Die Augen des Drachen
Roman
Peter, ältester Sohn und Thronfolger des Königs von Delain, soll bald die Herrschaft im Königreich übernehmen. Doch Flagg, ein einflussreicher Magier, hat andere Pläne: Mit einem Zauberelexier ermordet er den König und lässt Peter für das Verbrechen in den...
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Produktinformationen zu „Die Augen des Drachen “
Peter, ältester Sohn und Thronfolger des Königs von Delain, soll bald die Herrschaft im Königreich übernehmen. Doch Flagg, ein einflussreicher Magier, hat andere Pläne: Mit einem Zauberelexier ermordet er den König und lässt Peter für das Verbrechen in den Kerker werfen. Thomas, der jüngere Sohn des Königs, der als einziger Zeuge die Unschuld des Bruders beweisen könnte, ist nur eine willenlose Marionette des grausamen Magiers. Das blinde Wüten Flaggs scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein ...
Klappentext zu „Die Augen des Drachen “
Ein Meisterwerk der Fantasy vom König des HorrorsKönig Roland von Delain wird ermordet, und man bezichtigt Peter, seinen Sohn und erben, der Tat. Hinter dem Ränkespiel steckt der mächtige Hofzauberer Flagg. Der Kampf um den Thron beginnt ...
»Der Zauber von Stephen King ist überaus verführerisch - unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen.« The Washington Post
Im Königreich Delain herrscht der alte König Roland von Delain, der weder ein guter noch ein schlechter König ist. Als Ratgeber steht ihm der finstere Hofzauberer Flagg zur Seite, der nach der Herrschaft giert. Roland heiratet die junge Sasha; obwohl er sie liebt, meidet er sie aus Schüchternheit.
Doch eines Tages trifft er beim Jagen im Wald auf einen Drachen, den er erfolgreich erlegt. Als Zeichen des Triumphes verzehrt er das Herz des Drachen. Danach findet er den Mut mit seiner Frau zu schlafen und ein paar Monate später gebiert sie einen Sohn, der den Namen Peter erhält.
Peter geniesst eine unbeschwerte Kindheit, seine Eltern lieben ihn und das Volk sieht ihn schon als würdigen Thronfolger an. Für Flagg ist Peter ein Dorn im Auge und Roland ist entschlossener denn je geworden. Wenige Jahre später erwartet Sasha ein weiteres Kind und entgeht durch Zufall einem Giftanschlag Flaggs. Doch Sasha stirbt bei der Geburt ihres zweiten Sohnes, der den Namen Thomas erhält.
Im Gegensatz zu Peter ist Thomas ein schwacher Mensch, der immer im Schatten seines älteren Bruders steht. Wenige Jahre später beginnt Thomas nicht nur seinen Bruder, sondern auch seinen eigenen Vater zu hassen. Roland zeigt mehr Fürsorge für Peter und Thomas fühlt sich zurückgesetzt. Flagg sieht darin natürlich eine Chance und beginnt Thomas zu manipulieren und zeigt Thomas wie man durch die Augen vom Kopf des toten Drachen in den Trophäensaal hineinsehen kann. Thomas macht es sich daraufhin zur Gewohnheit seinen eigenen Vater auszuspionieren.
Eines Tages mischt Flagg Drachensand in den Wein des Königs. Drachensand ist das tödlichste Gift auf der ganzen Welt. Thomas beobachtet durch die Augen des Drachen, wie Flagg seinem Vater den vergifteten Wein überreicht, den Roland ohne Zögern trinkt.
Bald darauf erleidet Roland Höllenqualen und stirbt durch innere Verbrennungen. Flagg gelingt es den Verdacht auf Peter zu lenken. Peter wird des Königsmordes für schuldig befunden und in den Kerker geworfen. Nur Thomas kann die Unschuld seines älteren Bruders beweisen, doch aus Angst vor Flagg schweigt er. Thomas wird zum König gekrönt und Flagg steht ihm als Berater zur Seite. Thomas ist von nun an die willenlose Marionette des mörderischen Zauberers. Peter will nicht aufgeben und plant bereits seine Flucht aus dem Kerker und will Delain von den Machenschaften des Flagg befreien.
Auf seine Bitte hin werden Peter im Kerker zwei Dinge gewährt: Das Puppenhaus seiner Mutter und zu jeder Mahlzeit eine frische Serviette. Peter nimmt von jeder Serviette fünf Fäden ab und webt mit Hilfe des im Puppenhaus vorhandenen Webstuhls ein Seil. Er hat vor, sich mittels dieses Seils aus dem Kerker abzuseilen.
Während des Fluchtversuchs reisst das Seil. Doch Ben (ein Freund aus der Kindheit), Naomi (eine Begleiterin Bens) und Dennis (der Sohn eines Dieners) retten ihn. Als sich die Vier auf den Weg machen, die Waffe zu holen, mit der Roland den Drachen tötete, werden sie von Flagg erwischt. Flagg versucht sie zu töten, worauf Thomas, der inzwischen auch dazu gekommen ist, ihm einen Pfeil ins Auge schiesst. Dennoch gelingt Flagg die Flucht.
Das Buch endet damit, dass Peter als rechtmässiger König den Thron besteigt, Ben und Naomi heiraten und Thomas und Dennis sich auf den Weg machen, um Flagg zu finden.
Bei der Fantasy-Welt, die King für den Roman Die Augen des Drachen entworfen hat, handelt es sich offensichtlich um eine Parallelwelt zum Turm-Zyklus, was sich vor allem in den Ähnlichkeiten der Namen der Protagonisten Roland Delain und Roland Deschain und vielen weiteren kleinen Versatzstücken und Nebenfiguren äussert. Anders als in der Welt, in der der dunkle-Turm-Zyklus spielt, scheint sich die Welt nicht weiterbewegt zu haben.ch Ben (ein Freund aus der Kindheit), Naomi (eine Begleiterin Bens) und Dennis (der Sohn eines Dieners) retten ihn. Als sich die Vier auf den Weg machen, die Waffe zu holen, mit der Roland den Drachen tötete, werden s
Doch eines Tages trifft er beim Jagen im Wald auf einen Drachen, den er erfolgreich erlegt. Als Zeichen des Triumphes verzehrt er das Herz des Drachen. Danach findet er den Mut mit seiner Frau zu schlafen und ein paar Monate später gebiert sie einen Sohn, der den Namen Peter erhält.
Peter geniesst eine unbeschwerte Kindheit, seine Eltern lieben ihn und das Volk sieht ihn schon als würdigen Thronfolger an. Für Flagg ist Peter ein Dorn im Auge und Roland ist entschlossener denn je geworden. Wenige Jahre später erwartet Sasha ein weiteres Kind und entgeht durch Zufall einem Giftanschlag Flaggs. Doch Sasha stirbt bei der Geburt ihres zweiten Sohnes, der den Namen Thomas erhält.
Im Gegensatz zu Peter ist Thomas ein schwacher Mensch, der immer im Schatten seines älteren Bruders steht. Wenige Jahre später beginnt Thomas nicht nur seinen Bruder, sondern auch seinen eigenen Vater zu hassen. Roland zeigt mehr Fürsorge für Peter und Thomas fühlt sich zurückgesetzt. Flagg sieht darin natürlich eine Chance und beginnt Thomas zu manipulieren und zeigt Thomas wie man durch die Augen vom Kopf des toten Drachen in den Trophäensaal hineinsehen kann. Thomas macht es sich daraufhin zur Gewohnheit seinen eigenen Vater auszuspionieren.
Eines Tages mischt Flagg Drachensand in den Wein des Königs. Drachensand ist das tödlichste Gift auf der ganzen Welt. Thomas beobachtet durch die Augen des Drachen, wie Flagg seinem Vater den vergifteten Wein überreicht, den Roland ohne Zögern trinkt.
