Der Verehrer
Kriminalroman
Als in einem Waldstück die Leiche einer erst kürzlich ermordeten Frau gefunden wird, stehen Polizei und Angehörige vor einem Rätsel: die Frau galt seit sechs Jahren als vermisst. Erst der Anruf einer ehemaligen
Urlaubsbekanntschaft...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Verehrer “
Als in einem Waldstück die Leiche einer erst kürzlich ermordeten Frau gefunden wird, stehen Polizei und Angehörige vor einem Rätsel: die Frau galt seit sechs Jahren als vermisst. Erst der Anruf einer ehemaligen
Urlaubsbekanntschaft liefert den ersten Anhaltspunkt für die Ermittlungen.
SPIEGEL Bestseller!
Klappentext zu „Der Verehrer “
Wenn die Liebe zur Gefahr wird, brauchst du all deine Kraft und Entschlossenheit, um dein Leben zu retten ...Als in einem Waldstück die Leiche einer erst kürzlich ermordeten jungen Frau gefunden wird, stehen die Polizei und die Angehörigen vor einem Rätsel. Denn die Frau galt seit sechs Jahren als spurlos verschwunden. Erst der Telefonanruf einer ehemaligen Urlaubsbekanntschaft liefert den ersten Anhaltspunkt für die Ermittlungen und führt zu einer geheimnisvollen Frau, bei der alle Fäden scheinbar zusammenlaufen ...Millionen Fans sind von den fesselnden Krimis von Charlotte Link begeistert. Dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle erwarten Sie. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
Lese-Probe zu „Der Verehrer “
Der Verehrer von Charlotte LinkERSTER TEIL
... mehr
Es war ein wundervolles Spiel, sich von ihm durch den Wald jagen zu lassen. Irgendwann im letzten Sommer hatten sie es entdeckt. Ein heißer, sonniger Tag, sie erinnerte sich, aber im Wald war es angenehm schattig und viel kühler als auf dem Feld gewesen.
»Fang mich doch!« hatte sie plötzlich gesagt, ihre Hand aus seiner gelöst und war davongerannt.
Er hatte gewartet, bis ihr Vorsprung groß genug gewesen war, um die Sache spannend zu machen. Ja, er hatte gewartet, bis sie aus seinem Blick verschwunden war. Sie war über Gräben gesprungen, durch Gebüsche gekrochen, hatte Haken geschlagen wie ein Hase, um ihn über ihre Richtung zu täuschen. Die ganze Zeit über hatte sie gedacht: Albern, ich bin fast fünfzig Jahre alt, er ist schon über fünfzig, und wir rennen hier herum wie Kinder, die Verstecken oder Fangen spielen ...
Ihr war ganz heiß geworden bei der Vorstellung, ihre beiden erwachsenen Söhne könnten sie jetzt sehen. Doch dann hatte sie sich gesagt, daß die Besonderheit des Spiels darin bestand, daß niemand sie sah. Die Söhne nicht, die Nachbarn nicht. Sie waren allein in der Tiefe und Stille des Waldes.
Irgendwann war sie ihm direkt in die Arme gelaufen. Er hatte sie ausgetrickst, hatte plötzlich vor einer Schonung junger Tannen gestanden, durch die sie gekrochen kam, die Haare voller Tannennadeln, die Kleidung voller Laub und Erde. Sie war wirklich erschrocken; er behauptete später, sie habe aufgeschrien, aber davon wußte sie nichts mehr. Entscheidend war, was dann geschehen war. Sie hatten sich auf dem Waldboden geliebt, inmitten der kleinen Tannen, sie beide in ihrem fortgeschrittenen Alter, mit zwei erwachsenen Kindern, einem eigenen Häuschen, einem Dackel, einer Einbauküche und einer brandneuen Wildleder-Sofa-Garnitur. Er hatte ziemlich viel Bauch und mähte im Sommer an jedem zweiten Samstag den Rasen, und sie hatte zu dicke Oberschenkel und wünschte sich sehnlichst ein Enkelkind. Niemand, der sie kannte, hätte von ihnen geglaubt, daß sie irgendwelcher Verrücktheiten fähig wären. Sie waren spießig, aber sie hatten sich in ihrer Spießigkeit gut eingerichtet und waren glücklich damit. Nur manchmal ...
Heute war wieder so ein Tag. Ein warmer Frühsommertag. »Fang mich doch«, hatte sie auch diesmal gesagt, und er hatte geantwortet: »Es ist viel zu warm ...« Aber da war sie schon losgelaufen, eigensinnig wie ein Kind, das sich sein Lieblingsspiel von niemandem verderben lassen will.
Sie konnte ihn nirgendwo sehen oder hören. Sie blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, lauschte. Nichts. Keine Schritte, kein Rascheln. Als sei sie allein auf der Welt. Hatte sie ihn wirklich abgehängt? Oder lauerte er ganz in der Nähe, verbarg sich hinter einem Gebüsch, wartete auf den geeigneten Moment, hervorzuspringen und ihr einen Riesenschrecken einzujagen?
Es war ihr auf einmal eigenartig flau im Magen. Sie hatte keine Ahnung, warum. Wenn er plötzlich auftauchte, wäre das gruselig, aber es wäre ein eher angenehmes Gruseln. Nie hatte sie sich wirklich gefürchtet. Diesmal aber war es etwas wie Furcht, was sie verspürte. Trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Laubdächer der Bäume fielen, trotz des Vogelgezwitschers und des Geplätschers eines kleinen Baches in der Nähe verströmte der Wald eine Ahnung von etwas Schrecklichem. Sie kam sich idiotisch vor, aber sie hatte den Eindruck, eine ungute Witterung aufgenommen zu haben, wie ein Tier, das die Gefahr spürt, noch ehe sie sich zeigt. Sie kam sich allein vor und doch nicht allein.
Halblaut rief sie seinen Namen. Keine Antwort. Das Vogelgezwitscher verstummte für einen Moment, setzte dann um so lauter wieder ein. Auf einmal war die Angst da, jäh und pulsierend. Sie drehte sich um und rannte fast, versuchte den Rückweg zu finden und konnte doch nichts Vertrautes entdecken. War sie an dieser Baumgruppe vorbeigekommen? Sie konnte sich nicht erinnern, einen Ameisenhaufen gesehen zu haben.
Sie rief seinen Namen erneut, lauter jetzt, und nun lag Panik in ihrer Stimme. Machte er sich einen Spaß daraus, ihr nicht zu antworten? Er war ganz in ihrer Nähe, sie spürte, daß da jemand war ... In ihre Angst mischte sich Zorn. Er ging zu weit. Er mußte merken, daß jetzt ernsthaft etwas nicht mehr stimmte mit ihr. Das Spiel war aus, vorbei. Sie bildete sich nicht länger ein, ein Teenager zu sein, der verliebt und glücklich im Wald herumtollte. Sie war eine fast fünfzigjährige Frau mit dicken Beinen. Eine Frau, die Angst hatte.
