Die Alpenwanderer
Forscher, Schwärmer, Visionäre. Grosse Fussreisen durch das Gebirge. Eine Wiederentdeckung
Es waren allesamt gebildete Männer des 19. Jahrhunderts - Heinrich Noé, Ludwig Steub, Joseph Kyselak oder Hans Conrad Escher von der Linth -, die zu Fuss aufgebrochen sind, um die touristisch gerade erwachende Alpenregion zu erkunden. Sie waren keine...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Alpenwanderer “
Klappentext zu „Die Alpenwanderer “
Es waren allesamt gebildete Männer des 19. Jahrhunderts - Heinrich Noé, Ludwig Steub, Joseph Kyselak oder Hans Conrad Escher von der Linth -, die zu Fuss aufgebrochen sind, um die touristisch gerade erwachende Alpenregion zu erkunden. Sie waren keine Gipfelstürmer! Nicht die alpinistische Tat reizte sie. Sie kamen als Forscher, waren Sonderlinge, Visionäre. Ihr Augenmerk galt den Talschaften und jener Halbhöhe, wo die Zivilisation noch hinreicht, aber an ihre Grenzen gerät. Sie beobachteten das Leben in den Bergen mit scharfem Verstand und beschrieben es genau. Ihre Reiseerzählungen, teils voll bissiger Ironie, teils hingerissen von romantischem Empfinden, wurden von den Städtern verschlungen, ihre Bücher zu "Bestsellern". Stefan König hat sich auf die Spuren dieser frühen Alpenwanderer begeben. In ebenso spannenden wie amüsanten literarischen Porträts zeichnet er die Lebens- und Reisewege dieser aussergewöhnlichen Menschen nach. Seine kurzweiligen Schilderungen lassen uns die Alpen lange vor der Zeit des Massentourismus entdecken und faszinierenden Persönlichkeiten begegnen, die das Gehen im Gebirge geformt und verändert hat. Nicht zuletzt macht das Lesen ungeheure Lust, selbst wieder die Wanderschuhe zu schnüren und aufzubrechen, um die Welt und sich selbst mit anderen Augen zu sehen."Stefan König erzählt in seinem Buch nicht von Gipfelstürmern, sondern von Bildungsbürgern, die den Zeitgenossen ihre Eindrücke vom Rande der Zivilisation schildern. Sehr kurzweilig!"TZ 2009"Stefan König gebührt das Verdienst, mit diesem Buch das Interesse für das Gehen wieder zu stärken und vor allem, uns die Erlebnisfähigkeit und die Sicht grosser Alpenreisender nahe zu bringen. Ein beachtenswertes Buch, das in keiner Bibliothek mit alpinen Büchern fehlen sollte!"Bücherrundschau 3/2009
Lese-Probe zu „Die Alpenwanderer “
Die Alpenwanderer von Stefan KönigAbenteurer mit Gänsehaut
Lange war das Gebirge wild und gefahrvoll.
Dann kamen die Alpenwanderer – und machten es salonfähig
Natürlich waren sie Sonderlinge! Schwärmer, Abenteurer, Idealisten und Fantasten. Und natürlich waren sie Romantiker! Menschen, die dem urbanen Leben zumindest zeitweise entflohen und im Motto „Zurück zur Natur“ ihr Glück suchten, es aber bei weitem nicht immer fanden.
Die Rede ist von Leuten wie Ludwig Steub, Heinrich Noë, Joseph Kyselak und von noch einigen anderen mehr. Zu Zeiten des aufkeimenden Alpentourismus machten sie sich auf die – zumeist noch wenig begangenen – Wege durch die Bergtäler und über die Alpenpässe. Sie sahen sich nicht als Bergsteiger, nicht als Gipfelstürmer, wenngleich ihre erlebnisreichen Reisen in dieselbe Zeit fielen wie die große Erschließungswelle in den Alpen.
Als beispielsweise 1865 das Matterhorn als einer der letzten herausragenden Berge der Alpen erstmals bestiegen wurde, da brachte Noë seine Schilderungen der bayerischen und österreichischen Gebirgslandschaften, der dort lebenden Menschen und ihrer Kulturen, in Buchform heraus – und es gelang ihm damit etwas, das man heutzutage als Bestseller bezeichnen würde.
Doch Noë wie den anderen ging es nicht um „Eroberung“, nicht um „sportliches Tun“. Auch waren ihnen die Alpen nicht „The Playground of Europe“, wie der bedeutende Alpinist Leslie Stephen sie 1871 bezeichnet hat. Sie sahen das Erhabene des Hochgebirges, verschlossen sich nicht gegenüber den kühnen Formen der Felsengebirge, sie spürten die bergsteigerischen Herausforderungen – nahmen sie aber nicht an. Ihnen ging es nicht ums Spektakuläre, nicht um die Sensationen. Oder, vielleicht besser gesagt, sie waren genaue Beobachter, und
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als solche entdeckten sie das Spektakuläre auch und vor allem in den kleinen Dingen.
„Nun wollte ich aber auch einmal für mein engeres Vaterland eine literarische Tat vollbringen. Seit zwanzig Jahren war ich jeden Sommer auf ein paar Wochen ins bayrische Gebirge gegangen und hatte da allerlei Wanderschaftliches geschrieben …“, erzählt Ludwig Steub in seiner Autobiografie von 1883.
Diese Alpenwanderer, die sich bevorzugt in den noch zivilisationsnahen Höhen bewegten, beschrieben Täler und Orte, sie berichteten vom Leben in der Region, von den Eigenheiten des jeweils dort anzutreffenden Menschenschlages, sie überlieferten ganz beiläufig allerhand Volkskundliches – und sie schauten, salopp gesagt, den Menschen „aufs Maul“.