Bald darauf erleidet Roland Höllenqualen und stirbt durch innere Verbrennungen. Flagg gelingt es den Verdacht auf Peter zu lenken. Peter wird des Königsmordes für schuldig befunden und in den Kerker geworfen. Nur Thomas kann die Unschuld seines älteren Bruders beweisen, doch aus Angst vor Flagg schweigt er. Thomas wird zum König gekrönt und Flagg steht ihm als Berater zur Seite. Thomas ist von nun an die willenlose Marionette des mörderischen Zauberers. Peter will nicht aufgeben und plant bereits seine Flucht aus dem Kerker und will Delain von den Machenschaften des Flagg befreien.
Auf seine Bitte hin werden Peter im Kerker zwei Dinge gewährt: Das Puppenhaus seiner Mutter und zu jeder Mahlzeit eine frische Serviette. Peter nimmt von jeder Serviette fünf Fäden ab und webt mit Hilfe des im Puppenhaus vorhandenen Webstuhls ein Seil. Er hat vor, sich mittels dieses Seils aus dem Kerker abzuseilen.
Während des Fluchtversuchs reisst das Seil. Doch Ben (ein Freund aus der Kindheit), Naomi (eine Begleiterin Bens) und Dennis (der Sohn eines Dieners) retten ihn. Als sich die Vier auf den Weg machen, die Waffe zu holen, mit der Roland den Drachen tötete, werden sie von Flagg erwischt. Flagg versucht sie zu töten, worauf Thomas, der inzwischen auch dazu gekommen ist, ihm einen Pfeil ins Auge schiesst. Dennoch gelingt Flagg die Flucht.
Das Buch endet damit, dass Peter als rechtmässiger König den Thron besteigt, Ben und Naomi heiraten und Thomas und Dennis sich auf den Weg machen, um Flagg zu finden.
Bei der Fantasy-Welt, die King für den Roman Die Augen des Drachen entworfen hat, handelt es sich offensichtlich um eine Parallelwelt zum Turm-Zyklus, was sich vor allem in den Ähnlichkeiten der Namen der Protagonisten Roland Delain und Roland Deschain und vielen weiteren kleinen Versatzstücken und Nebenfiguren äussert. Anders als in der Welt, in der der dunkle-Turm-Zyklus spielt, scheint sich die Welt nicht weiterbewegt zu haben.ch Ben (ein Freund aus der Kindheit), Naomi (eine Begleiterin Bens) und Dennis (der Sohn eines Dieners) retten ihn. Als sich die Vier auf den Weg machen, die Waffe zu holen, mit der Roland den Drachen tötete, werden s
Lese-Probe zu „Die Augen des Drachen “
Die Augen des Drachen von Stephen KingAus dem Amerikanischen von Joachim Körber
1
In einem Königreich namens Delain lebte einst ein König,
der hatte zwei Söhne. Delain war ein sehr altes Königreich,
und es hatten dort Hunderte von Königen regiert,
vielleicht sogar Tausende; wenn genügend Zeit
verstrichen ist, können nicht einmal Historiker sich an
alles erinnern. Roland der Gütige war weder der beste
noch der schlechteste König, der das Land bisher regiert
hatte. Er gab sich große Mühe, keinem unrecht zu tun,
was ihm meistens auch gelang. Er versuchte außerdem,
große Taten zu vollbringen, aber unglücklicherweise gelang
ihm das nicht ganz so gut. Das Ergebnis war ein
recht mittelmäßiger König, und er bezweifelte, dass man
seiner nach seinem Tode noch lange gedenken würde.
und der Tod konnte ihn in jedem Augenblick holen,
denn er war alt geworden, und sein Herz war schwach.
Er hatte vielleicht noch ein Jahr zu leben, vielleicht drei.
Jeder, der ihn kannte, und alle, die sein graues Gesicht
und die zitternden Hände gesehen hatten, wenn er Hof
hielt, waren sich darin einig, dass in allerhöchstens fünf
Jahren ein neuer König auf dem großen Platz am Fuße
der Nadel gekrönt werden würde ... und nur wenn Gott
gnädig war, waren Roland noch fünf Jahre vergönnt.
Daher sprach jeder im Königreich, vom reichsten Baron
und prunkvoll gekleideten Höfling bis hin zum ärmsten
Leibeigenen und seiner zerlumpten Frau, vom künftigen
König, Rolands ältestem Sohn Peter.
... mehr
Nur ein Mann überlegte und plante und dachte über
etwas anderes nach: Wie er es bewerkstelligen könnte,
dass Rolands jüngerer Sohn, Thomas, statt Peter zum
König gekrönt wurde. Dieser Mann war Flagg, der Hofzauberer
des Königs.
2
Wenngleich Roland, der König, alt war - er selbst sprach
von siebzig Jahren, aber er war ganz bestimmt älter -,
so waren doch seine beiden Söhne noch jung. Er hatte
erst spät geheiratet, weil er keine Frau gefunden hatte,
die seinen Ansprüchen genügte, und weil seine Mutter,
die große Königinwitwe von Delain, für Roland und alle
anderen - einschließlich ihrer selbst - schier unsterblich
zu sein schien. Sie hatte fast fünfzig Jahre lang über das
Königreich geherrscht, als sie sich eines Tages ein Stück
Zitrone in den Mund steckte, um einen lästigen Husten
zu lindern, welcher sie schon seit mehr als einer Woche
peinigte. Zu eben diesem Zeitpunkt führte ein Jongleur
zur Erbauung der Königinwitwe und ihres Hofes seine
Kunststücke vor. Er jonglierte mit fünf kunstvoll gefertigten
Kristallkugeln. In dem Augenblick, als sich die
Königin die Zitronenscheibe in den Mund schob, ließ
der Jongleur eine der Glaskugeln fallen. Sie zerschellte
mit lautem Geklirr auf dem Fliesenboden des großen
östlichen Thronsaals. Die Königinwitwe erschrak über
das laute Geräusch und sog Luft ein. und dabei verschluckte
sie sich an der Zitronenscheibe und erstickte
im Handumdrehen. Vier Tage später fand Rolands Krönung
auf dem Platz der Nadel statt. Der Jongleur konnte
sie nicht mehr miterleben; er war drei Tage zuvor an der
Hinrichtungsstätte hinter der Nadel geköpft worden.
Ein König ohne Erben macht alle nervös, ganz beson-
ders, wenn dieser König schon fünfzig und bereits kahlköpfig
ist. Daher lag es in Rolands Interesse, schnellstmöglich
zu heiraten und schnellstmöglich einen Sohn
zu zeugen. Sein engster Ratgeber Flagg führte ihm dies
immer wieder vor Augen. Er wies ihn auch darauf hin,
dass er mit fünfzig nur noch auf wenige Jahre hoffen
durfte, in denen er ein Kind im Leibe einer Frau erschaffen
konnte. Flagg riet ihm, bald eine Frau zu ehelichen
und besser nicht auf eine Dame von edlem Geblüt zu
warten, welche seinen Ansprüchen genügte. Wenn eine
solche Dame nicht aufgetaucht war, bis ein Mann die
fünfzig erreicht hatte, so würde sie wahrscheinlich niemals
kommen, führte Flagg aus.
Roland sah die Weisheit dessen ein und stimmte zu,
ohne zu ahnen, dass Flagg mit seinem strähnigen Haar
und dem weißen Gesicht, das fast immer unter einer Kapuze
verborgen war, sein innerstes Geheimnis kannte:
dass er nur deswegen nie eine Frau kennengelernt hatte,
die seinen Ansprüchen genügte, weil er sich eigentlich
aus keiner Frau etwas machte. Frauen machten ihm
Angst. und er hatte auch den Vorgang nie gemocht, der
Babys in die Leiber von Frauen bringt. Auch dieser Akt
machte ihm Angst.
Aber er sah ein, wie klug der Rat des Hofzauberers
war, und sechs Monate nach dem Begräbnis der Königinwitwe
gab es im Königreich ein ungleich fröhlicheres
Ereignis zu feiern - die Vermählung von König Roland
mit Sasha, die die Mutter von Peter und Thomas
werden sollte.
Roland wurde in Delain weder geliebt noch gehasst.
