich ganz und gar dem drohenden Schwindelgefühl. Er erinnerte sich, dass er volljährig geworden war. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, und das bedeutete, dass er nicht mehr wachsen würde. Seine Züge würden fest werden und ernst. Doch sobald er gesund war, würde er nicht mehr von seiner Kindheit sprechen können. Er hatte keine gehabt. Er hatte sie tot zugebracht.
© Verlag Kiepenheuer & Witsch
Übersetzung: Curt Meyer-Clason
Aber er würde ihn nicht mehr peinigen, wenn er ihn umzingeln, ihn isolieren könnte. Die wechselvolle Gestalt an ihrem eigenen Schatten abschneiden. Ihn packen. Ihn pressen, ein für alle Mal; ihn mit aller Kraft auf den Fußboden schleudern und so heftig auf ihm herumtrampeln, bis er sich nicht mehr regen konnte, bis er keuchend sagen könnte, er habe dem Lärm, der ihn quälte, der ihn wahnsinnig machte und der jetzt wie ein beliebiger Gegenstand, zu einem vollständigen Toten verwandelt, auf der Erde lag, den Todesstoß versetzt.
Aber er war außerstande, sich die Schläfen zu pressen. Seine Arme waren geschrumpft, waren jetzt die Arme eines Zwerges; kleine, plumpe, fette Arme. Er versuchte den Kopf zu schütteln. Er schüttelte ihn. Nun trat der Lärm lautstärker in seinem Schädel auf, der sich verhärtet, sich vergrößert hatte und von der Schwerkraft stärker angezogen fühlte. Der Lärm war schwer und hart. So schwer und hart, dass er, hätte er ihn erreicht und zerstört, den Eindruck gehabt hätte, eine Blüte aus Blei zu entblättern. »Bei den anderen Malen« hatte er diesen Lärm ebenso aufdringlich empfunden. Er hatte ihn zum Beispiel an dem Tage empfunden, da er zum ersten Mal gestorben war. Als er sich – angesichts eines Leichnams – bewusst wurde, dass es sein eigener Leichnam war. Er sah ihn und betastete sich. Er empfand sich als ungreifbar, unräumlich, unvorhanden. Er war wahrhaftig ein Leichnam und fühlte bereits auf seinem jungen, kränklichen Körper das Nahen des Todes. Die Atmosphäre hatte sich im ganzen Haus verhärtet, als sei es mit Zement angefüllt worden, und inmitten dieses Blocks – in dem er die Gegenstände zurückgelassen hatte, als noch eine Atmosphäre aus Luft geherrscht hatte – war er behutsam in einen harten, aber durchsichtigen Zementsarg gelegt worden. Damals war in seinem Kopf auch »dieser Lärm« gewesen. Wie fern und wie kalt fühlte er seine Fußsohlen; dort, am äußersten Ende des Sargs, wo ein Kissen hingelegt worden war, weil die Totenkiste für ihn zu groß war und man ihn einpassen, den toten Körper seinem neuen und letzten Gewand anpassen musste. Sie deckten ihn weiß zu und banden ein Taschentuch um seinen Kiefer. Er empfand sich als schön in seinem Leichentuch; tödlich schön.
Er lag in seinem Sarg, bereit, beerdigt zu werden, und wusste trotzdem, dass er nicht tot war. Hätte er sich aufrichten wollen, er hätte es mit aller Leichtigkeit zu tun vermocht. Zumindest »geistig«. Doch es lohnte nicht die Mühe. Es war besser, sich hier sterben zu lassen; am »Tode« zu sterben, der seine Krankheit war. Vor geraumer Zeit hatte der Arzt zu seiner Mutter einsilbig gesagt: »Sen˜ ora, Ihr Kind hat eine schwere Krankheit: Es ist tot. Trotzdem«, fuhr er fort, »werden wir alles tun, um ihm über seinen Tod hinaus das Leben zu bewahren. Wir werden es fertigbringen, dass seine Organe mittels eines komplizierten Systems der Selbsternährung weiterfunktionieren. Nur die Triebfunktionen, die unmittelbaren Bewegungen werden unterschiedlich arbeiten. Wir werden über sein Leben durch das Wachstum erfahren, das gleichfalls normal weitergehen wird. Es wird einfach ›sein lebendiger Tod‹ sein. Ein wirklicher und wahrhaftiger Tod ...«
Er erinnerte sich an die Worte, wenn auch wirr. Vielleicht hatte er sie nie gehört, und das Ganze war ein Auswuchs seiner Fantasie, als das Fieber während seiner Typhuserkrankung stieg.
Als er delirierte. Als er die Geschichte von den einbalsamierten Pharaonen las. Als das Fieber stieg, fühlte er sich selbst als deren Protagonist. Eine Art Leere war in sein Leben getreten. Seither vermochte er nicht mehr zu unterscheiden, sich nicht mehr zu erinnern, welche Ereignisse Teil seines Deliriums und welche Teil seines wirklichen Lebens waren. Daher zweifelte er jetzt. Vielleicht hatte der Arzt nie von diesem seltsamen »lebendigen Tod« gesprochen. Er ist unlogisch, widersprüchlich, regelrecht widersinnig. Und das ließ ihn jetzt vermuten, dass er in Wahrheit tatsächlich tot war. Dass er es seit achtzehn Jahren war.