Jeder der hier vorgestellten Alpenwanderer hat dabei seinen eigenen Stil entwickelt. Beim Lesen der alten Aufzeichnungen glaubt man zu spüren, dass auch ein jeder einen eigenen Rhythmus des Gehens gefunden hat, der sich im Rhythmus des Erzählens widerspiegelt. Denn das verbindet die hier Vorgestellten: Sie haben sich alle dem Gehen verschrieben, dem Unterwegssein zu Fuß, also auf die dem Menschen gemäßeste Art der Fortbewegung. Sie sind vielleicht nicht immer und nicht ausschließlich auf Schusters Rappen gereist, aber doch mit einer unverhohlenen Vorliebe für den eigenen Gang. Fast möchte man meinen, dass ihre Schilderungen umso eindringlicher geworden sind, je langsamer sie sich fortbewegt haben.
Leute wie Kyselak und Noë haben das Gehen nicht neu erfunden. Aber sie haben es gleichsam salonfähig gemacht. Ein Paradoxon: Sie, die Sonderlinge, haben den Beweis erbracht, dass man kein Sonderling sein muss, um Tage und Wochen durch eine oft noch schwer zugängliche, sich erst allmählich öffnende Welt zu wandern.
Auch Goethe war gegangen. Natürlich weiß man mehr von seinen Kutschfahrten, durch Italien, durch die Schweiz, aber er ist auch viel gegangen. Ist auf Berge und Pässe hinaufgewandert und hat tief Empfundenes und analytisch Beobachtetes für die Nachwelt festgehalten: „Ich bin in die Türe getreten, ich habe dem Wesen der Wolken eine Weile zugesehen, das über alle Beschreibung schön ist. Eigentlich ist es noch nicht Nacht, aber sie verhüllen abwechselnd den Himmel und machen dunkel. Aus den tiefen Felsschluchten steigen sie herauf, bis sie an die höchsten Gipfel der Berge reichen. Von diesen angezogen, scheinen sie sich zu verdicken und von der Kälte gepackt in Gestalt des Schnees niederzufallen. Es ist eine unaussprechliche Einsamkeit hier oben …“ (Schweizreise 1979).
Oder Heinrich Heine. Als begnadetes und gnadenloses Lästermaul war er 1828 von München nach Genua gereist. In seinen „Reisebilder(n)“ wirft er auch manch sarkastischen Blick auf Tirol – allerdings meist aus dem Feuteuil der Kutsche: „Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können …“
Nicht zu vergessen Johann Gottfried Seume, der durchaus als „Urvater“ des modernen Fußwanderns angesehen werden darf. Im Dezember 1801 brach er im sächsischen Grimma zu seinem „Spaziergang nach Syrakus“ auf. Er wanderte über Prag, Wien, Triest und Rom nach Neapel und bestieg dort ein Schiff nach Sizilien. Der Rückweg führte ihn nach Florenz und Mailand und dann auch noch über die Alpen, die ja in diesem Buch im Blickpunkt stehen sollen:
„Mein größter Genuss waren überall die Alpenquellen, vor denen ich selten vorbei ging ohne zu ruhen und zu trinken, wenn auch beides eben nicht nötig war, und in den Schluchten um mich her zu blicken, und vorwärts und rückwärts die Gegenstände festzuhalten. Jetzt schmolz eben der Schnee auf den Höhen der Berge, und oft hatte ich vier bis sechs Wasserfälle vor den Augen, die sich von den nackten Häuptern der Alpen in hundert Brechungen herabstürzten …“
Ob diese Herren nun zu Fuß gegangen sind, wie Seume, bisweilen zum Erwandern der Berge das Gefährt verließen, wie Goethe, oder ob sie, wie Heine, nur den Kopf in den staubigen Fahrtwind hielten – alle eint die Faszination von Jean-Jacques Rousseaus philosophischem Ansatz „Zurück zur Natur“. Er, der sein Leben lang wandernd Getriebene, pries die Vorzüge der Langsamkeit unter anderem im Buch „Emile. Oder über die Erziehung“:
„Wir sperren uns nicht gegen die freie Luft ab, noch berauben wir uns des Anblicks der uns umringenden Gegenstände, noch lassen wir uns um die Gelegenheit bringen, sie nach Herzenslust und so oft es uns gefällt in Augenschein zu nehmen. Emile wird seinen Fuß nie in einen Postwagen setzen …“
Gleichwohl, die hier genannten Dichter, Denker und Wanderer sind noch die Vorhut jener Alpenwanderer, von denen hier berichtet sein soll. Sie waren mit ihrem Tun und ihrem Darüberberichten gleichsam die Türöffner in die alpine Welt. Eine Welt, die über Jahrhunderte vor allem auch als gefährlich, als feindselig galt, und deren Phänomene durch Sagen erklärt werden mussten.
Die Natur des Hochgebirges war bedrohlich. Wer über die Alpen musste, setzte sich erheblichen Gefahren aus. Nicht wenige dieser Alpenreisenden kamen zu Tode, wurden Opfer von Lawinen, Steinschlägen, Raubüberfällen oder sie starben an Erschöpfung.
