Der Tanz der Kraniche
Roman
Stralsund Ende des 19. Jahrhunderts: Wenn es nach dem Willen ihrer Eltern ginge, würde die junge Ida sich einen Mann suchen, dem sie eine brave Ehefrau ist. Doch Ida hat ganz andere Träume: Sie will Künstlerin werden. Ida setzt ihren Kopf...
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Produktinformationen zu „Der Tanz der Kraniche “
Stralsund Ende des 19. Jahrhunderts: Wenn es nach dem Willen ihrer Eltern ginge, würde die junge Ida sich einen Mann suchen, dem sie eine brave Ehefrau ist. Doch Ida hat ganz andere Träume: Sie will Künstlerin werden. Ida setzt ihren Kopf durch und erkämpft sich Zeichenstunden bei einem anerkannten Lehrer. Dies führt sie auf die kleine Insel Hiddensee, die auf dem besten Weg ist, zur Künstlerkolonie zu werden. Auch Ida kann sich dem Zauber der wild-romantischen Landschaft nicht entziehen - ebenso wenig wie der Anziehungskraft des berühmten Malers Klausen. Doch der ist verheiratet.
Klappentext zu „Der Tanz der Kraniche “
Stralsund Ende des 19. Jahrhunderts: Wenn es nach dem Willen ihrer Eltern ginge, würde die junge Ida sich einen Mann suchen, dem sie eine brave Ehefrau ist. Doch Ida hat ganz andere Träume: Sie will Künstlerin werden. Ida setzt ihren Kopf durch und erkämpft sich Zeichenstunden bei einem anerkannten Lehrer. Dies führt sie auf die kleine Insel Hiddensee, die auf dem besten Weg ist, zur Künstlerkolonie zu werden. Auch Ida kann sich dem Zauber der wild-romantischen Landschaft nicht entziehen - ebenso wenig wie der Anziehungskraft des berühmten Malers Klausen. Doch der ist verheiratet ...
Stralsund Ende des 19. Jahrhunderts: Wenn es nach dem Willen ihrer Eltern ginge, würde die junge Ida sich einen Mann suchen, dem sie eine brave Ehefrau ist. Doch Ida hat ganz andere Träume: Sie will Künstlerin werden. Ida setzt ihren Kopf durch und erkämpft sich Zeichenstunden bei einem anerkannten Lehrer. Dies führt sie auf die kleine Insel Hiddensee, die auf dem besten Weg ist, zur Künstlerkolonie zu werden. Auch Ida kann sich dem Zauber der wild-romantischen Landschaft nicht entziehen - ebenso wenig wie der Anziehungskraft des berühmten Malers Klausen. Doch der ist verheiratet ...
Lese-Probe zu „Der Tanz der Kraniche “
Der Tanz der Kraniche von Judith KernProlog
Endlich, endlich war sie wieder hier. Und endlich waren
auch die Kraniche wieder zurück. Ida ließ ihren
Blick über den im Morgendunst vor ihr liegenden Bodden
schweifen und baute ihre Staffelei genau an der Stelle auf,
an der sie zuletzt vor fünf Jahren gestanden hatte, als sie
geglaubt hatte, nie glücklicher sein zu können. Aber nach
allem, was passiert war, wusste sie, dass sie nie glücklicher
war als jetzt.
Um diese frühe Morgenstunde war es noch ruhiger als
sonst auf Hiddensee. Nur eine Möwe, die über ihr kreiste,
stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus, bevor sie Richtung
Rügen davon flog und es danach wieder so still war wie
zuvor.
Wie sehr sie diese Stille vermisst hatte. Wie sehr sie sich
nach dieser Ruhe gesehnt hatte, wusste sie erst, seitdem sie
wieder zurück war auf Hiddensee und keine in den Potsdamer
Bahnhof einfahrenden Züge sie mehr aufschrecken
konnten. Wie oft hatte sie in Berlin vergeblich in den Himmel
geblickt, weil sie geglaubt hatte, das Trompeten der
Kraniche gehört zu haben, und dabei war es nie etwas anderes
gewesen als das Tuten der Züge, und wie oft hatte sie
enttäuscht ihren Blick wieder gesenkt.
Und jetzt stand sie hier und wartete darauf, dass die Vögel
aus ihrem Schlaf erwachten, dass sie tänzelnd und mit einem
lauten Schrei den Morgen begrüßten, wie damals, als
sie zuletzt hier gewesen war.
... mehr
Ida streichelte sanft über ihren Bauch, und ein Lächeln
huschte über ihr Gesicht. Noch immer passierte es ihr an
manchen Tagen, dass sie glaubte, sich kneifen zu müssen,
um zu verstehen, dass ihre Träume Wirklichkeit geworden
waren, aber die Tage wurden weniger, und wenn jetzt gleich
zum ersten Mal in diesem Jahr die Kraniche ihre Trompetenrufe
zu ihr herüberschicken würden, dann wusste sie,
dass sie tatsächlich angekommen war.
1
Ida malte mit ihren vor Kälte rot angelaufenen Füßen
Kreise ins Wasser. Wie ein Stift über weißes Papier
strichen ihre Zehen über die schattige Wasseroberfläche
und hinterließen dort flüchtige Spuren. Das Entenpaar,
das ihr Treiben aus sicherer Entfernung misstrauisch zu beobachten
schien, nahm Ida nur aus dem Augenwinkel
wahr, und auch als drei Schwäne fast zeitgleich unüberhörbar
im Knieper Teich landeten, hob sie kaum merklich den
Kopf.
»Ida, verdammt, wo steckst du?« Die Stimme kam vom
Haus, aber Ida war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie
nichts hörte. »Herrje«, Emma schüttelte verständnislos
den Kopf, während sie mit polternden Schritten über den
Steg zu Ida ging, »wir haben April, und in der Nacht friert
es noch immer, und du hältst deine nackten Füße schon
wieder ins Wasser.« Sie packte ihre jüngere Schwester an
der Schulter und zog sie hoch. »Zieh die an«, sagte sie mit
einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, und reichte
ihr die Schnürstiefel, die kurz zuvor noch neben Ida gelegen
hatten.
»Ich bin beschäftigt«, sagte sie ruhig und sah dabei unentschlossen
auf ihre Schuhe in Emmas Hand.
Emma atmete tief durch. »Aha. Und womit, wenn man fragen
darf? Mit Träumen?«
»Ich studiere die Bewegungen des Wassers. Sieh doch mal.«
Sie beugte sich über den Rand des Stegs und fuhr mit ihrem
Zeigefinger durchs Wasser. »Siehst du, wie es sich kräuselt,
und jetzt, pass auf, jetzt sieht es so aus, als würde es ausfransen
wie die Stoffreste in Mutters Nähzimmer. Siehst
du?« Sie drehte sich zu ihrer Schwester, die ihr noch immer
die Schuhe hinhielt.
»Komm jetzt, Vater wartet.«
Ida seufzte leise. »Sag ihm, dass ich gleich komme. Nur
noch einen Moment.« Sie wandte den Blick zum Himmel.
»Die Wolke müsste gleich weg sein. Ich will nur kurz das
Wasserspiel im Sonnenschein beobachten.«
»Glaubst du wirklich, dass du damit durchkommst?« Emmas
Augen funkelten. Dann drehte sie sich um und ging
wortlos davon.
»Meine Schuhe!«, rief sie ihr noch hinterher, aber Emma
trug sie wie eine Trophäe ins Haus.
Ida schob ihren langen Rock nach oben und ließ sich auf
die kühlen Planken des Stegs fallen. Auch wenn sie um das
Gespräch mit ihrem Vater nicht herumkommen würde,
war sie erleichtert, sich wenigstens einen kleinen Aufschub
ergaunert zu haben. Sie wusste ja, was er ihr zu sagen hatte,
und sie wusste auch, dass sie ihn wieder enttäuschen
würde.