Sasha hingegen wurde von allen geliebt. Als sie bei der
Geburt ihres zweiten Sohnes starb, legte sich auf das
Königreich tiefste Trauer, die ein Jahr und einen Tag
dauerte. Sie war eine von sechs Frauen, die Flagg als
mögliche Bräute des Königs vorgeschlagen hatte. Roland
kannte keine dieser Frauen, die alle von ähnlicher
Geburt und Stellung waren. Sie waren alle von adliger,
aber keine von königlichem Geblüt; alle waren schüchtern
und freundlich und still. Flagg schlug wohlweislich
keine vor, die ihm seine Stellung als engster Vertrauter
des Königs streitig machen konnte. Roland entschied
sich für Sasha, weil sie die stillste und schüchternste des
halben Dutzends zu sein schien und ihm wahrscheinlich
am wenigsten Angst machen würde. Also heirateten
sie. Sasha aus der Westlichen Baronie (wirklich einer
sehr kleinen Baronie) war damals siebzehn Jahre
alt, dreiunddreißig Jahre jünger als ihr Gemahl. Vor ihrer
Hochzeitsnacht hatte sie noch niemals einen Mann
ohne Hosen gesehen. Als sie in eben dieser Nacht seinen
schlaffen Penis erblickte, fragte sie mit großem Interesse:
»Was ist denn das, mein Gemahl?« Hätte sie etwas
anderes gesagt, oder hätte sie es in einem etwas anderen
Tonfall gesagt, so hätte die Nacht - und somit die ganze
Geschichte - einen völlig anderen Verlauf nehmen können;
trotz des speziellen Trunks, welchen Flagg ihm vor
einer Stunde gegeben hatte, als das Hochzeitsfest sich
dem Ende näherte, hätte Roland sich einfach davongemacht.
Aber so sah er genau das in ihr, was sie war - ein
sehr junges Mädchen, das ebenso wenig vom Akt des
Kinderzeugens wusste wie er; er merkte, dass ihre Worte
freundlich gemeint waren, und er begann, sie zu lieben,
wie bald alle in Delain sie lieben sollten.
»Das ist Königseisen«, sagte er.
»Sieht nicht wie Eisen aus«, meinte Sasha zweifelnd.
»Das ist, bevor es in der Schmiede war«, sagte er.
»Aha!«, sagte sie. »und wo ist die Schmiede?«
»Wenn du mir vertraust«, sagte er und stieg zu ihr
ins Bett, »dann werde ich es dir zeigen, denn du selbst
hast sie aus der Westlichen Baronie mitgebracht, ohne
es zu wissen.«
3
Das Volk von Delain liebte sie, weil sie freundlich und
gütig war. Es war Königin Sasha, die das Große Hospital
gründete, Königin Sasha, die so bitterlich über die
Grausamkeit der Bärenhatz auf dem großen Platz weinte,
dass Roland schließlich den Brauch verbot; es war
Königin Sasha, die den König um eine Senkung der Steuern
anflehte, als die große Dürre hereinbrach und selbst
die Blätter des Großen Alten Baums grau wurden. Man
könnte sich fragen, ob Flagg gegen sie intrigierte. Anfangs
nicht. In seinen Augen waren dies vergleichsweise
unbedeutende Dinge, denn er war ein echter Magier und
lebte schon seit Hunderten und Aberhunderten Jahren.
Sogar die Steuersenkung ließ er durchgehen, weil im
Jahr zuvor die Flotte von Delain die Piraten von Anduan
besiegt hatte, welche die Südküste des Königreichs mehr
als hundert Jahre lang unsicher gemacht hatten. Der
Schädel des Piratenkönigs von Anduan grinste von einem
Pfahl vor den Palastmauern herab, und die Schatzkammern
von Delain barsten schier von der wiedergewonnenen
Beute. In bedeutenderen Fragen, Fragen der
Staatsführung, hörte der König immer noch auf Flagg
allein, und daher war Flagg vorerst zufrieden.
4
Wenngleich Roland begann, seine Frau zu lieben, lernte
er doch nie, jene Tätigkeit zu lieben, welche die meisten
Männer als überaus angenehm empfinden, den Akt,
der sowohl den niedersten Küchenjungen wie auch den
Erben des höchsten Throns hervorbringt. Er und Sasha
schliefen in getrennten Gemächern, und er besuchte
sie nicht oft. Diese Besuche erfolgten nicht häufiger als
fünf- bis sechsmal pro Jahr, und manchmal konnte kein
Königseisen geschmiedet werden, obschon Flagg immer
stärkere Mixturen herstellte und Sasha stets liebevoll
und zärtlich war.
Dennoch wurde vier Jahre nach ihrer Hochzeit Peter
in ihrem Bett gezeugt. und in dieser Nacht brauchte
Roland Flaggs Trunk nicht, der grün war und schäumte
und stets ein seltsames Gefühl in seinem Kopf hervorrief,
als wäre sein Verstand benebelt. An diesem Tag hatte
er mit zwölf seiner Männer in den Reservaten gejagt.
Die Jagd hatte Roland stets am meisten geliebt - den
Geruch des Waldes, die kühle, feuchte Luft, der Klang
des Horns und das Gefühl des Bogens, wenn ein Pfeil
losschnellte, um sein Ziel zu treffen. Schießpulver war
zwar bekannt in Delain, aber selten, und die Jagd auf
Wild mit einer Eisenröhre wurde zudem als unwürdig
und verachtenswert betrachtet.
Sasha lag im Bett und las, als er zu ihr kam, sein gerötetes
bärtiges Gesicht strahlte, und sie legte ihr Buch auf
die Brust und lauschte aufmerksam seiner Geschichte,
die er heftig gestikulierend erzählte. Am Ende beugte er
sich zurück und zeigte ihr, wie er den Bogen gespannt
hatte und Feind-Hammer, den großen Pfeil seines Vaters,
über die schmale Klamm hinwegfliegen ließ. Als
er das tat, da lachte sie und klatschte und gewann dadurch
sein Herz.
Die Reservate des Königs waren beinahe leer gejagt.
Es war schwer geworden, einen großen Hirsch darin zu
finden, und einen Drachen hatte seit urdenklichen Zeiten
niemand mehr gesehen. Die meisten Menschen hätten
gelacht, hätte man angedeutet, dass in dem sorgsam
gehegten Wald noch ein solches mythisches Wesen hausen
sollte. Doch an eben diesem Tag, eine Stunde vor
Sonnenuntergang, als Roland und seine Mannen gerade
umkehren wollten, da fanden sie genau das - oder
besser, es fand sie.
Der Drache kam trampelnd und krachend aus dem
unterholz hervor, seine Schuppen schimmerten wie
Grünspan auf Kupfer, aus den rußverkrusteten Nasenlöchern
stieg Rauch auf. Es war kein kleiner Drache,
sondern ein Männchen kurz vor der ersten Häutung.
Die meisten der Gruppe waren wie vom Donner gerührt,
niemand konnte einen Pfeil anlegen oder sich nur
bewegen.
Er starrte die Jagdgesellschaft an, seine gewöhnlich
grünen Augen wurden gelb, und er flatterte mit den Flügeln.
Es bestand keine Gefahr, dass er ihnen davonfliegen
würde - die Flügel würden erst in etwa fünfzig Jahren,
nach zwei weiteren Häutungen, so weit entwickelt
sein, dass sie den Leib durch die Lüfte tragen konnten -,
aber der Kokon, welcher die Flügel des Drachen bis zum
zehnten oder zwölften Lebensjahr am Körper hält, war
bereits abgefallen, und ein einziger Flügelschlag erzeugte
genug Wind, um den Anführer der Jagdgesellschaft
aus dem Sattel zu werfen, so dass das Horn seinen Händen
entglitt.
Roland war der Einzige, den das Auftauchen der Bestie
nicht starr vor Schrecken hatte werden lassen, und
seine nun folgende Tat zeugte von wahrem Heldenmut -
auch wenn er zu bescheiden war, dies Sasha gegenüber
zu erwähnen - und ebenso von der Begeisterung des Jägers.