Es bedarf der Einschaltung der Fantasie, um sich auch nur annähernd vorstellen zu können, welche Beschwernisse und Nöte mit dem Reisen in alpinen Regionen einstmals verbunden waren. Die Flüsse und Bäche waren nicht gebändigt. Wo heute beispielsweise der Südtiroler Eisack reguliert neben Autobahn, Landstraße und Eisenbahnlinie verläuft, wütete einst ein reißender Wildbach, der, insbesondere zu Zeiten der Schneeschmelze oder nach heftigen Unwettern, enorme Zerstörungen verursacht hat. Alpenübergänge wie etwa der knapp 1800 Meter hohe Arlbergpass bargen immer die besonderen Gefahren von Wetterumsturz und Erschöpfung. Der Aufstieg zu einem Pass war lang, kraftraubend und für die Reisenden – Händler, Handwerker, Geistliche, Boten, Militär – zumeist ein Vorstoß in ungewohnte Höhen und Gefilde. Selbst bei guten Wetterbedingungen stieß manch einer an seine äußersten Belastungsgrenzen. Dann aber erst, wenn es zu einer Wetterverschlechterung kam! Was das bedeutet, weiß heutzutage ziemlich jeder. Damals aber war es für viele ein Schock. Binnen einer Stunde konnte die Temperatur um zwanzig Grad fallen und der einsetzende Regen verwandelte sich in Schnee und Eis. Es gab keine Regenbekleidung und lange Zeit auch keine Notunterkünfte. Wer hier nicht über eine besondere Konstitution verfügte, starb am Wegrand. Und so erging es vielen.
Und noch eine Gefahr für Leib und Leben war im gesamten Alpenraum bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitet: Räuber nutzten die Engstellen der Reiserouten als ideale Fallen für Postkutschen, Berittene und Fußwanderer. So ist beispielsweise bei Hans Conrad Escher von der Linth in den „Bemerkungen eines schweizerischen Wanderers über einige der weniger bekannten Gegenden der Alpen“ (1798) das Folgende nachzulesen:
„Dieser einsame waldige Bergrücken ist durch die häufigen Straßenräubereyen bekannt, welche hier begangen werden. Zur Abschreckung der Räuber, aber wahrscheinlich auch nicht zur Beruhigung der Wanderer, sind die Schädel von allen hingerichteten Räubern längst der Straße an den Stellen aufgesteckt, wo sie ihre Gewalttaten ausübten …“
Als Seume, Goethe, Heine reisten, waren einige Gefahren bereits eingedämmt, wenngleich natürlich nicht beseitigt. Es gab bereits befestigte Straßen, auf die Reisenden eingestellte Posthaltereien, Hospize auf den Alpenpässen, Gendarmerieposten, die den Räuberbanden das Leben schwerer machten. Und es gab zunehmend auch Erfahrungswerte, zu welchen Zeiten welche Wege besonders betroffen waren von den objektiven, den von der Natur ausgehenden Gefahren. Und dennoch blieb eine Alpenreise eine Unternehmung mit vielen Unwägbarkeiten. Und niemand hätte damals ahnen können, dass nur mehr wenige Jahrzehnte vergehen mussten, ehe ein Phänomen seinen unübersehbaren Anfang nahm; ein Phänomen, das die Alpenwanderer mit ihren Berichten noch sehnsuchtsvoll herbei erzählten und das diejenigen, die ihren Berichten folgten, bald schon einholen sollte – oder um es mit Goethe zu sagen: „Die ich rief, die Geister, / Werd ich nun nicht los.“
Die Rede ist vom Tourismus.
Die große Zeit der frühen Alpenwanderer fällt also zusammen mit einer großen Erschließungswelle der Alpen.
Der sogenannte „frühe Alpinismus“ geht über in die „goldene Zeit des Alpinismus“ – expeditionsartige Unternehmungen wie etwa bei der Erstbesteigung des Montblanc im Jahr 1786, des Großglockners im Jahr 1799 oder des Großvenedigers (1841) wandeln sich hin zu einem Bergsteigen mit sportlicher Note. 1865 wird das Matterhorn als letzter noch unerstiegener Hauptgipfel der Alpen gemeistert – allerdings mit katastrophalem Nachspiel: Beim Abstieg kommen vier der sieben Alpinisten ums Leben. Dann beginnt die Nacherschließung: Zahlreiche Berge der „zweiten Kategorie“, so zum Beispiel viele Felstürme in den Dolomiten, werden erstmals bestiegen, andere, „bedeutendere“ Berge auf neuen, oftmals schwierigeren Routen.
Es tun sich ganz wesentlich britische Abenteurer bei diesen Unterfangen hervor; zumeist Leute von Stand, bestens situiert, mit ihren Abenteuern die Langeweile des Landlordlebens kompensierend.
Das Führerwesen erlebt eine große Blüte – waren es zunächst vor allem Hirten und Jäger, die ihre alpinen Ortskenntnisse nutzbar machten, so entstand in bedeutenden Alpenorten wie Zermatt, Chamonix oder Heiligenblut und in den Tälern der Dolomiten eine rege Bergführertätigkeit. Und etwas, was den zukünftigen Alpentourismus ganz besonders nähren wird: In London (1857), Wien (1862), in Turin (1867) und München (1869) werden Alpenclubs und Alpenvereine gegründet, mit der unmittelbaren Folge, dass Publikationen herausgegeben werden und mit dem Bau von Bergsteigerunterkünften (Alpenvereinshütten) begonnen wird.
Diese kleine Aufstellung soll veranschaulichen, wie das Gebirge im 19. Jahrhundert mehr und mehr in den Blickpunkt geriet. Es verlor seine Abgeschiedenheit. Die Bergsteiger durchstreiften jede Region auf der Suche nach lohnenden Zielen. Die abgelegenen Täler wurden verkehrstechnisch erschlossen, und das Leben der Menschen, das über Jahrhunderte kaum Veränderungen erfahren hatte, änderte sich nun in kurzer Zeit.
