Die Analphabetin
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DieAnalphabetin von Agota Kristof
LESEPROBE
Anfänge
Ich lese. Das ist wie eine Krankheit. Ich lese alles,was mir in die Hände, vor die Augen kommt: Zeitungen, Schulbücher, Plakate, aufder Strasse gefundene Zettel, Kochrezepte, Kinderbücher. Alles, was gedrucktist. Ich bin vier Jahre alt. Der Krieg hat gerade angefangen. Wir wohnen zujener Zeit in einem kleinen Dorf, das keinen Bahnhof und weder Elektrizitätnoch fliessendes Wasser, noch Telefon hat. Mein Vater ist der einzige Lehrer desDorfes. Er unterrichtet alle Jahrgangsstufen, von der ersten bis zur sechsten.Im selben Raum. Die Schule ist von unserem Haus nur durch den Pausenhofgetrennt, und ihre Fenster gehen auf den Gemüsegarten meiner Mutter. Wenn ichzum letzten Fenster des grossen Raums hinaufklettere, sehe ich die ganze Klasse,mit meinem Vater, der vorn steht und an die Tafel schreibt. Der Klassenraummeines Vaters riecht nach Kreide, Tinte, Papier, Ruhe, Schweigen, Schnee, selbstim Sommer. Die grosse Küche meiner Mutter riecht nach geschlachtetem Tier,gekochtem Fleisch, Milch, Marmelade, Brot, nasser Wäsche, Babypipi,Betriebsamkeit, Lärm, Sommerhitze, selbst im Winter. Wenn das Wetter unshindert, draussen zu spielen, wenn das Baby lauter schreit als sonst, wenn meinBruder und ich zu viel Lärm und Unfug in der Küche machen, schickt unsereMutter uns zur »Bestrafung« zu unserem Vater. Wir gehen hinaus. Mein Bruder bleibt vor dem Schuppenstehen, in dem das Brennholz gelagert wird: »Ich bleibe lieber hier. Ich hackeHolz.« »Ja. Mutter wird sich freuen.«Ich durchquere den Hof, betrete den grossen Klassenraum, bleibe an der Türstehen, blicke zu Boden. Mein Vater sagt: »Komm näher.«Ich komme näher. Ich flüstere ihm ins Ohr: »Mutter . . . Strafe . . .« »Sonst nichts ?« Er fragt »sonst nichts?«, weil es manchmal einen Zettel von meiner Mutter gibt, den ichwortlos übergeben muss, oder ich soll ein Wort sagen:»Arzt«, »dringend«, manchmal auch nur eine Zahl: 38 oder 40. Es geht immer umdas Baby, das dauernd Kinderkrankheiten hat. Ich sage zu meinem Vater: »Nein. Sonst nichts.« Ergibt mir ein Buch mit Bildern: »Setz dich.« Ich geheans Ende des Raums, dorthin, wo es hinter den Grössten immer noch freie Plätzegibt. So ziehe ich mir sehr jung, ohne es zu merken und ganz zufällig, dieunheilbare Krankheit des Lesens zu. Wenn wir die Eltern meiner Mutter besuchen,die in einem nahe gelegenen Dorf wohnen, in einem Haus mit Licht und Wasser,nimmt mich mein Grossvater an der Hand, und wir machen zusammen einen Rundgangdurch die Nachbarschaft. Grossvater holt eine Zeitung aus der grossen Tascheseines Gehrocks und sagt zu den Nachbarn: »Seht her! Hört zu!«Und zu mir: »Lies.« Und ich lese. Fliessend, fehlerlos, so schnell, wie man esverlangt. Abgesehen von diesem grossväterlichen Stolz, wird mir meineLesekrankheit eher Vorwürfe und Verachtung einbringen: »Sie tut nichts. Sieliest die ganze Zeit.« »Sie kann sonst nichts.« »Das ist die bequemste Beschäftigung, die es gibt.« »Das ist Faulheit.« Und vorallem: »Sie liest, anstatt . . .« Anstatt was ? »Esgibt so viel Nützlicheres, nicht wahr ?« Noch jetzt,wenn das Haus sich morgens leert und alle meine Nachbarn zur Arbeit gehen, habeich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich mich an denKüchentisch setze, um stundenlang Zeitung zu lesen, anstatt . . . zu putzenoder das Geschirr von gestern abend zu spülen,einzukaufen, die Wäsche zu waschen und zu bügeln, Marmelade zu kochen oderKuchen zu backen . . . Und vor allem, vor allem! Anstatt zu schreiben.
© Piper Verlag
Übersetzung: Andrea Spingler
- Autor: Agota Kristof
- 2010, 7. Aufl., 80 Seiten, Masse: 11,7 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Andrea Spingler
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492249027
- ISBN-13: 9783492249027
- Erscheinungsdatum: 01.07.2007
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