Der weisse Stern
Amerika im 19. Jahrhundert. Ein Neuanfang in der Neuen Welt. Ein mörderischer Krieg. Eine große Liebe und eine tiefe Freundschaft.
Gisela und Walther hat es in die mexikanische Provinz Tejas verschlagen. Gisela erwartet...
Gisela und Walther hat es in die mexikanische Provinz Tejas verschlagen. Gisela erwartet...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der weisse Stern “
Amerika im 19. Jahrhundert. Ein Neuanfang in der Neuen Welt. Ein mörderischer Krieg. Eine große Liebe und eine tiefe Freundschaft.
Gisela und Walther hat es in die mexikanische Provinz Tejas verschlagen. Gisela erwartet ihr erstes Kind, während ihr Mann Bekanntschaft mit den gefürchteten Komantschen macht. Als Gisela einen Sohn zur Welt bringt, wird die junge Indianerin Nizhoni die Amme des kleinen Josef. Zwar fürchtet sie sich vor Walther, doch mit Gisela verbindet sie schon bald eine tiefe Freundschaft, die sich in vielen Schwierigkeiten bewährt. Und als der Diktator Santa Ana die Siedler von Tejas in einen mörderischen Krieg verstrickt, erweist sich Nizhoni wiederum als Segen für das junge Paar.
Gisela und Walther hat es in die mexikanische Provinz Tejas verschlagen. Gisela erwartet ihr erstes Kind, während ihr Mann Bekanntschaft mit den gefürchteten Komantschen macht. Als Gisela einen Sohn zur Welt bringt, wird die junge Indianerin Nizhoni die Amme des kleinen Josef. Zwar fürchtet sie sich vor Walther, doch mit Gisela verbindet sie schon bald eine tiefe Freundschaft, die sich in vielen Schwierigkeiten bewährt. Und als der Diktator Santa Ana die Siedler von Tejas in einen mörderischen Krieg verstrickt, erweist sich Nizhoni wiederum als Segen für das junge Paar.
Lese-Probe zu „Der weisse Stern “
Der weiße Stern von Iny LorentzErster Teil
Der Komantsche
1.
Mexiko, Bundesstaat Coahuila y Tejas im Jahr 1830 am Rio Colorado. Die beiden Reiter auf der Anhöhe wirkten wie Standbilder. Selbst ihre gescheckten Pferde regten kein Schwanzhaar, um die Stechmücken zu vertreiben. Walther Fichtner spürte, wie ihm die Hände feucht wurden. Er empfand es wie ein lautloses Duell um die Frage, wer als Erster die Nerven verlor und zur Waffe griff. Seiner Büchse war er sicher, doch er verfügte nur über einen mit einer Kugel geladenen Lauf. Damit konnte er einen der beiden Indianer niederschießen. Für den zweiten, mit Schrot gefüllten Lauf waren die beiden Reiter zu weit entfernt - zudem standen sie zwischen ihm und seiner Farm. Gisela hielt sich dort allein auf, da er seinen Knecht zu Diego Jemelins Hacienda geschickt hatte, um Eisennägel zu besorgen. Seine drei Viehhirten bewachten die Herde und würden zwar seinen Schuss hören, aber niemals rechtzeitig das Haus erreichen, um seiner Frau beistehen zu können. Nach diesen Überlegungen legte Walther seine Büchse so über die Schulter, dass die Indianer nicht fürchten mussten, er wolle sofort schießen, und ging auf sie zu. Dabei versuchte er, der Angst Herr zu werden, sie könnten ihre Pferde antreiben und zum Farmhaus reiten. Denn so schnell er auch rannte, er würde zu spät kommen.
... mehr
Zu seiner Erleichterung machten die beiden keine Anstalten, ihren Platz zu verlassen. Sie hielten zwar ihre Bögen in der Hand, zielten aber nicht auf ihn. Dies wertete er als gutes Zeichen. Während er den Hang hochstieg, rief er sich in Erinnerung, was er über die Eingeborenen dieser Gegend wusste. Viel war es nicht. Seine mexikanischen Freunde teilten diese in zwei Gruppen ein, in jene Indios, die sich ihnen angepasst hatten und in ihren Dörfern lebten, und die Wilden, deren größte Freude es angeblich war, einem Mexikaner einen Pfeil in den Leib zu schießen. Die beiden Indianer vor ihm gehörten zur letzteren Gruppe. Etwa zehn Schritte von ihnen entfernt hielt Walther an und hob die Rechte zum Friedensgruß. »Buenos días!«, sagte er. Der Jüngere der beiden Reiter, ein untersetzter, kräftiger Mann mit rabenschwarzem Haar, in dem zwei Adlerfedern steckten, musterte ihn von oben herab. »Du Mann aus dem Norden?« Walther wusste, dass Männer aus den Vereinigten Staaten, von denen bereits etliche in Tejas siedelten, von den Mexikanern nicht gerne gesehen wurden, und auch dieser Indianer schien sie nicht zu mögen. »Nein!«, antwortete er. »Ich bin über das große Wasser gekommen und habe von der mexikanischen Regierung dieses Land hier erhalten, um es zu bebauen.« Der Indianer musterte ihn grimmig. »Ich Po'ha-bet'chy vom Volk der Nemene. Ich kämpfe gegen weiße Männer aus Norden. Ich nehme deinen Skalp!« »Was hast du davon?«, fragte Walther angespannt. »Ich habe dir nichts getan.« Po'ha-bet'chy warf einen Blick auf Walthers Büchse. Es war eine für diese Gegend ungewöhnliche Waffe mit zwei Läufen unterschiedlichen Kalibers und feinen Gravuren auf den Metallbeschlägen. Graf Renitz hatte sie vor mehr als dreißig Jahren Walthers Vater zur Hochzeit geschenkt. Später hatte Holger Stoppel sie benützt, bis sie schließlich in Walthers Hände gelangt war. Einst gemacht, um in deutschen Forsten Wild zu schießen, erfüllte sie nun in der Wildnis von Tejas ihre Dienste. »Du schönes Gewehr«, sagte der Nemene. »Du zeigen!« Damit brachte er Walther in die Klemme. Wenn er dem Indianer die Büchse gab, war er selbst waffenlos und ein leichtes Opfer. Weigerte er sich jedoch, zeigte er, dass er dem anderen misstraute. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er langsam auf den Reiter zutrat und ihm schließlich die Büchse hochreichte. »Hier! Sie stammt aus der Stadt Suhl in Thüringen. Dort leben die besten Büchsenmacher Deutschlands.« Die drei Begriffe sagten Po'ha-bet'chy nichts, aber die Waffe gefiel ihm. Er musterte den eingravierten Hirsch auf dem Beschlag und die unbekannten Schriftzüge. Danach roch er an den Mündungen der beiden so unterschiedlichen Läufe. Kurz legte er die Waffe auf Walther an und lachte, als dieser zurückzuckte. »Gutes Gewehr. Will schießen!« Noch während er es sagte, entdeckte er ein Kaninchen, das knappe hundert Schritt entfernt aus seinem Bau herauskam. Er zielte darauf und drückte ab. Der Schuss knallte, und noch während das Kaninchen sich überschlug und liegen blieb, stoben mehrere Präriehühner aus einem Gebüsch auf. Aus einem Reflex heraus feuerte Po'ha-bet'chy darauf und sah staunend, wie bei zweien davon Federn davonwirbelten und sie zu Boden stürzten. »Hol die Tiere, Ta'by-to'savit«, sagte er in seiner Sprache zu seinem Gefährten. Dieser jagte im Galopp zu der Stelle, an der das Kaninchen lag, beugte sich im Vorbeireiten nieder und hob es mit einem schrillen Ruf auf. Ebenso verfuhr er mit den beiden Präriehühnern. Walther sah staunend zu. Einen so geschickten Reiter hatte er noch nie gesehen. Unterdessen betrachtete Po'ha-bet'chy nachdenklich die Büchse. Die Waffe war gut, und er hätte sie gerne gehabt. Dann aber schüttelte er den Kopf und gab sie Walther zurück. »Du kein Mann aus dem Norden. Sonst Gewehr du mir nicht gegeben. Haben du Salz?« »Ja, auf meiner Farm«, antwortete Walther zögernd. Es drängte ihn, die Büchse wieder zu laden, um sich nicht länger wehrlos zu fühlen. Doch um den beiden Nemene keinen Grund zum Misstrauen zu geben, ließ er sich dabei Zeit und zeigte Po'ha-bet'chy die kleinen Schrotkugeln. Dieser nahm eine in die Hand und schüttelte ungläubig den Kopf. »Präriehühner weit weg. Kein Gewehr mit vielen kleinen Kugeln so weit schießen!« »Du hast es doch selbst erlebt. Oder sehe nur ich die beiden Vögel, die dein Freund in der Hand hält?«, antwortete Walther lächelnd. Po'ha-bet'chy forderte seinen Begleiter auf, ihm die Präriehühner zu geben, und sah nun selbst, dass jedes davon von mehreren Schrotkugeln getroffen worden war. »Das besonderes Gewehr«, sagte er staunend und wies dann in Richtung der Farm. »Jetzt Salz holen!« Es gefiel Walther wenig, dass die Nemene zur Farm wollten. Um sie daran zu hindern, hätte er sie jedoch über den Haufen schießen müssen, und das wollte er nicht. »Es ist nicht weit«, sagte er und schritt neben Po'ha-bet'chys Schecken her.
2.
Gisela fühlte sich nicht wohl. Es war ihr kein Trost, dass ihre Nachbarin Rosita Jemelin erklärt hatte, Schwangerschaften würden solche Beschwerden mit sich bringen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag über im Bett geblieben und hätte geweint. Gerade das konnte sie sich aber nicht leisten. Walther und Pepe benötigten etwas zu essen, und sie musste sich dringend um die Gemüsepflanzen kümmern. Jetzt bedauerte sie doppelt, dass Gertrude Schüdle, die in den ersten Wochen bei ihnen gewohnt und ihr geholfen hatte, zu den Poulains gezogen war. Dort wurde sie allerdings dringender gebraucht als hier. Charlotte Poulain war durch einen Schlangenbiss schwer erkrankt und die achtjährige Cécile noch zu klein, um den Haushalt zu führen. Durch Gertrudes Abreise war einiges liegengeblieben. Wenigstens versorgten die drei Hirten sich selbst und kamen nur alle paar Tage zur Farm, um Vorräte zu holen. »Ich darf Walther nicht im Stich lassen, nachdem er so viel für mich getan hat«, sagte sie stöhnend zu sich selbst und kämpfte sich hoch. Es fiel ihr schwer, sich zu waschen und anzuziehen. Danach musste sie das Feuer auf dem Herd entzünden, Wasser vom Bach holen und einen Kochtopf über die Flamme hängen. Während sie die Graupen für die Suppe abmaß, sehnte sie sich in die gut eingerichtete Küche im Renitzer Forsthaus zurück. Doch der Weg dorthin war ihr für immer versperrt. »Stell dich nicht so an!«, rief sie sich zur Ordnung. »Du lebst jetzt hier und musst mit dem auskommen, was du hast!« Sie sagte sich, dass es Walther und ihr weitaus besser ging als vielen anderen Auswanderern, die in die Dienste fremder Leute hatten treten müssen, um nicht zu verhungern. Sie hingegen besaßen Land und ein eigenes Haus, auch wenn es kleiner war als das Forsthaus im Wald von Renitz. Draußen weideten mehrere Kühe und ein Bulle. Auch hatte Walther mit Hilfe ihrer Freunde Thierry Coureur und Thomé La- balle und dem Zugochsen, der ihnen gemeinsam gehörte, das erste Getreide ausgesät. »Nächstes Jahr wird alles besser«, sagte sie laut, um sich selbst Mut zu machen. Dann war sie auch die Last in ihrem Leib los, von der sie noch immer nicht wusste, ob sie sie nun lieben oder verdammen sollte. Wäre sie sicher gewesen, dass es Walthers Kind war, hätte sie die Beschwerden der Schwangerschaft mit Freuden auf sich genommen. Doch wenn sie in den Nächten schlaflos neben ihrem Mann lag, erlebte sie in Gedanken immer wieder, wie Diebold von Renitz sich ihrer bemächtigt und sie vergewaltigt hatte. Sie hatte den jungen Renitz erschießen müssen, als dieser ihren Mann töten wollte, und seit jenem Tag klebte Blut an ihren Händen. Zu manchen Zeiten glaubte sie, es immer noch daran zu sehen. Auch jetzt eilte sie zum Wassereimer, um die Hände zu waschen, und kämpfte gegen das Gefühl an, Diebold von Renitz' Blut würde sie zeichnen wie ein Kainsmal. Niedergeschlagen, weil sie sich an diesem Tag schon wieder mit der Vergangenheit beschäftigte, widmete sie sich ihrer Arbeit und blickte zwischendurch zu einem der kleinen Fenster hinaus, um zu sehen, ob Walther schon von seinem Kontrollgang zurückkam. Mit einem Mal entdeckte sie zwei Reiter und zuckte zusammen. Es waren Indianer - ihrem Aussehen nach Wilde, wie die Mexikaner sie bezeichneten. So rasch sie konnte eilte sie zur Tür und schob den Riegel vor. Anschließend nahm sie die Pistole, die ihr Mann zurückgelassen hatte, damit sie während seiner Abwesenheit nicht wehrlos war, und schüttete mit zitternden Händen Pulver auf die Zündpfanne. Erst als die Waffe schussfertig war, wagte sie erneut einen Blick ins Freie. Nun erst entdeckte sie bei den Indianern auch Walther, der wohl von einem Pferd verdeckt gewesen war. Er trug seine Büchse über der Schulter und unterhielt sich mit ihnen. Gisela atmete auf. Zwar wusste sie nicht, welchem Stamm die Reiter angehörten, aber sie schienen friedlich zu sein. Trotzdem blieb sie auf der Hut und wartete, bis die Männer vor dem Haus anhielten. Walther sah den Rauch, der aus dem einfachen Kamin aufstieg, und nahm an, dass seine Frau im Haus war. Da er sich vorstellen konnte, wie sie sich ängstigte, beschloss er, laut zu rufen: »Gisela, es ist alles in Ordnung! Die beiden wollen nur ein wenig Salz eintauschen!« Da er es auf Deutsch sagte, verstand Po'ha-bet'chy ihn nicht. Allerdings konnte der Nemene genug Englisch, um den Unterschied zu bemerken. »Du wirklich kein Mann aus dem Norden«, erklärte er. »Weiter oben am Fluss sind welche.« »Flussaufwärts gibt es amerikanische Siedlungen?« Walther wunderte sich, denn davon hatte er bislang nichts erfahren. Gleichzeitig dachte er, wie unsinnig es war, die Bewohner der Vereinigten Staaten Amerikaner zu nennen, da ja auch die Mexikaner auf demselben Kontinent lebten. Po'ha-bet'chy nickte zufrieden. Die Amerikaner, die er bisher kennengelernt hatte, sprachen anders als dieser Mann. Sie kauten die Worte beinahe, so dass man sie kaum verstand. Der Fremde aber sprach deutlich und mit merkbaren Pausen zwischen den einzelnen Worten. »Amerikaner so weit entfernt, wie ein Nemene an einem halben Tag reitet.«
»Danke für die Auskunft!«, antwortete Walther nachdenklich. Bis jetzt hatte er geglaubt, die Siedler auf Ramón de Gamuzanas Landlos wären die einzigen im weiten Umkreis. Er fragte sich, weshalb Ramón de Gamuzanas Bruder Hernando oder Diego Jemelin nichts von anderen Ansiedlungen in der Gegend gesagt hatten. Während des kurzen Gesprächs hatte Gisela ihre Pistole in einer Tasche ihres Kleides versteckt und öffnete die Tür. »Guten Tag!«, grüßte sie unwillkürlich auf Deutsch. Die beiden Nemene beachteten sie nicht, sondern sahen Walther an. »Salz!«, forderte Po'ha-bet'chy. Walther trat ins Haus und öffnete die Kiste mit dem grobkörnigen Salz, das an einigen Stellen der Küste gewonnen wurde. Er füllte zwei Handvoll in einen Lederbeutel und reichte diesen dem Nemene, der ihm ins Haus gefolgt war. »So viel kann ich dir mit gutem Gewissen geben!« Po'ha-bet'chy musterte den Beutel, blickte sich dann in dem einen Raum um, aus dem das Bauwerk bestand, und sah zuletzt Gisela an. Ihr schwarzes Haar ließ ihre bleichen Züge schärfer hervortreten, und ihre Schwangerschaft war unübersehbar. Allerdings roch sie nicht gesund. Daher wahrte er Abstand von ihr, nahm den Beutel mit dem Salz und ging wieder hinaus. Mit einem einzigen Satz saß er auf seinem Pferd und lenkte es allein mit den Schenkeln. Bevor er losritt, nahm er seinem Freund eines der beiden Präriehühner ab und warf es Walther zu. »Für Salz«, sagte er und trieb sein Pferd fast ansatzlos in den Galopp. Ta'by-to'savit folgte ihm mit schrillen Rufen. Innerhalb kürzester Zeit waren die beiden außer Schussweite und verschwanden wenig später hinter den Hügeln.