Die Eisenbahnlinien machten das Gebirge erreichbar, auch für Menschen, die bis dahin weder über genug finanzielle Mittel noch über hinreichend Freizeit verfügt hatten, um sich in langwierigen und kostspieligen Anreisen dorthin zu begeben. Die Alpen kamen in Mode. Die Sommerfrische war en vogue bei jenen, die es sich leisten konnten. Der Winteraufenthalt in alpiner Region kam als Nächstes.
Und die Alpenwanderer? Sie machten sich auf einer gleichsam immer klarer gezeichneten Landkarte auf ihre Wege, und sie traten etwas los, was über ihr Leben hinaus immer stärkere Wirkkraft erzielen sollte. Aus dem Reisen in der Kutsche, hoch zu Ross oder dann in der Eisenbahn durfte nun ein Wandern zu Fuß werden – nicht aus Not oder Mangel, sondern aus purer Lust.
Doch eines muss noch gesagt werden: Wenn auch die Gefahren beim Zufußgehen in den talnahen Gebirgsregionen mit zunehmendem technischen und sozialen Fortschritt abnahmen, so dauerte es doch noch eine Weile, bis der „verkehrsmittellose“ Wanderer gesellschaftlich Anerkennung fand.
Allerdings war bereits im Mai 1800 im „Journal des Luxus und der Moden“ eine flammende Philippika gegen die Vorurteile gegenüber den Wandersleuten zu lesen. Demnach war die Zeit vorbei, da man Fußreisende ungestraft als Landstreicher, Pickelheringe oder Seiltänzer bezeichnen oder ihnen gar die Übernachtung im Wirtshause verweigern durfte. Des Weiteren wurde in dem Artikel allen Interessierten eine „zweckmäßige Uniform für Fußreisende“ empfohlen – bestehend aus Lederhut, Umhängetasche, Terzerol, Habersack, guten wollenen Strümpfen sowie einem Rohrstock mit inwendigem Besteck und Tabakspfeife „gegen die Dünste in Bauernhäusern“…
Somit wäre das zeitliche und gesellschaftliche Umfeld angerissen. Die Alpenwanderer des 19. Jahrhunderts waren immer auch Abenteurer, im Vergleich zu den Alpinisten freilich waren sie „Abenteurer mit Gänsehaut“. Sie waren Pioniere des Bergtourismus – und doch wären sie es nicht geworden, wenn die touristische Erschließung nicht schon ein gutes Stück weit vorangebracht gewesen wäre. Sie waren, in aller Regel, Einzelgänger und Einsamkeitsfanatiker – und doch beraubten sie, wenngleich unabsichtlich oder aber in bester Absicht, mit ihren Veröffentlichungen die erwanderten Bergregionen ihrer ursprünglichen Einsamkeit. Sie waren letztlich Wegbereiter für Millionen von Menschen, die wandernd durch alle Alpenregionen ziehen – viele von ihnen mit der nötigen Sensibilität, viele aber auch, ohne zu wissen, was sie da eigentlich tun und wo sie eigentlich sind.
Es ist an der Zeit, sich auf die Spuren dieser Alpenwanderer zu setzen. Sie waren alle Kinder ihrer Zeit, die meisten geprägt noch vom Biedermeier, und sie waren dabei schwelgerische Romantiker, deren Beobachtungsgabe jedoch scharfsichtig und deren Erzählstile durchaus sarkastisch sein konnten. Sie waren zu Lebzeiten mehr oder minder berühmt, manch einer wurde posthum legendär, aber schließlich gerieten sie alle ziemlich in Vergessenheit. Was schade ist. Und deshalb soll hier in einer Mischung aus Dokumentation und poetischer Rückschau an sie erinnert werden – und an Zeiten, da das Unterwegssein im Gebirge noch so vonstatten ging, wie wir es uns heute oft wünschen würden.
So ist dieses Buch auch eine Einladung, lesend oder wirklich wandernd die alpinen Landschaften aus halber Höhe zwischen Tälern und Gipfeln wieder neu zu entdecken. Eigentlich müsste es heißen „alt zu entdecken“ – denn betrachtet werden sollen Landschaften und Leute aus den Lebens- und Wanderwegen dieser Alpenwanderer heraus, gleichsam mit deren Augen.
Also, machen wir uns auf den Weg. Jeder Weg ist der richtige.
Literatur:
Max Mittler: Pässe, Brücken, Pilgerpfade. Historische Verkehrswege der Schweiz. Zürich 1988
Jochen Klauß: Goethe unterwegs. Veröffentlichungen der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Weimar 1989
Die großen Alpenpässe. Reiseberichte aus den Jahrhunderten. München 1967
Franziska Lobenhofer-Hirschbold / Ariane Weidlich: Ziemer zu Vermithen. Von Berchtesgaden bis Zillertal. Aspekte der touristischen Erschließung von 1850–1960. Freilichtmuseum des Bezirks Oberbayern. Großweil 1999
Jost Perfahl: Kleine Chronik des Alpinismus. Rosenheim 1984
Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus. Braunschweig und Leipzig 1805
Heinrich Heine: Reisebilder. Hamburg 1826
Was wann geschah: Ein kleiner zeitlicher Überblick
1843 entsteht am Dachsteingipfel der erste mit Eisenstiften und Drahtseilen gesicherte hochalpine Weg in den Ostalpen.