Als sie die Gestalt an dem Baum bemerkte, begriff sie nicht sofort, was sie sah. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. Es war, als weigere sich ihr Gehirn, das Bild umzusetzen. Sie dachte zunächst nur: Ich wußte doch, daß jemand in der Nähe ist.
Und dann, im nächsten Moment, vermochte ihr Verstand sich nicht länger zu sperren gegen das, was ihre Augen sahen. Die Gestalt war eine junge Frau. Und sie stand deshalb so eigenartig dicht an dem Baum, weil sie an seinen Stamm gefesselt war. Sie stand aufrecht, nur ihr Kopf fiel nach vorn auf die Brust. Die Kleidung hing ihr in Fetzen vom Leib, und überall war Blut. Auf ihr, neben ihr, vor ihr. Man hatte sie an den Baum gebunden und dann regelrecht abgeschlachtet, und man hatte sie dort zurückgelassen wie eine groteske Vogelscheuche, die dem Wald für alle Zeit seine Unschuld, seinen Frieden und seine geheimen Spiele nahm. Das Blut der jungen Frau vernichtete jede Illusion, die Welt könne gut, das Leben leicht sein.
Der Anblick des Blutes brannte sich für immer in ihr Gedächtnis. Sie meinte es auf ihrer Haut zu spüren, so als sei sie bespritzt worden damit.
Sie stand nur da und konnte keinen Laut hervorbringen.
1
Als sie erwachte, herrschte noch Dunkelheit jenseits des Fensters. Ein sanfter Nachtwind strich ins Zimmer, vermochte aber nicht die dumpfe Schwüle zu vertreiben, die noch vom Tag darin lastete. Frankfurt ächzte unter einer Hitzewelle. Über dreißig Grad im Schatten, Tag für Tag, seit fast drei Wochen. Die asphaltierten Straßen, die Häuser sogen die Hitze auf und gaben sie unerbittlich zurück. Die Menschen hatten über den kalten Winter gestöhnt und über den nassen Frühling. Nun beklagten sie den heißen Sommer. Waren die Menschen undankbar? Oder hatte das Klima der verschiedenen Jahreszeiten tatsächlich jegliche Ausgewogenheit verloren, präsentierte es sich nur noch in schwer erträglichen Extremen?
Sie hatte nicht in das allgemeine Gejammere einstimmen wollen, aber nun dachte Leona doch: Es ist zu heiß, um zu schlafen. Und wußte gleichzeitig, daß es nicht die Hitze gewesen war, was sie geweckt hatte.
Vergeblich versuchte sie, auf ihrer Armbanduhr, die sie auch nachts am Handgelenk trug, die Zeit zu erkennen. Schließlich knipste sie die Nachttischlampe an. Drei Uhr. Obwohl sie das Licht sofort wieder ausschaltete, hatte das sekundenlange Aufflammen von Helligkeit ausgereicht, Wolfgang zu wecken.
»Kannst du schon wieder nicht schlafen?« fragte er mit jenem Anflug von Gereiztheit, der sich erst seit kurzem in seine Stimme eingeschlichen hatte und sich immer auf Leona bezog.
»Es ist so heiß.«
»Das hat dir doch noch nie etwas ausgemacht«, sagte er müde. Er wußte auch, daß es nicht an der Hitze lag.
»Ich glaube, ich habe wieder geträumt«, gestand Leona. Sie hatte längst begriffen, daß sie Wolfgang inzwischen auf die Nerven ging.
Er schien hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, einfach weiterzuschlafen und Leonas Psychose - wie er ihre Probleme insgeheim nannte - zu ignorieren, und dem Gefühl, zum Zuhören und Trösten verpflichtet zu sein. Sein Pflichtbewußtsein siegte, auch wenn er sich selbst im stillen dafür verfluchte. Er hatte einen harten Tag hinter sich, einen ebenso harten vor sich. Die drückende Schwüle machte ihm zu schaffen, und zudem hatte er eine Menge Sorgen, von denen niemand etwas ahnte. Er hätte seinen Schlaf gebraucht.
Er seufzte. »Leona, meinst du nicht, du steigerst dich da in etwas hinein? Ich habe den Eindruck, du kreist ständig um diese ... Sache. Du grübelst zuviel, und diese Grübelei setzt sich natürlich nachts in Träume um. Du mußt dagegen angehen.«
»Denkst du, das versuche ich nicht? Ich bemühe mich ständig, mich abzulenken. Mit Arbeit, mit Sport, mit Gesprächen über Gott und die Welt. Ich setze mich bestimmt nicht hin und überlasse mich meinen trüben Gedanken.«
»Dann dürftest du nicht ständig diese Träume haben.«
Sie spürte Vorboten jener heftigen Wut, die stets in ihr emporkroch, wenn Wolfgang mit seinen Standardrichtlinien zur Bewältigung von Problemen anrückte. Wolfgang hatte unverrückbare Prinzipien, was Sorgen, Ängste, psychische Konfusionen anging. »Wenn du dieses oder jenes tust, dürfte dieses oder jenes nicht geschehen!« - »Wenn du dieses oder jenes nicht tust, müßte dieses oder jenes passieren.«
Wolfgang würde nie den Gedanken akzeptieren, daß sich das Leben einmal nicht nach den von ihm entwickelten Regeln richten könnte. Wenn die Dinge nicht so funktionierten, wie von ihm postuliert, dann lag die Schuld bei der Person, die eben irgend etwas falsch machte.
»Verdammt, Wolfgang, mach es dir doch nicht immer so leicht! Ich versuche, dagegen anzugehen, aber es gelingt nicht. Vielleicht brauche ich mehr Zeit.«
»Das alles ist einfach eine Frage des Willens«, sagte Wolfgang und unterdrückte ein Gähnen. Bei ihm war alles immer eine Frage des Willens. Er hätte die Vorstellung nicht ertragen, daß es Bereiche im Leben geben könnte, die nicht durch bloße Willensanstrengung beeinflußbar waren. Für Wolfgang gab es die Begriffe Schicksal und Fügung nicht, ebensowenig wie Zufall oder Vorsehung. Vielleicht hatte er recht. Leona war weit davon entfernt, sich in esoterischem Gedankengut zu verstricken; sie war Rationalistin, wenngleich sie sich neben Wolfgang stets wie eine weltfremde Träumerin vorkam. Aber die Vorstellung von einer Macht jenseits dessen, was die Menschen begreifen und beherrschen konnten, existierte durchaus in ihrem Leben. Anders hätte sie es nicht ertragen. Wolfgang warf ihr immer vor, dies habe mit einem Mangel an Verantwortungsbereitschaft zu tun.