Während sie auf die Strahlen der Frühjahrssonne wartete,
drangen aus dem Musikzimmer leise Töne. Ida wandte sich
zum Haus und sah, dass das Fenster zum Garten offen
stand. Lilla musste es geöffnet haben, denn nicht einmal
ihre Mutter konnte die Tonleitern in so rasantem Tempo
spielen wie ihre jüngste Schwester. Sie lauschte deren immer
schneller werdendem Spiel, bis ein lauter, scheußlich
klingender Akkord es abrupt beendete.
Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Die Wolke hatte sich noch immer nicht verzogen, und im
Schatten war es kalt geworden. Wenn sie sich nicht erkälten
wollte, musste sie schnell ins Haus. Stattdessen aber
zog sie nur die Beine dichter an ihren Körper und vergrub
ihre nackten Füße unter ihrem Rock.
»Ida!«
Den schneidenden Ton kannte sie nur zu gut. Jedes Mal,
wenn sie ihn hörte, wunderte sie sich, dass er das Leben
nicht wenigstens für einen kurzen Moment zum Stillstand
brachte. Aber die Schwäne schwammen ungerührt am
Schilf entlang, und über ihr kreisten einige Möwen. Mit
einem Gefühl tiefer Ungerechtigkeit ging sie langsam zum
Haus.
Wie ein Mahnmal stand ihr Vater vor dem Eingang zur
Veranda und erwartete sie bereits. Wortlos hielt er ihr die
Schuhe hin und rührte sich nicht von der Stelle, bis sie ihre
Stiefel zugeschnürt hatte. Ida lächelte zaghaft, aber sie
wagte nicht, etwas zu sagen. Dabei hätte sie ihm gern erzählt,
wie anders das Wasser heute ausgesehen hatte, viel
klarer als vor ein paar Tagen.
Im Salon war es angenehm warm, und beim Anblick des
lodernden Kaminfeuers dachte sie kurz an ihren Zeichenblock,
der auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer lag und
den sie nach dem Gespräch unbedingt würde holen müssen,
um die züngelnden Flammen aufs Papier zu bannen.
Aber noch ehe sie sich genauer überlegen konnte, wie sie es
anstellen sollte, das Knistern und Flackern zu zeichnen,
kam ihr Vater auch schon zur Sache.
»Ich habe mit Fräulein Stolz gesprochen«, sagte er, nachdem
er in einem der beiden hohen Ohrensessel Platz genommen
hatte, zwischen denen ein kleiner Spieltisch stand.
»Sie wäre bereit, dich noch im Mai in ihre Klasse aufzunehmen.«
»Im Mai?«, fragte Ida entsetzt.
»Emma würde dir bis dahin helfen, den versäumten Unterricht
nachzuholen.«
»Das ist unmöglich«, entfuhr es ihr.
»Aha.« Oskar Grotjahn strich sich über seinen frisch gestutzten
Bart. »Das geht also nicht.«
»Nein, Vater, nein, das ist ganz und gar unmöglich. Herr
Vogel will mich doch empfangen. Darüber haben wir gesprochen.«
»Herr Vogel«, wiederholte ihr Vater ruhig und beobachtete
seine Tochter, die unentwegt ihren Rock glatt strich.
»Das kannst du doch nicht vergessen haben? Balthasar Vogel,
der Maler, der mir vielleicht Zeichenunterricht geben
will.«
»Natürlich, der berühmte Herr Vogel, wie konnte mir das
nur entfallen sein.« Er schlug sich theatralisch an die Stirn.
»Das Künstlergenie. Wie konnte ich nur vergessen, dass
sich der weltberühmte Balthasar Vogel die belanglosen
Zeichnungen meiner Tochter ansehen will.«
»Vater!« Ida schluckte.
»Du weißt genau, wie ich dazu stehe, Ida. Ich werde es
nicht zulassen, dass du deine wertvolle Zeit mit diesen
unnützen Schmierereien vergeudest. Du hast jetzt die höhere
Schule abgeschlossen und dort genügend Mal- und
Zeichenstunden gehabt. In zwei, drei Jahren heiratest du,
und bis dahin solltest du das Einmaleins einer ordentlichen
Haushaltsführung gelernt haben. Nimm dir ein Beispiel
an Emma, sie wird bald die Ehefrau eines anständigen
Stralsunder Brauereibesitzers. Was glaubst du denn,
was dein zukünftiger Bräutigam sagen wird, wenn er erfährt,
dass du noch nicht einmal einen Rocksaum umnähen
kannst.«
»Ich habe keinen Bräutigam«, erwiderte Ida ruhig. Aber
wie immer, wenn er von »ihrem Bräutigam« sprach, konnte
sie ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Ich würde wirklich gerne wissen, was du daran so komisch
fi ndest«, entgegnete ihr Vater scharf.
»Nichts, Vater, wirklich, gar nichts.« Ida hatte Mühe, sich
zu beherrschen, um nicht loszukichern wie ein Schulmädchen.
Ein Bräutigam! Die Vorstellung, einem Mann die Socken
zu stopfen, fand sie absurd.
»Ida.« Er erhob erneut die Stimme. »Wie oft soll ich mit
dir denn noch dieses Gespräch führen. Du bist jetzt achtzehn
Jahre alt, früher oder später wirst du heiraten, oder
glaubst du, ich kann es mir leisten, dich bis an dein Lebensende
durchzufüttern?«
»Aber Vater, natürlich nicht. Ich werde nur nicht die Haushaltsschule
von Fräulein Stolz besuchen.« Sie hatte sich
jetzt wieder im Griff und wunderte sich selbst ein wenig
darüber, wie entschieden sie sich diesmal angehört hatte.
Oskar Grotjahn schluckte. Die Entschlossenheit in ihrem
Gesicht erfüllte ihn mit Sorge. Ida erinnerte ihn an seinen
Vater, den er noch im Alter gefürchtet hatte. Mit zusammengekniffenen
Augen, als würde er hoffen, sie auf diese
Weise besser durchschauen zu können, musterte er seine
Tochter. Doch einmal mehr fi el es ihm schwer, sich in ihr
wiederzuerkennen. Die blauen Augen ähnelten noch am
ehesten seinen eigenen, ansonsten schien sie vor allem nach
ihrer Mutter zu kommen. Das dunkle Haar, das sie für seinen
Geschmack viel zu locker zu einem Zopf gebunden
trug, die hohen Wangenknochen, die ihrem Gesicht schon
jetzt eine feine Eleganz verliehen, der geschwungene Mund
mit den vollen Lippen, aus denen die Lebenslust sprach, all
das hatte mit ihm nicht viel zu tun.
»Und wer, glaubst du, zahlt dir den Zeichenunterricht bei
diesem Herrn Meistermaler Vogel?«
Ida überlegte kurz. »Ich könnte ja in der Fabrik arbeiten.«
»Arbeiten in der Fabrik.« Die Vorstellung amüsierte ihren
Vater. »Ich würde wirklich zu gerne wissen, wer dir nur
alle diese Flausen in den Kopf gesetzt hat.«
»Du musst den Läufer ziehen.« Johanna, Idas sechzehnjährige
Schwester, war von beiden unbemerkt in den Salon
gekommen und stand nun hinter ihnen, den Blick auf den
Spieltisch mit den Schachfiguren gerichtet.
»Ach, Johanna, was für eine Wohltat.« Oskar Grotjahn
legte seinen Arm um die schmalen Hüften seiner Zweitjüngsten
und zog sie näher zu sich. »Was für ein kluges
Mädchen du doch bist. Kannst du mir verraten, warum
deine Schwester so aus der Art schlägt?«
Johanna verzog keine Miene. Die ständigen Streitereien
zwischen den beiden interessierten sie schon lange nicht
mehr. Sie verstand Ida einfach nicht.
»Ida, Ida, Ida.« Ratlos schüttelte er den Kopf, doch Johannas
Bemerkung hatte ihn abgelenkt. Sein Blick blieb auf
dem Schachbrett hängen, während er nachdenklich seinen
Bart rieb.