Walther blickte ihnen nach, bis sie am Horizont verschwunden waren, und atmete dann erleichtert auf. Gott sei Dank war alles gutgegangen, aber ihm war klar, dass nicht jeder Besuch eines Indianers so friedlich enden würde wie dieser. Nun lobte er Gisela wegen ihrer Beherztheit und zog sie an sich. »Ich bin so glücklich, dich zu haben!« »Ich bin auch glücklich!« Trotz dieser Versicherung kamen Gisela die Tränen. Walther sah sie erschrocken an. »Was ist mit dir, mein Liebes? « »Nichts! Nur eine Laune, wie sie schwangere Frauen überfällt. Rosita Jemelin hat mich davor gewarnt. Sie sagt, man bricht in Tränen aus, nur weil man sich freut.« »Es wäre besser, du hättest mehr weibliche Gesellschaft«, antwortete Walther nachdenklich. »Du triffst dich nur alle ein, zwei Wochen mit Rosita und hast sonst niemanden. Wie wäre es denn, wenn ich bei meinem nächsten Besuch von Hernando de Gamuzana in San Felipe eine der Frauen dort frage, ob sie als Magd zu uns kommen möchte?« Der Vorschlag klang im ersten Moment verlockend, fand Gisela, denn dann würde sie der Magd die schwerste Arbeit im Haushalt überlassen können. Doch dieser Umstand sprach letztlich auch dagegen. Keine der anderen Siedlerfrauen hatte eine Magd, und als Walthers Ehefrau musste sie in der Lage sein, diese Pflichten selbst zu erfüllen. Zwar ging es ihr in diesem Stadium ihrer Schwangerschaft nicht gut, aber das sollte sich Rosita Jemelin zufolge bald wieder bessern. Daher schüttelte sie den Kopf. »Das bisschen, was zu tun ist, schaffe ich schon allein. Aber jetzt verzeih, ich muss mich um die Suppe kümmern. Was soll ich übrigens mit diesem Vogel machen, den der Indianer für das Salz hiergelassen hat? Möchtest du ihn gebraten, oder soll ich das Fleisch klein schneiden und damit die Pfannkuchen füllen, wie es hier üblich ist? Bohnen hätte ich noch.« Der Gedanke an ein gebratenes Huhn ließ Walther das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Ich glaube, am Spieß macht es sich am besten. Wir können es uns heute Abend teilen.« »Dann sollten wir aber auch Pepe ein Stückchen geben, damit er nicht nur Suppe essen muss!« »Wenn er heute noch zurückkommt. Vielleicht bleibt er auch über Nacht bei Jemelin.« Gisela runzelte die Stirn. »Das wäre mir nicht so recht! Er hat nämlich versprochen, meinen Gemüsegarten zu vergrößern. Rosita Jemelin wollte ihm Kürbiskerne für mich zum Aussäen mitgeben. Du magst doch Kürbis?« Walther nickte. »Ich mag alles, was du mir kochst!« »Die Suppe! Nicht, dass sie überkocht.« Mit diesen Worten eilte Gisela an den Herd und griff nach dem Kochlöffel. Einen Augenblick lang sah Walther ihr zu, dann sagte er sich, dass er selbst damit beginnen konnte, ein paar neue Beete für Gisela auszuheben. Doch zunächst würde er nach den drei Hirten schauen müssen und ihnen sagen, dass Indianer in der Nähe waren. »Gisela, kann ich dich eine Stunde allein lassen?«, fragte er. »Aber natürlich! Ich werde die Tür verschließen, damit kein ungerufener Besucher hereinkommt, und zum anderen habe ich deine Pistole!« Damit zog Gisela die Waffe aus ihrem Kleid und zeigte sie Walther. Dieser trat auf sie zu und legte die Arme um sie. »Du bist so mutig und hättest ein besseres Leben verdient.« Gisela sah ihn kurz an und lehnte sich dann gegen ihn. »An deiner Seite habe ich das schönste Leben der Welt!«
3.
Walther traf seine drei Vaqueros unversehrt an. Diese hatten die beiden Nemene nicht bemerkt. Stattdessen wies Quique, mit vierzehn Jahren der Jüngste von ihnen, stolz auf ein Kälbchen, das neben seiner Mutter lag und fest schlief. »Es ist heute Nacht geboren worden, Señor. Es ist ein Kuh- kalb und wird später einmal selbst viele Kälber bekommen.« »Sehr schön! Das habt ihr gut gemacht.« Walthers Lob freute die Burschen. Bis jetzt hüteten sie nur seine drei Kühe und den Bullen sowie ein halbes Dutzend weiterer Kühe, die Thierry Coureur, Thomé Laballe, Albert Poulain und einigen anderen Überlebenden der Loire gehörten. In ihren Träumen aber sahen sie sich bereits als Vormänner über viele andere Vaqueros, denen eine riesige Herde anvertraut war. »Die zweite Kuh wird auch bald kalben. Die anderen brauchen länger«, erklärte Julio, ihr Anführer. »Passt auf, dass die Kühe und die Kälber keinem Raubtier zum Opfer fallen, und gebt auf Indianer acht!«, wies Walther die Vaqueros an, die selbst zum Teil indianischer Abstammung waren. Er behandelte sie nicht anders als die Knechte in seiner Heimat. Das hatten Julio, Lope und Quique verdient. Ihre Arbeit war nicht ungefährlich, denn Kühe stellten für streifende Indianer eine ständige Versuchung dar. Anders als Wildtiere konnte man sie leicht erjagen, und sie lieferten Fleisch für eine ganze Sippe. Nachdenklich betrachtete Walther die Waffen der drei. Julio besaß als Einziger ein Gewehr, das den Namen auch verdiente. Die anderen beiden hatten Pistolen ehrwürdigen Alters in den Gürteln stecken, mit denen er selbst keinen Schuss mehr gewagt hätte. »Wenn ich wieder nach San Felipe komme, werde ich bessere Waffen für euch kaufen«, versprach er. »Unsere Waffen sind gut!«, rief Quique. »Diese Pistole hier hat Don Alfonso de Gamuzana, der Großvater von Don Hernando, meinem Großvater geschenkt. Sie hat ihm und meinem Vater gute Dienste geleistet, und jetzt besitze ich sie.« »Ich werde euch trotzdem neue Gewehre besorgen. Du kannst ja das deine später einmal an einen Sohn und Enkel vererben.« Walther klopfte dem Jungen lachend auf die Schulter und verabschiedete sich. »Adiós, Señor!«, riefen die Hirten ihm nach. Sie waren in einem anderen Land als er geboren und hatten von ihren Müttern eine andere Sprache gelernt, dennoch fühlte Walther sich stärker mit ihnen verbunden als mit den meisten Menschen, die er in seiner Heimat gekannt hatte. Während er zu seiner Farm zurückritt, dachte er auch über die beiden Indianer nach, die er getroffen hatte. Noch immer wusste er nicht, was er von ihnen halten sollte. Waren sie gekommen, um zu prüfen, ob sich ein Überfall lohnte? Bei dem Gedanken fiel ihm ein, dass er in Kürze zur Küste würde reiten müssen, um Neusiedler in San Felipe de Guzmán abzuholen. In dieser Zeit musste Gisela mit Pepe allein auf der Farm bleiben. Dem Knecht traute er jedoch nicht den Mut und die Entschlossenheit zu, um sich gegen eine Gruppe wilder Indianer zu behaupten. Und doch würde er den Auftrag erfüllen müssen, den Hernando de Gamuzana ihm im Namen seines Bruders Ramón erteilt hatte. Immerhin hatte er das größte Stück Land von allen Überlebenden der Loire erhalten und war dafür zum Verwalter des Nordteils jenes Gebiets ernannt worden, das Ramón de Gamuzana im Auftrag der Republik Mexiko besiedeln sollte. Kurz bevor er seine Farm erreichte, sah er, dass zwei Pferde vor dem Haus angepflockt waren. Sofort trieb er seinen Hengst an und war kurz darauf zutiefst erleichtert, als er Di- ego Jemelins Rotschimmel erkannte. Jemelin war nicht nur sein nächster Nachbar, sondern auch der Verwalter des südlichen Teils des Siedlungsgebiets. Der andere Gaul war ein Schecke, den er schon bei Jemelin gesehen hatte. Noch während Walther sein Pferd neben Jemelins Hengst anband, trat dieser auch schon aus dem Haus. Auch er war zum Teil indianischer Abstammung, einen guten halben Kopf kleiner als Walther, untersetzt und so zäh, dass er drei Tage lang durchreiten konnte, ohne Pause zu machen. Da er einen scharfen Verstand besaß, war er für Ramón de Gamuzana der ideale Mann, die Ansiedlung in diesem Gebiet zu leiten. »Buenos días, Señor Jemelin«, begrüßte Walther ihn. »Buenos días, Señor Waltero!« Jemelin hatte es aufgegeben, Walthers Nachnamen Fichtner aussprechen zu wollen, und nannte ihn Waltero, wie es den Vorgaben der mexikanischen Behörden entsprach, die eine Angleichung der Vornamen an die spanische Schreibweise verlangten. »Ich habe von Ihrer Señora gehört, dass sich hier Indios herumtreiben sollen. Gab es Probleme mit Ihren Rindern?« »Zum Glück keine! Eine Kuh hat heute Nacht gekalbt«, antwortete Walther aufgeräumt. »Es wird nicht das einzige Kalb bleiben. In fünf Jahren haben Sie mindestens zwanzig Rinder und in zehn hundert«, prophezeite Jemelin, um dann wieder auf die Indianer zurückzukommen. »Was waren das für Indios? Karankawa? Die schweifen in letzter Zeit wieder arg herum, seit sie weiter im Osten mit Americanos aneinandergeraten sind.« Walther zuckte mit den Schultern. »Ich kenne mich mit den verschiedenen Indianerstämmen nicht so aus wie Sie, Señor Jemelin. Die beiden Männer sagten, sie wären Nemene!« »Madre de Dios!« Jemelin wurde bleich und schlug das Kreuz. »Wissen Sie, was das sind? Komantschen! Die Schlimmsten von allen! Danken Sie der Heiligen Jungfrau von Guadalupe dafür, dass Sie noch leben. Bei Gott, wenn ich daran denke, dass diese Wilden hier durch unsere Gegend schweifen! Ich werde sofort nach Hause reiten und meine Leute warnen. Auch muss ich Botschaft an Don Hernando schicken, damit er uns Soldaten schickt. Wir brauchen sie dringend.« Walther wunderte sich. So gefährlich hatte dieser Po'hasonst- was in seinen Augen nicht gewirkt. Allerdings war Jemelin in diesem Land aufgewachsen und besaß Erfahrung mit den Indianern. »Meinen Sie wirklich, dass diese Leute gefährlich sind?«, fragte er schließlich. »Und wie! Sie überfallen unsere Dörfer und töten jeden, der ihnen in die Hände fällt. Es sind Räuber, Banditen, Mörder und was nicht noch alles. Ich bete zu Gott, dem Herrn, dass ich nie auf einen Komantschen treffe. Ihre Esposa hat mich zum Essen eingeladen. Aber das kann ich nicht mehr annehmen, denn ich muss sofort nach Hause reiten. Hasta la vista, Señor Waltero! Gebe die Heilige Jungfrau, dass die Komantschen weiterziehen.« Damit eilte Jemelin zu seinem Pferd, löste die Zügel vom Balken und schwang sich in den Sattel. Er winkte noch einmal, gab dem Gaul die Sporen und preschte noch schneller los, als die beiden Komantschen es getan hatten.