»Das Schicksal bemühen nur die Menschen, die einen Teil der Verantwortung, die sie für ihr Tun und Lassen tragen, an eine andere, irgendwo jenseits weltlicher Begriffe angesiedelte Instanz abgeben wollen. Es ist der Versuch einer schlichten Lastenumverteilung, läuft aber letzten Endes darauf hinaus, daß man sich gründlich in die eigene Tasche lügt.«
Leona fand es schwierig, dagegen zu argumentieren, zumal sie durchaus bereit war zu akzeptieren, daß er recht hatte, was die Motive der Menschen hinsichtlich ihrer Schicksalsgläubigkeit anging. Nach ihrem Verständnis schloß dies jedoch das tatsächliche Vorhandensein einer aus der Ferne regierenden Macht nicht aus.
Sie starrte in die Dunkelheit und fragte sich, ob es einen tieferen Sinn hatte, daß gerade sie hatte vorbeikommen müssen, als die junge Frau ihrem Leben ein Ende hatte setzen wollen und aus dem Fenster gesprungen war. Normalerweise wäre sie um die betreffende Uhrzeit - um halb zwölf am Mittag - gar nicht durch die Straßen gegangen, hätte längst an ihrem Schreibtisch im Verlag gesessen. Ein Zahnarzttermin hatte sie jedoch an jenem Vormittag aufgehalten, und auch der hatte sich noch verzögert, weil ein akuter Notfall den Praxisbetrieb durcheinandergebracht hatte. Nur so hatte es geschehen können, daß sie genau zum Zeitpunkt des Unglücks die Straße entlanggehastet kam, entnervt vom langen Warten, die linke Gesichtshälfte noch betäubt von der Spritze, um die sie vorsorglich gebeten hatte. Es war sehr warm gewesen, und sie hatte sich klebrig und verschwitzt gefühlt und den dringenden Wunsch verspürt, nach Hause zu gehen, zu duschen und sich dann mit einem eiskalten Orangensaft und einem Buch in den Garten zu setzen. Sie hatte sich elend gefühlt und ein bißchen weinerlich.
Sie begriff zuerst nicht, was vor sich ging. Später versuchte die Polizei vergeblich, aus ihr herauszubekommen, wie das gewesen war, als die Frau sprang. War unter Umständen eine zweite Person hinter ihr erkennbar gewesen - oder der Schatten einer Person? Hatte es ausgesehen, als springe sie von selbst, oder als werde sie gestoßen? Aber Leona konnte darauf nicht antworten, denn sie hatte es nicht gesehen. Sie war in Gedanken versunken gewesen, mit ihrem Zahn beschäftigt, mit dem ekelhaften, wattigen Betäubungsgefühl. Und mit bestimmten Sorgen, die sie seit einiger Zeit quälten, über die sie aber mit niemandem sprechen wollte.
Sie hatte erst etwas bemerkt, als die Frau bereits fiel. Genaugenommen hatte sie sie gar nicht sofort als Menschen identifiziert. Ein großer Gegenstand fiel aus dem im wahrsten Sinne des Wortes heiteren, nämlich wolkenlos sonnigen Himmel und kam mit einem häßlichen Klatschen nur wenige Meter vor Leona auf dem Bürgersteig auf.
Sie stand da, geschockt, ungläubig, denn nach zwei oder drei Sekunden hatte sie begriffen, daß es ein Mensch war. Eine Frau. Sie trug ein grüngeblümtes Sommerkleid aus Baumwolle und an den Füßen weiße Sandalen. Sie hatte schulterlange, dunkelblonde Haare. Sie lag auf dem heißen Asphalt in der Sonne wie irgendein achtlos weggeworfener Gegenstand, ein unförmiges Stück Müll, das jemand im Vorbeifahren aus dem Auto gekippt hatte. Ihre Arme und Beine standen in eigenartigen Winkeln vom Rumpf ab.
Leona hätte später nicht zu sagen gewußt, wie lange sie einfach nur angewurzelt dastand und das Szenario betrachtete. Ihr kam es vor, als vergehe eine Ewigkeit, in der alles um sie herum - die im leisen Wind schaukelnden Blätter, eine Katze, die die Straße überquerte, ein Vogel, der von einem Zaunpfosten zum nächsten hüpfte - Zeitlupentempo annahm, und in der die Geräusche des jenseits des Wohnviertels dahinflutenden Großstadtverkehrs hinter einer lärmschluckenden Glaswand verschwanden. Erst als sie die Frau leise stöhnen hörte, erwachte sie aus ihrer Betäubung, lief zu ihr hin und kniete neben ihr nieder.
»Mein Gott, was ist denn passiert?« hörte sie sich rufen. »Kann ich Ihnen helfen?«
Was für eine idiotische Frage, dachte sie gleich darauf.
Die Frau hatte die Augen geöffnet. Sie hatte ein schönes Gesicht; selbst in dieser Situation fiel das noch auf. Nirgendwo war Blut zu sehen, aber nach Lage ihrer Gliedmaßen mußte sie sich nahezu jeden Knochen im Körper gebrochen haben. Sie war blasser, als es Leona je bei irgendeinem Menschen gesehen hatte.
»Nun hat er es endlich geschafft«, sagte sie, und ihre Stimme klang zwar leise, war aber deutlich und klar zu verstehen. Sie wiederholte: »Nun hat er es geschafft.« Und sah Leona an.
»Wer hat es geschafft? Von wem sprechen Sie?«
Die Frau erwiderte nichts mehr. Ihre Augen verdrehten sich plötzlich. Im nächsten Moment verlor sie das Bewußtsein.
Leona kam zum erstenmal auf die Idee, nach oben zu blicken und herauszufinden, von wo die Fremde überhaupt gefallen war. Sie befanden sich direkt vor einem Neubau, einem sechsstöckigen Appartementhaus, hineingebaut in einen alten, schattigen Garten, in dem früher eine Sandsteinvilla gestanden hatte, die abgerissen worden war, um eine Vielzahl von Menschen auf möglichst kleinem Raum zusammenzupferchen und dabei eine Menge Geld herauszuschlagen. Sie machten das jetzt überall im Viertel so und beraubten es auf diese Weise nach und nach seines ursprünglichen Charmes.
Das Haus war dicht an die Straße herangebaut, zwei Schritte trennten die Haustür vom Gehsteig. Im obersten Stockwerk stand ein Fenster sperrangelweit offen. Leona zweifelte nicht daran, daß die Frau von dort herausgesprungen war.
»Bewegen Sie sich nicht«, sagte sie, überflüssigerweise, denn die Frau war noch ohnmächtig. »Ich werde Hilfe holen.«
In einiger Entfernung entdeckte sie einen Rentner, der seinen Cockerspaniel spazierenführte. Er war stehengeblieben und starrte herüber, aber seine Miene verriet, daß er entweder nicht richtig sah oder nicht begriff, was geschehen war.
Sie winkte ihm hektisch zu, er solle herkommen, aber er blieb stehen und glotzte. Sie sprang auf und lief zu ihm hinüber.