Der Drache hätte durchaus den größten Teil der
Gesellschaft bei lebendigem Leibe rösten können, hätte
Roland nicht so besonnen gehandelt. Er trieb das Pferd
fünf Schritte näher heran und legte den großen Pfeil an.
Er spannte den Bogen und schoss. Der Pfeil bohrte sich
direkt in das Mal - die einzige weiche Stelle an der Kehle
des Drachen, wo er Luft einsaugt, um Feuer zu erzeugen.
Der Wurm fiel mit einem letzten Flammenspeien, welches
alle Büsche in seiner umgebung entzündete, tot zu
Boden. Dies löschten die Edelmänner rasch, einige mit
Wasser, einige mit Bier, und nicht wenige mit Pisse - da
ich gerade darüber nachdenke, eigentlich bestand der
größte Teil der Pisse auch aus Bier, denn wenn Roland
auf die Jagd ging, dann nahm er stets einen großen Vorrat
Bier mit, und er geizte nicht damit.
Das Feuer war binnen fünf Minuten gelöscht, der Drache
binnen fünfzehn ausgeweidet. über seinen rauchenden
Nasenlöchern hätte man immer noch einen Kessel
zum Kochen bringen können, als man die Kaldaunen
herausnahm. Das bluttropfende Herz mit seinen neun
Kammern wurde feierlich zu Roland gebracht. Er aß es
roh, wie es Brauch war, und stellte fest, dass es köstlich
war. Es stimmte ihn lediglich traurig, dass er mit großer
Wahrscheinlichkeit zeit seines Lebens kein zweites mehr
bekommen würde.
Vielleicht war es das Herz des Drachen, welches ihn
in dieser Nacht so stark machte. Vielleicht lag es nur
an seiner Freude an der Jagd und dem Wissen, dass er
nüchtern und überlegt gehandelt hatte, als alle anderen
fassungslos in den Sätteln saßen (natürlich abgesehen
vom Anführer der Jagdgesellschaft - der lag fassungslos
auf dem Rücken). Aus welchen Gründen auch immer,
als Sasha in die Hände klatschte und ausrief: »Gut
gemacht, mein tapferer Gemahl!«, sprang er förmlich
in ihr Bett. Sasha empfing ihn mit strahlenden Augen
und einem Lächeln, welches seinen eigenen Triumph widerspiegelte.
In dieser Nacht genoss Roland zum ersten
und einzigen Mal ohne Hilfsmittel die Umarmung
seiner Frau. Neun Monate später - ein Monat für jede
Kammer des Drachenherzens - wurde Peter in demselben
Bett geboren, und das Königreich jubelte - es hatte
einen Thronerben.
5
Wahrscheinlich denkt ihr - wenn ihr euch überhaupt
die Mühe gemacht habt, darüber nachzudenken -, dass
Roland nach Peters Geburt aufgehört hat, Flaggs grünes
Gebräu zu trinken. Keineswegs. Gelegentlich nahm
er es immer noch ein. und zwar deshalb, weil er Sasha
liebte und sie glücklich machen wollte. Mancherorts
glauben die Menschen, dass nur Männer Spaß am Sex
haben und die Frauen lieber in Ruhe gelassen werden
wollen. Aber das Volk von Delain kannte solche sonderbaren
Vorstellungen nicht - man ging davon aus, dass
auch eine Frau Vergnügen an dem Akt empfand, welcher
die erfreulichsten Geschöpfe der Welt hervorbrachte.
Roland wusste, dass er sich diesbezüglich nicht hinreichend
um seine Frau kümmerte, aber er nahm sich
vor, so aufmerksam wie möglich zu sein, auch wenn das
bedeutete, dass er Flaggs Trunk einnehmen musste. Nur
Flagg wusste, wie selten der König das Bett der Königin
besuchte.
ungefähr vier Jahre nach Peters Geburt suchte am
Neujahrstag ein gewaltiger Schneesturm Delain heim.
Abgesehen von einem einzigen anderen, von dem
ich euch später noch berichten werde, war dies der
schlimmste Sturm seit Menschengedenken.
Einem Impuls folgend, den er nicht einmal sich selbst
erklären konnte, mischte Flagg dem König einen Trunk
von doppelter Stärke - vielleicht trieb etwas im Wind
ihn dazu, es zu tun. Normalerweise hätte Roland ob
des ekligen Geschmacks das Gesicht verzogen und den
Kelch wahrscheinlich beiseitegestellt, aber durch die
Aufregung des Sturms war das Neujahrsfest besonders
ausgelassen gewesen, und Roland war sehr betrunken.
Das lodernde Feuer im Kamin gemahnte ihn an den letzten
glühenden Atemzug des Drachen, und er hatte dem
Kopf, welcher an der Wand befestigt war, häufig zugeprostet.
Daher trank er die grüne Flüssigkeit in einem
Zuge leer, und eine böse Wollust überkam ihn. Er verließ
auf der Stelle das Esszimmer und besuchte Sasha.
Beim Versuch, sie zu lieben, verletzte er sie.
»Bitte, mein Gemahl«, schrie sie schluchzend.
»Es tut mir leid«, murmelte er. »Hmmmpf ...« Er verfiel
neben ihr in einen tiefen Schlaf und war die nächsten
zwanzig Stunden nicht wach zu kriegen. Sie vergaß
niemals den üblen Atem, den er in dieser Nacht gehabt
hatte. Ein Geruch wie verdorbenes Fleisch, wie der Tod.
Was nur, fragte sie sich, hatte er gegessen ... oder getrunken?
Roland rührte Flaggs Trank nie wieder an, aber Flagg
war dennoch zufrieden. Neun Monate später gebar
Sasha Thomas, ihren zweiten Sohn. Sie selbst starb bei
der Geburt. So etwas kann natürlich vorkommen, und
so trauerte zwar jeder, aber niemand war überrascht.
Sie glaubten zu wissen, was vorgefallen war. Aber die
beiden einzigen Menschen im ganzen Königreich, die
die wahren umstände von Sashas Tod kannten, waren
Anna crookbrows, die Hebamme, und Flagg, der Hofzauberer
des Königs. Flagg hatte endgültig die Geduld
mit Sashas Einmischungen verloren.
6
Peter war erst fünf, als seine Mutter starb, aber er erinnerte
sich ihrer voll Liebe. Für ihn war sie gütig, zärtlich,
liebevoll und sanft gewesen. Aber fünf Jahre ist ein
sehr junges Alter, und die meisten seiner Erinnerungen
an sie waren nicht sehr genau. Eine deutliche Erinnerung
jedoch besaß er, die er niemals vergaß - das war
eine Rüge, die sie ihm einmal erteilt hatte. Viel, viel später
wurde diese Erinnerung noch sehr wichtig für ihn.
Sie hatte etwas mit seiner Serviette zu tun.
An jedem Ersten des Fünfmonats wurde bei Hofe ein
Fest gefeiert, um das Pflanzen im Frühling zu feiern.
Mit fünf Jahren durfte Peter zum ersten Mal dabei sein.
Der Brauch schrieb vor, dass Roland am Kopf der Tafel
saß, rechter Hand sein Thronerbe, die Königin aber
am anderen Ende der Tafel. Die Folge dessen war, dass
sie beim Essen nicht auf Peter aufpassen konnte, und
daher erteilte sie ihm vorher genaue Anweisungen, wie
er sich verhalten sollte. Sie wollte, dass er sich anständig
benahm und gute Manieren an den Tag legte. und
sie wusste natürlich, dass er während des Essens ganz
auf sich allein gestellt sein würde, denn sein Vater hatte
überhaupt keine Ahnung von Manieren.
Ein paar von euch mögen sich vielleicht wundern, weshalb
die Aufgabe, Peter unterricht in Manieren zu geben,
Sasha zufiel. Hatte der Junge denn keine Gouvernante?