Walther sah ihm kopfschüttelnd nach und betrat dann das Haus. »Bis jetzt habe ich Jemelin für einen besonnenen Mann gehalten. Aber er scheint mir nicht sonderlich mutig zu sein.« »Das hat nichts mit Mut zu tun«, rief Pepe, der sich ebenfalls bekreuzigte. »Komantschen sind Teufel! Ich kann es kaum glauben, dass Sie und die Señora unbeschadet davongekommen sind.« Der junge Bursche saß am Tisch und zitterte so sehr, dass er den Löffel kaum zum Mund führen konnte. »Wie Teufel sahen mir die beiden nicht aus. Sie wollten nur ein wenig Salz eintauschen, und dafür haben sie uns dieses Huhn überlassen.« Gisela zeigte auf den knusprig glänzenden Vogel, der auf einem Bratspieß über dem Herd steckte. Pepe starrte sie an, als zweifle er an ihrem Verstand. Mit bleicher Miene zählte er ihnen eine Reihe schrecklicher Taten auf, welche die Komantschen begangen haben sollten. Ins geheim dachte er, dass in den Adern des Alemán und dessen Ehefrau anstatt warmen Blutes das Eiswasser ihrer kalten Heimat fließen musste. Jeder Mexikaner in den nördlichen Bundesstaaten fürchtete die Räuber der Prärie. Bislang hatten die Komantschen weiter im Norden und Westen gejagt. Doch wie es aussah, kamen sie nun auch in diese Gegend. Daher beschloss Pepe, der Heiligen Jungfrau von Guadalupe eine Kerze zu stiften, wenn er dieses Jahr lebend überstehen sollte.
4.
Da Diego Jemelin so überraschend aufgebrochen war, hatte Walther nicht mit ihm über die Nordamerikaner sprechen können, die nach Auskunft des Komantschen weiter nördlich am Fluss siedeln sollten. Er hielt diese Information jedoch für so wichtig, dass er am nächsten Morgen zu Jemelins Farm aufbrach. Unterwegs musterte er die Landschaft um sich herum, die ihm immer noch fremd erschien. Während nahe dem Fluss Büsche und das Wäldchen standen, aus dem er und seine Nachbarn ihr Bauholz gewonnen hatten, wurde es mit zunehmendem Abstand zum Wasser trockener, und dort wuchsen Pflanzen, die er nicht kannte. Doch auch dieses Land müsste sich nutzen lassen. Wo es Wasser gab, konnte man die Erde umpflügen und in Äcker verwandeln. Gut die Hälfte seines eigenen Besitzes war dafür geeignet. Der Rest ließ sich als Weideland für Rinder verwenden. Um aber an den Tieren und den Feldfrüchten zu verdienen, benötigte er Menschen, die diese kauften. Walther musste über sich selbst lachen. Das alles waren noch Hirngespinste. Zuerst galt es, die nächsten Monate zu überleben. Mit diesem Gedanken ritt er über ein Stück sandigen Bodens, auf dem nur ein paar Agaven und einige Bäume wuchsen, die ihn an Bilder von Palmen erinnerten, welche er in einem Buch gesehen hatte. Auch dieses Gebiet gehörte zu seinem Grund und Boden und bildete die Grenze zu Jemelins Besitz. Bald traf Walther wieder auf Grasland und sah wenig später das Wäldchen vor sich, in dessen Nähe Jemelin seine Farm oder - wie dieser es nannte - seine Hacienda errichtet hatte. Wäre er dem Fluss gefolgt, hätte er fast einen ganzen Tag reiten müssen, um hierherzugelangen. So hatte er die Flussschleife abgekürzt und weniger als ein Viertel der Zeit gebraucht. Auf den ersten Blick war zu sehen, dass Diego Jemelin schon länger hier lebte als Gisela und er. Die Felder in der Nähe des Flusses trugen Mais, und in dem großen Garten am Haus rankten sich Bohnen an den Stangen hoch. Auch gab es Gurken, Tomaten und andere Pflanzen, die nur hier in Amerika wuchsen und anscheinend gerne gegessen wurden. Auch Gisela und er würden sich an die Früchte und das Gemüse dieses Landes gewöhnen müssen, dachte er, als er auf die buschartige Einfriedung zuritt, welche die Farmgebäude umgab. Jemelin besaß nicht nur ein weit größeres Wohnhaus als er, sondern dazu noch einen Stall, zwei Schuppen und eine Unterkunft für das halbe Dutzend Vaqueros und die Peones, die für ihn arbeiteten. So ähnlich, hoffte Walther, würde seine Farm in zwei, drei Jahren ebenfalls aussehen. Als er durch das Tor der Einfriedung ritt, vernahm er einen schrillen Pfiff. Sofort eilte Jemelin mit dem Gewehr in der Hand aus dem Haus, stellte die Waffe aber ab, als er Walther erkannte. Dieser stieg aus dem Sattel und drückte die Zügel einem herbeieilenden Knecht in die Hand. »Buenos días!«, grüßte er. »Willkommen, Señor Waltero! Was führt Sie zu mir?« Jemelin übergab sein Gewehr einem seiner Leute und trat mit ausgestreckter Hand auf Walther zu. Inzwischen war auch Jemelins Ehefrau Rosita aus dem Haus gekommen und sah Walther verwundert an. »Sie haben Ihre Frau allein zu Hause gelassen, obwohl hier wilde Horden von Komantschen herumstreifen? Ich würde mich zu Tode ängstigen und hätte zudem Sorge um meine Kinder!« Sie wies dabei auf das Mädchen und den Jungen, die, von einer Magd beaufsichtigt, in der Nähe spielten.
»Ganz allein ist Gisela nicht, denn Pepe ist bei ihr«, antwortete Walther. Rosita, eine stämmige, vor Gesundheit strotzende Frau, schüttelte den Kopf. »Pepe wird ihr keine Hilfe sein. Der stirbt vor Angst, wenn er einen Komantschen auch nur von weitem sieht.« »Rosita, jetzt mach Señor Waltero nicht bange«, wies ihr Mann sie zurecht und führte Walther ins Haus. »Sie sollten nichts auf das Gerede meiner Frau geben, mein Freund. So feige ist Ihr Peon auch wieder nicht. Ihre Frau ist zudem beherzt genug, einem wilden Indianer eine Kugel aufzubrennen! « »Sorgen macht man sich natürlich«, bekannte Walther. »Aber wir siedeln nun einmal am Rande der Zivilisation.« »Eher ein wenig darüber hinaus«, antwortete Jemelin lachend. »Die nächste Stadt ist San Felipe de Guzmán, und die liegt viele Meilen entfernt. Im Grunde ist der Ort nur ein größeres Dorf, und nicht anders ist es mit San Antonio de Bexár und den meisten Orten, die wir von hier aus erreichen können. In die Provinzhauptstadt brauchen wir zu Pferd schon drei Wochen und mit einem Wagen fast dreimal so lang.« »Wir sollten in diesem Land Städte bauen, damit wir unsere Erzeugnisse verkaufen können«, erklärte Walther. »Sicher, das müssen wir! Aber vorher sollten wir einen Tequila trinken.« Jemelin holte die Flasche aus einem Schrank. »Sie haben sicher auch Hunger«, meinte er dann zu Walther. »Ein wenig schon«, antwortete dieser und nahm das Glas zur Hand. »A su salud!« Jemelin stieß mit ihm an und bat ihn, am Tisch Platz zu nehmen. »Meine Rosita backt gleich ein paar Tortillas mit Bohnen, Mais und Hackfleisch.« Als Walther sah, dass die Frau die kleinen, scharfen Schoten, die hier so geliebt wurden, klein schnitt und in die Masse tat, mit denen die Tortillas gefüllt werden sollten, bedauerte er seinen Gaumen und seinen Magen. Ablehnen aber konnte er das Essen nicht, wenn er die Jemelins nicht tödlich beleidigen wollte. Auch der Schnaps war scharf. Lieber hätte Walther Bier getrunken, doch das gab es in der ganzen Gegend nicht. Auch Wein war selten, weil er aus dem Süden in das Siedlungsgebiet gebracht werden musste. Bei diesem Gedanken erinnerte er sich an den Grund seines Kommens und sah Diego Jemelin scharf an. »Wissen Sie, dass sich weiter im Norden Amerikaner angesiedelt haben sollen?« »Es gibt im Land etliche Siedlungen der Americanos. Sie sind wie eine Pest, die sich überall ausbreitet. Deshalb hat die Regierung der Republik Mexiko auch den weiteren Zuzug aus den Vereinigten Staaten verboten.« Jemelin machte eine angewiderte Geste und fragte dann, woher Walther von diesen Amerikanern erfahren habe. »Sie werden es nicht glauben, aber die Komantschen haben es mir erzählt.« Jemelin lachte leise auf. »Und denen glauben Sie?« »Das tue ich.« Walther tippte mit dem Zeigefinger in sein Schnapsglas und zeichnete in etwa den Flusslauf auf die Tischplatte. »Hier sind Sie und hier wir. Laut dem Komantschen müsste sich die Siedlung etwa hier befinden.« Jetzt wurde Diego Jemelin nachdenklich. »Die Leute müssen den Behörden entgangen sein. Ich weiß nichts von ihnen, und ich schwöre beim Leben meiner Frau, dass Hernando und Ramón de Gamuzana es auch nicht wissen.« »Wir sollten sie uns einmal anschauen«, erklärte Walther. »Die Amerikaner rücken unserem Siedlungsgebiet ziemlich nahe. Es ist kaum verwunderlich, dass sie uns bisher entgangen sind, denn so weit flussaufwärts sind wir noch nicht gekommen. Ich frage mich nur, wie sie es geschafft haben, so weit nach Norden zu gelangen. Von Süden aus hätten sie Ihr und unser Siedlungsgebiet weiträumig umgehen müssen.« »Sie könnten aus dem Osten gekommen sein«, wandte Jemelin ein. »Dort gibt es eine Siedlung namens Nacogdoches, in der auch Americanos leben. Von dort ist es nicht weit nach Louisiana, und das gehört zu den Vereinigten Staaten von Amerika.« »Auf jeden Fall müssen wir mit den Leuten Kontakt aufnehmen. Vielleicht können wir uns gegenseitig unterstützen«, schlug Walther vor. Jemelin schüttelte sofort den Kopf. »Das sollten wir den Männern des Gouverneurs überlassen! Ich glaube nicht, dass diese Americanos die Erlaubnis besitzen, hier zu siedeln, sonst hätte ich es erfahren. Doch wenn diese Leute glauben, sie können einfach nach Tejas kommen und sich ein Stück Land nehmen, so haben sie sich getäuscht.« Derart verärgert hatte Walther seinen Nachbarn noch nie erlebt. Jemelins Abneigung gegen die Nordamerikaner übertraf sogar noch die, die Hernando de Gamuzana gezeigt hatte. Solange sich die Siedler an die mexikanischen Gesetze hielten, musste es doch gleichgültig sein, aus welchem Land sie stammten, sagte er sich. Aber er wollte sich nicht mit Jemelin streiten und behielt seine Meinung für sich. Stattdessen wies er nach draußen, wo der Sonnenstand bereits den Nachmittag anzeigte. »Wenn ich heute noch nach Hause kommen will, sollte ich jetzt aufbrechen.« »Sie haben doch noch gar nichts gegessen«, wandte Jemelin ein. »Rosita hat extra Tortillas für Sie gebacken.«
»Dann bleibe ich natürlich noch ein Weilchen. Auf Señora Rositas Tortillas habe ich mich schon die ganze Zeit gefreut«, antwortete Walther nicht ganz wahrheitsgemäß und wartete, bis Jemelins Frau ihm die erste Portion vorlegte. Die Füllung war derart scharf, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Jemelin bemerkte es und schenkte ihm rasch ein großes Glas Tequila ein. »Hier, trinken Sie!« »Danke!« Walther schüttete den scharfen Schnaps wie Wasser hinunter und spürte dabei weder dessen Geschmack noch den Biss des Alkohols. Mit einem Rest von Galgenhumor dachte er, dass Jemelin die Suppe und die Pfannkuchen, die Gisela diesem bei seinen Besuchen vorsetzte, wohl als arg fad empfinden musste. Das Essen dauerte seine Zeit, und anschließend fragte Jemelin Walther, was er und die anderen Siedler von der Loire noch benötigten. »Ich reite morgen nach San Felipe, um Don Hernando mitzuteilen, dass Komantschen in der Gegend gesehen worden sind. Auch muss ich ihm von der Ansiedlung der Americanos berichten. Wenn ich schon dort bin, werde ich mir einige Sachen besorgen und kann auch Ihnen etwas mitbringen«, bot er mit einem auffordernden Lächeln an. Walther dachte kurz nach und nickte. »Das wäre nett von Ihnen. Wir brauchen noch etwas Saatgut und ein paar Vorräte. Solange wir Häuser bauen und uns einrichten müssen, kommen wir nicht zum Jagen. Dabei gibt es hier genügend Wild. Wir benötigen auch weitere Waffen. Zwar besitzt jeder Siedler ein Gewehr, aber wenn wirklich Indianer angreifen, ist das zu wenig.« »Da haben Sie recht!«, stimmte Jemelin ihm zu. »Jeder meiner Vaqueros ist bewaffnet, und das ist auch notwendig. Es geht ja nicht nur um die Komantschen, denn deren Jagdgründe liegen weiter im Westen, sondern mehr noch um die Karankawa und die anderen Stämme in dieser Gegend. Die stehlen zwar meistens nur ein Stück Vieh, aber gelegentlich überfallen sie auch eine Hacienda. Da sollte ihnen schon mehr als eine Kugel entgegenfliegen. Ich werde sehen, was ich in San Felipe ausrichten kann.« »Herzlichen Dank! Im Grunde benötigen wir alles, was hier draußen gebraucht wird.