1854 wird die Semmeringbahn bei Wien eröffnet, und sie wird zum Vorbild für Gebirgsbahnen in der ganzen Welt.
1857 erfolgt in London die Gründung des „Alpine Club“, des ersten Bergsteigervereins der Welt.
1862 bis 1870: Der Wiener Paul Grohmann tut sich zusammen mit einheimischen Führern durch zahlreiche Erstbesteigungen bei der alpinistischen Erschließung der Dolomiten hervor.
1863 wird am Schweizer Tödi die erste Alpenvereinshütte (Grünhornhütte auf 2450 Meter Höhe) errichtet.
1863 erscheint der erste Hochtouristenführer unter dem Titel „Alpine Guide“.
1865 wird das Matterhorn erstbestiegen. In Zermatt wird diese Erstbesteigung gefördert, um damit mehr Gäste anzulocken. Der tödliche Absturz von vier Bergsteigern wird zunächst als Desaster für den aufkeimenden Tourismus gewertet.
1865 erscheint erstmals das Jahrbuch des Österreichischen Alpenvereins.
1871 nimmt am Vierwaldstättersee die Rigi-Bahn, die erste Zahnradbahn Europas, den Betrieb auf.
1877 wird in Turin das Museum des Centro Alpinistico Italiano eröffnet.
1884 wird die Arlbergbahn (mit 10 km langer Tunnelstrecke zwischen St. Anton und Langen) eröffnet.
1890 unternimmt der Gestütsverwalter von Schwaiganger in Oberbayern eine Skitour auf den 1790 Meter hohen Heimgarten. Diese Tour kann als der Beginn des Ski-Alpinismus bezeichnet werden.
1900 Einweihung der Meteorologischen Station auf der Zugspitze.
1901 erscheint in München erstmals die „Deutsche Alpenzeitung“, die zur wichtigsten deutschsprachigen Alpinzeitschrift avanciert.
1901 wird am Matterhorn der vermutlich erste Bergfilm gedreht.
© Tyrolia Verlag
„Nun wollte ich aber auch einmal für mein engeres Vaterland eine literarische Tat vollbringen. Seit zwanzig Jahren war ich jeden Sommer auf ein paar Wochen ins bayrische Gebirge gegangen und hatte da allerlei Wanderschaftliches geschrieben …“, erzählt Ludwig Steub in seiner Autobiografie von 1883.
Diese Alpenwanderer, die sich bevorzugt in den noch zivilisationsnahen Höhen bewegten, beschrieben Täler und Orte, sie berichteten vom Leben in der Region, von den Eigenheiten des jeweils dort anzutreffenden Menschenschlages, sie überlieferten ganz beiläufig allerhand Volkskundliches – und sie schauten, salopp gesagt, den Menschen „aufs Maul“.
Jeder der hier vorgestellten Alpenwanderer hat dabei seinen eigenen Stil entwickelt. Beim Lesen der alten Aufzeichnungen glaubt man zu spüren, dass auch ein jeder einen eigenen Rhythmus des Gehens gefunden hat, der sich im Rhythmus des Erzählens widerspiegelt. Denn das verbindet die hier Vorgestellten: Sie haben sich alle dem Gehen verschrieben, dem Unterwegssein zu Fuß, also auf die dem Menschen gemäßeste Art der Fortbewegung. Sie sind vielleicht nicht immer und nicht ausschließlich auf Schusters Rappen gereist, aber doch mit einer unverhohlenen Vorliebe für den eigenen Gang. Fast möchte man meinen, dass ihre Schilderungen umso eindringlicher geworden sind, je langsamer sie sich fortbewegt haben.
Leute wie Kyselak und Noë haben das Gehen nicht neu erfunden. Aber sie haben es gleichsam salonfähig gemacht. Ein Paradoxon: Sie, die Sonderlinge, haben den Beweis erbracht, dass man kein Sonderling sein muss, um Tage und Wochen durch eine oft noch schwer zugängliche, sich erst allmählich öffnende Welt zu wandern.
Auch Goethe war gegangen. Natürlich weiß man mehr von seinen Kutschfahrten, durch Italien, durch die Schweiz, aber er ist auch viel gegangen. Ist auf Berge und Pässe hinaufgewandert und hat tief Empfundenes und analytisch Beobachtetes für die Nachwelt festgehalten: „Ich bin in die Türe getreten, ich habe dem Wesen der Wolken eine Weile zugesehen, das über alle Beschreibung schön ist. Eigentlich ist es noch nicht Nacht, aber sie verhüllen abwechselnd den Himmel und machen dunkel. Aus den tiefen Felsschluchten steigen sie herauf, bis sie an die höchsten Gipfel der Berge reichen. Von diesen angezogen, scheinen sie sich zu verdicken und von der Kälte gepackt in Gestalt des Schnees niederzufallen. Es ist eine unaussprechliche Einsamkeit hier oben …“ (Schweizreise 1979).