Schon damals – zur Zeit seines Todes war er sieben Jahre alt – ließ seine Mutter ihm einen kleinen Sarg herstellen, aus frischem Holz, einen Sarg für ein Kind; doch der Arzt gab die Anweisung, es solle eine größere Totenkiste gezimmert werden, eine Kiste für einen normalen Erwachsenen, denn jene kleine könne das Wachstum hemmen, und er könnte so ein deformierter Toter werden oder ein anormaler Lebender. Oder das Aufhalten des Wachstums könnte verhindern, eine Besserung festzustellen. Angesichts dieser Warnung ließ seine Mutter einen großen Sarg für ihn bauen, für einen erwachsenen Leichnam, und legte drei Kissen an das Fußende, damit er besser hineinpasste. Und schon begann er in dem Sarg zu wachsen, sodass man jedes Jahr etwas Wolle aus dem äußersten Kissen nehmen konnte, um ihm das Wachsen zu erleichtern. So war ein halbes Leben vergangen. Achtzehn Jahre. Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt und hatte seine endgültige, normale Statur erreicht. Der Tischler und der Arzt hatten sich in ihrer Berechnung geirrt und den Sarg um einen halben Meter zu groß gemacht. Sie hatten vermutet, er würde die Statur seines Vaters bekommen, der ein halbbarbarischer Riese war. Doch das wurde er nicht. Das Einzige, was er von ihm geerbt hatte, war der Vollbart. Ein blauer Bart, dicht, den seine Mutter ihm kämmte, damit er anständig in seinem Sarg lag. Dieser Bart belästigte ihn schrecklich an heißen Tagen.
Doch da war etwas, was ihn mehr als »dieser Lärm« beschäftigte. Das waren die Mäuse. Nichts hatte ihn, als er Kind war, auf der Welt so sehr beschäftigt, hatte ihm solch einen Schrecken eingejagt wie die Mäuse. Und genau diese widerlichen Tiere ließen sich von den Kerzen anlocken, die zu seinen Füßen brannten. Sie hatten bereits seine Kleidung zernagt, und er wusste, sie würden sehr bald beginnen, ihn zu benagen, seinen Körper aufzufressen. Eines Tages konnte er sie sehen: Es waren fünf glänzende, glatte Mäuse, die am Tischbein zu seiner Totenkiste hochkletterten und sich über ihn hermachten. Sobald seine Mutter es merken würde, wären von ihm nur noch Trümmer übrig, die harten, kalten Knochen. Was ihm den größten Schrecken einjagte, war nicht gerade, dass die Mäuse ihn auffraßen. Schließlich und endlich würde er mit seinem Gerippe weiterleben können. Was ihn quälte, war das ihm angeborene Entsetzen, das er vor diesen Tierchen empfand. Das Haar stand ihm zu Berge, sobald er an diese samtigen Wesen dachte, die über seinen ganzen Leib wuselten, die in seine Hautfalten eindrangen und mit ihren eisigen Pfoten über seine Lippen strichen. Eine von ihnen kroch sogar bis zu seinen Lidern herauf und versuchte seine Hornhaut zu benagen. Er sah sie groß, ungeheuerlich bei ihrem verzweifelten Kampf, seine Netzhaut zu durchstoßen. Nun glaubte er an einen neuen Tod und überließ sich ganz und gar dem drohenden Schwindelgefühl. Er erinnerte sich, dass er volljährig geworden war. Er war fünfundzwanzig Jahre alt, und das bedeutete, dass er nicht mehr wachsen würde. Seine Züge würden fest werden und ernst. Doch sobald er gesund war, würde er nicht mehr von seiner Kindheit sprechen können. Er hatte keine gehabt. Er hatte sie tot zugebracht.
© Verlag Kiepenheuer & Witsch
Übersetzung: Curt Meyer-Clason
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Autoren-Porträt von Gabriel García Márquez
Gabriel García Márquez, geboren 1927 in Aracataca, Kolumbien, arbeitete nach dem Jurastudium zunächst als Journalist. García Márquez hat ein umfangreiches erzählerisches und journalistisches Werk vorgelegt. Seit der Veröffentlichung von »Hundert Jahre Einsamkeit« gilt er als einer der bedeutendsten und erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. 1982 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Gabriel García Márquez starb 2014 in Mexico City. Meyer-Clason, CurtCurt Meyer-Clason (1910-2012) übersetzt aus dem Englischen, Französischen, Spanischen und Portugiesischen u. a.Werke von Behan, Wiesel, Borges, García Márquez, Ribeiro, Rosa.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gabriel García Márquez
- 2008, 1. Auflage, 352 Seiten, Masse: 13 x 20,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Curt Meyer-Clason
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462040456
- ISBN-13: 9783462040456
- Erscheinungsdatum: 22.08.2008
Rezension zu „Die Erzählungen “
»[...] García Márquez [hat] das seltene Kunststück fertiggebracht, die Achtung der Literatur und gleichzeitig die Liebe seiner weltweiten Leserschaft zu gewinnen.« Die Zeit
Pressezitat
»[...] García Márquez [hat] das seltene Kunststück fertiggebracht, die Achtung der Literatur und gleichzeitig die Liebe seiner weltweiten Leserschaft zu gewinnen.« Die Zeit
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