« Walther ließ zu, dass Jemelin ihm sein Glas noch einmal füllte, und trank in kleinen Schlucken. Nun mischte sich auch Rosita Jemelin ins Gespräch. »Ich habe Gisela versprochen, ihr ein paar Kürbiskerne mitzugeben, damit sie welche ziehen kann.« Lächelnd stellte sie ein kleines Leinensäckchen auf den Tisch. »Ich habe aber auch noch Samen von dem guten Chili, den ich in die Suppe und die Tortillas tue. Gisela wird sich freuen, wenn sie ihn ansäen kann.« Ohne auf Walthers Antwort zu warten, holte sie einen kleinen Beutel und stellte ihn zu dem mit den Kürbiskernen. Walther starrte auf die Samensäckchen und überlegte, ob er den Chili nicht unterwegs verlieren sollte. Da Rosita seine Frau aber gewiss danach fragen würde, verwarf er diesen Gedanken sogleich wieder. Stattdessen zwang er sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich sage auch Ihnen herzlichen Dank, Señora. Sie sind sehr liebenswürdig!« »Ich freue mich doch, wenn ich Ihrer Frau helfen kann, rasch eigenes Gemüse zu ziehen«, erklärte Rosita Jemelin so strahlend, dass Walther sich schlecht fühlte, weil er ihrem Geschenk so wenig Freude entgegenbrachte. »Sie sollten über Nacht bleiben, denn es ist schon spät«, schlug Diego Jemelin vor. »In der Dunkelheit streifen Indios umher, und ein einzelner Reiter fällt ihnen leicht zum Opfer.« Ein Blick nach draußen zeigte Walther, dass Jemelin recht hatte. Wenn er jetzt aufbrach, würde er erst kurz vor Mitternacht zu Hause sein. Trotzdem zwang ihn seine Unruhe, Jemelins Einladung abzulehnen. »Wenn ich über Nacht ausbleibe, wird meine Frau sich ängstigen. Daher reite ich lieber zurück.« Er nahm die Samen an sich, bedankte sich noch einmal und verließ das Haus. Anders als die Häuser in San Felipe de Guzmán war es nicht aus Adobeziegeln errichtet worden, sondern aus Holz wie das seine. Noch gab es hier keine Arbeiter, die Ziegel formen und in der Sonne trocknen lassen konnten. Die würden erst kommen, wenn in dieser Gegend mehr Menschen lebten. Aus Mexiko selbst kamen jedoch zu wenige Siedler, und auch die Einwanderung aus Europa hielt sich in Grenzen, weil die meisten, die den alten Kontinent verließen, in die Vereinigten Staaten strebten. Vielleicht sind die von Hernando de Gamuzana und Diego Jemelin verachteten Americanos sogar die Lösung, sagte sich Walther. Wenn es weiter oben am Fluss eine Siedlung gab, konnte er mit den Bewohnern Handel treiben und vieles, was Gisela und er brauchten, von ihnen erstehen. Selbst wenn die Waren ins Land gekommen waren, ohne je einen mexikanischen Zollbeamten zu sehen, war es besser, sie zu besitzen, als darauf verzichten zu müssen. Doch das war nichts, worüber er mit Diego Jemelin sprechen durfte. Walther verabschiedete sich von seinen Nachbarn, stieg auf sein Pferd und ritt nach Norden. Obwohl es viel gab, über das nachzudenken sich lohnte, zwang er sich, aufmerksam zu sein. In diesem Land war es immer von Vorteil, als Erster den anderen zu sehen.
5.
Feindliche Indianer waren nur eine der vielen Gefahren, die hier drohten. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Giftschlange gebissen zu werden und elend umzukommen, war im Grunde größer. Auch konnte ein Pferd mit dem Huf in einem Kaninchen- oder Präriehundebau hängenbleiben und sich das Bein brechen. Walther schossen eine Menge Dinge durch den Kopf, die einem vor allem in der Dunkelheit zustoßen konnten, und er erwog einen Augenblick lang, umzudrehen und zu Jemelins Hacienda zurückzukehren. Der Gedanke, vor seinem Nachbarn als Feigling dazustehen, brachte ihn jedoch wieder davon ab. Stattdessen schlug er ein gemäßigtes Tempo an und hoffte, dass sein Pferd mögliche Hindernisse früh genug bemerkte. Walther wurde rasch klar, dass seine Schätzung, vor Mitternacht zu Hause zu sein, optimistisch gewesen war. Dafür war die Geschwindigkeit, die er seinem Reittier zumuten konnte, zu gering. Andererseits empfand er die vom Licht des fast vollen Mondes erhellte Landschaft als wunderschön. In der alten Heimat war er als Förster oft des Nachts unterwegs gewesen und hatte den Geräuschen des Waldes gelauscht. Auch in diesem Land vernahm er die Rufe der Tiere und den Wind, der durch die Büsche strich. Doch es wirkte anders auf ihn. Dort war er Herr über die Natur gewesen, hier war er nur ein winziger Splitter in einem unendlich erscheinenden Land, das ihn sowohl mit offenen Armen aufnehmen wie auch innerhalb eines Augenblicks vernichten konnte. In dieser Nacht dachte Walther viel an Gisela und das Kind, das in wenigen Wochen zur Welt kommen würde. Für ihn war es klar, dass es nur ein Sohn sein konnte, der einmal weiterführen würde, was er begonnen hatte. Noch wusste er nicht, welchen Namen er dem Jungen geben sollte. Der Tradition seiner Familie zufolge müsste er Waldemar heißen, nach seinem eigenen Vater, oder besser gesagt Waldemaro, wie es die mexikanischen Behörden verlangten. Vielleicht sollte er seinen Sohn besser Josef nennen, nach Giselas Vater. Rufen würde man ihn dann José, wie es hier üblich war. »José Fichtner oder Waldemaro Fichtner, was klingt besser?«, fragte er sich und zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen. Er musste vorsichtiger sein. Dies hier war nicht der Renitzer Forst, in dem er höchstens auf einen Wilddieb oder ein paar Landstreicher getroffen war. Hier gab es Indianer und wilde Tiere, die ihm und seinem Pferd gefährlich werden konnten. Der Gedanke brachte Walther dazu, die Zügel nur noch mit einer Hand zu halten und mit der anderen zur Büchse zu greifen, die ihm an einem Riemen über der Schulter hing. In den nächsten Stunden tat sich jedoch nichts, was Walther hätte beunruhigen müssen. Er sah in der Ferne bereits schattenhaft den Hügel, auf dem seine Farm stand, als plötzlich ein Schuss übers Land hallte. Gisela!, war sein erster Gedanke. Dann aber schüttelte er den Kopf. Ihre Pistole klang anders. Es musste bei den Vaqueros geschossen worden sein. Rasch zog er sein Pferd herum und spornte es an. Dabei verdrängte er den Gedanken an Hindernisse, über die sein braver Brauner stolpern konnte. Die kleine Herde war sowohl für ihn wie auch für die anderen Schiffbrüchigen von der Loire überlebenswichtig. Im Gegensatz zu ihm besaßen Thierry, Thomé und die anderen jeweils nur eine Kuh, und die durften sie auf keinen Fall verlieren. Eine kurze Zeit blieb es ruhig, und er dachte schon, einer der Hirten hätte auf einen Kojoten geschossen, um ihn zu verjagen. Da hörte er erneut einen Schuss, und zwar erschreckend nahe. Walther hielt an und versuchte, im Mondlicht zu erkennen, was sich dort tat. Die Rinder entdeckte er sofort. Zwei der Vaqueros waren bei ihnen und versuchten, sie zu beruhigen. Sie hielten jedoch ihre Waffen in der Hand und sahen sich immer wieder um. Den dritten Vaquero sah er nirgends. Dafür aber bemerkte er mehrere Schatten, die im Schutz der Büsche auf die kleine Herde zuschlichen. Das mussten Indianer sein. Hatten sie einen seiner Hirten bereits verletzt oder getötet?, fragte Walther sich, während er sein Pferd langsam weitergehen ließ und die Büchse schussbereit machte. Da knallte ein weiterer Schuss, und zwar jenseits der Hügel. Jetzt ahnte Walther, was die Indianer vorhatten. Während einer von ihnen einen oder zwei Vaqueros weglockte, wollten die anderen Tiere aus der Herde wegtreiben. Wie viele Viehdiebe es waren, konnte er nicht erkennen, begriff aber, dass seine Leute in höchster Gefahr schwebten. Walther schwang sich aus dem Sattel, um beim Schuss nicht durch eine Bewegung des Pferdes behindert zu werden, und legte an. Im Mondlicht entdeckte er drei Indianer, die der Herde bereits ziemlich nahe gekommen waren. Er zielte auf einen davon und wollte den Kugellauf abfeuern. Dann aber schreckte er davor zurück, einen Menschen einfach niederzuschießen. Kurz überlegte er, einen Warnschuss abzugeben. Da fiel ihm eine bessere Lösung ein. Die drei Indianer waren zu weit von ihm entfernt, als dass der Schrot sie schwer verletzen konnte, aber nahe genug, um die kleinen Kugeln zu spüren. Mit einem zufriedenen Lächeln spannte er den Abzugshahn des Schrotlaufs und drückte ab. Der Knall war lauter, als wenn er die Kugel abgeschossen hätte, und fast im gleichen Augenblick zuckten die drei Indianer zusammen. Auch wenn die Schrotladung auf die Entfernung ziemlich streute, so musste jeder doch mindestens drei oder vier der kleinen Kügelchen abbekommen haben, dachte Walther und machte den anderen Lauf schussbereit. Doch er brauchte ihn nicht mehr. Der so unerwartet in ihrem Rücken aufgetauchte Feind war für die Indianer zu viel. Zwei rannten los, der dritte folgte ihnen humpelnd, und schließlich gab auch noch ein weiterer, den Walther bisher nicht gesehen hatte, Fersengeld. Der Anblick brachte Walther zum Lachen. Doch jetzt hatten auch seine beiden Vaqueros die Kerle entdeckt und schossen hinter ihnen her. Eine Waffe knallte besonders laut, daher hielt Walther sie für die Pistole, die vom Großvater über den Sohn auf den Enkel weitervererbt worden war. Schaden richteten die Kugeln bei den Indianern nicht mehr an, sorgten aber dafür, dass diese noch schneller liefen. Einer der beiden Vaqueros holte ein Stück Holz aus dem Lagerfeuer, das nur an einem Ende brannte, und verwendete es als Fackel. Trotzdem hielt Walther es für besser, sich bemerkbar zu machen. »Ich bin es, Walther Fichtner!«, rief er seinen Männern zu. »Señor? Ihr seid gerade zur rechten Zeit gekommen«, antwortete Quique treuherzig. »Wir dachten, Julio hätte die Kerle mit seinen Schüssen verscheucht. Dass welche zurückgeblieben sind, haben wir gar nicht bemerkt!« »Waren es Komantschen?«, wollte Walther wissen. Quique schüttelte heftig den Kopf. »Wo denken Sie hin, Señor! Komantschen wären nicht nach einem Schuss von Ihnen davongerannt, sondern hätten uns alle massakriert.« »Das waren Karankawa oder einer der anderen Küstenstämme «, warf Lope ein. »Ich schätze, die werden nicht eher zu rennen aufhören, bis sie in ihrem Lager sind. Wenn wir Glück haben, finden wir sogar ihre Pferde. Wir könnten sie gut brauchen!« »Ihr sucht aber erst morgen«, mahnte Walther ihn und fragte dann nach Julio. »Er hat einen Indio entdeckt und wollte ihn verjagen. Da kommt er ja!« Quique wies nach Süden. Dort führte Julio zwei Pferde am Zügel und winkte schon von weitem mit der freien Hand. »Nicht schießen, Muchachos! Ich bin es nur. Schaut her! Mir sind ein paar prachtvolle Gäule über den Weg gelaufen. Vier der Karankawa werden jetzt zu zweit auf einem Pferd sitzen müssen, es sei denn, ihr habt einen davon erwischt.« »Haben wir nicht«, rief Quique ihm zu. »Ein paar der Indios wollten sich anschleichen. Doch unser Señor ist im rechten Augenblick gekommen und hat sie verjagt!« »Das ist gut! Ich hätte euch ungern tot und ohne Haare auf dem Kopf wiedergefunden.« Julio führte die Pferde heran und sah Walther grinsend an. »Den Kerlen haben wir es gezeigt, nicht wahr, Señor?« »Señor Waltero hat es ihnen gezeigt«, wies Quique seinen Freund zurecht. »Ohne ihn hätte es schlecht für uns ausgesehen. « »Jetzt stellt euer Licht nicht unter den Scheffel. Ihr habt gut aufgepasst und hättet die Indianer sicher früh genug entdeckt «, antwortete Walther erleichtert, weil alles gut ausgegangen war. Dann aber dachte er an Gisela und bekam Angst, die Indianer könnten versuchen, die Farm zu überfallen. Er wollte schon einen der Vaqueros auffordern, mit ihm zu kommen, sah dann aber, dass die kleine Herde sich zu zerstreuen begann, und wies auf die Tiere. »Ihr solltet die Kühe zusammentreiben, sonst läuft doch noch eine den Karankawa vor die Füße. Ich reite jetzt zur Farm.« Walther wandte sich bereits ab, da rief Julio hinter ihm her. »Jetzt, da wir Pferde haben, können uns die Kühe nicht mehr davonlaufen. Auf, Muchachos, wir wollen uns die Viecher holen!