(Doch, eigentlich hatte er sogar zwei.) Gab es keine Die-
ner, deren Aufmerksamkeit einzig und allein dem kleinen
Prinzen zu gelten hatte? (Ganze Heerscharen.) Der Trick
bestand darin, all diese Leute nicht dazu zu bringen, sich
um Peter zu kümmern, sondern sie fernzuhalten. Sasha
wollte ihn selbst erziehen, wenigstens soweit ihr das möglich
war. Sie hatte sehr klare Vorstellungen davon, wie ihr
Sohn großgezogen werden sollte. Sie liebte ihn von ganzem
Herzen und wollte aus eigenen egoistischen Gründen
bei ihm sein.Aber sie wusste auch, dass sie eine große und
ernste Verantwortung für Peters Entwicklung trug. Dieser
kleine Junge würde eines Tages König werden, und Sasha
wollte vor allem, dass er gut sei. Ein guter Junge, dachte
sie, würde auch ein guter König sein.
Große Bankette im Thronsaal waren keine besonders
vornehmen Ereignisse, und die meisten Kindermädchen
hätten sich sicher keine Gedanken über die Tischsitten
des Jungen gemacht. Aber er wird doch der König sein!,
hätten sie gesagt und wären wohl auch ein wenig schockiert
gewesen, dass sie ihn in derlei nebensächlichen
Fragen verbessern sollten. Wen kümmert es, wenn er
die Sauciere umschüttet? Wen kümmert es, wenn er sich
auf die Halskrause tropft oder sich gar die Hände daran
abwischt? Hatte König Alan in alten Zeiten sich nicht
manchmal auf seinen Teller übergeben und dann seinem
Hofnarren befohlen, herbeizukommen und »diese
köstliche warme Suppe zu schlürfen«? Biss nicht König
John oft Forellen bei lebendigem Leibe die Köpfe ab und
steckte die zuckenden Fischleiber dann den Dienerinnen
in ihr Dekolleté? Wird dieses Bankett nicht wie die meisten
Bankette damit enden, dass die Teilnehmer am Ende
einander über die Tische hinweg mit Essen bewerfen?
Zweifellos würde es so kommen, aber wenn das Es-
senwerfen begann, würden sie und Peter sich schon
längst zurückgezogen haben. Was Sasha störte, das war
eben genau die Frage: »Wen kümmert es?« Ihrer Meinung
nach war dies eine der schlimmsten Einstellungen,
die man einem kleinen Jungen beibringen konnte, der
König werden sollte.
Daher erzog Sasha Peter sehr sorgfältig, und sie beobachtete
ihn in der Nacht des Banketts genau. und später,
als er schläfrig in seinem Bettchen lag, redete sie mit ihm.
Weil sie eine gute Mutter war, lobte sie ihn zuerst liebevoll
wegen seines guten Benehmens und seiner Manieren
- und das zu Recht, denn sie waren größtenteils
tadellos gewesen. Aber sie wusste, niemand würde ihn
verbessern, wenn er etwas falsch machte, wenn nicht
sie selbst es tat, und sie wusste, sie musste es jetzt tun,
in den wenigen Jahren, in denen er sie anbetete. Daher
sagte sie, nachdem sie ihn gelobt hatte:
»Aber etwas hast du falsch gemacht, Peter, und ich
möchte nicht, dass du es noch einmal tust.«
Peter lag in seinem Bett, und seine dunkelblauen Augen
sahen sie ernst an. »Was war das, Mutter?«
»Du hast deine Serviette nicht benutzt«, sagte sie. »Du
hast sie zusammengelegt neben deinem Teller liegen lassen,
und es stimmte mich traurig, das zu sehen. Das
Brathähnchen hast du mit den Fingern gegessen, und
das war richtig, denn das ist die Art, wie Männer es essen.
Aber als du das Hähnchen wieder weggelegt hast,
hast du dir die Hände an deinem Hemd abgewischt, und
das ist nicht richtig.«
»Aber Vater ... und Mr. Flagg ... und die anderen edlen
Herren ...«
»Zum Teufel mit Flagg und den anderen edlen Herren
von Delain«, sagte sie mit solcher Heftigkeit, dass Peter
in seinem Bettchen ein wenig zusammenzuckte. Er hatte
Angst und schämte sich, weil er die Rosen in ihren
Wangen zum Erblühen gebracht hatte. »Was dein Vater
tut, das ist richtig, denn er ist der König, und auch was
du als König tust, wird immer richtig sein. Aber Flagg
ist nicht König, wie sehr er es sich auch wünschen mag,
und die Edelmänner sind nicht Könige, und du bist auch
noch nicht König, sondern lediglich ein kleiner Junge,
der seine Manieren vergessen hat.«
Sie sah, dass er Angst hatte, und sie lächelte und legte
ihm die Hand auf die Stirn.
»Sei ruhig, Peter«, sagte sie. »Es ist nur eine Kleinigkeit,
aber dennoch ist sie wichtig - denn dereinst wirst
du König sein. und nun geh und hole deine Tafel.«
»Aber es ist Schlafenszeit ...«
»Vergiss die Schlafenszeit. Der Schlaf kann warten.
Bring die Tafel.«
Peter lief, um seine Schiefertafel zu holen.
Sasha nahm die mit einem Faden daran befestigte
Kreide und schrieb sorgfältig drei Buchstaben darauf.
»Kannst du dieses Wort lesen, Peter?«
Peter nickte. Er konnte nur wenige Worte lesen, wenngleich
er fast alle Großbuchstaben kannte. Dies war eines
der Wörter, die er kannte. »Da steht GOD.«*
»Ja, das ist richtig. und nun schreib das rückwärts
und sieh, was dabei herauskommt.«
»Rückwärts?«, sagte Peter zweifelnd.
»Ganz recht.«
Peter gehorchte und malte kindlich verwackelte Buch
* Gott
Überarbeitete, erstmals vollständige Taschenbuchausgabe 03/2011
copyright © 1987 by Stephen King
copyright © 1987, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Neubearbeitung: christina Brombach
Redaktion: Momo Evers
umschlaggestaltung und Konzeption: Hauptmann und Kompanie
Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung einer Illustration
von © Anja Filler
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-453-43575-9
www.heyne.de
Nur ein Mann überlegte und plante und dachte über
etwas anderes nach: Wie er es bewerkstelligen könnte,
dass Rolands jüngerer Sohn, Thomas, statt Peter zum
König gekrönt wurde. Dieser Mann war Flagg, der Hofzauberer
des Königs.
2
Wenngleich Roland, der König, alt war - er selbst sprach
von siebzig Jahren, aber er war ganz bestimmt älter -,
so waren doch seine beiden Söhne noch jung. Er hatte
erst spät geheiratet, weil er keine Frau gefunden hatte,
die seinen Ansprüchen genügte, und weil seine Mutter,
die große Königinwitwe von Delain, für Roland und alle
anderen - einschließlich ihrer selbst - schier unsterblich
zu sein schien. Sie hatte fast fünfzig Jahre lang über das
Königreich geherrscht, als sie sich eines Tages ein Stück
Zitrone in den Mund steckte, um einen lästigen Husten
zu lindern, welcher sie schon seit mehr als einer Woche
peinigte. Zu eben diesem Zeitpunkt führte ein Jongleur
zur Erbauung der Königinwitwe und ihres Hofes seine
Kunststücke vor. Er jonglierte mit fünf kunstvoll gefertigten
Kristallkugeln. In dem Augenblick, als sich die
Königin die Zitronenscheibe in den Mund schob, ließ
der Jongleur eine der Glaskugeln fallen. Sie zerschellte
mit lautem Geklirr auf dem Fliesenboden des großen
östlichen Thronsaals. Die Königinwitwe erschrak über
das laute Geräusch und sog Luft ein. und dabei verschluckte
sie sich an der Zitronenscheibe und erstickte
im Handumdrehen. Vier Tage später fand Rolands Krönung
auf dem Platz der Nadel statt. Der Jongleur konnte
sie nicht mehr miterleben; er war drei Tage zuvor an der
Hinrichtungsstätte hinter der Nadel geköpft worden.