»Die Frau dort ist aus dem Fenster gesprungen!« rief sie. »Wohnen Sie hier? Können Sie den Rettungsdienst anrufen?«
Er starrte sie an. »Aus dem Fenster gesprungen?« »Ja! Wir brauchen sofort einen Notarzt.«
»Sie können bei mir telefonieren«, bot er an, »ich wohne gleich dort.« Er wies auf eine behäbige Villa, nur wenige Meter entfernt, aber es schien Leona eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich auch nur umgedreht hatte, und die schwerfälligen Schritte, mit denen er lostappte, ließen sie beinahe die Nerven verlieren. Aber so panisch sie auch ihre Augen umherschweifen ließ, nirgends konnte sie eine Telefonzelle entdecken. Immer wieder sah sie zu der Frau hinüber. Sie rührte sich nicht.
Der alte Mann kramte in seinen Hosentaschen nach dem Haustürschlüssel, ohne fündig zu werden, und der Hund fiepte. Leona vibrierte vor Ungeduld. Sie sah eine ältere Frau im Jogginganzug auf die Straße laufen. »Ich habe alles gesehen!« rief sie. »Ich habe den Notarzt angerufen!«
»Gott sei Dank«, sagte Leona und ließ den Alten stehen. Die nächsten zwei Stunden waren ein Chaos aus Ärzten und Polizisten, aus Menschenauflauf und Straßensperre, aus Fragen, Mutmaßungen, neugierigen Blicken und gewisperten Geschichten. Leona stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, denn auf geheimnisvolle Weise hatte es sich sofort allseits herumgesprochen, daß sie Zeugin des Geschehens, erste Person am Unglücksort gewesen war. Aus allen Häusern waren inzwischen die Menschen herbeigeströmt, und auch Schulkinder, die sich jetzt auf dem Heimweg befanden, blieben stehen. Die Verunglückte war längst abtransportiert worden. Leona saß auf den Stufen vor dem Haus. Irgend jemand hatte ihr einen Becher Kaffee gebracht, an dem sie sich dankbar festhielt. Sie hatte einem Polizisten erzählt, was geschehen war, soweit sie es mitbekommen hatte, und er hatte sie gebeten, sich noch zur Verfügung zu halten. Der Arzt hatte sie gefragt, ob sie etwas brauche, doch sie hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, sie sei in Ordnung.
Vielleicht war sie das aber gar nicht. Irgend etwas in ihr weigerte sich noch immer, wirklich zu begreifen, was sie gesehen hatte. Jedesmal, wenn das Bild der auf der Straße liegenden Frau in ihr aufsteigen wollte, wenn der Gedanke an die grotesk verrenkten Gliedmaßen in ihr erwachte, sandte ihr Gehirn den Befehl aus, augenblicklich etwas anderes zu sehen, etwas anderes zu denken. Es war ihr nicht bewußt, daß sie selbst an diesem Vorgang des Verdrängens beteiligt sein könnte. Etwas arbeitete in ihr, das sich ihrem Einfluß entzog. Irgendwann, während sie so dasaß und intensiv registrierte, wie ihre betäubte Gesichtshälfte wieder erwachte, kam ihr der Gedanke, sie könne einen Schock haben. Vielleicht hätte sie mit ins Krankenhaus fahren sollen. Es schien ihr jedoch jetzt zu spät dafür, und so blieb sie einfach sitzen und blinzelte in die Sonne.
»Möchten Sie noch etwas Kaffee?« fragte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Leona wandte sich um und sah eine ältere Frau, die eine Thermoskanne in der Hand hielt. Offensichtlich war sie es gewesen, die ihr vorhin den Becher in die Hand gedrückt hatte. Sie sah elend und geschockt aus.
»Das wäre nett«, sagte Leona dankbar.
Die Frau schenkte ihr Kaffee nach. »Sie sehen ja furchtbar blaß aus! Es muß schlimm für Sie gewesen sein. Die arme, arme Eva! Ich kann es überhaupt nicht fassen!« In ihrer Stimme klangen Tränen.
»Eva?« fragte Leona. »Hieß sie so?« Sie verbesserte sich sofort: »Heißt sie so?«
»Eva Fabiani. Wir sind eng befreundet, wissen Sie. Ich wohne in der Wohnung direkt unter ihr. Aber ich habe nichts mitbekommen. Ich war auf meinem Balkon draußen, und der geht nach der anderen Seite hinaus.«
Der Kaffee war heiß und stark. Wahrscheinlich nicht unbedingt das Richtige für ihren frisch behandelten Zahn, aber angesichts der jüngsten Ereignisse erschien Leona ihr Zahn unbedeutend.
»Ich mache mir entsetzliche Vorwürfe«, sagte die Frau. »Ich hätte wissen müssen, daß so etwas irgendwann passiert. Ich glaube, ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie es wirklich tut. Ich hätte nie den Mut.«
»Sie war wohl sehr verzweifelt«, meinte Leona. Das Bild drängte sich wieder auf. Die Frau auf dem Gehsteig. Die Arme und Beine, die wie zufällig hingegossen dalagen, als hingen sie gar nicht mehr mit dem Körper zusammen. Was etwa auch den Tatsachen entsprochen haben mußte. Als sie Eva auf die Tragbahre luden, hatte einer der Sanitäter gesagt: »Die ist ja buchstäblich in Stücke zerbrochen!«
»Ja, sie war verzweifelt«, sagte die Frau mit dem Kaffee, »aber ich hatte in der letzten Zeit das Gefühl, es ginge ihr besser. Sie ist vor vier Jahren geschieden worden. Damals zog sie hier ins Haus. Sie und ihr Exmann hatten das gemeinsame Haus in Kronberg verkauft, und von ihrem Anteil hat sie sich die oberste Wohnung gekauft. Eine besonders schöne Wohnung. Wunderbare Terrasse nach hinten hinaus. Die Scheidung hatte sie furchtbar mitgenommen. Sie suchte unmißverständlich Anschluß, und ich habe mich um sie gekümmert. Ich bin auch sehr viel allein. Es schien ihr langsam besserzugehen. Aber vor einem dreiviertel Jahr hat ihr geschiedener Mann ... «
Ein Polizist trat heran. »Frau Dorn?«
»Ja«, sagte Leona.
»Sie können jetzt erst einmal nach Hause gehen. Ich brauche nur Ihre Personalien, damit wir uns noch einmal an Sie wenden können. Es kann sein, wir brauchen noch einmal eine detaillierte Aussage von Ihnen.«
»Ich habe wirklich nichts gesehen. Erst als sie aufschlug ...«
»Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein. Wir melden uns bei Ihnen.«
Sie nannte ihm Adresse und Telefonnummer, die private und die ihres Büros, und er notierte sich alles auf einem dicken Block. Leona gab ihre Telefonnummer auch an Eva Fabianis Freundin weiter mit der Bitte, sie zu benachrichtigen, wenn sie etwas über den Zustand der Frau erführe.