Ida beobachtete ihn verunsichert. »Kann ich?«
»Jaja«, sagte Oskar Grotjahn, »geh jetzt. Wir sprechen uns
noch.«
Als Ida kurz darauf den Salon verließ und in ihr Zimmer
hin aufging, war ihr die Lust am Zeichnen erst einmal vergangen.
Der Streit mit ihrem Vater zehrte mehr an ihr, als sie
gedacht hatte. Erschöpft blickte sie aus dem Fenster. Direkt
vor ihr lag der Knieper Teich. Doch während sein Anblick
ihr vorher noch alles bedeutet hatte, schien er nun nichts
weiter als ein trübes, langweiliges Gewässer zu sein.
2
Sie erkannte das Stück sofort. Mit dem ersten Akkord
hatte sie es erkannt und gewusst, dass ihre
Mutter es nur für sie spielte. Schon als sie noch ein kleines
Kind war, hatte sie es gespielt, um sie zu trösten. Leise
summte Ida die Melodie mit, diese sanfte Musik, die erst so
unscheinbar in der Luft schwebt, bis sie sich immer lauter
erhebt, um schließlich zaghaft zu verebben. Ida stellte sich
ihre Mutter vor, wie sie an dem schwarzen Flügel im Klavierzimmer
saß, dem Flügel, den ihr Großvater eigenhändig
gebaut hatte und der den Grundstein gelegt hatte für
seine erfolgreiche Pianofortefabrik, wie sie dort mit geschlossenen
Augen saß, ganz versunken in Chopins Nocturne.
Ida glaubte, dass es ihre Art war, ihr mitzuteilen,
dass sie sie verstand.
Mit dem Spiel ihrer Mutter kehrte Idas Mut langsam
zurück. Sie öffnete ihren Schrank und griff nach einem
der Magazine, die sie hütete wie einen Schatz. Ordentlich
nach Erscheinungsdatum sortiert, lag dort Die neue deutsche
Rundschau, eine Zeitschrift, die sich ihre Mutter aus
Berlin kommen ließ und die für Ida mehr war als nur ein
Bote aus einer fernen Welt. Drei Jahre war es her, dass sie
zum ersten Mal eines der Hefte in Händen gehalten hatte,
und schon beim Lesen des ersten Artikels über einen Dichter,
dessen Namen sie zuvor noch nie gehört hatte, hatte
sie gespürt, dass darin etwas enthalten war, was sie zutiefst
berührte. Damals konnte sie noch nicht sagen, was
es war, aber im Lauf der Jahre hatte sich ihr Interesse mehr
und mehr auf die Kunst gerichtet, und seitdem las sie jeden
noch so kleinen Artikel über eine Ausstellungseröff-
nung, als würde es sich dabei um eine Offenbarung handeln.
Es gab kaum ein Kunstwerk, das in diesen drei Jahren abgedruckt
worden war, das sie nicht aus dem Kopf hätte
nachmalen können, pompöse, mit allerlei Pracht und Prunk
verzierte Kaiserkrönungen ebenso wie wollüstige Salonszenerien
mit nackten, sich auf samtenen Chaiselongues räkelnden
Damen. Mit Hingabe hatte sie Detail für Detail
dieser großen Gemälde studiert und versucht sie zu kopieren.
Und vielleicht hätte sie sich damit sogar zufriedengegeben,
vielleicht hätte es ihr genügt, die Malerei als einen
Zeitvertreib zu sehen, der ihr dabei half, an einer prächtigeren
und größeren Welt teilzuhaben als an der, die sie aus
Stralsund kannte, wenn ihr Blick nicht vor einem Jahr auf
ein Bild gefallen wäre, das sie seitdem fesselte wie kein anderes.
Mit der Feierlichkeit eines alten Rituals legte sie das abgegriffene
Heft auf ihren Schreibtisch und blätterte es Seite
für Seite langsam um - »Mondschein liegt um Meer und
Land dämmerig gebreitet; in den weißen Dünensand Well'
auf Welle gleitet«. Wie immer las sie zuerst Gerhart Hauptmanns
»Mondscheinlerche« auf Seite drei, bevor sie sich
der Strecke mit den Modezeichnungen widmete, die im
Gegensatz zu den schweren Kleidern, die sie täglich an den
Stralsunder Frauen sah, frisch und leicht wirkten. Ida überblätterte
die Kritik einer Uraufführung an der Hofoper
Unter den Linden, die ihre Mutter ebenso rot angestrichen
hatte wie den Bericht über eine Wagner-Inszenierung in
München, bevor sie schließlich zu der Seite kam, die den
Beginn ihrer Sehnsucht markierte.
Behutsam strich sie über das aufgrund des einfachen
Drucks längst braunstichig gewordene Bild von Feldarbei-
terinnen, das so anders war als alle Bilder, die sie bis dahin
gesehen hatte. Es hatte nichts von dem übertriebenen Pathos
eines Hofzeremoniells, nichts von der gekünstelten
Lebendigkeit einer in einem Traubenmeer badenden Schönheit,
es war so schlicht, dass sie es beim ersten Mal sogar
beinahe übersehen hätte. Ein bis zum Horizont sich erstreckender
Acker, vier gebückte Arbeiterinnen, mit zerfurchten
und ernsten Gesichtern, und dazwischen zarte, sich
durch die aufgelockerte Erde drängende junge Pflänzchen.
Wie viel Gefühl darin lag, wie viel Sinn für das Wesentliche.
Nie hätte Ida gewagt, dieses Bild wie die anderen
nachzumalen. Zu groß war ihre Ehrfurcht vor dem Künstler,
der, wie sie glaubte, sich seiner Kunst mit Leib und Seele
verschrieben haben musste. Und nie hatte sich Ida so
verstanden gefühlt wie bei ihrer ersten Begegnung mit diesem
Bild, das so ungekünstelt und ehrlich war. Seitdem war
es ihr Trost und Ansporn zugleich. Denn nichts auf der
Welt hatte bis dahin ihr Innerstes mehr berührt, und nichts
wollte sie sehnlicher, als ebenfalls eine Sprache zu finden
für ihre wahrhaftigsten Gefühle.
Vater kann mich nicht zwingen, auf diese Schule zu gehen,
sagte sie sich energisch, während sie eine weitere Seite umblätterte
und ihr Blick auf dem Porträt des Künstlers haften
blieb. Er hieß Herbert Klausen, hatte ein schmales, langes,
wie Ida fand, edles Gesicht mit einem sorgfältig gestutzten
Backenbart und kräftiges, nach hinten gekämmtes Haar
und sah ebenso selbstbewusst wie nachdenklich aus. Ida
hatte schon oft die wenigen Zeilen gelesen, die dort über ihn
geschrieben standen. Sie wusste daher, dass er als einer der
wichtigsten Vertreter einer neuen deutschen Kunstrichtung
galt und dass er sich in Berlin mit seiner Kunst nicht nur
Freunde gemacht hatte. Einer wie er, dachte sie, der mit ganz
eigenen Vorstellungen auf die Welt zu blicken schien, wäre
bestimmt nicht so ängstlich wie sie. »Was soll ich bloß machen?«,
flüsterte sie seinem Porträt flehentlich zu, aber wie
immer sprach aus seinen Augen nur eine stumme Mischung
aus Melancholie und Provokation. Ida starrte nachdenklich
ins Leere. Während sie erneut dem Spiel ihrer Mutter lauschte,
geisterte nur ein einziger Satz durch ihren Kopf: Ich gehe
auf keinen Fall zu Fräulein Stolz.
Als der letzte Ton verklungen und es wieder still war im
Haus und Ida erneut aus dem Fenster sah, stellte sie mit
Erstaunen fest, dass der Teich plötzlich im Sonnenschein
glänzte. Für einen kurzen Moment streifte ihr Blick noch
einmal das Bild der Feldarbeiterinnen, als müsste sie sich
ihrer Wirkung auf sie noch einmal versichern, bevor sie das
Heft zurück an seinen Platz legte. Dann band sie ihre Haare
neu, setzte einen kleinen Hut auf, steckte einen Zeichenblock
unter ihren Mantel und ließ zwei Kohlestifte in ihren
Taschen verschwinden.