Ein König ohne Erben macht alle nervös, ganz beson-
ders, wenn dieser König schon fünfzig und bereits kahlköpfig
ist. Daher lag es in Rolands Interesse, schnellstmöglich
zu heiraten und schnellstmöglich einen Sohn
zu zeugen. Sein engster Ratgeber Flagg führte ihm dies
immer wieder vor Augen. Er wies ihn auch darauf hin,
dass er mit fünfzig nur noch auf wenige Jahre hoffen
durfte, in denen er ein Kind im Leibe einer Frau erschaffen
konnte. Flagg riet ihm, bald eine Frau zu ehelichen
und besser nicht auf eine Dame von edlem Geblüt zu
warten, welche seinen Ansprüchen genügte. Wenn eine
solche Dame nicht aufgetaucht war, bis ein Mann die
fünfzig erreicht hatte, so würde sie wahrscheinlich niemals
kommen, führte Flagg aus.
Roland sah die Weisheit dessen ein und stimmte zu,
ohne zu ahnen, dass Flagg mit seinem strähnigen Haar
und dem weißen Gesicht, das fast immer unter einer Kapuze
verborgen war, sein innerstes Geheimnis kannte:
dass er nur deswegen nie eine Frau kennengelernt hatte,
die seinen Ansprüchen genügte, weil er sich eigentlich
aus keiner Frau etwas machte. Frauen machten ihm
Angst. und er hatte auch den Vorgang nie gemocht, der
Babys in die Leiber von Frauen bringt. Auch dieser Akt
machte ihm Angst.
Aber er sah ein, wie klug der Rat des Hofzauberers
war, und sechs Monate nach dem Begräbnis der Königinwitwe
gab es im Königreich ein ungleich fröhlicheres
Ereignis zu feiern - die Vermählung von König Roland
mit Sasha, die die Mutter von Peter und Thomas
werden sollte.
Roland wurde in Delain weder geliebt noch gehasst.
Sasha hingegen wurde von allen geliebt. Als sie bei der
Geburt ihres zweiten Sohnes starb, legte sich auf das
Königreich tiefste Trauer, die ein Jahr und einen Tag
dauerte. Sie war eine von sechs Frauen, die Flagg als
mögliche Bräute des Königs vorgeschlagen hatte. Roland
kannte keine dieser Frauen, die alle von ähnlicher
Geburt und Stellung waren. Sie waren alle von adliger,
aber keine von königlichem Geblüt; alle waren schüchtern
und freundlich und still. Flagg schlug wohlweislich
keine vor, die ihm seine Stellung als engster Vertrauter
des Königs streitig machen konnte. Roland entschied
sich für Sasha, weil sie die stillste und schüchternste des
halben Dutzends zu sein schien und ihm wahrscheinlich
am wenigsten Angst machen würde. Also heirateten
sie. Sasha aus der Westlichen Baronie (wirklich einer
sehr kleinen Baronie) war damals siebzehn Jahre
alt, dreiunddreißig Jahre jünger als ihr Gemahl. Vor ihrer
Hochzeitsnacht hatte sie noch niemals einen Mann
ohne Hosen gesehen. Als sie in eben dieser Nacht seinen
schlaffen Penis erblickte, fragte sie mit großem Interesse:
»Was ist denn das, mein Gemahl?« Hätte sie etwas
anderes gesagt, oder hätte sie es in einem etwas anderen
Tonfall gesagt, so hätte die Nacht - und somit die ganze
Geschichte - einen völlig anderen Verlauf nehmen können;
trotz des speziellen Trunks, welchen Flagg ihm vor
einer Stunde gegeben hatte, als das Hochzeitsfest sich
dem Ende näherte, hätte Roland sich einfach davongemacht.
Aber so sah er genau das in ihr, was sie war - ein
sehr junges Mädchen, das ebenso wenig vom Akt des
Kinderzeugens wusste wie er; er merkte, dass ihre Worte
freundlich gemeint waren, und er begann, sie zu lieben,
wie bald alle in Delain sie lieben sollten.
»Das ist Königseisen«, sagte er.
»Sieht nicht wie Eisen aus«, meinte Sasha zweifelnd.
»Das ist, bevor es in der Schmiede war«, sagte er.
»Aha!«, sagte sie. »und wo ist die Schmiede?«
»Wenn du mir vertraust«, sagte er und stieg zu ihr
ins Bett, »dann werde ich es dir zeigen, denn du selbst
hast sie aus der Westlichen Baronie mitgebracht, ohne
es zu wissen.«
3
Das Volk von Delain liebte sie, weil sie freundlich und
gütig war. Es war Königin Sasha, die das Große Hospital
gründete, Königin Sasha, die so bitterlich über die
Grausamkeit der Bärenhatz auf dem großen Platz weinte,
dass Roland schließlich den Brauch verbot; es war
Königin Sasha, die den König um eine Senkung der Steuern
anflehte, als die große Dürre hereinbrach und selbst
die Blätter des Großen Alten Baums grau wurden. Man
könnte sich fragen, ob Flagg gegen sie intrigierte. Anfangs
nicht. In seinen Augen waren dies vergleichsweise
unbedeutende Dinge, denn er war ein echter Magier und
lebte schon seit Hunderten und Aberhunderten Jahren.
Sogar die Steuersenkung ließ er durchgehen, weil im
Jahr zuvor die Flotte von Delain die Piraten von Anduan
besiegt hatte, welche die Südküste des Königreichs mehr
als hundert Jahre lang unsicher gemacht hatten. Der
Schädel des Piratenkönigs von Anduan grinste von einem
Pfahl vor den Palastmauern herab, und die Schatzkammern
von Delain barsten schier von der wiedergewonnenen
Beute. In bedeutenderen Fragen, Fragen der
Staatsführung, hörte der König immer noch auf Flagg
allein, und daher war Flagg vorerst zufrieden.
4
Wenngleich Roland begann, seine Frau zu lieben, lernte
er doch nie, jene Tätigkeit zu lieben, welche die meisten
Männer als überaus angenehm empfinden, den Akt,
der sowohl den niedersten Küchenjungen wie auch den
Erben des höchsten Throns hervorbringt. Er und Sasha
schliefen in getrennten Gemächern, und er besuchte
sie nicht oft. Diese Besuche erfolgten nicht häufiger als
fünf- bis sechsmal pro Jahr, und manchmal konnte kein
Königseisen geschmiedet werden, obschon Flagg immer
stärkere Mixturen herstellte und Sasha stets liebevoll
und zärtlich war.
Dennoch wurde vier Jahre nach ihrer Hochzeit Peter
in ihrem Bett gezeugt. und in dieser Nacht brauchte
Roland Flaggs Trunk nicht, der grün war und schäumte
und stets ein seltsames Gefühl in seinem Kopf hervorrief,
als wäre sein Verstand benebelt. An diesem Tag hatte
er mit zwölf seiner Männer in den Reservaten gejagt.
Die Jagd hatte Roland stets am meisten geliebt - den
Geruch des Waldes, die kühle, feuchte Luft, der Klang
des Horns und das Gefühl des Bogens, wenn ein Pfeil
losschnellte, um sein Ziel zu treffen. Schießpulver war
zwar bekannt in Delain, aber selten, und die Jagd auf
Wild mit einer Eisenröhre wurde zudem als unwürdig
und verachtenswert betrachtet.
Sasha lag im Bett und las, als er zu ihr kam, sein gerötetes
bärtiges Gesicht strahlte, und sie legte ihr Buch auf
die Brust und lauschte aufmerksam seiner Geschichte,
die er heftig gestikulierend erzählte. Am Ende beugte er
sich zurück und zeigte ihr, wie er den Bogen gespannt
hatte und Feind-Hammer, den großen Pfeil seines Vaters,
über die schmale Klamm hinwegfliegen ließ. Als
er das tat, da lachte sie und klatschte und gewann dadurch
sein Herz.
Die Reservate des Königs waren beinahe leer gejagt.