Der Kaffee hatte sie gestärkt. Sie fühlte sich etwas besser. Sie ging in den Verlag, setzte sich hinter ihren Schreibtisch und schaffte es tatsächlich noch, einen ganzen Berg Arbeit abzutragen.
Um fünf Uhr rief die Nachbarin an. Eva Fabiani war trotz intensiver Bemühungen der Ärzte im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen erlegen.
...
© 2011 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es war ein wundervolles Spiel, sich von ihm durch den Wald jagen zu lassen. Irgendwann im letzten Sommer hatten sie es entdeckt. Ein heißer, sonniger Tag, sie erinnerte sich, aber im Wald war es angenehm schattig und viel kühler als auf dem Feld gewesen.
»Fang mich doch!« hatte sie plötzlich gesagt, ihre Hand aus seiner gelöst und war davongerannt.
Er hatte gewartet, bis ihr Vorsprung groß genug gewesen war, um die Sache spannend zu machen. Ja, er hatte gewartet, bis sie aus seinem Blick verschwunden war. Sie war über Gräben gesprungen, durch Gebüsche gekrochen, hatte Haken geschlagen wie ein Hase, um ihn über ihre Richtung zu täuschen. Die ganze Zeit über hatte sie gedacht: Albern, ich bin fast fünfzig Jahre alt, er ist schon über fünfzig, und wir rennen hier herum wie Kinder, die Verstecken oder Fangen spielen ...
Ihr war ganz heiß geworden bei der Vorstellung, ihre beiden erwachsenen Söhne könnten sie jetzt sehen. Doch dann hatte sie sich gesagt, daß die Besonderheit des Spiels darin bestand, daß niemand sie sah. Die Söhne nicht, die Nachbarn nicht. Sie waren allein in der Tiefe und Stille des Waldes.
Irgendwann war sie ihm direkt in die Arme gelaufen. Er hatte sie ausgetrickst, hatte plötzlich vor einer Schonung junger Tannen gestanden, durch die sie gekrochen kam, die Haare voller Tannennadeln, die Kleidung voller Laub und Erde. Sie war wirklich erschrocken; er behauptete später, sie habe aufgeschrien, aber davon wußte sie nichts mehr. Entscheidend war, was dann geschehen war. Sie hatten sich auf dem Waldboden geliebt, inmitten der kleinen Tannen, sie beide in ihrem fortgeschrittenen Alter, mit zwei erwachsenen Kindern, einem eigenen Häuschen, einem Dackel, einer Einbauküche und einer brandneuen Wildleder-Sofa-Garnitur. Er hatte ziemlich viel Bauch und mähte im Sommer an jedem zweiten Samstag den Rasen, und sie hatte zu dicke Oberschenkel und wünschte sich sehnlichst ein Enkelkind. Niemand, der sie kannte, hätte von ihnen geglaubt, daß sie irgendwelcher Verrücktheiten fähig wären. Sie waren spießig, aber sie hatten sich in ihrer Spießigkeit gut eingerichtet und waren glücklich damit. Nur manchmal ...
Heute war wieder so ein Tag. Ein warmer Frühsommertag. »Fang mich doch«, hatte sie auch diesmal gesagt, und er hatte geantwortet: »Es ist viel zu warm ...« Aber da war sie schon losgelaufen, eigensinnig wie ein Kind, das sich sein Lieblingsspiel von niemandem verderben lassen will.
Sie konnte ihn nirgendwo sehen oder hören. Sie blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn, lauschte. Nichts. Keine Schritte, kein Rascheln. Als sei sie allein auf der Welt. Hatte sie ihn wirklich abgehängt? Oder lauerte er ganz in der Nähe, verbarg sich hinter einem Gebüsch, wartete auf den geeigneten Moment, hervorzuspringen und ihr einen Riesenschrecken einzujagen?
Es war ihr auf einmal eigenartig flau im Magen. Sie hatte keine Ahnung, warum. Wenn er plötzlich auftauchte, wäre das gruselig, aber es wäre ein eher angenehmes Gruseln. Nie hatte sie sich wirklich gefürchtet. Diesmal aber war es etwas wie Furcht, was sie verspürte. Trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Laubdächer der Bäume fielen, trotz des Vogelgezwitschers und des Geplätschers eines kleinen Baches in der Nähe verströmte der Wald eine Ahnung von etwas Schrecklichem. Sie kam sich idiotisch vor, aber sie hatte den Eindruck, eine ungute Witterung aufgenommen zu haben, wie ein Tier, das die Gefahr spürt, noch ehe sie sich zeigt. Sie kam sich allein vor und doch nicht allein.
Halblaut rief sie seinen Namen. Keine Antwort. Das Vogelgezwitscher verstummte für einen Moment, setzte dann um so lauter wieder ein. Auf einmal war die Angst da, jäh und pulsierend. Sie drehte sich um und rannte fast, versuchte den Rückweg zu finden und konnte doch nichts Vertrautes entdecken. War sie an dieser Baumgruppe vorbeigekommen? Sie konnte sich nicht erinnern, einen Ameisenhaufen gesehen zu haben.
Sie rief seinen Namen erneut, lauter jetzt, und nun lag Panik in ihrer Stimme. Machte er sich einen Spaß daraus, ihr nicht zu antworten? Er war ganz in ihrer Nähe, sie spürte, daß da jemand war ... In ihre Angst mischte sich Zorn. Er ging zu weit. Er mußte merken, daß jetzt ernsthaft etwas nicht mehr stimmte mit ihr. Das Spiel war aus, vorbei. Sie bildete sich nicht länger ein, ein Teenager zu sein, der verliebt und glücklich im Wald herumtollte. Sie war eine fast fünfzigjährige Frau mit dicken Beinen. Eine Frau, die Angst hatte.
Als sie die Gestalt an dem Baum bemerkte, begriff sie nicht sofort, was sie sah. Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an. Es war, als weigere sich ihr Gehirn, das Bild umzusetzen. Sie dachte zunächst nur: Ich wußte doch, daß jemand in der Nähe ist.
Und dann, im nächsten Moment, vermochte ihr Verstand sich nicht länger zu sperren gegen das, was ihre Augen sahen. Die Gestalt war eine junge Frau. Und sie stand deshalb so eigenartig dicht an dem Baum, weil sie an seinen Stamm gefesselt war. Sie stand aufrecht, nur ihr Kopf fiel nach vorn auf die Brust. Die Kleidung hing ihr in Fetzen vom Leib, und überall war Blut. Auf ihr, neben ihr, vor ihr. Man hatte sie an den Baum gebunden und dann regelrecht abgeschlachtet, und man hatte sie dort zurückgelassen wie eine groteske Vogelscheuche, die dem Wald für alle Zeit seine Unschuld, seinen Frieden und seine geheimen Spiele nahm. Das Blut der jungen Frau vernichtete jede Illusion, die Welt könne gut, das Leben leicht sein.