Als sie aus dem Haus trat, hielt gerade eine Droschke vor
einer entfernt stehenden Nachbarvilla, ansonsten war die
Teichstraße wie so oft menschenleer. Erst auf dem Knieper
Damm begegnete ihr eine Gruppe junger fröhlicher Mädchen.
Ida kannte sie und wollte schon grüßen, aber die
Mädchen gingen ausgelassen schwatzend an ihr vorüber,
ohne sie eines Blickes zu würdigen. Verwundert sah Ida
ihnen hinterher. Nicht, dass sie gerne mit ihnen gegangen
wäre, aber das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, versetzte ihr
einen kurzen, heftigen Stich.
Je näher Ida dem Stadtkern kam, desto lauter wurde es.
Dicht an dicht standen die Giebelhäuser, von deren Wänden
das Geklapper der Pferdehufe und Droschkenräder
widerhallte. Ihr Blick streifte die Auslage der Bäckerei
Hermann Korn, in dessen Schaufenster eine bis zur Hälfte abgetragene
Brotpyramide lag, und Schuhmacher Bruhn hatte
neben halbfertige Schuhe und unbenutzte Sohlen braune
und schwarze Schnürsenkel gelegt. In der engen Gasse war
es an diesem Apriltag 1896 fast so belebt wie zur frühen
Morgenstunde am Hafen, und Ida presste ihren Zeichenblock
an sich und beschleunigte ihren Schritt, als würde sie
fürchten, jemand würde sie erkennen und abführen wie
eine Verbrecherin und auf direktem Weg zu Fräulein Stolz
bringen.
Als sie in der Heiliggeiststraße auf einer der Häuserwände
in großen Buchstaben ihren Familiennamen prangen sah,
zuckte sie zusammen. Obwohl sie schon unzählige Male
dort entlanggegangen war, konnte sie sich nicht daran gewöhnen,
ihren Namen, der zu ihr gehörte wie ihre geheimsten
Wünsche, vor aller Augen ausgebreitet zu sehen. Mit
den Jahren war das einst leuchtende Weiß ausgebleicht und
schmutzig geworden, aber die Farbe hatte noch immer genügend
Kraft, um sich deutlich von der rötlich schimmernden
Backsteinfassade abzuheben. »Pianofortefabrik Grotjahn
& Söhne« stand dort, und für einen Moment zögerte
Ida, ob sie nicht hineingehen und ihren Onkel Fritz nach
Arbeit fragen sollte. Aber die Vorstellung, dass sie wie alle
anderen Arbeiterinnen an einer der Werkbänke stehen
würde, erschien ihr nun fast ebenso lächerlich wie vorher
ihrem Vater.
»Na, Ida, ganz allein unterwegs?«
Erschrocken drehte sie sich um. Vor ihr stand Anselm Preller,
Emmas Verlobter, der sich zu ihr hinunterbeugte und
seinen schweren Arm auf ihre Schultern legte.
»Ein so hübsches Mädchen wie du sollte in Gesellschaft
sein«, sagte er lachend und bleckte dabei seine gelbgefärb-
ten Zähne. Wie immer roch er nach Bier, und Ida wich unwillkürlich
einen Schritt zurück, aber er hielt sie weiterhin
fest, fast so, als würde sie wie selbstverständlich zu ihm gehören.
»So wie diese junge Dame da, die macht's richtig.« Er
zeigte auf eine hochschwangere Frau, kaum älter als Ida, die
mit einem kleinen Mädchen an der einen und einem Jungen
an der anderen Hand die Straße entlangging.
Ida versuchte zu lächeln, aber innerlich schauderte es sie.
»Emma meint, dass du ganz schön aufsässig bist. Sie fi ndet
dein Verhalten reichlich ungebührlich. Du scheinst ja richtig
besessen zu sein von deiner Malerei. Ida, Ida.« Er musterte
sie kopfschüttelnd. »Wo soll das denn hinführen?«
»Ich habe gehört, es soll noch Schwierigkeiten wegen der
Hochzeit geben? Der Dampfer?«
»Ach, der Dampfer kann mir mal gestohlen bleiben. Sollen
doch die Tietzes dort ihre Hochzeit feiern, ich war ohnehin
von Anfang an für den Brauereikeller. Sag mir lieber, wann
wir deine Hochzeit feiern?«
Ida zuckte mit den Schultern. »Du wirst es dann sicherlich
rechtzeitig erfahren«, sagte sie trocken, während sie erneut
versuchte, sich, ohne unhöflich zu sein, aus seiner Umklammerung
zu winden.
»Weißt du eigentlich, dass halb Stralsund ein Auge auf dich
geworfen hat? Seit bekannt ist, dass ich bei den Grotjahns
einheirate, werde ich fast täglich von irgend so einem Tölpel
belästigt, der mich anfleht, dass ich ihn dir einmal vorstelle.
Ich geb ja zu, viele sind nicht dabei, die in Frage kämen,
aber du wirst ja wohl nicht als alte Jungfer enden
wollen.«
»Ach, Anselm.« Ida lachte. »Sei mir nicht böse, aber ich
muss weiter.«
»Glaubst wohl, du bist was Besseres, was?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete sie energisch.
»Dann benimm dich«, entgegnete er barsch.
Ida sah ihn verblüfft an. In diesem Ton hatte er noch nie
mit ihr gesprochen. »Ich denke nicht, dass dich das etwas
angeht«, sagte sie nach kurzem Zögern und bemühte sich,
ruhig zu bleiben.
»Als dein zukünftiger Schwager will ich doch nur dein Bestes
«, meinte er versöhnlich, während er erneut seinen Arm
um ihre Schultern legte.
»Ich muss jetzt wirklich los.« Ida wand sich ruckartig aus
seiner Umarmung.
»Ist ja gut, ich hab verstanden.« Er bleckte wieder die Zähne.
»Aber dass du mir keinen Ärger machst. Meinst du, ich
hätte nicht bemerkt, dass du unter deinem Mantel deinen
Zeichenblock verbirgst?«
Als sie sich einige Schritte entfernt hatte, atmete sie tief
durch. Seine aufdringliche Art nahm ihr jedes Mal fast die
Luft. Sie verstand nicht, wie Emma in seiner Gegenwart
überhaupt einen Platz für sich finden konnte. Mit verschränkten
Armen, als müsste sie sich auch jetzt noch vor
seinem Zugriff schützen, ging sie zum Hafen.
Dort, wo im Sommer der Dampfer mit den Sonntagsausfl-
üglern nach Hiddensee abfuhr und jetzt Fischerboote lagen,
setzte sie sich an den Kai und ließ ihre Beine über dem
ruhigen Wasser baumeln. Um sie herum herrschte kaum
noch Betrieb. Die meisten Arbeiter und Fischer hatten sich
im Seemannsheim versammelt, einer verräucherten Gaststätte,
die direkt neben dem Mohrschen Kaufmannsladen
lag und in der ab dem frühen Nachmittag das Bier in Strömen
floss. Ida holte den Zeichenblock unter ihrem Mantel
hervor und griff nach den Stiften in ihrer Tasche. Schon oft
hatte sie hier gesessen, und es war beileibe nicht so, dass sie
nicht aufgefallen wäre, aber die verständnislosen Blicke,
die sie von den Hafenarbeitern erntete, trafen sie weniger
als die verächtlichen Bemerkungen ihres Vaters.
Über ihr hingen dicke weiße Wolken, scheinbar zum Greifen
nah und so weich, dass Ida sich mit ihnen am liebsten umhüllt
hätte. Je weiter sie ihren Blick über den zarthellen Frühjahrshimmel
schweifen ließ, desto flüchtiger wurden sie, bis
von ihnen nur noch eine vage Ahnung am dunstigen Horizont
zurückblieb. Ida versuchte zu zeichnen, was sie sah, aber
der Himmel auf dem weißen Papier glich in ihren Augen eher
einer leblosen Wand als einem sanften Naturschauspiel. Sie
zerknüllte das Blatt und warf es achtlos neben sich.