« Als Walther auf sein Pferd stieg und losritt, blickte er noch einmal kurz zurück. Julio und Quique saßen bereits auf den Indianergäulen und ritten hinter den Rindern her, die in Richtung des nächsten Buschwerks streben. Ob sie die Tiere vorher einfangen konnten oder sie aus dem Dornengestrüpp heraustreiben mussten, konnte er nicht mehr erkennen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Zu seiner Erleichterung machten die beiden keine Anstalten, ihren Platz zu verlassen. Sie hielten zwar ihre Bögen in der Hand, zielten aber nicht auf ihn. Dies wertete er als gutes Zeichen. Während er den Hang hochstieg, rief er sich in Erinnerung, was er über die Eingeborenen dieser Gegend wusste. Viel war es nicht. Seine mexikanischen Freunde teilten diese in zwei Gruppen ein, in jene Indios, die sich ihnen angepasst hatten und in ihren Dörfern lebten, und die Wilden, deren größte Freude es angeblich war, einem Mexikaner einen Pfeil in den Leib zu schießen. Die beiden Indianer vor ihm gehörten zur letzteren Gruppe. Etwa zehn Schritte von ihnen entfernt hielt Walther an und hob die Rechte zum Friedensgruß. »Buenos días!«, sagte er. Der Jüngere der beiden Reiter, ein untersetzter, kräftiger Mann mit rabenschwarzem Haar, in dem zwei Adlerfedern steckten, musterte ihn von oben herab. »Du Mann aus dem Norden?« Walther wusste, dass Männer aus den Vereinigten Staaten, von denen bereits etliche in Tejas siedelten, von den Mexikanern nicht gerne gesehen wurden, und auch dieser Indianer schien sie nicht zu mögen. »Nein!«, antwortete er. »Ich bin über das große Wasser gekommen und habe von der mexikanischen Regierung dieses Land hier erhalten, um es zu bebauen.« Der Indianer musterte ihn grimmig. »Ich Po'ha-bet'chy vom Volk der Nemene. Ich kämpfe gegen weiße Männer aus Norden. Ich nehme deinen Skalp!« »Was hast du davon?«, fragte Walther angespannt. »Ich habe dir nichts getan.« Po'ha-bet'chy warf einen Blick auf Walthers Büchse. Es war eine für diese Gegend ungewöhnliche Waffe mit zwei Läufen unterschiedlichen Kalibers und feinen Gravuren auf den Metallbeschlägen. Graf Renitz hatte sie vor mehr als dreißig Jahren Walthers Vater zur Hochzeit geschenkt. Später hatte Holger Stoppel sie benützt, bis sie schließlich in Walthers Hände gelangt war. Einst gemacht, um in deutschen Forsten Wild zu schießen, erfüllte sie nun in der Wildnis von Tejas ihre Dienste. »Du schönes Gewehr«, sagte der Nemene. »Du zeigen!« Damit brachte er Walther in die Klemme. Wenn er dem Indianer die Büchse gab, war er selbst waffenlos und ein leichtes Opfer. Weigerte er sich jedoch, zeigte er, dass er dem anderen misstraute. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er langsam auf den Reiter zutrat und ihm schließlich die Büchse hochreichte. »Hier! Sie stammt aus der Stadt Suhl in Thüringen. Dort leben die besten Büchsenmacher Deutschlands.« Die drei Begriffe sagten Po'ha-bet'chy nichts, aber die Waffe gefiel ihm. Er musterte den eingravierten Hirsch auf dem Beschlag und die unbekannten Schriftzüge. Danach roch er an den Mündungen der beiden so unterschiedlichen Läufe. Kurz legte er die Waffe auf Walther an und lachte, als dieser zurückzuckte. »Gutes Gewehr. Will schießen!« Noch während er es sagte, entdeckte er ein Kaninchen, das knappe hundert Schritt entfernt aus seinem Bau herauskam. Er zielte darauf und drückte ab. Der Schuss knallte, und noch während das Kaninchen sich überschlug und liegen blieb, stoben mehrere Präriehühner aus einem Gebüsch auf. Aus einem Reflex heraus feuerte Po'ha-bet'chy darauf und sah staunend, wie bei zweien davon Federn davonwirbelten und sie zu Boden stürzten. »Hol die Tiere, Ta'by-to'savit«, sagte er in seiner Sprache zu seinem Gefährten. Dieser jagte im Galopp zu der Stelle, an der das Kaninchen lag, beugte sich im Vorbeireiten nieder und hob es mit einem schrillen Ruf auf. Ebenso verfuhr er mit den beiden Präriehühnern. Walther sah staunend zu. Einen so geschickten Reiter hatte er noch nie gesehen. Unterdessen betrachtete Po'ha-bet'chy nachdenklich die Büchse. Die Waffe war gut, und er hätte sie gerne gehabt. Dann aber schüttelte er den Kopf und gab sie Walther zurück. »Du kein Mann aus dem Norden. Sonst Gewehr du mir nicht gegeben. Haben du Salz?« »Ja, auf meiner Farm«, antwortete Walther zögernd. Es drängte ihn, die Büchse wieder zu laden, um sich nicht länger wehrlos zu fühlen. Doch um den beiden Nemene keinen Grund zum Misstrauen zu geben, ließ er sich dabei Zeit und zeigte Po'ha-bet'chy die kleinen Schrotkugeln. Dieser nahm eine in die Hand und schüttelte ungläubig den Kopf. »Präriehühner weit weg. Kein Gewehr mit vielen kleinen Kugeln so weit schießen!« »Du hast es doch selbst erlebt. Oder sehe nur ich die beiden Vögel, die dein Freund in der Hand hält?«, antwortete Walther lächelnd. Po'ha-bet'chy forderte seinen Begleiter auf, ihm die Präriehühner zu geben, und sah nun selbst, dass jedes davon von mehreren Schrotkugeln getroffen worden war. »Das besonderes Gewehr«, sagte er staunend und wies dann in Richtung der Farm. »Jetzt Salz holen!« Es gefiel Walther wenig, dass die Nemene zur Farm wollten. Um sie daran zu hindern, hätte er sie jedoch über den Haufen schießen müssen, und das wollte er nicht. »Es ist nicht weit«, sagte er und schritt neben Po'ha-bet'chys Schecken her.
2.
Gisela fühlte sich nicht wohl. Es war ihr kein Trost, dass ihre Nachbarin Rosita Jemelin erklärt hatte, Schwangerschaften würden solche Beschwerden mit sich bringen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag über im Bett geblieben und hätte geweint. Gerade das konnte sie sich aber nicht leisten. Walther und Pepe benötigten etwas zu essen, und sie musste sich dringend um die Gemüsepflanzen kümmern. Jetzt bedauerte sie doppelt, dass Gertrude Schüdle, die in den ersten Wochen bei ihnen gewohnt und ihr geholfen hatte, zu den Poulains gezogen war. Dort wurde sie allerdings dringender gebraucht als hier. Charlotte Poulain war durch einen Schlangenbiss schwer erkrankt und die achtjährige Cécile noch zu klein, um den Haushalt zu führen. Durch Gertrudes Abreise war einiges liegengeblieben. Wenigstens versorgten die drei Hirten sich selbst und kamen nur alle paar Tage zur Farm, um Vorräte zu holen. »Ich darf Walther nicht im Stich lassen, nachdem er so viel für mich getan hat«, sagte sie stöhnend zu sich selbst und kämpfte sich hoch. Es fiel ihr schwer, sich zu waschen und anzuziehen. Danach musste sie das Feuer auf dem Herd entzünden, Wasser vom Bach holen und einen Kochtopf über die Flamme hängen. Während sie die Graupen für die Suppe abmaß, sehnte sie sich in die gut eingerichtete Küche im Renitzer Forsthaus zurück. Doch der Weg dorthin war ihr für immer versperrt. »Stell dich nicht so an!«, rief sie sich zur Ordnung. »Du lebst jetzt hier und musst mit dem auskommen, was du hast!« Sie sagte sich, dass es Walther und ihr weitaus besser ging als vielen anderen Auswanderern, die in die Dienste fremder Leute hatten treten müssen, um nicht zu verhungern. Sie hingegen besaßen Land und ein eigenes Haus, auch wenn es kleiner war als das Forsthaus im Wald von Renitz. Draußen weideten mehrere Kühe und ein Bulle. Auch hatte Walther mit Hilfe ihrer Freunde Thierry Coureur und Thomé La- balle und dem Zugochsen, der ihnen gemeinsam gehörte, das erste Getreide ausgesät. »Nächstes Jahr wird alles besser«, sagte sie laut, um sich selbst Mut zu machen. Dann war sie auch die Last in ihrem Leib los, von der sie noch immer nicht wusste, ob sie sie nun lieben oder verdammen sollte. Wäre sie sicher gewesen, dass es Walthers Kind war, hätte sie die Beschwerden der Schwangerschaft mit Freuden auf sich genommen. Doch wenn sie in den Nächten schlaflos neben ihrem Mann lag, erlebte sie in Gedanken immer wieder, wie Diebold von Renitz sich ihrer bemächtigt und sie vergewaltigt hatte. Sie hatte den jungen Renitz erschießen müssen, als dieser ihren Mann töten wollte, und seit jenem Tag klebte Blut an ihren Händen. Zu manchen Zeiten glaubte sie, es immer noch daran zu sehen. Auch jetzt eilte sie zum Wassereimer, um die Hände zu waschen, und kämpfte gegen das Gefühl an, Diebold von Renitz' Blut würde sie zeichnen wie ein Kainsmal. Niedergeschlagen, weil sie sich an diesem Tag schon wieder mit der Vergangenheit beschäftigte, widmete sie sich ihrer Arbeit und blickte zwischendurch zu einem der kleinen Fenster hinaus, um zu sehen, ob Walther schon von seinem Kontrollgang zurückkam. Mit einem Mal entdeckte sie zwei Reiter und zuckte zusammen. Es waren Indianer - ihrem Aussehen nach Wilde, wie die Mexikaner sie bezeichneten. So rasch sie konnte eilte sie zur Tür und schob den Riegel vor. Anschließend nahm sie die Pistole, die ihr Mann zurückgelassen hatte, damit sie während seiner Abwesenheit nicht wehrlos war, und schüttete mit zitternden Händen Pulver auf die Zündpfanne. Erst als die Waffe schussfertig war, wagte sie erneut einen Blick ins Freie. Nun erst entdeckte sie bei den Indianern auch Walther, der wohl von einem Pferd verdeckt gewesen war. Er trug seine Büchse über der Schulter und unterhielt sich mit ihnen. Gisela atmete auf. Zwar wusste sie nicht, welchem Stamm die Reiter angehörten, aber sie schienen friedlich zu sein. Trotzdem blieb sie auf der Hut und wartete, bis die Männer vor dem Haus anhielten. Walther sah den Rauch, der aus dem einfachen Kamin aufstieg, und nahm an, dass seine Frau im Haus war. Da er sich vorstellen konnte, wie sie sich ängstigte, beschloss er, laut zu rufen: »Gisela, es ist alles in Ordnung! Die beiden wollen nur ein wenig Salz eintauschen!« Da er es auf Deutsch sagte, verstand Po'ha-bet'chy ihn nicht. Allerdings konnte der Nemene genug Englisch, um den Unterschied zu bemerken. »Du wirklich kein Mann aus dem Norden«, erklärte er. »Weiter oben am Fluss sind welche.« »Flussaufwärts gibt es amerikanische Siedlungen?« Walther wunderte sich, denn davon hatte er bislang nichts erfahren. Gleichzeitig dachte er, wie unsinnig es war, die Bewohner der Vereinigten Staaten Amerikaner zu nennen, da ja auch die Mexikaner auf demselben Kontinent lebten. Po'ha-bet'chy nickte zufrieden. Die Amerikaner, die er bisher kennengelernt hatte, sprachen anders als dieser Mann. Sie kauten die Worte beinahe, so dass man sie kaum verstand. Der Fremde aber sprach deutlich und mit merkbaren Pausen zwischen den einzelnen Worten. »Amerikaner so weit entfernt, wie ein Nemene an einem halben Tag reitet.«
»Danke für die Auskunft!«, antwortete Walther nachdenklich. Bis jetzt hatte er geglaubt, die Siedler auf Ramón de Gamuzanas Landlos wären die einzigen im weiten Umkreis. Er fragte sich, weshalb Ramón de Gamuzanas Bruder Hernando oder Diego Jemelin nichts von anderen Ansiedlungen in der Gegend gesagt hatten. Während des kurzen Gesprächs hatte Gisela ihre Pistole in einer Tasche ihres Kleides versteckt und öffnete die Tür. »Guten Tag!«, grüßte sie unwillkürlich auf Deutsch. Die beiden Nemene beachteten sie nicht, sondern sahen Walther an. »Salz!«, forderte Po'ha-bet'chy. Walther trat ins Haus und öffnete die Kiste mit dem grobkörnigen Salz, das an einigen Stellen der Küste gewonnen wurde. Er füllte zwei Handvoll in einen Lederbeutel und reichte diesen dem Nemene, der ihm ins Haus gefolgt war. »So viel kann ich dir mit gutem Gewissen geben!« Po'ha-bet'chy musterte den Beutel, blickte sich dann in dem einen Raum um, aus dem das Bauwerk bestand, und sah zuletzt Gisela an. Ihr schwarzes Haar ließ ihre bleichen Züge schärfer hervortreten, und ihre Schwangerschaft war unübersehbar. Allerdings roch sie nicht gesund. Daher wahrte er Abstand von ihr, nahm den Beutel mit dem Salz und ging wieder hinaus. Mit einem einzigen Satz saß er auf seinem Pferd und lenkte es allein mit den Schenkeln. Bevor er losritt, nahm er seinem Freund eines der beiden Präriehühner ab und warf es Walther zu. »Für Salz«, sagte er und trieb sein Pferd fast ansatzlos in den Galopp. Ta'by-to'savit folgte ihm mit schrillen Rufen. Innerhalb kürzester Zeit waren die beiden außer Schussweite und verschwanden wenig später hinter den Hügeln.