Es war schwer geworden, einen großen Hirsch darin zu
finden, und einen Drachen hatte seit urdenklichen Zeiten
niemand mehr gesehen. Die meisten Menschen hätten
gelacht, hätte man angedeutet, dass in dem sorgsam
gehegten Wald noch ein solches mythisches Wesen hausen
sollte. Doch an eben diesem Tag, eine Stunde vor
Sonnenuntergang, als Roland und seine Mannen gerade
umkehren wollten, da fanden sie genau das - oder
besser, es fand sie.
Der Drache kam trampelnd und krachend aus dem
unterholz hervor, seine Schuppen schimmerten wie
Grünspan auf Kupfer, aus den rußverkrusteten Nasenlöchern
stieg Rauch auf. Es war kein kleiner Drache,
sondern ein Männchen kurz vor der ersten Häutung.
Die meisten der Gruppe waren wie vom Donner gerührt,
niemand konnte einen Pfeil anlegen oder sich nur
bewegen.
Er starrte die Jagdgesellschaft an, seine gewöhnlich
grünen Augen wurden gelb, und er flatterte mit den Flügeln.
Es bestand keine Gefahr, dass er ihnen davonfliegen
würde - die Flügel würden erst in etwa fünfzig Jahren,
nach zwei weiteren Häutungen, so weit entwickelt
sein, dass sie den Leib durch die Lüfte tragen konnten -,
aber der Kokon, welcher die Flügel des Drachen bis zum
zehnten oder zwölften Lebensjahr am Körper hält, war
bereits abgefallen, und ein einziger Flügelschlag erzeugte
genug Wind, um den Anführer der Jagdgesellschaft
aus dem Sattel zu werfen, so dass das Horn seinen Händen
entglitt.
Roland war der Einzige, den das Auftauchen der Bestie
nicht starr vor Schrecken hatte werden lassen, und
seine nun folgende Tat zeugte von wahrem Heldenmut -
auch wenn er zu bescheiden war, dies Sasha gegenüber
zu erwähnen - und ebenso von der Begeisterung des Jägers.
Der Drache hätte durchaus den größten Teil der
Gesellschaft bei lebendigem Leibe rösten können, hätte
Roland nicht so besonnen gehandelt. Er trieb das Pferd
fünf Schritte näher heran und legte den großen Pfeil an.
Er spannte den Bogen und schoss. Der Pfeil bohrte sich
direkt in das Mal - die einzige weiche Stelle an der Kehle
des Drachen, wo er Luft einsaugt, um Feuer zu erzeugen.
Der Wurm fiel mit einem letzten Flammenspeien, welches
alle Büsche in seiner umgebung entzündete, tot zu
Boden. Dies löschten die Edelmänner rasch, einige mit
Wasser, einige mit Bier, und nicht wenige mit Pisse - da
ich gerade darüber nachdenke, eigentlich bestand der
größte Teil der Pisse auch aus Bier, denn wenn Roland
auf die Jagd ging, dann nahm er stets einen großen Vorrat
Bier mit, und er geizte nicht damit.
Das Feuer war binnen fünf Minuten gelöscht, der Drache
binnen fünfzehn ausgeweidet. über seinen rauchenden
Nasenlöchern hätte man immer noch einen Kessel
zum Kochen bringen können, als man die Kaldaunen
herausnahm. Das bluttropfende Herz mit seinen neun
Kammern wurde feierlich zu Roland gebracht. Er aß es
roh, wie es Brauch war, und stellte fest, dass es köstlich
war. Es stimmte ihn lediglich traurig, dass er mit großer
Wahrscheinlichkeit zeit seines Lebens kein zweites mehr
bekommen würde.
Vielleicht war es das Herz des Drachen, welches ihn
in dieser Nacht so stark machte. Vielleicht lag es nur
an seiner Freude an der Jagd und dem Wissen, dass er
nüchtern und überlegt gehandelt hatte, als alle anderen
fassungslos in den Sätteln saßen (natürlich abgesehen
vom Anführer der Jagdgesellschaft - der lag fassungslos
auf dem Rücken). Aus welchen Gründen auch immer,
als Sasha in die Hände klatschte und ausrief: »Gut
gemacht, mein tapferer Gemahl!«, sprang er förmlich
in ihr Bett. Sasha empfing ihn mit strahlenden Augen
und einem Lächeln, welches seinen eigenen Triumph widerspiegelte.
In dieser Nacht genoss Roland zum ersten
und einzigen Mal ohne Hilfsmittel die Umarmung
seiner Frau. Neun Monate später - ein Monat für jede
Kammer des Drachenherzens - wurde Peter in demselben
Bett geboren, und das Königreich jubelte - es hatte
einen Thronerben.
5
Wahrscheinlich denkt ihr - wenn ihr euch überhaupt
die Mühe gemacht habt, darüber nachzudenken -, dass
Roland nach Peters Geburt aufgehört hat, Flaggs grünes
Gebräu zu trinken. Keineswegs. Gelegentlich nahm
er es immer noch ein. und zwar deshalb, weil er Sasha
liebte und sie glücklich machen wollte. Mancherorts
glauben die Menschen, dass nur Männer Spaß am Sex
haben und die Frauen lieber in Ruhe gelassen werden
wollen. Aber das Volk von Delain kannte solche sonderbaren
Vorstellungen nicht - man ging davon aus, dass
auch eine Frau Vergnügen an dem Akt empfand, welcher
die erfreulichsten Geschöpfe der Welt hervorbrachte.
Roland wusste, dass er sich diesbezüglich nicht hinreichend
um seine Frau kümmerte, aber er nahm sich
vor, so aufmerksam wie möglich zu sein, auch wenn das
bedeutete, dass er Flaggs Trunk einnehmen musste. Nur
Flagg wusste, wie selten der König das Bett der Königin
besuchte.
ungefähr vier Jahre nach Peters Geburt suchte am
Neujahrstag ein gewaltiger Schneesturm Delain heim.
Abgesehen von einem einzigen anderen, von dem
ich euch später noch berichten werde, war dies der
schlimmste Sturm seit Menschengedenken.
Einem Impuls folgend, den er nicht einmal sich selbst
erklären konnte, mischte Flagg dem König einen Trunk
von doppelter Stärke - vielleicht trieb etwas im Wind
ihn dazu, es zu tun. Normalerweise hätte Roland ob
des ekligen Geschmacks das Gesicht verzogen und den
Kelch wahrscheinlich beiseitegestellt, aber durch die
Aufregung des Sturms war das Neujahrsfest besonders
ausgelassen gewesen, und Roland war sehr betrunken.
Das lodernde Feuer im Kamin gemahnte ihn an den letzten
glühenden Atemzug des Drachen, und er hatte dem
Kopf, welcher an der Wand befestigt war, häufig zugeprostet.
Daher trank er die grüne Flüssigkeit in einem
Zuge leer, und eine böse Wollust überkam ihn. Er verließ
auf der Stelle das Esszimmer und besuchte Sasha.
Beim Versuch, sie zu lieben, verletzte er sie.
»Bitte, mein Gemahl«, schrie sie schluchzend.
»Es tut mir leid«, murmelte er. »Hmmmpf ...« Er verfiel
neben ihr in einen tiefen Schlaf und war die nächsten
zwanzig Stunden nicht wach zu kriegen. Sie vergaß
niemals den üblen Atem, den er in dieser Nacht gehabt
hatte. Ein Geruch wie verdorbenes Fleisch, wie der Tod.
Was nur, fragte sie sich, hatte er gegessen ... oder getrunken?
Roland rührte Flaggs Trank nie wieder an, aber Flagg
war dennoch zufrieden. Neun Monate später gebar
Sasha Thomas, ihren zweiten Sohn. Sie selbst starb bei
der Geburt. So etwas kann natürlich vorkommen, und
so trauerte zwar jeder, aber niemand war überrascht.
Sie glaubten zu wissen, was vorgefallen war. Aber die
beiden einzigen Menschen im ganzen Königreich, die
die wahren umstände von Sashas Tod kannten, waren
Anna crookbrows, die Hebamme, und Flagg, der Hofzauberer
des Königs. Flagg hatte endgültig die Geduld
mit Sashas Einmischungen verloren.
