Der Weg entsteht im Gehen
Literarische Texte aus 100 Jahren Thüringen
Die letzten 100 Jahre waren Zeiten sich wiederholender Auf-, Ab- und Umbrüche. Ein Jahrhundert voller Utopien, Lebens- und Gesellschaftsentwürfe, voller Hoffnungen und Enttäuschungen, voller Sehnsucht und Leid. Ein Jahr vor der Landesgründung 1920 gab sich...
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Produktinformationen zu „Der Weg entsteht im Gehen “
Klappentext zu „Der Weg entsteht im Gehen “
Die letzten 100 Jahre waren Zeiten sich wiederholender Auf-, Ab- und Umbrüche. Ein Jahrhundert voller Utopien, Lebens- und Gesellschaftsentwürfe, voller Hoffnungen und Enttäuschungen, voller Sehnsucht und Leid. Ein Jahr vor der Landesgründung 1920 gab sich die Weimarer Republik in Weimar ihre Verfassung - voller Hoffnung, dass der "Geist von Weimar" die erste deutsche Demokratie beflügeln möge. Nur ein Jahr später gab der Kapp-Putsch, der auch in Thüringen seine Spuren hinterliess, einen bitteren Vorgeschmack von den kommenden Jahren voller politischer Spannungen.Das schlug sich auch in den knapp 100 Texten von Schriftstellern nieder, die dieses Buch versammelt: Zeugnisse der Arbeit des menschlichen Geistes, der den Brüchen und Widersprüchen des Lebens einen Sinn abzugewinnen sucht, ja sie vielleicht in Richtung auf eine bessere Welt ordnen will. Sie stehen nicht nur für sich, sondern korrespondieren miteinander. So entstehen literarische und zeitgeschichtliche Bezüge, Dialoge. Wer sich auf sie einlässt, erfährt von individuellen Erlebnissen, Begegnungen und Ansichten, aus denen im kollektiven Flimmern - wie Hans Magnus Enzensberger es formulierte - Geschichte entsteht und erfahrbar wird.
Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Der Weg entsteht im Gehen “
Harry Graf KesslersTagebucheintrag vom 17.8.1924
[...] Nachmittags von 2 Uhr an marschiert das Hakenkreuzheer in Zugkolonne mit Standarten auf dem Theaterplatz vor dem Nationaltheater auf. Zwei Musikkapellen stehen beim Schiller- Goethe Denkmal und spielen ohne Unterbrechung Armeemärsche. Rings steht "Volk"; auf dem Balkon des Nationaltheaters Ludendorff, umgeben von völkischen Abgeordneten und Damen. Die Hakenkreuztruppen, etwa 3000 Mann, bilden ein Carré, die Mitte des Platzes bleibt leer. Nach beendetem Aufmarsch verschwinden die Fahnen und erscheinen nach einigen Minuten wieder auf dem Balkon des Nationaltheaters, wo jetzt zwei Dutzend blutrote Hakenkreuzfahnen den Hintergrund zu Ludendorff im schwarzen Gehrock bilden. Ein völkischer Abgeordneter tritt an den Vorderrand des Balkons neben Ludendorff und beginnt zu reden; sehr laut brüllt er vom Konzept, das er hin u(nd) herschwingt, eine wüste Hetzrede gegen die "Judenrepublik" und Marx und Stresemann herunter. "Das Unglaubliche sei geschehen. Die Regierung sei in London zu Kreuze gekrochen. Sie habe einen neuen Schmach Vertrag mit dem Feindbund unterzeichnet. Das sei Landes- und Hochverrat. Er verlange, dass Marx und Stresemann deshalb sofort vor den Staatsgerichtshof gestellt würden. Alle, die noch einen Funken Nationalgefühl sich bewahrt hätten, sollten ihm mit erhobener Rechte folgenden Schwur nachsprechen: "..." Der Redner blickt sich erwartungsvoll um. Die Hakenkreuzler erheben die Hand; das "Volk" mit verschwindenden Ausnahmen nicht. Endlich entschliesst er sich und beginnt den Schwur vorzusprechen, den die Hakenkreuzler Wort für Wort mit erhobener Schwurhand nachsprechen, und der Nichts Andres ist als eine Vereidigung auf Ludendorff, ein Versprechen ihm blindlings zu folgen, wohin es auch führen möge und bis in den Tod, kurz eine unverschleierte Truppen Anwerbung für den Bürgerkrieg. Das ist das Wesentliche, der ernste Sinn dieser theatralischen Schaustellung: eine öffentliche Verschwörung zum Zwecke