Walther blickte ihnen nach, bis sie am Horizont verschwunden waren, und atmete dann erleichtert auf. Gott sei Dank war alles gutgegangen, aber ihm war klar, dass nicht jeder Besuch eines Indianers so friedlich enden würde wie dieser. Nun lobte er Gisela wegen ihrer Beherztheit und zog sie an sich. »Ich bin so glücklich, dich zu haben!« »Ich bin auch glücklich!« Trotz dieser Versicherung kamen Gisela die Tränen. Walther sah sie erschrocken an. »Was ist mit dir, mein Liebes? « »Nichts! Nur eine Laune, wie sie schwangere Frauen überfällt. Rosita Jemelin hat mich davor gewarnt. Sie sagt, man bricht in Tränen aus, nur weil man sich freut.« »Es wäre besser, du hättest mehr weibliche Gesellschaft«, antwortete Walther nachdenklich. »Du triffst dich nur alle ein, zwei Wochen mit Rosita und hast sonst niemanden. Wie wäre es denn, wenn ich bei meinem nächsten Besuch von Hernando de Gamuzana in San Felipe eine der Frauen dort frage, ob sie als Magd zu uns kommen möchte?« Der Vorschlag klang im ersten Moment verlockend, fand Gisela, denn dann würde sie der Magd die schwerste Arbeit im Haushalt überlassen können. Doch dieser Umstand sprach letztlich auch dagegen. Keine der anderen Siedlerfrauen hatte eine Magd, und als Walthers Ehefrau musste sie in der Lage sein, diese Pflichten selbst zu erfüllen. Zwar ging es ihr in diesem Stadium ihrer Schwangerschaft nicht gut, aber das sollte sich Rosita Jemelin zufolge bald wieder bessern. Daher schüttelte sie den Kopf. »Das bisschen, was zu tun ist, schaffe ich schon allein. Aber jetzt verzeih, ich muss mich um die Suppe kümmern. Was soll ich übrigens mit diesem Vogel machen, den der Indianer für das Salz hiergelassen hat? Möchtest du ihn gebraten, oder soll ich das Fleisch klein schneiden und damit die Pfannkuchen füllen, wie es hier üblich ist? Bohnen hätte ich noch.« Der Gedanke an ein gebratenes Huhn ließ Walther das Wasser im Mund zusammenlaufen. »Ich glaube, am Spieß macht es sich am besten. Wir können es uns heute Abend teilen.« »Dann sollten wir aber auch Pepe ein Stückchen geben, damit er nicht nur Suppe essen muss!« »Wenn er heute noch zurückkommt. Vielleicht bleibt er auch über Nacht bei Jemelin.« Gisela runzelte die Stirn. »Das wäre mir nicht so recht! Er hat nämlich versprochen, meinen Gemüsegarten zu vergrößern. Rosita Jemelin wollte ihm Kürbiskerne für mich zum Aussäen mitgeben. Du magst doch Kürbis?« Walther nickte. »Ich mag alles, was du mir kochst!« »Die Suppe! Nicht, dass sie überkocht.« Mit diesen Worten eilte Gisela an den Herd und griff nach dem Kochlöffel. Einen Augenblick lang sah Walther ihr zu, dann sagte er sich, dass er selbst damit beginnen konnte, ein paar neue Beete für Gisela auszuheben. Doch zunächst würde er nach den drei Hirten schauen müssen und ihnen sagen, dass Indianer in der Nähe waren. »Gisela, kann ich dich eine Stunde allein lassen?«, fragte er. »Aber natürlich! Ich werde die Tür verschließen, damit kein ungerufener Besucher hereinkommt, und zum anderen habe ich deine Pistole!« Damit zog Gisela die Waffe aus ihrem Kleid und zeigte sie Walther. Dieser trat auf sie zu und legte die Arme um sie. »Du bist so mutig und hättest ein besseres Leben verdient.« Gisela sah ihn kurz an und lehnte sich dann gegen ihn. »An deiner Seite habe ich das schönste Leben der Welt!«
3.
Walther traf seine drei Vaqueros unversehrt an. Diese hatten die beiden Nemene nicht bemerkt. Stattdessen wies Quique, mit vierzehn Jahren der Jüngste von ihnen, stolz auf ein Kälbchen, das neben seiner Mutter lag und fest schlief. »Es ist heute Nacht geboren worden, Señor. Es ist ein Kuh- kalb und wird später einmal selbst viele Kälber bekommen.« »Sehr schön! Das habt ihr gut gemacht.« Walthers Lob freute die Burschen. Bis jetzt hüteten sie nur seine drei Kühe und den Bullen sowie ein halbes Dutzend weiterer Kühe, die Thierry Coureur, Thomé Laballe, Albert Poulain und einigen anderen Überlebenden der Loire gehörten. In ihren Träumen aber sahen sie sich bereits als Vormänner über viele andere Vaqueros, denen eine riesige Herde anvertraut war. »Die zweite Kuh wird auch bald kalben. Die anderen brauchen länger«, erklärte Julio, ihr Anführer. »Passt auf, dass die Kühe und die Kälber keinem Raubtier zum Opfer fallen, und gebt auf Indianer acht!«, wies Walther die Vaqueros an, die selbst zum Teil indianischer Abstammung waren. Er behandelte sie nicht anders als die Knechte in seiner Heimat. Das hatten Julio, Lope und Quique verdient. Ihre Arbeit war nicht ungefährlich, denn Kühe stellten für streifende Indianer eine ständige Versuchung dar. Anders als Wildtiere konnte man sie leicht erjagen, und sie lieferten Fleisch für eine ganze Sippe. Nachdenklich betrachtete Walther die Waffen der drei. Julio besaß als Einziger ein Gewehr, das den Namen auch verdiente. Die anderen beiden hatten Pistolen ehrwürdigen Alters in den Gürteln stecken, mit denen er selbst keinen Schuss mehr gewagt hätte. »Wenn ich wieder nach San Felipe komme, werde ich bessere Waffen für euch kaufen«, versprach er. »Unsere Waffen sind gut!«, rief Quique. »Diese Pistole hier hat Don Alfonso de Gamuzana, der Großvater von Don Hernando, meinem Großvater geschenkt. Sie hat ihm und meinem Vater gute Dienste geleistet, und jetzt besitze ich sie.« »Ich werde euch trotzdem neue Gewehre besorgen. Du kannst ja das deine später einmal an einen Sohn und Enkel vererben.« Walther klopfte dem Jungen lachend auf die Schulter und verabschiedete sich. »Adiós, Señor!«, riefen die Hirten ihm nach. Sie waren in einem anderen Land als er geboren und hatten von ihren Müttern eine andere Sprache gelernt, dennoch fühlte Walther sich stärker mit ihnen verbunden als mit den meisten Menschen, die er in seiner Heimat gekannt hatte. Während er zu seiner Farm zurückritt, dachte er auch über die beiden Indianer nach, die er getroffen hatte. Noch immer wusste er nicht, was er von ihnen halten sollte. Waren sie gekommen, um zu prüfen, ob sich ein Überfall lohnte? Bei dem Gedanken fiel ihm ein, dass er in Kürze zur Küste würde reiten müssen, um Neusiedler in San Felipe de Guzmán abzuholen. In dieser Zeit musste Gisela mit Pepe allein auf der Farm bleiben. Dem Knecht traute er jedoch nicht den Mut und die Entschlossenheit zu, um sich gegen eine Gruppe wilder Indianer zu behaupten. Und doch würde er den Auftrag erfüllen müssen, den Hernando de Gamuzana ihm im Namen seines Bruders Ramón erteilt hatte. Immerhin hatte er das größte Stück Land von allen Überlebenden der Loire erhalten und war dafür zum Verwalter des Nordteils jenes Gebiets ernannt worden, das Ramón de Gamuzana im Auftrag der Republik Mexiko besiedeln sollte. Kurz bevor er seine Farm erreichte, sah er, dass zwei Pferde vor dem Haus angepflockt waren. Sofort trieb er seinen Hengst an und war kurz darauf zutiefst erleichtert, als er Di- ego Jemelins Rotschimmel erkannte. Jemelin war nicht nur sein nächster Nachbar, sondern auch der Verwalter des südlichen Teils des Siedlungsgebiets. Der andere Gaul war ein Schecke, den er schon bei Jemelin gesehen hatte. Noch während Walther sein Pferd neben Jemelins Hengst anband, trat dieser auch schon aus dem Haus. Auch er war zum Teil indianischer Abstammung, einen guten halben Kopf kleiner als Walther, untersetzt und so zäh, dass er drei Tage lang durchreiten konnte, ohne Pause zu machen. Da er einen scharfen Verstand besaß, war er für Ramón de Gamuzana der ideale Mann, die Ansiedlung in diesem Gebiet zu leiten. »Buenos días, Señor Jemelin«, begrüßte Walther ihn. »Buenos días, Señor Waltero!« Jemelin hatte es aufgegeben, Walthers Nachnamen Fichtner aussprechen zu wollen, und nannte ihn Waltero, wie es den Vorgaben der mexikanischen Behörden entsprach, die eine Angleichung der Vornamen an die spanische Schreibweise verlangten. »Ich habe von Ihrer Señora gehört, dass sich hier Indios herumtreiben sollen. Gab es Probleme mit Ihren Rindern?« »Zum Glück keine! Eine Kuh hat heute Nacht gekalbt«, antwortete Walther aufgeräumt. »Es wird nicht das einzige Kalb bleiben. In fünf Jahren haben Sie mindestens zwanzig Rinder und in zehn hundert«, prophezeite Jemelin, um dann wieder auf die Indianer zurückzukommen. »Was waren das für Indios? Karankawa? Die schweifen in letzter Zeit wieder arg herum, seit sie weiter im Osten mit Americanos aneinandergeraten sind.« Walther zuckte mit den Schultern. »Ich kenne mich mit den verschiedenen Indianerstämmen nicht so aus wie Sie, Señor Jemelin. Die beiden Männer sagten, sie wären Nemene!« »Madre de Dios!« Jemelin wurde bleich und schlug das Kreuz. »Wissen Sie, was das sind? Komantschen! Die Schlimmsten von allen! Danken Sie der Heiligen Jungfrau von Guadalupe dafür, dass Sie noch leben. Bei Gott, wenn ich daran denke, dass diese Wilden hier durch unsere Gegend schweifen! Ich werde sofort nach Hause reiten und meine Leute warnen. Auch muss ich Botschaft an Don Hernando schicken, damit er uns Soldaten schickt. Wir brauchen sie dringend.« Walther wunderte sich. So gefährlich hatte dieser Po'hasonst- was in seinen Augen nicht gewirkt. Allerdings war Jemelin in diesem Land aufgewachsen und besaß Erfahrung mit den Indianern. »Meinen Sie wirklich, dass diese Leute gefährlich sind?«, fragte er schließlich. »Und wie! Sie überfallen unsere Dörfer und töten jeden, der ihnen in die Hände fällt. Es sind Räuber, Banditen, Mörder und was nicht noch alles. Ich bete zu Gott, dem Herrn, dass ich nie auf einen Komantschen treffe. Ihre Esposa hat mich zum Essen eingeladen. Aber das kann ich nicht mehr annehmen, denn ich muss sofort nach Hause reiten. Hasta la vista, Señor Waltero! Gebe die Heilige Jungfrau, dass die Komantschen weiterziehen.« Damit eilte Jemelin zu seinem Pferd, löste die Zügel vom Balken und schwang sich in den Sattel. Er winkte noch einmal, gab dem Gaul die Sporen und preschte noch schneller los, als die beiden Komantschen es getan hatten.
Walther sah ihm kopfschüttelnd nach und betrat dann das Haus. »Bis jetzt habe ich Jemelin für einen besonnenen Mann gehalten. Aber er scheint mir nicht sonderlich mutig zu sein.« »Das hat nichts mit Mut zu tun«, rief Pepe, der sich ebenfalls bekreuzigte. »Komantschen sind Teufel! Ich kann es kaum glauben, dass Sie und die Señora unbeschadet davongekommen sind.« Der junge Bursche saß am Tisch und zitterte so sehr, dass er den Löffel kaum zum Mund führen konnte. »Wie Teufel sahen mir die beiden nicht aus. Sie wollten nur ein wenig Salz eintauschen, und dafür haben sie uns dieses Huhn überlassen.« Gisela zeigte auf den knusprig glänzenden Vogel, der auf einem Bratspieß über dem Herd steckte. Pepe starrte sie an, als zweifle er an ihrem Verstand. Mit bleicher Miene zählte er ihnen eine Reihe schrecklicher Taten auf, welche die Komantschen begangen haben sollten. Ins geheim dachte er, dass in den Adern des Alemán und dessen Ehefrau anstatt warmen Blutes das Eiswasser ihrer kalten Heimat fließen musste. Jeder Mexikaner in den nördlichen Bundesstaaten fürchtete die Räuber der Prärie. Bislang hatten die Komantschen weiter im Norden und Westen gejagt. Doch wie es aussah, kamen sie nun auch in diese Gegend. Daher beschloss Pepe, der Heiligen Jungfrau von Guadalupe eine Kerze zu stiften, wenn er dieses Jahr lebend überstehen sollte.