Ich muss dringend Unterricht nehmen, wenn ich malen will
wie Herbert Klausen, dachte sie und setzte die ersten Striche
auf ein frisches Blatt Papier. Wenn Vater das sieht, sie schüttelte
den Kopf. Er wird niemals die Stunden bei Herrn Vogel
finanzieren. Vorsichtig rieb sie über das Papier, so dass aus
den plumpen Strichen ein nebliger Schleier entstand, der am
oberen Bildrand hing wie eine bedrohliche Gewitterfront.
Ida stöhnte. So funktionierte das nicht. Sie zeichnete und
rieb und machte damit alles nur noch schlimmer. Aus dem
freundlichen Himmel über ihr war endgültig ein düsteres
Chaos geworden. Erneut zerknüllte sie das Papier. Aber
auch der nächste Versuch scheiterte, und als sie das fünfte
Blatt zerknüllt hatte, zeichnete sie aus dem Kopf ihre kleine
Schwester Lilla. Das tat sie immer, wenn sie nicht weiterkam,
und so war im Lauf der Zeit eine beachtliche Porträtserie
entstanden, die sie wie einen Schatz hütete.
Ihre zwölfjährige Schwester war für sie schon immer ein
Lichtblick gewesen. Deren kindlich unschuldiges Wesen,
deren unbekümmerte Frechheit ließen sie hoffen, dass sie
es schaffen konnte, ein anderes Leben als das für sie vorge-
sehene zu führen. Haushalt, schoss es ihr durch den Kopf.
Lieber sterbe ich, als dass ich mich wie Emma füge. Sie
warf noch einen letzten Blick auf Lillas Porträt, und einmal
mehr war sie fest entschlossen, sich dem Wunsch ihres Vaters
nicht zu unterwerfen. Ich muss einfach nur besser werden,
dachte sie, ich muss zu Herrn Vogel, ich muss unbedingt
zu Herrn Vogel.
Vorsichtig öffnete Ida die Tür zum Musikzimmer. Ihre
Mutter saß am Flügel und übte ein Stück, das Ida
noch nie zuvor gehört hatte.
»Stör ich?«
Ruckartig wandte sich Bertha Grotjahn ihr zu. Sie war
ganz versunken gewesen in ihr Spiel und musste erst den
Schreck verwinden, bevor sie ihrer Tochter freundlich zunicken
konnte.
»Komm, setz dich neben mich.« Sie rutschte etwas zur Seite,
so dass Ida auf der breiten Klavierbank Platz fand.
»Weißt du noch, wie wir früher immer vierhändig Bach
gespielt haben?«
Ida nickte.
»Lass es uns doch noch mal versuchen. Ich vermisse unsere
gemeinsamen Musikstunden.«
»Ach, Mutter.« Ida seufzte. »Ich weiß doch gar nicht mehr,
wie das geht.«
»Na, na, na.« Bertha Grotjahn lächelte ihrer Tochter
aufmunternd zu. »Das glaub ich nicht. Du wirst sehen,
deine Finger werden ganz allein die richtigen Tasten finden.
Außerdem bist du doch sonst auch nicht so ängstlich.«
»Ich wollte eigentlich mit dir reden«, sagte Ida.
»Wegen Vater?«
»Auch. Es ist«, sie zögerte kurz, »ich könnte doch vielleicht
von Herrn Vogel Zeichenunterricht bekommen, aber
Vater ...«
»Ich weiß«, unterbrach ihre Mutter sie rasch. »Lass uns
erst spielen, dann sehen wir weiter.«
»Mutter, bitte, es ist wichtig«, protestierte Ida, aber Bertha
Grotjahn kannte in dieser Hinsicht kein Erbarmen. Die
Musik war seit langem das Wichtigste in ihrem Leben, und
sie konnte ganze Tage am Flügel verbringen, die sie nur für
die gemeinsamen Mittag- und Abendessen unterbrach, für
deren Zubereitung Trude, die Köchin, zuständig war. Sie
war eine gute Pianistin, aber nicht so gut, dass aus ihr eine
große Musikerin geworden wäre, wenn sie mehr Möglichkeiten
gehabt hätte, wie Ida insgeheim glaubte. Für Bertha
Grotjahn war die Musik vor allem ein idealer Zufluchtsort,
und seitdem klar war, dass sie ihrem Mann keinen Erben
schenken würde, und in der Fabrik längst auch nicht
mehr alles zum Besten stand, ließ sie sich nur ungern aus
ihrem Paradies vertreiben.
Bertha stellte die Noten auf und schlug den ersten Ton an.
»Komm, so schwer ist es nicht.«
Ida wusste, dass sie keine Wahl hatte, wenn sie mit ihrer
Mutter noch sprechen wollte. Und das wollte sie unbedingt,
schließlich hoffte sie, bei ihr mehr Verständnis zu
finden als bei ihrem Vater. Ungeübt, aber mit vielen Stunden
Klavierunterricht in den Fingern, meisterte sie ihren
Part besser, als sie gedacht hatte.
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Redaktion: Dr. Gisela Menza
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FinePic®, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50765-0
Ida streichelte sanft über ihren Bauch, und ein Lächeln
huschte über ihr Gesicht. Noch immer passierte es ihr an
manchen Tagen, dass sie glaubte, sich kneifen zu müssen,
um zu verstehen, dass ihre Träume Wirklichkeit geworden
waren, aber die Tage wurden weniger, und wenn jetzt gleich
zum ersten Mal in diesem Jahr die Kraniche ihre Trompetenrufe
zu ihr herüberschicken würden, dann wusste sie,
dass sie tatsächlich angekommen war.
1
Ida malte mit ihren vor Kälte rot angelaufenen Füßen
Kreise ins Wasser. Wie ein Stift über weißes Papier
strichen ihre Zehen über die schattige Wasseroberfläche
und hinterließen dort flüchtige Spuren. Das Entenpaar,
das ihr Treiben aus sicherer Entfernung misstrauisch zu beobachten
schien, nahm Ida nur aus dem Augenwinkel
wahr, und auch als drei Schwäne fast zeitgleich unüberhörbar
im Knieper Teich landeten, hob sie kaum merklich den
Kopf.
»Ida, verdammt, wo steckst du?« Die Stimme kam vom
Haus, aber Ida war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie
nichts hörte. »Herrje«, Emma schüttelte verständnislos
den Kopf, während sie mit polternden Schritten über den
Steg zu Ida ging, »wir haben April, und in der Nacht friert
es noch immer, und du hältst deine nackten Füße schon
wieder ins Wasser.« Sie packte ihre jüngere Schwester an
der Schulter und zog sie hoch. »Zieh die an«, sagte sie mit
einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, und reichte
ihr die Schnürstiefel, die kurz zuvor noch neben Ida gelegen
hatten.
»Ich bin beschäftigt«, sagte sie ruhig und sah dabei unentschlossen
auf ihre Schuhe in Emmas Hand.
Emma atmete tief durch. »Aha. Und womit, wenn man fragen
darf? Mit Träumen?«
»Ich studiere die Bewegungen des Wassers. Sieh doch mal.«
Sie beugte sich über den Rand des Stegs und fuhr mit ihrem
Zeigefinger durchs Wasser. »Siehst du, wie es sich kräuselt,
und jetzt, pass auf, jetzt sieht es so aus, als würde es ausfransen
wie die Stoffreste in Mutters Nähzimmer. Siehst
du?« Sie drehte sich zu ihrer Schwester, die ihr noch immer
die Schuhe hinhielt.
»Komm jetzt, Vater wartet.«
Ida seufzte leise. »Sag ihm, dass ich gleich komme. Nur
noch einen Moment.« Sie wandte den Blick zum Himmel.
»Die Wolke müsste gleich weg sein. Ich will nur kurz das
Wasserspiel im Sonnenschein beobachten.«
»Glaubst du wirklich, dass du damit durchkommst?« Emmas
Augen funkelten. Dann drehte sie sich um und ging
wortlos davon.