6
Peter war erst fünf, als seine Mutter starb, aber er erinnerte
sich ihrer voll Liebe. Für ihn war sie gütig, zärtlich,
liebevoll und sanft gewesen. Aber fünf Jahre ist ein
sehr junges Alter, und die meisten seiner Erinnerungen
an sie waren nicht sehr genau. Eine deutliche Erinnerung
jedoch besaß er, die er niemals vergaß - das war
eine Rüge, die sie ihm einmal erteilt hatte. Viel, viel später
wurde diese Erinnerung noch sehr wichtig für ihn.
Sie hatte etwas mit seiner Serviette zu tun.
An jedem Ersten des Fünfmonats wurde bei Hofe ein
Fest gefeiert, um das Pflanzen im Frühling zu feiern.
Mit fünf Jahren durfte Peter zum ersten Mal dabei sein.
Der Brauch schrieb vor, dass Roland am Kopf der Tafel
saß, rechter Hand sein Thronerbe, die Königin aber
am anderen Ende der Tafel. Die Folge dessen war, dass
sie beim Essen nicht auf Peter aufpassen konnte, und
daher erteilte sie ihm vorher genaue Anweisungen, wie
er sich verhalten sollte. Sie wollte, dass er sich anständig
benahm und gute Manieren an den Tag legte. und
sie wusste natürlich, dass er während des Essens ganz
auf sich allein gestellt sein würde, denn sein Vater hatte
überhaupt keine Ahnung von Manieren.
Ein paar von euch mögen sich vielleicht wundern, weshalb
die Aufgabe, Peter unterricht in Manieren zu geben,
Sasha zufiel. Hatte der Junge denn keine Gouvernante?
(Doch, eigentlich hatte er sogar zwei.) Gab es keine Die-
ner, deren Aufmerksamkeit einzig und allein dem kleinen
Prinzen zu gelten hatte? (Ganze Heerscharen.) Der Trick
bestand darin, all diese Leute nicht dazu zu bringen, sich
um Peter zu kümmern, sondern sie fernzuhalten. Sasha
wollte ihn selbst erziehen, wenigstens soweit ihr das möglich
war. Sie hatte sehr klare Vorstellungen davon, wie ihr
Sohn großgezogen werden sollte. Sie liebte ihn von ganzem
Herzen und wollte aus eigenen egoistischen Gründen
bei ihm sein.Aber sie wusste auch, dass sie eine große und
ernste Verantwortung für Peters Entwicklung trug. Dieser
kleine Junge würde eines Tages König werden, und Sasha
wollte vor allem, dass er gut sei. Ein guter Junge, dachte
sie, würde auch ein guter König sein.
Große Bankette im Thronsaal waren keine besonders
vornehmen Ereignisse, und die meisten Kindermädchen
hätten sich sicher keine Gedanken über die Tischsitten
des Jungen gemacht. Aber er wird doch der König sein!,
hätten sie gesagt und wären wohl auch ein wenig schockiert
gewesen, dass sie ihn in derlei nebensächlichen
Fragen verbessern sollten. Wen kümmert es, wenn er
die Sauciere umschüttet? Wen kümmert es, wenn er sich
auf die Halskrause tropft oder sich gar die Hände daran
abwischt? Hatte König Alan in alten Zeiten sich nicht
manchmal auf seinen Teller übergeben und dann seinem
Hofnarren befohlen, herbeizukommen und »diese
köstliche warme Suppe zu schlürfen«? Biss nicht König
John oft Forellen bei lebendigem Leibe die Köpfe ab und
steckte die zuckenden Fischleiber dann den Dienerinnen
in ihr Dekolleté? Wird dieses Bankett nicht wie die meisten
Bankette damit enden, dass die Teilnehmer am Ende
einander über die Tische hinweg mit Essen bewerfen?
Zweifellos würde es so kommen, aber wenn das Es-
senwerfen begann, würden sie und Peter sich schon
längst zurückgezogen haben. Was Sasha störte, das war
eben genau die Frage: »Wen kümmert es?« Ihrer Meinung
nach war dies eine der schlimmsten Einstellungen,
die man einem kleinen Jungen beibringen konnte, der
König werden sollte.
Daher erzog Sasha Peter sehr sorgfältig, und sie beobachtete
ihn in der Nacht des Banketts genau. und später,
als er schläfrig in seinem Bettchen lag, redete sie mit ihm.
Weil sie eine gute Mutter war, lobte sie ihn zuerst liebevoll
wegen seines guten Benehmens und seiner Manieren
- und das zu Recht, denn sie waren größtenteils
tadellos gewesen. Aber sie wusste, niemand würde ihn
verbessern, wenn er etwas falsch machte, wenn nicht
sie selbst es tat, und sie wusste, sie musste es jetzt tun,
in den wenigen Jahren, in denen er sie anbetete. Daher
sagte sie, nachdem sie ihn gelobt hatte:
»Aber etwas hast du falsch gemacht, Peter, und ich
möchte nicht, dass du es noch einmal tust.«
Peter lag in seinem Bett, und seine dunkelblauen Augen
sahen sie ernst an. »Was war das, Mutter?«
»Du hast deine Serviette nicht benutzt«, sagte sie. »Du
hast sie zusammengelegt neben deinem Teller liegen lassen,
und es stimmte mich traurig, das zu sehen. Das
Brathähnchen hast du mit den Fingern gegessen, und
das war richtig, denn das ist die Art, wie Männer es essen.
Aber als du das Hähnchen wieder weggelegt hast,
hast du dir die Hände an deinem Hemd abgewischt, und
das ist nicht richtig.«
»Aber Vater ... und Mr. Flagg ... und die anderen edlen
Herren ...«
»Zum Teufel mit Flagg und den anderen edlen Herren
von Delain«, sagte sie mit solcher Heftigkeit, dass Peter
in seinem Bettchen ein wenig zusammenzuckte. Er hatte
Angst und schämte sich, weil er die Rosen in ihren
Wangen zum Erblühen gebracht hatte. »Was dein Vater
tut, das ist richtig, denn er ist der König, und auch was
du als König tust, wird immer richtig sein. Aber Flagg
ist nicht König, wie sehr er es sich auch wünschen mag,
und die Edelmänner sind nicht Könige, und du bist auch
noch nicht König, sondern lediglich ein kleiner Junge,
der seine Manieren vergessen hat.«
Sie sah, dass er Angst hatte, und sie lächelte und legte
ihm die Hand auf die Stirn.
»Sei ruhig, Peter«, sagte sie. »Es ist nur eine Kleinigkeit,
aber dennoch ist sie wichtig - denn dereinst wirst
du König sein. und nun geh und hole deine Tafel.«
»Aber es ist Schlafenszeit ...«
»Vergiss die Schlafenszeit. Der Schlaf kann warten.
Bring die Tafel.«
Peter lief, um seine Schiefertafel zu holen.
Sasha nahm die mit einem Faden daran befestigte
Kreide und schrieb sorgfältig drei Buchstaben darauf.
»Kannst du dieses Wort lesen, Peter?«
Peter nickte. Er konnte nur wenige Worte lesen, wenngleich
er fast alle Großbuchstaben kannte. Dies war eines
der Wörter, die er kannte. »Da steht GOD.«*
»Ja, das ist richtig. und nun schreib das rückwärts
und sieh, was dabei herauskommt.«
»Rückwärts?«, sagte Peter zweifelnd.
»Ganz recht.«
Peter gehorchte und malte kindlich verwackelte Buch
* Gott
Überarbeitete, erstmals vollständige Taschenbuchausgabe 03/2011
copyright © 1987 by Stephen King
copyright © 1987, 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Neubearbeitung: christina Brombach
Redaktion: Momo Evers
umschlaggestaltung und Konzeption: Hauptmann und Kompanie
Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung einer Illustration
von © Anja Filler
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-453-43575-9
www.heyne.de
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Autoren-Porträt von Stephen King
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen King
- 2011, 380 Seiten, Masse: 11,6 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Joachim Körber
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435753
- ISBN-13: 9783453435759
- Erscheinungsdatum: 04.02.2011
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