4.
Da Diego Jemelin so überraschend aufgebrochen war, hatte Walther nicht mit ihm über die Nordamerikaner sprechen können, die nach Auskunft des Komantschen weiter nördlich am Fluss siedeln sollten. Er hielt diese Information jedoch für so wichtig, dass er am nächsten Morgen zu Jemelins Farm aufbrach. Unterwegs musterte er die Landschaft um sich herum, die ihm immer noch fremd erschien. Während nahe dem Fluss Büsche und das Wäldchen standen, aus dem er und seine Nachbarn ihr Bauholz gewonnen hatten, wurde es mit zunehmendem Abstand zum Wasser trockener, und dort wuchsen Pflanzen, die er nicht kannte. Doch auch dieses Land müsste sich nutzen lassen. Wo es Wasser gab, konnte man die Erde umpflügen und in Äcker verwandeln. Gut die Hälfte seines eigenen Besitzes war dafür geeignet. Der Rest ließ sich als Weideland für Rinder verwenden. Um aber an den Tieren und den Feldfrüchten zu verdienen, benötigte er Menschen, die diese kauften. Walther musste über sich selbst lachen. Das alles waren noch Hirngespinste. Zuerst galt es, die nächsten Monate zu überleben. Mit diesem Gedanken ritt er über ein Stück sandigen Bodens, auf dem nur ein paar Agaven und einige Bäume wuchsen, die ihn an Bilder von Palmen erinnerten, welche er in einem Buch gesehen hatte. Auch dieses Gebiet gehörte zu seinem Grund und Boden und bildete die Grenze zu Jemelins Besitz. Bald traf Walther wieder auf Grasland und sah wenig später das Wäldchen vor sich, in dessen Nähe Jemelin seine Farm oder - wie dieser es nannte - seine Hacienda errichtet hatte. Wäre er dem Fluss gefolgt, hätte er fast einen ganzen Tag reiten müssen, um hierherzugelangen. So hatte er die Flussschleife abgekürzt und weniger als ein Viertel der Zeit gebraucht. Auf den ersten Blick war zu sehen, dass Diego Jemelin schon länger hier lebte als Gisela und er. Die Felder in der Nähe des Flusses trugen Mais, und in dem großen Garten am Haus rankten sich Bohnen an den Stangen hoch. Auch gab es Gurken, Tomaten und andere Pflanzen, die nur hier in Amerika wuchsen und anscheinend gerne gegessen wurden. Auch Gisela und er würden sich an die Früchte und das Gemüse dieses Landes gewöhnen müssen, dachte er, als er auf die buschartige Einfriedung zuritt, welche die Farmgebäude umgab. Jemelin besaß nicht nur ein weit größeres Wohnhaus als er, sondern dazu noch einen Stall, zwei Schuppen und eine Unterkunft für das halbe Dutzend Vaqueros und die Peones, die für ihn arbeiteten. So ähnlich, hoffte Walther, würde seine Farm in zwei, drei Jahren ebenfalls aussehen. Als er durch das Tor der Einfriedung ritt, vernahm er einen schrillen Pfiff. Sofort eilte Jemelin mit dem Gewehr in der Hand aus dem Haus, stellte die Waffe aber ab, als er Walther erkannte. Dieser stieg aus dem Sattel und drückte die Zügel einem herbeieilenden Knecht in die Hand. »Buenos días!«, grüßte er. »Willkommen, Señor Waltero! Was führt Sie zu mir?« Jemelin übergab sein Gewehr einem seiner Leute und trat mit ausgestreckter Hand auf Walther zu. Inzwischen war auch Jemelins Ehefrau Rosita aus dem Haus gekommen und sah Walther verwundert an. »Sie haben Ihre Frau allein zu Hause gelassen, obwohl hier wilde Horden von Komantschen herumstreifen? Ich würde mich zu Tode ängstigen und hätte zudem Sorge um meine Kinder!« Sie wies dabei auf das Mädchen und den Jungen, die, von einer Magd beaufsichtigt, in der Nähe spielten.
»Ganz allein ist Gisela nicht, denn Pepe ist bei ihr«, antwortete Walther. Rosita, eine stämmige, vor Gesundheit strotzende Frau, schüttelte den Kopf. »Pepe wird ihr keine Hilfe sein. Der stirbt vor Angst, wenn er einen Komantschen auch nur von weitem sieht.« »Rosita, jetzt mach Señor Waltero nicht bange«, wies ihr Mann sie zurecht und führte Walther ins Haus. »Sie sollten nichts auf das Gerede meiner Frau geben, mein Freund. So feige ist Ihr Peon auch wieder nicht. Ihre Frau ist zudem beherzt genug, einem wilden Indianer eine Kugel aufzubrennen! « »Sorgen macht man sich natürlich«, bekannte Walther. »Aber wir siedeln nun einmal am Rande der Zivilisation.« »Eher ein wenig darüber hinaus«, antwortete Jemelin lachend. »Die nächste Stadt ist San Felipe de Guzmán, und die liegt viele Meilen entfernt. Im Grunde ist der Ort nur ein größeres Dorf, und nicht anders ist es mit San Antonio de Bexár und den meisten Orten, die wir von hier aus erreichen können. In die Provinzhauptstadt brauchen wir zu Pferd schon drei Wochen und mit einem Wagen fast dreimal so lang.« »Wir sollten in diesem Land Städte bauen, damit wir unsere Erzeugnisse verkaufen können«, erklärte Walther. »Sicher, das müssen wir! Aber vorher sollten wir einen Tequila trinken.« Jemelin holte die Flasche aus einem Schrank. »Sie haben sicher auch Hunger«, meinte er dann zu Walther. »Ein wenig schon«, antwortete dieser und nahm das Glas zur Hand. »A su salud!« Jemelin stieß mit ihm an und bat ihn, am Tisch Platz zu nehmen. »Meine Rosita backt gleich ein paar Tortillas mit Bohnen, Mais und Hackfleisch.« Als Walther sah, dass die Frau die kleinen, scharfen Schoten, die hier so geliebt wurden, klein schnitt und in die Masse tat, mit denen die Tortillas gefüllt werden sollten, bedauerte er seinen Gaumen und seinen Magen. Ablehnen aber konnte er das Essen nicht, wenn er die Jemelins nicht tödlich beleidigen wollte. Auch der Schnaps war scharf. Lieber hätte Walther Bier getrunken, doch das gab es in der ganzen Gegend nicht. Auch Wein war selten, weil er aus dem Süden in das Siedlungsgebiet gebracht werden musste. Bei diesem Gedanken erinnerte er sich an den Grund seines Kommens und sah Diego Jemelin scharf an. »Wissen Sie, dass sich weiter im Norden Amerikaner angesiedelt haben sollen?« »Es gibt im Land etliche Siedlungen der Americanos. Sie sind wie eine Pest, die sich überall ausbreitet. Deshalb hat die Regierung der Republik Mexiko auch den weiteren Zuzug aus den Vereinigten Staaten verboten.« Jemelin machte eine angewiderte Geste und fragte dann, woher Walther von diesen Amerikanern erfahren habe. »Sie werden es nicht glauben, aber die Komantschen haben es mir erzählt.« Jemelin lachte leise auf. »Und denen glauben Sie?« »Das tue ich.« Walther tippte mit dem Zeigefinger in sein Schnapsglas und zeichnete in etwa den Flusslauf auf die Tischplatte. »Hier sind Sie und hier wir. Laut dem Komantschen müsste sich die Siedlung etwa hier befinden.« Jetzt wurde Diego Jemelin nachdenklich. »Die Leute müssen den Behörden entgangen sein. Ich weiß nichts von ihnen, und ich schwöre beim Leben meiner Frau, dass Hernando und Ramón de Gamuzana es auch nicht wissen.« »Wir sollten sie uns einmal anschauen«, erklärte Walther. »Die Amerikaner rücken unserem Siedlungsgebiet ziemlich nahe. Es ist kaum verwunderlich, dass sie uns bisher entgangen sind, denn so weit flussaufwärts sind wir noch nicht gekommen. Ich frage mich nur, wie sie es geschafft haben, so weit nach Norden zu gelangen. Von Süden aus hätten sie Ihr und unser Siedlungsgebiet weiträumig umgehen müssen.« »Sie könnten aus dem Osten gekommen sein«, wandte Jemelin ein. »Dort gibt es eine Siedlung namens Nacogdoches, in der auch Americanos leben. Von dort ist es nicht weit nach Louisiana, und das gehört zu den Vereinigten Staaten von Amerika.« »Auf jeden Fall müssen wir mit den Leuten Kontakt aufnehmen. Vielleicht können wir uns gegenseitig unterstützen«, schlug Walther vor. Jemelin schüttelte sofort den Kopf. »Das sollten wir den Männern des Gouverneurs überlassen! Ich glaube nicht, dass diese Americanos die Erlaubnis besitzen, hier zu siedeln, sonst hätte ich es erfahren. Doch wenn diese Leute glauben, sie können einfach nach Tejas kommen und sich ein Stück Land nehmen, so haben sie sich getäuscht.« Derart verärgert hatte Walther seinen Nachbarn noch nie erlebt. Jemelins Abneigung gegen die Nordamerikaner übertraf sogar noch die, die Hernando de Gamuzana gezeigt hatte. Solange sich die Siedler an die mexikanischen Gesetze hielten, musste es doch gleichgültig sein, aus welchem Land sie stammten, sagte er sich. Aber er wollte sich nicht mit Jemelin streiten und behielt seine Meinung für sich. Stattdessen wies er nach draußen, wo der Sonnenstand bereits den Nachmittag anzeigte. »Wenn ich heute noch nach Hause kommen will, sollte ich jetzt aufbrechen.« »Sie haben doch noch gar nichts gegessen«, wandte Jemelin ein. »Rosita hat extra Tortillas für Sie gebacken.«
»Dann bleibe ich natürlich noch ein Weilchen. Auf Señora Rositas Tortillas habe ich mich schon die ganze Zeit gefreut«, antwortete Walther nicht ganz wahrheitsgemäß und wartete, bis Jemelins Frau ihm die erste Portion vorlegte. Die Füllung war derart scharf, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Jemelin bemerkte es und schenkte ihm rasch ein großes Glas Tequila ein. »Hier, trinken Sie!« »Danke!« Walther schüttete den scharfen Schnaps wie Wasser hinunter und spürte dabei weder dessen Geschmack noch den Biss des Alkohols. Mit einem Rest von Galgenhumor dachte er, dass Jemelin die Suppe und die Pfannkuchen, die Gisela diesem bei seinen Besuchen vorsetzte, wohl als arg fad empfinden musste. Das Essen dauerte seine Zeit, und anschließend fragte Jemelin Walther, was er und die anderen Siedler von der Loire noch benötigten. »Ich reite morgen nach San Felipe, um Don Hernando mitzuteilen, dass Komantschen in der Gegend gesehen worden sind. Auch muss ich ihm von der Ansiedlung der Americanos berichten. Wenn ich schon dort bin, werde ich mir einige Sachen besorgen und kann auch Ihnen etwas mitbringen«, bot er mit einem auffordernden Lächeln an. Walther dachte kurz nach und nickte. »Das wäre nett von Ihnen. Wir brauchen noch etwas Saatgut und ein paar Vorräte. Solange wir Häuser bauen und uns einrichten müssen, kommen wir nicht zum Jagen. Dabei gibt es hier genügend Wild. Wir benötigen auch weitere Waffen. Zwar besitzt jeder Siedler ein Gewehr, aber wenn wirklich Indianer angreifen, ist das zu wenig.« »Da haben Sie recht!«, stimmte Jemelin ihm zu. »Jeder meiner Vaqueros ist bewaffnet, und das ist auch notwendig. Es geht ja nicht nur um die Komantschen, denn deren Jagdgründe liegen weiter im Westen, sondern mehr noch um die Karankawa und die anderen Stämme in dieser Gegend. Die stehlen zwar meistens nur ein Stück Vieh, aber gelegentlich überfallen sie auch eine Hacienda. Da sollte ihnen schon mehr als eine Kugel entgegenfliegen. Ich werde sehen, was ich in San Felipe ausrichten kann.« »Herzlichen Dank! Im Grunde benötigen wir alles, was hier draußen gebraucht wird.« Walther ließ zu, dass Jemelin ihm sein Glas noch einmal füllte, und trank in kleinen Schlucken. Nun mischte sich auch Rosita Jemelin ins Gespräch. »Ich habe Gisela versprochen, ihr ein paar Kürbiskerne mitzugeben, damit sie welche ziehen kann.« Lächelnd stellte sie ein kleines Leinensäckchen auf den Tisch. »Ich habe aber auch noch Samen von dem guten Chili, den ich in die Suppe und die Tortillas tue. Gisela wird sich freuen, wenn sie ihn ansäen kann.« Ohne auf Walthers Antwort zu warten, holte sie einen kleinen Beutel und stellte ihn zu dem mit den Kürbiskernen. Walther starrte auf die Samensäckchen und überlegte, ob er den Chili nicht unterwegs verlieren sollte. Da Rosita seine Frau aber gewiss danach fragen würde, verwarf er diesen Gedanken sogleich wieder. Stattdessen zwang er sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ich sage auch Ihnen herzlichen Dank, Señora. Sie sind sehr liebenswürdig!« »Ich freue mich doch, wenn ich Ihrer Frau helfen kann, rasch eigenes Gemüse zu ziehen«, erklärte Rosita Jemelin so strahlend, dass Walther sich schlecht fühlte, weil er ihrem Geschenk so wenig Freude entgegenbrachte. »Sie sollten über Nacht bleiben, denn es ist schon spät«, schlug Diego Jemelin vor. »In der Dunkelheit streifen Indios umher, und ein einzelner Reiter fällt ihnen leicht zum Opfer.« Ein Blick nach draußen zeigte Walther, dass Jemelin recht hatte. Wenn er jetzt aufbrach, würde er erst kurz vor Mitternacht zu Hause sein. Trotzdem zwang ihn seine Unruhe, Jemelins Einladung abzulehnen. »Wenn ich über Nacht ausbleibe, wird meine Frau sich ängstigen. Daher reite ich lieber zurück.« Er nahm die Samen an sich, bedankte sich noch einmal und verließ das Haus. Anders als die Häuser in San Felipe de Guzmán war es nicht aus Adobeziegeln errichtet worden, sondern aus Holz wie das seine. Noch gab es hier keine Arbeiter, die Ziegel formen und in der Sonne trocknen lassen konnten. Die würden erst kommen, wenn in dieser Gegend mehr Menschen lebten. Aus Mexiko selbst kamen jedoch zu wenige Siedler, und auch die Einwanderung aus Europa hielt sich in Grenzen, weil die meisten, die den alten Kontinent verließen, in die Vereinigten Staaten strebten. Vielleicht sind die von Hernando de Gamuzana und Diego Jemelin verachteten Americanos sogar die Lösung, sagte sich Walther. Wenn es weiter oben am Fluss eine Siedlung gab, konnte er mit den Bewohnern Handel treiben und vieles, was Gisela und er brauchten, von ihnen erstehen. Selbst wenn die Waren ins Land gekommen waren, ohne je einen mexikanischen Zollbeamten zu sehen, war es besser, sie zu besitzen, als darauf verzichten zu müssen. Doch das war nichts, worüber er mit Diego Jemelin sprechen durfte. Walther verabschiedete sich von seinen Nachbarn, stieg auf sein Pferd und ritt nach Norden. Obwohl es viel gab, über das nachzudenken sich lohnte, zwang er sich, aufmerksam zu sein. In diesem Land war es immer von Vorteil, als Erster den anderen zu sehen.