»Meine Schuhe!«, rief sie ihr noch hinterher, aber Emma
trug sie wie eine Trophäe ins Haus.
Ida schob ihren langen Rock nach oben und ließ sich auf
die kühlen Planken des Stegs fallen. Auch wenn sie um das
Gespräch mit ihrem Vater nicht herumkommen würde,
war sie erleichtert, sich wenigstens einen kleinen Aufschub
ergaunert zu haben. Sie wusste ja, was er ihr zu sagen hatte,
und sie wusste auch, dass sie ihn wieder enttäuschen
würde.
Während sie auf die Strahlen der Frühjahrssonne wartete,
drangen aus dem Musikzimmer leise Töne. Ida wandte sich
zum Haus und sah, dass das Fenster zum Garten offen
stand. Lilla musste es geöffnet haben, denn nicht einmal
ihre Mutter konnte die Tonleitern in so rasantem Tempo
spielen wie ihre jüngste Schwester. Sie lauschte deren immer
schneller werdendem Spiel, bis ein lauter, scheußlich
klingender Akkord es abrupt beendete.
Erst jetzt merkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Die Wolke hatte sich noch immer nicht verzogen, und im
Schatten war es kalt geworden. Wenn sie sich nicht erkälten
wollte, musste sie schnell ins Haus. Stattdessen aber
zog sie nur die Beine dichter an ihren Körper und vergrub
ihre nackten Füße unter ihrem Rock.
»Ida!«
Den schneidenden Ton kannte sie nur zu gut. Jedes Mal,
wenn sie ihn hörte, wunderte sie sich, dass er das Leben
nicht wenigstens für einen kurzen Moment zum Stillstand
brachte. Aber die Schwäne schwammen ungerührt am
Schilf entlang, und über ihr kreisten einige Möwen. Mit
einem Gefühl tiefer Ungerechtigkeit ging sie langsam zum
Haus.
Wie ein Mahnmal stand ihr Vater vor dem Eingang zur
Veranda und erwartete sie bereits. Wortlos hielt er ihr die
Schuhe hin und rührte sich nicht von der Stelle, bis sie ihre
Stiefel zugeschnürt hatte. Ida lächelte zaghaft, aber sie
wagte nicht, etwas zu sagen. Dabei hätte sie ihm gern erzählt,
wie anders das Wasser heute ausgesehen hatte, viel
klarer als vor ein paar Tagen.
Im Salon war es angenehm warm, und beim Anblick des
lodernden Kaminfeuers dachte sie kurz an ihren Zeichenblock,
der auf dem Schreibtisch in ihrem Zimmer lag und
den sie nach dem Gespräch unbedingt würde holen müssen,
um die züngelnden Flammen aufs Papier zu bannen.
Aber noch ehe sie sich genauer überlegen konnte, wie sie es
anstellen sollte, das Knistern und Flackern zu zeichnen,
kam ihr Vater auch schon zur Sache.
»Ich habe mit Fräulein Stolz gesprochen«, sagte er, nachdem
er in einem der beiden hohen Ohrensessel Platz genommen
hatte, zwischen denen ein kleiner Spieltisch stand.
»Sie wäre bereit, dich noch im Mai in ihre Klasse aufzunehmen.«
»Im Mai?«, fragte Ida entsetzt.
»Emma würde dir bis dahin helfen, den versäumten Unterricht
nachzuholen.«
»Das ist unmöglich«, entfuhr es ihr.
»Aha.« Oskar Grotjahn strich sich über seinen frisch gestutzten
Bart. »Das geht also nicht.«
»Nein, Vater, nein, das ist ganz und gar unmöglich. Herr
Vogel will mich doch empfangen. Darüber haben wir gesprochen.«
»Herr Vogel«, wiederholte ihr Vater ruhig und beobachtete
seine Tochter, die unentwegt ihren Rock glatt strich.
»Das kannst du doch nicht vergessen haben? Balthasar Vogel,
der Maler, der mir vielleicht Zeichenunterricht geben
will.«
»Natürlich, der berühmte Herr Vogel, wie konnte mir das
nur entfallen sein.« Er schlug sich theatralisch an die Stirn.
»Das Künstlergenie. Wie konnte ich nur vergessen, dass
sich der weltberühmte Balthasar Vogel die belanglosen
Zeichnungen meiner Tochter ansehen will.«
»Vater!« Ida schluckte.
»Du weißt genau, wie ich dazu stehe, Ida. Ich werde es
nicht zulassen, dass du deine wertvolle Zeit mit diesen
unnützen Schmierereien vergeudest. Du hast jetzt die höhere
Schule abgeschlossen und dort genügend Mal- und
Zeichenstunden gehabt. In zwei, drei Jahren heiratest du,
und bis dahin solltest du das Einmaleins einer ordentlichen
Haushaltsführung gelernt haben. Nimm dir ein Beispiel
an Emma, sie wird bald die Ehefrau eines anständigen
Stralsunder Brauereibesitzers. Was glaubst du denn,
was dein zukünftiger Bräutigam sagen wird, wenn er erfährt,
dass du noch nicht einmal einen Rocksaum umnähen
kannst.«
»Ich habe keinen Bräutigam«, erwiderte Ida ruhig. Aber
wie immer, wenn er von »ihrem Bräutigam« sprach, konnte
sie ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Ich würde wirklich gerne wissen, was du daran so komisch
fi ndest«, entgegnete ihr Vater scharf.
»Nichts, Vater, wirklich, gar nichts.« Ida hatte Mühe, sich
zu beherrschen, um nicht loszukichern wie ein Schulmädchen.
Ein Bräutigam! Die Vorstellung, einem Mann die Socken
zu stopfen, fand sie absurd.
»Ida.« Er erhob erneut die Stimme. »Wie oft soll ich mit
dir denn noch dieses Gespräch führen. Du bist jetzt achtzehn
Jahre alt, früher oder später wirst du heiraten, oder
glaubst du, ich kann es mir leisten, dich bis an dein Lebensende
durchzufüttern?«
»Aber Vater, natürlich nicht. Ich werde nur nicht die Haushaltsschule
von Fräulein Stolz besuchen.« Sie hatte sich
jetzt wieder im Griff und wunderte sich selbst ein wenig
darüber, wie entschieden sie sich diesmal angehört hatte.
Oskar Grotjahn schluckte. Die Entschlossenheit in ihrem
Gesicht erfüllte ihn mit Sorge. Ida erinnerte ihn an seinen
Vater, den er noch im Alter gefürchtet hatte. Mit zusammengekniffenen
Augen, als würde er hoffen, sie auf diese
Weise besser durchschauen zu können, musterte er seine
Tochter. Doch einmal mehr fi el es ihm schwer, sich in ihr
wiederzuerkennen. Die blauen Augen ähnelten noch am
ehesten seinen eigenen, ansonsten schien sie vor allem nach
ihrer Mutter zu kommen. Das dunkle Haar, das sie für seinen
Geschmack viel zu locker zu einem Zopf gebunden
trug, die hohen Wangenknochen, die ihrem Gesicht schon
jetzt eine feine Eleganz verliehen, der geschwungene Mund
mit den vollen Lippen, aus denen die Lebenslust sprach, all
das hatte mit ihm nicht viel zu tun.
»Und wer, glaubst du, zahlt dir den Zeichenunterricht bei
diesem Herrn Meistermaler Vogel?«
Ida überlegte kurz. »Ich könnte ja in der Fabrik arbeiten.«
»Arbeiten in der Fabrik.« Die Vorstellung amüsierte ihren
Vater. »Ich würde wirklich zu gerne wissen, wer dir nur
alle diese Flausen in den Kopf gesetzt hat.«
»Du musst den Läufer ziehen.« Johanna, Idas sechzehnjährige
Schwester, war von beiden unbemerkt in den Salon
gekommen und stand nun hinter ihnen, den Blick auf den
Spieltisch mit den Schachfiguren gerichtet.