Oder Heinrich Heine. Als begnadetes und gnadenloses Lästermaul war er 1828 von München nach Genua gereist. In seinen „Reisebilder(n)“ wirft er auch manch sarkastischen Blick auf Tirol – allerdings meist aus dem Feuteuil der Kutsche: „Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können …“
Nicht zu vergessen Johann Gottfried Seume, der durchaus als „Urvater“ des modernen Fußwanderns angesehen werden darf. Im Dezember 1801 brach er im sächsischen Grimma zu seinem „Spaziergang nach Syrakus“ auf. Er wanderte über Prag, Wien, Triest und Rom nach Neapel und bestieg dort ein Schiff nach Sizilien. Der Rückweg führte ihn nach Florenz und Mailand und dann auch noch über die Alpen, die ja in diesem Buch im Blickpunkt stehen sollen:
„Mein größter Genuss waren überall die Alpenquellen, vor denen ich selten vorbei ging ohne zu ruhen und zu trinken, wenn auch beides eben nicht nötig war, und in den Schluchten um mich her zu blicken, und vorwärts und rückwärts die Gegenstände festzuhalten. Jetzt schmolz eben der Schnee auf den Höhen der Berge, und oft hatte ich vier bis sechs Wasserfälle vor den Augen, die sich von den nackten Häuptern der Alpen in hundert Brechungen herabstürzten …“
Ob diese Herren nun zu Fuß gegangen sind, wie Seume, bisweilen zum Erwandern der Berge das Gefährt verließen, wie Goethe, oder ob sie, wie Heine, nur den Kopf in den staubigen Fahrtwind hielten – alle eint die Faszination von Jean-Jacques Rousseaus philosophischem Ansatz „Zurück zur Natur“. Er, der sein Leben lang wandernd Getriebene, pries die Vorzüge der Langsamkeit unter anderem im Buch „Emile. Oder über die Erziehung“:
„Wir sperren uns nicht gegen die freie Luft ab, noch berauben wir uns des Anblicks der uns umringenden Gegenstände, noch lassen wir uns um die Gelegenheit bringen, sie nach Herzenslust und so oft es uns gefällt in Augenschein zu nehmen. Emile wird seinen Fuß nie in einen Postwagen setzen …“
Gleichwohl, die hier genannten Dichter, Denker und Wanderer sind noch die Vorhut jener Alpenwanderer, von denen hier berichtet sein soll. Sie waren mit ihrem Tun und ihrem Darüberberichten gleichsam die Türöffner in die alpine Welt. Eine Welt, die über Jahrhunderte vor allem auch als gefährlich, als feindselig galt, und deren Phänomene durch Sagen erklärt werden mussten.
Die Natur des Hochgebirges war bedrohlich. Wer über die Alpen musste, setzte sich erheblichen Gefahren aus. Nicht wenige dieser Alpenreisenden kamen zu Tode, wurden Opfer von Lawinen, Steinschlägen, Raubüberfällen oder sie starben an Erschöpfung.
Es bedarf der Einschaltung der Fantasie, um sich auch nur annähernd vorstellen zu können, welche Beschwernisse und Nöte mit dem Reisen in alpinen Regionen einstmals verbunden waren. Die Flüsse und Bäche waren nicht gebändigt. Wo heute beispielsweise der Südtiroler Eisack reguliert neben Autobahn, Landstraße und Eisenbahnlinie verläuft, wütete einst ein reißender Wildbach, der, insbesondere zu Zeiten der Schneeschmelze oder nach heftigen Unwettern, enorme Zerstörungen verursacht hat. Alpenübergänge wie etwa der knapp 1800 Meter hohe Arlbergpass bargen immer die besonderen Gefahren von Wetterumsturz und Erschöpfung. Der Aufstieg zu einem Pass war lang, kraftraubend und für die Reisenden – Händler, Handwerker, Geistliche, Boten, Militär – zumeist ein Vorstoß in ungewohnte Höhen und Gefilde. Selbst bei guten Wetterbedingungen stieß manch einer an seine äußersten Belastungsgrenzen. Dann aber erst, wenn es zu einer Wetterverschlechterung kam! Was das bedeutet, weiß heutzutage ziemlich jeder. Damals aber war es für viele ein Schock. Binnen einer Stunde konnte die Temperatur um zwanzig Grad fallen und der einsetzende Regen verwandelte sich in Schnee und Eis. Es gab keine Regenbekleidung und lange Zeit auch keine Notunterkünfte. Wer hier nicht über eine besondere Konstitution verfügte, starb am Wegrand. Und so erging es vielen.
Und noch eine Gefahr für Leib und Leben war im gesamten Alpenraum bis ins 19. Jahrhundert weit verbreitet: Räuber nutzten die Engstellen der Reiserouten als ideale Fallen für Postkutschen, Berittene und Fußwanderer. So ist beispielsweise bei Hans Conrad Escher von der Linth in den „Bemerkungen eines schweizerischen Wanderers über einige der weniger bekannten Gegenden der Alpen“ (1798) das Folgende nachzulesen:
„Dieser einsame waldige Bergrücken ist durch die häufigen Straßenräubereyen bekannt, welche hier begangen werden. Zur Abschreckung der Räuber, aber wahrscheinlich auch nicht zur Beruhigung der Wanderer, sind die Schädel von allen hingerichteten Räubern längst der Straße an den Stellen aufgesteckt, wo sie ihre Gewalttaten ausübten …“
Als Seume, Goethe, Heine reisten, waren einige Gefahren bereits eingedämmt, wenngleich natürlich nicht beseitigt. Es gab bereits befestigte Straßen, auf die Reisenden eingestellte Posthaltereien, Hospize auf den Alpenpässen, Gendarmerieposten, die den Räuberbanden das Leben schwerer machten. Und es gab zunehmend auch Erfahrungswerte, zu welchen Zeiten welche Wege besonders betroffen waren von den objektiven, den von der Natur ausgehenden Gefahren. Und dennoch blieb eine Alpenreise eine Unternehmung mit vielen Unwägbarkeiten. Und niemand hätte damals ahnen können, dass nur mehr wenige Jahrzehnte vergehen mussten, ehe ein Phänomen seinen unübersehbaren Anfang nahm; ein Phänomen, das die Alpenwanderer mit ihren Berichten noch sehnsuchtsvoll herbei erzählten und das diejenigen, die ihren Berichten folgten, bald schon einholen sollte – oder um es mit Goethe zu sagen: „Die ich rief, die Geister, / Werd ich nun nicht los.“
Die Rede ist vom Tourismus.