Der Anblick des Blutes brannte sich für immer in ihr Gedächtnis. Sie meinte es auf ihrer Haut zu spüren, so als sei sie bespritzt worden damit.
Sie stand nur da und konnte keinen Laut hervorbringen.
1
Als sie erwachte, herrschte noch Dunkelheit jenseits des Fensters. Ein sanfter Nachtwind strich ins Zimmer, vermochte aber nicht die dumpfe Schwüle zu vertreiben, die noch vom Tag darin lastete. Frankfurt ächzte unter einer Hitzewelle. Über dreißig Grad im Schatten, Tag für Tag, seit fast drei Wochen. Die asphaltierten Straßen, die Häuser sogen die Hitze auf und gaben sie unerbittlich zurück. Die Menschen hatten über den kalten Winter gestöhnt und über den nassen Frühling. Nun beklagten sie den heißen Sommer. Waren die Menschen undankbar? Oder hatte das Klima der verschiedenen Jahreszeiten tatsächlich jegliche Ausgewogenheit verloren, präsentierte es sich nur noch in schwer erträglichen Extremen?
Sie hatte nicht in das allgemeine Gejammere einstimmen wollen, aber nun dachte Leona doch: Es ist zu heiß, um zu schlafen. Und wußte gleichzeitig, daß es nicht die Hitze gewesen war, was sie geweckt hatte.
Vergeblich versuchte sie, auf ihrer Armbanduhr, die sie auch nachts am Handgelenk trug, die Zeit zu erkennen. Schließlich knipste sie die Nachttischlampe an. Drei Uhr. Obwohl sie das Licht sofort wieder ausschaltete, hatte das sekundenlange Aufflammen von Helligkeit ausgereicht, Wolfgang zu wecken.
»Kannst du schon wieder nicht schlafen?« fragte er mit jenem Anflug von Gereiztheit, der sich erst seit kurzem in seine Stimme eingeschlichen hatte und sich immer auf Leona bezog.
»Es ist so heiß.«
»Das hat dir doch noch nie etwas ausgemacht«, sagte er müde. Er wußte auch, daß es nicht an der Hitze lag.
»Ich glaube, ich habe wieder geträumt«, gestand Leona. Sie hatte längst begriffen, daß sie Wolfgang inzwischen auf die Nerven ging.
Er schien hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, einfach weiterzuschlafen und Leonas Psychose - wie er ihre Probleme insgeheim nannte - zu ignorieren, und dem Gefühl, zum Zuhören und Trösten verpflichtet zu sein. Sein Pflichtbewußtsein siegte, auch wenn er sich selbst im stillen dafür verfluchte. Er hatte einen harten Tag hinter sich, einen ebenso harten vor sich. Die drückende Schwüle machte ihm zu schaffen, und zudem hatte er eine Menge Sorgen, von denen niemand etwas ahnte. Er hätte seinen Schlaf gebraucht.
Er seufzte. »Leona, meinst du nicht, du steigerst dich da in etwas hinein? Ich habe den Eindruck, du kreist ständig um diese ... Sache. Du grübelst zuviel, und diese Grübelei setzt sich natürlich nachts in Träume um. Du mußt dagegen angehen.«
»Denkst du, das versuche ich nicht? Ich bemühe mich ständig, mich abzulenken. Mit Arbeit, mit Sport, mit Gesprächen über Gott und die Welt. Ich setze mich bestimmt nicht hin und überlasse mich meinen trüben Gedanken.«
»Dann dürftest du nicht ständig diese Träume haben.«
Sie spürte Vorboten jener heftigen Wut, die stets in ihr emporkroch, wenn Wolfgang mit seinen Standardrichtlinien zur Bewältigung von Problemen anrückte. Wolfgang hatte unverrückbare Prinzipien, was Sorgen, Ängste, psychische Konfusionen anging. »Wenn du dieses oder jenes tust, dürfte dieses oder jenes nicht geschehen!« - »Wenn du dieses oder jenes nicht tust, müßte dieses oder jenes passieren.«
Wolfgang würde nie den Gedanken akzeptieren, daß sich das Leben einmal nicht nach den von ihm entwickelten Regeln richten könnte. Wenn die Dinge nicht so funktionierten, wie von ihm postuliert, dann lag die Schuld bei der Person, die eben irgend etwas falsch machte.
»Verdammt, Wolfgang, mach es dir doch nicht immer so leicht! Ich versuche, dagegen anzugehen, aber es gelingt nicht. Vielleicht brauche ich mehr Zeit.«
»Das alles ist einfach eine Frage des Willens«, sagte Wolfgang und unterdrückte ein Gähnen. Bei ihm war alles immer eine Frage des Willens. Er hätte die Vorstellung nicht ertragen, daß es Bereiche im Leben geben könnte, die nicht durch bloße Willensanstrengung beeinflußbar waren. Für Wolfgang gab es die Begriffe Schicksal und Fügung nicht, ebensowenig wie Zufall oder Vorsehung. Vielleicht hatte er recht. Leona war weit davon entfernt, sich in esoterischem Gedankengut zu verstricken; sie war Rationalistin, wenngleich sie sich neben Wolfgang stets wie eine weltfremde Träumerin vorkam. Aber die Vorstellung von einer Macht jenseits dessen, was die Menschen begreifen und beherrschen konnten, existierte durchaus in ihrem Leben. Anders hätte sie es nicht ertragen. Wolfgang warf ihr immer vor, dies habe mit einem Mangel an Verantwortungsbereitschaft zu tun.
»Das Schicksal bemühen nur die Menschen, die einen Teil der Verantwortung, die sie für ihr Tun und Lassen tragen, an eine andere, irgendwo jenseits weltlicher Begriffe angesiedelte Instanz abgeben wollen. Es ist der Versuch einer schlichten Lastenumverteilung, läuft aber letzten Endes darauf hinaus, daß man sich gründlich in die eigene Tasche lügt.«
Leona fand es schwierig, dagegen zu argumentieren, zumal sie durchaus bereit war zu akzeptieren, daß er recht hatte, was die Motive der Menschen hinsichtlich ihrer Schicksalsgläubigkeit anging. Nach ihrem Verständnis schloß dies jedoch das tatsächliche Vorhandensein einer aus der Ferne regierenden Macht nicht aus.