»Ach, Johanna, was für eine Wohltat.« Oskar Grotjahn
legte seinen Arm um die schmalen Hüften seiner Zweitjüngsten
und zog sie näher zu sich. »Was für ein kluges
Mädchen du doch bist. Kannst du mir verraten, warum
deine Schwester so aus der Art schlägt?«
Johanna verzog keine Miene. Die ständigen Streitereien
zwischen den beiden interessierten sie schon lange nicht
mehr. Sie verstand Ida einfach nicht.
»Ida, Ida, Ida.« Ratlos schüttelte er den Kopf, doch Johannas
Bemerkung hatte ihn abgelenkt. Sein Blick blieb auf
dem Schachbrett hängen, während er nachdenklich seinen
Bart rieb.
Ida beobachtete ihn verunsichert. »Kann ich?«
»Jaja«, sagte Oskar Grotjahn, »geh jetzt. Wir sprechen uns
noch.«
Als Ida kurz darauf den Salon verließ und in ihr Zimmer
hin aufging, war ihr die Lust am Zeichnen erst einmal vergangen.
Der Streit mit ihrem Vater zehrte mehr an ihr, als sie
gedacht hatte. Erschöpft blickte sie aus dem Fenster. Direkt
vor ihr lag der Knieper Teich. Doch während sein Anblick
ihr vorher noch alles bedeutet hatte, schien er nun nichts
weiter als ein trübes, langweiliges Gewässer zu sein.
2
Sie erkannte das Stück sofort. Mit dem ersten Akkord
hatte sie es erkannt und gewusst, dass ihre
Mutter es nur für sie spielte. Schon als sie noch ein kleines
Kind war, hatte sie es gespielt, um sie zu trösten. Leise
summte Ida die Melodie mit, diese sanfte Musik, die erst so
unscheinbar in der Luft schwebt, bis sie sich immer lauter
erhebt, um schließlich zaghaft zu verebben. Ida stellte sich
ihre Mutter vor, wie sie an dem schwarzen Flügel im Klavierzimmer
saß, dem Flügel, den ihr Großvater eigenhändig
gebaut hatte und der den Grundstein gelegt hatte für
seine erfolgreiche Pianofortefabrik, wie sie dort mit geschlossenen
Augen saß, ganz versunken in Chopins Nocturne.
Ida glaubte, dass es ihre Art war, ihr mitzuteilen,
dass sie sie verstand.
Mit dem Spiel ihrer Mutter kehrte Idas Mut langsam
zurück. Sie öffnete ihren Schrank und griff nach einem
der Magazine, die sie hütete wie einen Schatz. Ordentlich
nach Erscheinungsdatum sortiert, lag dort Die neue deutsche
Rundschau, eine Zeitschrift, die sich ihre Mutter aus
Berlin kommen ließ und die für Ida mehr war als nur ein
Bote aus einer fernen Welt. Drei Jahre war es her, dass sie
zum ersten Mal eines der Hefte in Händen gehalten hatte,
und schon beim Lesen des ersten Artikels über einen Dichter,
dessen Namen sie zuvor noch nie gehört hatte, hatte
sie gespürt, dass darin etwas enthalten war, was sie zutiefst
berührte. Damals konnte sie noch nicht sagen, was
es war, aber im Lauf der Jahre hatte sich ihr Interesse mehr
und mehr auf die Kunst gerichtet, und seitdem las sie jeden
noch so kleinen Artikel über eine Ausstellungseröff-
nung, als würde es sich dabei um eine Offenbarung handeln.
Es gab kaum ein Kunstwerk, das in diesen drei Jahren abgedruckt
worden war, das sie nicht aus dem Kopf hätte
nachmalen können, pompöse, mit allerlei Pracht und Prunk
verzierte Kaiserkrönungen ebenso wie wollüstige Salonszenerien
mit nackten, sich auf samtenen Chaiselongues räkelnden
Damen. Mit Hingabe hatte sie Detail für Detail
dieser großen Gemälde studiert und versucht sie zu kopieren.
Und vielleicht hätte sie sich damit sogar zufriedengegeben,
vielleicht hätte es ihr genügt, die Malerei als einen
Zeitvertreib zu sehen, der ihr dabei half, an einer prächtigeren
und größeren Welt teilzuhaben als an der, die sie aus
Stralsund kannte, wenn ihr Blick nicht vor einem Jahr auf
ein Bild gefallen wäre, das sie seitdem fesselte wie kein anderes.
Mit der Feierlichkeit eines alten Rituals legte sie das abgegriffene
Heft auf ihren Schreibtisch und blätterte es Seite
für Seite langsam um - »Mondschein liegt um Meer und
Land dämmerig gebreitet; in den weißen Dünensand Well'
auf Welle gleitet«. Wie immer las sie zuerst Gerhart Hauptmanns
»Mondscheinlerche« auf Seite drei, bevor sie sich
der Strecke mit den Modezeichnungen widmete, die im
Gegensatz zu den schweren Kleidern, die sie täglich an den
Stralsunder Frauen sah, frisch und leicht wirkten. Ida überblätterte
die Kritik einer Uraufführung an der Hofoper
Unter den Linden, die ihre Mutter ebenso rot angestrichen
hatte wie den Bericht über eine Wagner-Inszenierung in
München, bevor sie schließlich zu der Seite kam, die den
Beginn ihrer Sehnsucht markierte.
Behutsam strich sie über das aufgrund des einfachen
Drucks längst braunstichig gewordene Bild von Feldarbei-
terinnen, das so anders war als alle Bilder, die sie bis dahin
gesehen hatte. Es hatte nichts von dem übertriebenen Pathos
eines Hofzeremoniells, nichts von der gekünstelten
Lebendigkeit einer in einem Traubenmeer badenden Schönheit,
es war so schlicht, dass sie es beim ersten Mal sogar
beinahe übersehen hätte. Ein bis zum Horizont sich erstreckender
Acker, vier gebückte Arbeiterinnen, mit zerfurchten
und ernsten Gesichtern, und dazwischen zarte, sich
durch die aufgelockerte Erde drängende junge Pflänzchen.
Wie viel Gefühl darin lag, wie viel Sinn für das Wesentliche.
Nie hätte Ida gewagt, dieses Bild wie die anderen
nachzumalen. Zu groß war ihre Ehrfurcht vor dem Künstler,
der, wie sie glaubte, sich seiner Kunst mit Leib und Seele
verschrieben haben musste. Und nie hatte sich Ida so
verstanden gefühlt wie bei ihrer ersten Begegnung mit diesem
Bild, das so ungekünstelt und ehrlich war. Seitdem war
es ihr Trost und Ansporn zugleich. Denn nichts auf der
Welt hatte bis dahin ihr Innerstes mehr berührt, und nichts
wollte sie sehnlicher, als ebenfalls eine Sprache zu finden
für ihre wahrhaftigsten Gefühle.
Vater kann mich nicht zwingen, auf diese Schule zu gehen,
sagte sie sich energisch, während sie eine weitere Seite umblätterte
und ihr Blick auf dem Porträt des Künstlers haften
blieb. Er hieß Herbert Klausen, hatte ein schmales, langes,
wie Ida fand, edles Gesicht mit einem sorgfältig gestutzten
Backenbart und kräftiges, nach hinten gekämmtes Haar
und sah ebenso selbstbewusst wie nachdenklich aus. Ida
hatte schon oft die wenigen Zeilen gelesen, die dort über ihn
geschrieben standen. Sie wusste daher, dass er als einer der
wichtigsten Vertreter einer neuen deutschen Kunstrichtung
galt und dass er sich in Berlin mit seiner Kunst nicht nur
Freunde gemacht hatte. Einer wie er, dachte sie, der mit ganz
eigenen Vorstellungen auf die Welt zu blicken schien, wäre
bestimmt nicht so ängstlich wie sie. »Was soll ich bloß machen?«,
flüsterte sie seinem Porträt flehentlich zu, aber wie
immer sprach aus seinen Augen nur eine stumme Mischung
aus Melancholie und Provokation. Ida starrte nachdenklich
ins Leere. Während sie erneut dem Spiel ihrer Mutter lauschte,
geisterte nur ein einziger Satz durch ihren Kopf: Ich gehe
auf keinen Fall zu Fräulein Stolz.