Die große Zeit der frühen Alpenwanderer fällt also zusammen mit einer großen Erschließungswelle der Alpen.
Der sogenannte „frühe Alpinismus“ geht über in die „goldene Zeit des Alpinismus“ – expeditionsartige Unternehmungen wie etwa bei der Erstbesteigung des Montblanc im Jahr 1786, des Großglockners im Jahr 1799 oder des Großvenedigers (1841) wandeln sich hin zu einem Bergsteigen mit sportlicher Note. 1865 wird das Matterhorn als letzter noch unerstiegener Hauptgipfel der Alpen gemeistert – allerdings mit katastrophalem Nachspiel: Beim Abstieg kommen vier der sieben Alpinisten ums Leben. Dann beginnt die Nacherschließung: Zahlreiche Berge der „zweiten Kategorie“, so zum Beispiel viele Felstürme in den Dolomiten, werden erstmals bestiegen, andere, „bedeutendere“ Berge auf neuen, oftmals schwierigeren Routen.
Es tun sich ganz wesentlich britische Abenteurer bei diesen Unterfangen hervor; zumeist Leute von Stand, bestens situiert, mit ihren Abenteuern die Langeweile des Landlordlebens kompensierend.
Das Führerwesen erlebt eine große Blüte – waren es zunächst vor allem Hirten und Jäger, die ihre alpinen Ortskenntnisse nutzbar machten, so entstand in bedeutenden Alpenorten wie Zermatt, Chamonix oder Heiligenblut und in den Tälern der Dolomiten eine rege Bergführertätigkeit. Und etwas, was den zukünftigen Alpentourismus ganz besonders nähren wird: In London (1857), Wien (1862), in Turin (1867) und München (1869) werden Alpenclubs und Alpenvereine gegründet, mit der unmittelbaren Folge, dass Publikationen herausgegeben werden und mit dem Bau von Bergsteigerunterkünften (Alpenvereinshütten) begonnen wird.
Diese kleine Aufstellung soll veranschaulichen, wie das Gebirge im 19. Jahrhundert mehr und mehr in den Blickpunkt geriet. Es verlor seine Abgeschiedenheit. Die Bergsteiger durchstreiften jede Region auf der Suche nach lohnenden Zielen. Die abgelegenen Täler wurden verkehrstechnisch erschlossen, und das Leben der Menschen, das über Jahrhunderte kaum Veränderungen erfahren hatte, änderte sich nun in kurzer Zeit.
Die Eisenbahnlinien machten das Gebirge erreichbar, auch für Menschen, die bis dahin weder über genug finanzielle Mittel noch über hinreichend Freizeit verfügt hatten, um sich in langwierigen und kostspieligen Anreisen dorthin zu begeben. Die Alpen kamen in Mode. Die Sommerfrische war en vogue bei jenen, die es sich leisten konnten. Der Winteraufenthalt in alpiner Region kam als Nächstes.
Und die Alpenwanderer? Sie machten sich auf einer gleichsam immer klarer gezeichneten Landkarte auf ihre Wege, und sie traten etwas los, was über ihr Leben hinaus immer stärkere Wirkkraft erzielen sollte. Aus dem Reisen in der Kutsche, hoch zu Ross oder dann in der Eisenbahn durfte nun ein Wandern zu Fuß werden – nicht aus Not oder Mangel, sondern aus purer Lust.
Doch eines muss noch gesagt werden: Wenn auch die Gefahren beim Zufußgehen in den talnahen Gebirgsregionen mit zunehmendem technischen und sozialen Fortschritt abnahmen, so dauerte es doch noch eine Weile, bis der „verkehrsmittellose“ Wanderer gesellschaftlich Anerkennung fand.
Allerdings war bereits im Mai 1800 im „Journal des Luxus und der Moden“ eine flammende Philippika gegen die Vorurteile gegenüber den Wandersleuten zu lesen. Demnach war die Zeit vorbei, da man Fußreisende ungestraft als Landstreicher, Pickelheringe oder Seiltänzer bezeichnen oder ihnen gar die Übernachtung im Wirtshause verweigern durfte. Des Weiteren wurde in dem Artikel allen Interessierten eine „zweckmäßige Uniform für Fußreisende“ empfohlen – bestehend aus Lederhut, Umhängetasche, Terzerol, Habersack, guten wollenen Strümpfen sowie einem Rohrstock mit inwendigem Besteck und Tabakspfeife „gegen die Dünste in Bauernhäusern“…
Somit wäre das zeitliche und gesellschaftliche Umfeld angerissen. Die Alpenwanderer des 19. Jahrhunderts waren immer auch Abenteurer, im Vergleich zu den Alpinisten freilich waren sie „Abenteurer mit Gänsehaut“. Sie waren Pioniere des Bergtourismus – und doch wären sie es nicht geworden, wenn die touristische Erschließung nicht schon ein gutes Stück weit vorangebracht gewesen wäre. Sie waren, in aller Regel, Einzelgänger und Einsamkeitsfanatiker – und doch beraubten sie, wenngleich unabsichtlich oder aber in bester Absicht, mit ihren Veröffentlichungen die erwanderten Bergregionen ihrer ursprünglichen Einsamkeit. Sie waren letztlich Wegbereiter für Millionen von Menschen, die wandernd durch alle Alpenregionen ziehen – viele von ihnen mit der nötigen Sensibilität, viele aber auch, ohne zu wissen, was sie da eigentlich tun und wo sie eigentlich sind.