5.
Feindliche Indianer waren nur eine der vielen Gefahren, die hier drohten. Die Wahrscheinlichkeit, von einer Giftschlange gebissen zu werden und elend umzukommen, war im Grunde größer. Auch konnte ein Pferd mit dem Huf in einem Kaninchen- oder Präriehundebau hängenbleiben und sich das Bein brechen. Walther schossen eine Menge Dinge durch den Kopf, die einem vor allem in der Dunkelheit zustoßen konnten, und er erwog einen Augenblick lang, umzudrehen und zu Jemelins Hacienda zurückzukehren. Der Gedanke, vor seinem Nachbarn als Feigling dazustehen, brachte ihn jedoch wieder davon ab. Stattdessen schlug er ein gemäßigtes Tempo an und hoffte, dass sein Pferd mögliche Hindernisse früh genug bemerkte. Walther wurde rasch klar, dass seine Schätzung, vor Mitternacht zu Hause zu sein, optimistisch gewesen war. Dafür war die Geschwindigkeit, die er seinem Reittier zumuten konnte, zu gering. Andererseits empfand er die vom Licht des fast vollen Mondes erhellte Landschaft als wunderschön. In der alten Heimat war er als Förster oft des Nachts unterwegs gewesen und hatte den Geräuschen des Waldes gelauscht. Auch in diesem Land vernahm er die Rufe der Tiere und den Wind, der durch die Büsche strich. Doch es wirkte anders auf ihn. Dort war er Herr über die Natur gewesen, hier war er nur ein winziger Splitter in einem unendlich erscheinenden Land, das ihn sowohl mit offenen Armen aufnehmen wie auch innerhalb eines Augenblicks vernichten konnte. In dieser Nacht dachte Walther viel an Gisela und das Kind, das in wenigen Wochen zur Welt kommen würde. Für ihn war es klar, dass es nur ein Sohn sein konnte, der einmal weiterführen würde, was er begonnen hatte. Noch wusste er nicht, welchen Namen er dem Jungen geben sollte. Der Tradition seiner Familie zufolge müsste er Waldemar heißen, nach seinem eigenen Vater, oder besser gesagt Waldemaro, wie es die mexikanischen Behörden verlangten. Vielleicht sollte er seinen Sohn besser Josef nennen, nach Giselas Vater. Rufen würde man ihn dann José, wie es hier üblich war. »José Fichtner oder Waldemaro Fichtner, was klingt besser?«, fragte er sich und zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen. Er musste vorsichtiger sein. Dies hier war nicht der Renitzer Forst, in dem er höchstens auf einen Wilddieb oder ein paar Landstreicher getroffen war. Hier gab es Indianer und wilde Tiere, die ihm und seinem Pferd gefährlich werden konnten. Der Gedanke brachte Walther dazu, die Zügel nur noch mit einer Hand zu halten und mit der anderen zur Büchse zu greifen, die ihm an einem Riemen über der Schulter hing. In den nächsten Stunden tat sich jedoch nichts, was Walther hätte beunruhigen müssen. Er sah in der Ferne bereits schattenhaft den Hügel, auf dem seine Farm stand, als plötzlich ein Schuss übers Land hallte. Gisela!, war sein erster Gedanke. Dann aber schüttelte er den Kopf. Ihre Pistole klang anders. Es musste bei den Vaqueros geschossen worden sein. Rasch zog er sein Pferd herum und spornte es an. Dabei verdrängte er den Gedanken an Hindernisse, über die sein braver Brauner stolpern konnte. Die kleine Herde war sowohl für ihn wie auch für die anderen Schiffbrüchigen von der Loire überlebenswichtig. Im Gegensatz zu ihm besaßen Thierry, Thomé und die anderen jeweils nur eine Kuh, und die durften sie auf keinen Fall verlieren. Eine kurze Zeit blieb es ruhig, und er dachte schon, einer der Hirten hätte auf einen Kojoten geschossen, um ihn zu verjagen. Da hörte er erneut einen Schuss, und zwar erschreckend nahe. Walther hielt an und versuchte, im Mondlicht zu erkennen, was sich dort tat. Die Rinder entdeckte er sofort. Zwei der Vaqueros waren bei ihnen und versuchten, sie zu beruhigen. Sie hielten jedoch ihre Waffen in der Hand und sahen sich immer wieder um. Den dritten Vaquero sah er nirgends. Dafür aber bemerkte er mehrere Schatten, die im Schutz der Büsche auf die kleine Herde zuschlichen. Das mussten Indianer sein. Hatten sie einen seiner Hirten bereits verletzt oder getötet?, fragte Walther sich, während er sein Pferd langsam weitergehen ließ und die Büchse schussbereit machte. Da knallte ein weiterer Schuss, und zwar jenseits der Hügel. Jetzt ahnte Walther, was die Indianer vorhatten. Während einer von ihnen einen oder zwei Vaqueros weglockte, wollten die anderen Tiere aus der Herde wegtreiben. Wie viele Viehdiebe es waren, konnte er nicht erkennen, begriff aber, dass seine Leute in höchster Gefahr schwebten. Walther schwang sich aus dem Sattel, um beim Schuss nicht durch eine Bewegung des Pferdes behindert zu werden, und legte an. Im Mondlicht entdeckte er drei Indianer, die der Herde bereits ziemlich nahe gekommen waren. Er zielte auf einen davon und wollte den Kugellauf abfeuern. Dann aber schreckte er davor zurück, einen Menschen einfach niederzuschießen. Kurz überlegte er, einen Warnschuss abzugeben. Da fiel ihm eine bessere Lösung ein. Die drei Indianer waren zu weit von ihm entfernt, als dass der Schrot sie schwer verletzen konnte, aber nahe genug, um die kleinen Kugeln zu spüren. Mit einem zufriedenen Lächeln spannte er den Abzugshahn des Schrotlaufs und drückte ab. Der Knall war lauter, als wenn er die Kugel abgeschossen hätte, und fast im gleichen Augenblick zuckten die drei Indianer zusammen. Auch wenn die Schrotladung auf die Entfernung ziemlich streute, so musste jeder doch mindestens drei oder vier der kleinen Kügelchen abbekommen haben, dachte Walther und machte den anderen Lauf schussbereit. Doch er brauchte ihn nicht mehr. Der so unerwartet in ihrem Rücken aufgetauchte Feind war für die Indianer zu viel. Zwei rannten los, der dritte folgte ihnen humpelnd, und schließlich gab auch noch ein weiterer, den Walther bisher nicht gesehen hatte, Fersengeld. Der Anblick brachte Walther zum Lachen. Doch jetzt hatten auch seine beiden Vaqueros die Kerle entdeckt und schossen hinter ihnen her. Eine Waffe knallte besonders laut, daher hielt Walther sie für die Pistole, die vom Großvater über den Sohn auf den Enkel weitervererbt worden war. Schaden richteten die Kugeln bei den Indianern nicht mehr an, sorgten aber dafür, dass diese noch schneller liefen. Einer der beiden Vaqueros holte ein Stück Holz aus dem Lagerfeuer, das nur an einem Ende brannte, und verwendete es als Fackel. Trotzdem hielt Walther es für besser, sich bemerkbar zu machen. »Ich bin es, Walther Fichtner!«, rief er seinen Männern zu. »Señor? Ihr seid gerade zur rechten Zeit gekommen«, antwortete Quique treuherzig. »Wir dachten, Julio hätte die Kerle mit seinen Schüssen verscheucht. Dass welche zurückgeblieben sind, haben wir gar nicht bemerkt!« »Waren es Komantschen?«, wollte Walther wissen. Quique schüttelte heftig den Kopf. »Wo denken Sie hin, Señor! Komantschen wären nicht nach einem Schuss von Ihnen davongerannt, sondern hätten uns alle massakriert.« »Das waren Karankawa oder einer der anderen Küstenstämme «, warf Lope ein. »Ich schätze, die werden nicht eher zu rennen aufhören, bis sie in ihrem Lager sind. Wenn wir Glück haben, finden wir sogar ihre Pferde. Wir könnten sie gut brauchen!« »Ihr sucht aber erst morgen«, mahnte Walther ihn und fragte dann nach Julio. »Er hat einen Indio entdeckt und wollte ihn verjagen. Da kommt er ja!« Quique wies nach Süden. Dort führte Julio zwei Pferde am Zügel und winkte schon von weitem mit der freien Hand. »Nicht schießen, Muchachos! Ich bin es nur. Schaut her! Mir sind ein paar prachtvolle Gäule über den Weg gelaufen. Vier der Karankawa werden jetzt zu zweit auf einem Pferd sitzen müssen, es sei denn, ihr habt einen davon erwischt.« »Haben wir nicht«, rief Quique ihm zu. »Ein paar der Indios wollten sich anschleichen. Doch unser Señor ist im rechten Augenblick gekommen und hat sie verjagt!« »Das ist gut! Ich hätte euch ungern tot und ohne Haare auf dem Kopf wiedergefunden.« Julio führte die Pferde heran und sah Walther grinsend an. »Den Kerlen haben wir es gezeigt, nicht wahr, Señor?« »Señor Waltero hat es ihnen gezeigt«, wies Quique seinen Freund zurecht. »Ohne ihn hätte es schlecht für uns ausgesehen. « »Jetzt stellt euer Licht nicht unter den Scheffel. Ihr habt gut aufgepasst und hättet die Indianer sicher früh genug entdeckt «, antwortete Walther erleichtert, weil alles gut ausgegangen war. Dann aber dachte er an Gisela und bekam Angst, die Indianer könnten versuchen, die Farm zu überfallen. Er wollte schon einen der Vaqueros auffordern, mit ihm zu kommen, sah dann aber, dass die kleine Herde sich zu zerstreuen begann, und wies auf die Tiere. »Ihr solltet die Kühe zusammentreiben, sonst läuft doch noch eine den Karankawa vor die Füße. Ich reite jetzt zur Farm.« Walther wandte sich bereits ab, da rief Julio hinter ihm her. »Jetzt, da wir Pferde haben, können uns die Kühe nicht mehr davonlaufen. Auf, Muchachos, wir wollen uns die Viecher holen!« Als Walther auf sein Pferd stieg und losritt, blickte er noch einmal kurz zurück. Julio und Quique saßen bereits auf den Indianergäulen und ritten hinter den Rindern her, die in Richtung des nächsten Buschwerks streben. Ob sie die Tiere vorher einfangen konnten oder sie aus dem Dornengestrüpp heraustreiben mussten, konnte er nicht mehr erkennen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Iny Lorentz
Hinter dem Namen Iny Lorentz verbirgt sich ein Münchner Autorenpaar, dessen erster historischer Roman »Die Kastratin« die Leser auf Anhieb begeisterte. Mit »Der Wanderhure« gelang ihnen der Durchbruch; der Roman erreichte ein Millionenpublikum. Seither folgt Bestseller auf Bestseller. Die Romane von Iny Lorentz wurden in zahlreiche Länder verkauft.
Bibliographische Angaben
- Autor: Iny Lorentz
- 584 Seiten, Geb. mit Su.
- ISBN-10: 3863659031
- ISBN-13: 9783863659035
Kommentare zu "Der weisse Stern"
0 Gebrauchte Artikel zu „Der weisse Stern“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 22Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der weisse Stern".
Kommentar verfassen