Sie starrte in die Dunkelheit und fragte sich, ob es einen tieferen Sinn hatte, daß gerade sie hatte vorbeikommen müssen, als die junge Frau ihrem Leben ein Ende hatte setzen wollen und aus dem Fenster gesprungen war. Normalerweise wäre sie um die betreffende Uhrzeit - um halb zwölf am Mittag - gar nicht durch die Straßen gegangen, hätte längst an ihrem Schreibtisch im Verlag gesessen. Ein Zahnarzttermin hatte sie jedoch an jenem Vormittag aufgehalten, und auch der hatte sich noch verzögert, weil ein akuter Notfall den Praxisbetrieb durcheinandergebracht hatte. Nur so hatte es geschehen können, daß sie genau zum Zeitpunkt des Unglücks die Straße entlanggehastet kam, entnervt vom langen Warten, die linke Gesichtshälfte noch betäubt von der Spritze, um die sie vorsorglich gebeten hatte. Es war sehr warm gewesen, und sie hatte sich klebrig und verschwitzt gefühlt und den dringenden Wunsch verspürt, nach Hause zu gehen, zu duschen und sich dann mit einem eiskalten Orangensaft und einem Buch in den Garten zu setzen. Sie hatte sich elend gefühlt und ein bißchen weinerlich.
Sie begriff zuerst nicht, was vor sich ging. Später versuchte die Polizei vergeblich, aus ihr herauszubekommen, wie das gewesen war, als die Frau sprang. War unter Umständen eine zweite Person hinter ihr erkennbar gewesen - oder der Schatten einer Person? Hatte es ausgesehen, als springe sie von selbst, oder als werde sie gestoßen? Aber Leona konnte darauf nicht antworten, denn sie hatte es nicht gesehen. Sie war in Gedanken versunken gewesen, mit ihrem Zahn beschäftigt, mit dem ekelhaften, wattigen Betäubungsgefühl. Und mit bestimmten Sorgen, die sie seit einiger Zeit quälten, über die sie aber mit niemandem sprechen wollte.
Sie hatte erst etwas bemerkt, als die Frau bereits fiel. Genaugenommen hatte sie sie gar nicht sofort als Menschen identifiziert. Ein großer Gegenstand fiel aus dem im wahrsten Sinne des Wortes heiteren, nämlich wolkenlos sonnigen Himmel und kam mit einem häßlichen Klatschen nur wenige Meter vor Leona auf dem Bürgersteig auf.
Sie stand da, geschockt, ungläubig, denn nach zwei oder drei Sekunden hatte sie begriffen, daß es ein Mensch war. Eine Frau. Sie trug ein grüngeblümtes Sommerkleid aus Baumwolle und an den Füßen weiße Sandalen. Sie hatte schulterlange, dunkelblonde Haare. Sie lag auf dem heißen Asphalt in der Sonne wie irgendein achtlos weggeworfener Gegenstand, ein unförmiges Stück Müll, das jemand im Vorbeifahren aus dem Auto gekippt hatte. Ihre Arme und Beine standen in eigenartigen Winkeln vom Rumpf ab.
Leona hätte später nicht zu sagen gewußt, wie lange sie einfach nur angewurzelt dastand und das Szenario betrachtete. Ihr kam es vor, als vergehe eine Ewigkeit, in der alles um sie herum - die im leisen Wind schaukelnden Blätter, eine Katze, die die Straße überquerte, ein Vogel, der von einem Zaunpfosten zum nächsten hüpfte - Zeitlupentempo annahm, und in der die Geräusche des jenseits des Wohnviertels dahinflutenden Großstadtverkehrs hinter einer lärmschluckenden Glaswand verschwanden. Erst als sie die Frau leise stöhnen hörte, erwachte sie aus ihrer Betäubung, lief zu ihr hin und kniete neben ihr nieder.
»Mein Gott, was ist denn passiert?« hörte sie sich rufen. »Kann ich Ihnen helfen?«
Was für eine idiotische Frage, dachte sie gleich darauf.
Die Frau hatte die Augen geöffnet. Sie hatte ein schönes Gesicht; selbst in dieser Situation fiel das noch auf. Nirgendwo war Blut zu sehen, aber nach Lage ihrer Gliedmaßen mußte sie sich nahezu jeden Knochen im Körper gebrochen haben. Sie war blasser, als es Leona je bei irgendeinem Menschen gesehen hatte.
»Nun hat er es endlich geschafft«, sagte sie, und ihre Stimme klang zwar leise, war aber deutlich und klar zu verstehen. Sie wiederholte: »Nun hat er es geschafft.« Und sah Leona an.
»Wer hat es geschafft? Von wem sprechen Sie?«
Die Frau erwiderte nichts mehr. Ihre Augen verdrehten sich plötzlich. Im nächsten Moment verlor sie das Bewußtsein.
Leona kam zum erstenmal auf die Idee, nach oben zu blicken und herauszufinden, von wo die Fremde überhaupt gefallen war. Sie befanden sich direkt vor einem Neubau, einem sechsstöckigen Appartementhaus, hineingebaut in einen alten, schattigen Garten, in dem früher eine Sandsteinvilla gestanden hatte, die abgerissen worden war, um eine Vielzahl von Menschen auf möglichst kleinem Raum zusammenzupferchen und dabei eine Menge Geld herauszuschlagen. Sie machten das jetzt überall im Viertel so und beraubten es auf diese Weise nach und nach seines ursprünglichen Charmes.
Das Haus war dicht an die Straße herangebaut, zwei Schritte trennten die Haustür vom Gehsteig. Im obersten Stockwerk stand ein Fenster sperrangelweit offen. Leona zweifelte nicht daran, daß die Frau von dort herausgesprungen war.
»Bewegen Sie sich nicht«, sagte sie, überflüssigerweise, denn die Frau war noch ohnmächtig. »Ich werde Hilfe holen.«
In einiger Entfernung entdeckte sie einen Rentner, der seinen Cockerspaniel spazierenführte. Er war stehengeblieben und starrte herüber, aber seine Miene verriet, daß er entweder nicht richtig sah oder nicht begriff, was geschehen war.
Sie winkte ihm hektisch zu, er solle herkommen, aber er blieb stehen und glotzte. Sie sprang auf und lief zu ihm hinüber.
»Die Frau dort ist aus dem Fenster gesprungen!« rief sie. »Wohnen Sie hier? Können Sie den Rettungsdienst anrufen?«
Er starrte sie an. »Aus dem Fenster gesprungen?« »Ja! Wir brauchen sofort einen Notarzt.«
»Sie können bei mir telefonieren«, bot er an, »ich wohne gleich dort.« Er wies auf eine behäbige Villa, nur wenige Meter entfernt, aber es schien Leona eine Ewigkeit zu dauern, bis er sich auch nur umgedreht hatte, und die schwerfälligen Schritte, mit denen er lostappte, ließen sie beinahe die Nerven verlieren. Aber so panisch sie auch ihre Augen umherschweifen ließ, nirgends konnte sie eine Telefonzelle entdecken. Immer wieder sah sie zu der Frau hinüber. Sie rührte sich nicht.