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des Staatsstreiches. Ludendorff folgt als Redner; vorsichtig, unverbindlich, harmlos und leer; Dank an die Versammelten, dass sie die Feier mit ihrer Gegenwart beehrt haben; die Kasinorede eines unbegabten Kommiss Kommandeurs beim Stiftungsfest seines Regiments, im schnarrenden Kommandoton, ohne einen Gedanken oder ein einziges zündendes Wort. (...) Mit dieser Karikatur einer Volksrede schliesst recht stimmungslos die Feier auf dem Theaterplatz. Darauf folgt am Kirchhof beim Ehrendenkmal der Gefallenen ein Vorbeimarsch des ganzen in Weimar versammelten Hakenkreuz Heeres vor Ludendorff. Ich gehe hin, um die Zahl der Truppen, die der Staatsstreich hier hat zusammenziehen können, festzustellen. In Zugkolonnen zu Vieren, in sehr loser Formation dauert der Vorbeimarsch genau 50 Minuten. Ich schätze daher, dass es kaum mehr als 7000 bis 8000 Mann gewesen sind. Angemeldet waren 60000; und noch auf dem Theaterplatz behauptete einer der Führer, dass es mindestens 30000 seien. Auch waren unter den Vorbeimarschierenden recht viele alte Herren mit geschulterten Regenschirmen, Regenschirm Kompagnien, und kleine, 12 bis 15jährige Kinder, die wie die Hammel mitliefen. Das "Volk" in meiner Nähe war nicht nur nicht mitgerissen, sondern lachte sogar über die vielen drolligen fetten oder schwindsüchtigen Gestalten und falschen Kommandos. Von irgendwelcher Begeisterung war weder am Friedhof, noch auf dem Theaterplatz bei der Bevölkerung Etwas zu merken. Diese Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung trotz Militärmusik, Uniform Klimbim u. Ludendorff war ganz auffallend. Bemerkenswert sodann, dass die Völkischen nicht einmal 10000 Mann hergebracht haben; offenbar aus Geldmangel. In Halle noch 60000, drei Monate später in Weimar reicht es nur noch zu weniger als 10000. Schliesslich die Talentlosigkeit der Redner, sowohl der grossen Kanone, die vor Ludendorff redete, wie Ludendorff selber. Kein Geld und kein Geist, damit macht man keine Volksbewegung, geschweige d
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Autoren-Porträt
Kirsten, JensJens Kirsten, geboren 1967 in Weimar; Literaturwissenschaftler; Lehre als Möbelpolsterer, bis 1991 Arbeit in diesem Beruf in Weimar und München; Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondent in München; Studium der Lateinamerikanistik, Linguistik und Altamerikanistik am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin; 2004 Dr. phil.; seit 2006 Geschäftsführer des Thüringer Literaturrates in Weimar. Zuletzt erschien von ihm in der Weimarer Verlagsgesellschaft zusammen mit Christoph Schmitz-Scholemann die Thüringer Anthologie (2018). Schmitz-Scholemann, Christoph
Christoph Schmitz-Scholemann, geboren 1949 in Solingen- Ohligs, studierte Niederländisch, Philosophie und Rechtswissenschaften, lebte bis 2001 in Köln, seitdem in Weimar; 2001 bis 2014 Richter am Bundesarbeitsgericht in Erfurt; seit 1980 schriftstellerische Tätigkeit; Mitglied der Literarischen Gesellschaft Thüringen e. V.; 2008-2012 Vorsitzender; Mitglied im Thüringer Literaturrat e. V.; seit 2012 Vorsitzender; Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Bibliographische Angaben
- 2020, 392 Seiten, Masse: 13,6 x 20,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Herausgegeben: Jens Kirsten, Christoph Schmitz-Scholemann
- Verlag: Weimarer Verlagsgesellschaft
- ISBN-10: 3737402825
- ISBN-13: 9783737402828
- Erscheinungsdatum: 09.04.2020
Pressezitat
"Die Vertreibung aus dem Paradies" - Sigrid Damm im Jahr 1979
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