Es ist an der Zeit, sich auf die Spuren dieser Alpenwanderer zu setzen. Sie waren alle Kinder ihrer Zeit, die meisten geprägt noch vom Biedermeier, und sie waren dabei schwelgerische Romantiker, deren Beobachtungsgabe jedoch scharfsichtig und deren Erzählstile durchaus sarkastisch sein konnten. Sie waren zu Lebzeiten mehr oder minder berühmt, manch einer wurde posthum legendär, aber schließlich gerieten sie alle ziemlich in Vergessenheit. Was schade ist. Und deshalb soll hier in einer Mischung aus Dokumentation und poetischer Rückschau an sie erinnert werden – und an Zeiten, da das Unterwegssein im Gebirge noch so vonstatten ging, wie wir es uns heute oft wünschen würden.
So ist dieses Buch auch eine Einladung, lesend oder wirklich wandernd die alpinen Landschaften aus halber Höhe zwischen Tälern und Gipfeln wieder neu zu entdecken. Eigentlich müsste es heißen „alt zu entdecken“ – denn betrachtet werden sollen Landschaften und Leute aus den Lebens- und Wanderwegen dieser Alpenwanderer heraus, gleichsam mit deren Augen.
Also, machen wir uns auf den Weg. Jeder Weg ist der richtige.
Literatur:
Max Mittler: Pässe, Brücken, Pilgerpfade. Historische Verkehrswege der Schweiz. Zürich 1988
Jochen Klauß: Goethe unterwegs. Veröffentlichungen der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Weimar 1989
Die großen Alpenpässe. Reiseberichte aus den Jahrhunderten. München 1967
Franziska Lobenhofer-Hirschbold / Ariane Weidlich: Ziemer zu Vermithen. Von Berchtesgaden bis Zillertal. Aspekte der touristischen Erschließung von 1850–1960. Freilichtmuseum des Bezirks Oberbayern. Großweil 1999
Jost Perfahl: Kleine Chronik des Alpinismus. Rosenheim 1984
Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus. Braunschweig und Leipzig 1805
Heinrich Heine: Reisebilder. Hamburg 1826
Was wann geschah: Ein kleiner zeitlicher Überblick
1843 entsteht am Dachsteingipfel der erste mit Eisenstiften und Drahtseilen gesicherte hochalpine Weg in den Ostalpen.
1854 wird die Semmeringbahn bei Wien eröffnet, und sie wird zum Vorbild für Gebirgsbahnen in der ganzen Welt.
1857 erfolgt in London die Gründung des „Alpine Club“, des ersten Bergsteigervereins der Welt.
1862 bis 1870: Der Wiener Paul Grohmann tut sich zusammen mit einheimischen Führern durch zahlreiche Erstbesteigungen bei der alpinistischen Erschließung der Dolomiten hervor.
1863 wird am Schweizer Tödi die erste Alpenvereinshütte (Grünhornhütte auf 2450 Meter Höhe) errichtet.
1863 erscheint der erste Hochtouristenführer unter dem Titel „Alpine Guide“.
1865 wird das Matterhorn erstbestiegen. In Zermatt wird diese Erstbesteigung gefördert, um damit mehr Gäste anzulocken. Der tödliche Absturz von vier Bergsteigern wird zunächst als Desaster für den aufkeimenden Tourismus gewertet.
1865 erscheint erstmals das Jahrbuch des Österreichischen Alpenvereins.
1871 nimmt am Vierwaldstättersee die Rigi-Bahn, die erste Zahnradbahn Europas, den Betrieb auf.
1877 wird in Turin das Museum des Centro Alpinistico Italiano eröffnet.
1884 wird die Arlbergbahn (mit 10 km langer Tunnelstrecke zwischen St. Anton und Langen) eröffnet.
1890 unternimmt der Gestütsverwalter von Schwaiganger in Oberbayern eine Skitour auf den 1790 Meter hohen Heimgarten. Diese Tour kann als der Beginn des Ski-Alpinismus bezeichnet werden.
1900 Einweihung der Meteorologischen Station auf der Zugspitze.
1901 erscheint in München erstmals die „Deutsche Alpenzeitung“, die zur wichtigsten deutschsprachigen Alpinzeitschrift avanciert.
1901 wird am Matterhorn der vermutlich erste Bergfilm gedreht.
© Tyrolia Verlag
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Autoren-Porträt von Stefan König
STEFAN KÖNIG, geboren 1959 in München, hat übers Bergsteigen zum Schreiben gefunden. Der ehemalige Chefredakteur des Magazins "Bergwelt" veröffentlichte zahlreiche Sachbücher und Romane, u. a. "Die Sternstunden des Alpinismus" (1991, ausgezeichnet mit dem DAV-Literaturpreis), die Trenker-Biograie "Bera Luis" (1992), die Karl-Schranz-Biografie "Mein Olympiasieg", den Himalaya-Thriller "Die Nanga-Notizen" (2006) und die Erzählung "Auf dem hohen Berg" (2008). Der Begründer und Leiter des Bergfilmfestivals "Filmfest St. Anton" lebt in Iffeldorf, am Rand der bayerischen Voralpen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stefan König
- 2009, 1., Aufl., 168 Seiten, 14 farbige Abbildungen, Masse: 16 x 23 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Tyrolia
- ISBN-10: 3702229868
- ISBN-13: 9783702229863
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