Der alte Mann kramte in seinen Hosentaschen nach dem Haustürschlüssel, ohne fündig zu werden, und der Hund fiepte. Leona vibrierte vor Ungeduld. Sie sah eine ältere Frau im Jogginganzug auf die Straße laufen. »Ich habe alles gesehen!« rief sie. »Ich habe den Notarzt angerufen!«
»Gott sei Dank«, sagte Leona und ließ den Alten stehen. Die nächsten zwei Stunden waren ein Chaos aus Ärzten und Polizisten, aus Menschenauflauf und Straßensperre, aus Fragen, Mutmaßungen, neugierigen Blicken und gewisperten Geschichten. Leona stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, denn auf geheimnisvolle Weise hatte es sich sofort allseits herumgesprochen, daß sie Zeugin des Geschehens, erste Person am Unglücksort gewesen war. Aus allen Häusern waren inzwischen die Menschen herbeigeströmt, und auch Schulkinder, die sich jetzt auf dem Heimweg befanden, blieben stehen. Die Verunglückte war längst abtransportiert worden. Leona saß auf den Stufen vor dem Haus. Irgend jemand hatte ihr einen Becher Kaffee gebracht, an dem sie sich dankbar festhielt. Sie hatte einem Polizisten erzählt, was geschehen war, soweit sie es mitbekommen hatte, und er hatte sie gebeten, sich noch zur Verfügung zu halten. Der Arzt hatte sie gefragt, ob sie etwas brauche, doch sie hatte den Kopf geschüttelt und gesagt, sie sei in Ordnung.
Vielleicht war sie das aber gar nicht. Irgend etwas in ihr weigerte sich noch immer, wirklich zu begreifen, was sie gesehen hatte. Jedesmal, wenn das Bild der auf der Straße liegenden Frau in ihr aufsteigen wollte, wenn der Gedanke an die grotesk verrenkten Gliedmaßen in ihr erwachte, sandte ihr Gehirn den Befehl aus, augenblicklich etwas anderes zu sehen, etwas anderes zu denken. Es war ihr nicht bewußt, daß sie selbst an diesem Vorgang des Verdrängens beteiligt sein könnte. Etwas arbeitete in ihr, das sich ihrem Einfluß entzog. Irgendwann, während sie so dasaß und intensiv registrierte, wie ihre betäubte Gesichtshälfte wieder erwachte, kam ihr der Gedanke, sie könne einen Schock haben. Vielleicht hätte sie mit ins Krankenhaus fahren sollen. Es schien ihr jedoch jetzt zu spät dafür, und so blieb sie einfach sitzen und blinzelte in die Sonne.
»Möchten Sie noch etwas Kaffee?« fragte eine freundliche Stimme hinter ihr.
Leona wandte sich um und sah eine ältere Frau, die eine Thermoskanne in der Hand hielt. Offensichtlich war sie es gewesen, die ihr vorhin den Becher in die Hand gedrückt hatte. Sie sah elend und geschockt aus.
»Das wäre nett«, sagte Leona dankbar.
Die Frau schenkte ihr Kaffee nach. »Sie sehen ja furchtbar blaß aus! Es muß schlimm für Sie gewesen sein. Die arme, arme Eva! Ich kann es überhaupt nicht fassen!« In ihrer Stimme klangen Tränen.
»Eva?« fragte Leona. »Hieß sie so?« Sie verbesserte sich sofort: »Heißt sie so?«
»Eva Fabiani. Wir sind eng befreundet, wissen Sie. Ich wohne in der Wohnung direkt unter ihr. Aber ich habe nichts mitbekommen. Ich war auf meinem Balkon draußen, und der geht nach der anderen Seite hinaus.«
Der Kaffee war heiß und stark. Wahrscheinlich nicht unbedingt das Richtige für ihren frisch behandelten Zahn, aber angesichts der jüngsten Ereignisse erschien Leona ihr Zahn unbedeutend.
»Ich mache mir entsetzliche Vorwürfe«, sagte die Frau. »Ich hätte wissen müssen, daß so etwas irgendwann passiert. Ich glaube, ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie es wirklich tut. Ich hätte nie den Mut.«
»Sie war wohl sehr verzweifelt«, meinte Leona. Das Bild drängte sich wieder auf. Die Frau auf dem Gehsteig. Die Arme und Beine, die wie zufällig hingegossen dalagen, als hingen sie gar nicht mehr mit dem Körper zusammen. Was etwa auch den Tatsachen entsprochen haben mußte. Als sie Eva auf die Tragbahre luden, hatte einer der Sanitäter gesagt: »Die ist ja buchstäblich in Stücke zerbrochen!«
»Ja, sie war verzweifelt«, sagte die Frau mit dem Kaffee, »aber ich hatte in der letzten Zeit das Gefühl, es ginge ihr besser. Sie ist vor vier Jahren geschieden worden. Damals zog sie hier ins Haus. Sie und ihr Exmann hatten das gemeinsame Haus in Kronberg verkauft, und von ihrem Anteil hat sie sich die oberste Wohnung gekauft. Eine besonders schöne Wohnung. Wunderbare Terrasse nach hinten hinaus. Die Scheidung hatte sie furchtbar mitgenommen. Sie suchte unmißverständlich Anschluß, und ich habe mich um sie gekümmert. Ich bin auch sehr viel allein. Es schien ihr langsam besserzugehen. Aber vor einem dreiviertel Jahr hat ihr geschiedener Mann ... «
Ein Polizist trat heran. »Frau Dorn?«
»Ja«, sagte Leona.
»Sie können jetzt erst einmal nach Hause gehen. Ich brauche nur Ihre Personalien, damit wir uns noch einmal an Sie wenden können. Es kann sein, wir brauchen noch einmal eine detaillierte Aussage von Ihnen.«
»Ich habe wirklich nichts gesehen. Erst als sie aufschlug ...«
»Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch etwas ein. Wir melden uns bei Ihnen.«
Sie nannte ihm Adresse und Telefonnummer, die private und die ihres Büros, und er notierte sich alles auf einem dicken Block. Leona gab ihre Telefonnummer auch an Eva Fabianis Freundin weiter mit der Bitte, sie zu benachrichtigen, wenn sie etwas über den Zustand der Frau erführe.
Der Kaffee hatte sie gestärkt. Sie fühlte sich etwas besser. Sie ging in den Verlag, setzte sich hinter ihren Schreibtisch und schaffte es tatsächlich noch, einen ganzen Berg Arbeit abzutragen.
Um fünf Uhr rief die Nachbarin an. Eva Fabiani war trotz intensiver Bemühungen der Ärzte im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen erlegen.
...
© 2011 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Charlotte Link
Link, CharlotteCharlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Die Entscheidung« und zuletzt »Die Suche« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 30 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt/Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Link
- 2011, 510 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442377471
- ISBN-13: 9783442377473
- Erscheinungsdatum: 19.09.2011
Rezension zu „Der Verehrer “
"Raffiniert!" tv media
Kommentare zu "Der Verehrer"
0 Gebrauchte Artikel zu „Der Verehrer“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 20Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der Verehrer".
Kommentar verfassen