Als der letzte Ton verklungen und es wieder still war im
Haus und Ida erneut aus dem Fenster sah, stellte sie mit
Erstaunen fest, dass der Teich plötzlich im Sonnenschein
glänzte. Für einen kurzen Moment streifte ihr Blick noch
einmal das Bild der Feldarbeiterinnen, als müsste sie sich
ihrer Wirkung auf sie noch einmal versichern, bevor sie das
Heft zurück an seinen Platz legte. Dann band sie ihre Haare
neu, setzte einen kleinen Hut auf, steckte einen Zeichenblock
unter ihren Mantel und ließ zwei Kohlestifte in ihren
Taschen verschwinden.
Als sie aus dem Haus trat, hielt gerade eine Droschke vor
einer entfernt stehenden Nachbarvilla, ansonsten war die
Teichstraße wie so oft menschenleer. Erst auf dem Knieper
Damm begegnete ihr eine Gruppe junger fröhlicher Mädchen.
Ida kannte sie und wollte schon grüßen, aber die
Mädchen gingen ausgelassen schwatzend an ihr vorüber,
ohne sie eines Blickes zu würdigen. Verwundert sah Ida
ihnen hinterher. Nicht, dass sie gerne mit ihnen gegangen
wäre, aber das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, versetzte ihr
einen kurzen, heftigen Stich.
Je näher Ida dem Stadtkern kam, desto lauter wurde es.
Dicht an dicht standen die Giebelhäuser, von deren Wänden
das Geklapper der Pferdehufe und Droschkenräder
widerhallte. Ihr Blick streifte die Auslage der Bäckerei
Hermann Korn, in dessen Schaufenster eine bis zur Hälfte abgetragene
Brotpyramide lag, und Schuhmacher Bruhn hatte
neben halbfertige Schuhe und unbenutzte Sohlen braune
und schwarze Schnürsenkel gelegt. In der engen Gasse war
es an diesem Apriltag 1896 fast so belebt wie zur frühen
Morgenstunde am Hafen, und Ida presste ihren Zeichenblock
an sich und beschleunigte ihren Schritt, als würde sie
fürchten, jemand würde sie erkennen und abführen wie
eine Verbrecherin und auf direktem Weg zu Fräulein Stolz
bringen.
Als sie in der Heiliggeiststraße auf einer der Häuserwände
in großen Buchstaben ihren Familiennamen prangen sah,
zuckte sie zusammen. Obwohl sie schon unzählige Male
dort entlanggegangen war, konnte sie sich nicht daran gewöhnen,
ihren Namen, der zu ihr gehörte wie ihre geheimsten
Wünsche, vor aller Augen ausgebreitet zu sehen. Mit
den Jahren war das einst leuchtende Weiß ausgebleicht und
schmutzig geworden, aber die Farbe hatte noch immer genügend
Kraft, um sich deutlich von der rötlich schimmernden
Backsteinfassade abzuheben. »Pianofortefabrik Grotjahn
& Söhne« stand dort, und für einen Moment zögerte
Ida, ob sie nicht hineingehen und ihren Onkel Fritz nach
Arbeit fragen sollte. Aber die Vorstellung, dass sie wie alle
anderen Arbeiterinnen an einer der Werkbänke stehen
würde, erschien ihr nun fast ebenso lächerlich wie vorher
ihrem Vater.
»Na, Ida, ganz allein unterwegs?«
Erschrocken drehte sie sich um. Vor ihr stand Anselm Preller,
Emmas Verlobter, der sich zu ihr hinunterbeugte und
seinen schweren Arm auf ihre Schultern legte.
»Ein so hübsches Mädchen wie du sollte in Gesellschaft
sein«, sagte er lachend und bleckte dabei seine gelbgefärb-
ten Zähne. Wie immer roch er nach Bier, und Ida wich unwillkürlich
einen Schritt zurück, aber er hielt sie weiterhin
fest, fast so, als würde sie wie selbstverständlich zu ihm gehören.
»So wie diese junge Dame da, die macht's richtig.« Er
zeigte auf eine hochschwangere Frau, kaum älter als Ida, die
mit einem kleinen Mädchen an der einen und einem Jungen
an der anderen Hand die Straße entlangging.
Ida versuchte zu lächeln, aber innerlich schauderte es sie.
»Emma meint, dass du ganz schön aufsässig bist. Sie fi ndet
dein Verhalten reichlich ungebührlich. Du scheinst ja richtig
besessen zu sein von deiner Malerei. Ida, Ida.« Er musterte
sie kopfschüttelnd. »Wo soll das denn hinführen?«
»Ich habe gehört, es soll noch Schwierigkeiten wegen der
Hochzeit geben? Der Dampfer?«
»Ach, der Dampfer kann mir mal gestohlen bleiben. Sollen
doch die Tietzes dort ihre Hochzeit feiern, ich war ohnehin
von Anfang an für den Brauereikeller. Sag mir lieber, wann
wir deine Hochzeit feiern?«
Ida zuckte mit den Schultern. »Du wirst es dann sicherlich
rechtzeitig erfahren«, sagte sie trocken, während sie erneut
versuchte, sich, ohne unhöflich zu sein, aus seiner Umklammerung
zu winden.
»Weißt du eigentlich, dass halb Stralsund ein Auge auf dich
geworfen hat? Seit bekannt ist, dass ich bei den Grotjahns
einheirate, werde ich fast täglich von irgend so einem Tölpel
belästigt, der mich anfleht, dass ich ihn dir einmal vorstelle.
Ich geb ja zu, viele sind nicht dabei, die in Frage kämen,
aber du wirst ja wohl nicht als alte Jungfer enden
wollen.«
»Ach, Anselm.« Ida lachte. »Sei mir nicht böse, aber ich
muss weiter.«
»Glaubst wohl, du bist was Besseres, was?«
»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete sie energisch.
»Dann benimm dich«, entgegnete er barsch.
Ida sah ihn verblüfft an. In diesem Ton hatte er noch nie
mit ihr gesprochen. »Ich denke nicht, dass dich das etwas
angeht«, sagte sie nach kurzem Zögern und bemühte sich,
ruhig zu bleiben.
»Als dein zukünftiger Schwager will ich doch nur dein Bestes
«, meinte er versöhnlich, während er erneut seinen Arm
um ihre Schultern legte.
»Ich muss jetzt wirklich los.« Ida wand sich ruckartig aus
seiner Umarmung.
»Ist ja gut, ich hab verstanden.« Er bleckte wieder die Zähne.
»Aber dass du mir keinen Ärger machst. Meinst du, ich
hätte nicht bemerkt, dass du unter deinem Mantel deinen
Zeichenblock verbirgst?«
Als sie sich einige Schritte entfernt hatte, atmete sie tief
durch. Seine aufdringliche Art nahm ihr jedes Mal fast die
Luft. Sie verstand nicht, wie Emma in seiner Gegenwart
überhaupt einen Platz für sich finden konnte. Mit verschränkten
Armen, als müsste sie sich auch jetzt noch vor
seinem Zugriff schützen, ging sie zum Hafen.
Dort, wo im Sommer der Dampfer mit den Sonntagsausfl-
üglern nach Hiddensee abfuhr und jetzt Fischerboote lagen,
setzte sie sich an den Kai und ließ ihre Beine über dem
ruhigen Wasser baumeln. Um sie herum herrschte kaum
noch Betrieb. Die meisten Arbeiter und Fischer hatten sich
im Seemannsheim versammelt, einer verräucherten Gaststätte,
die direkt neben dem Mohrschen Kaufmannsladen
lag und in der ab dem frühen Nachmittag das Bier in Strömen
floss. Ida holte den Zeichenblock unter ihrem Mantel
hervor und griff nach den Stiften in ihrer Tasche. Schon oft
hatte sie hier gesessen, und es war beileibe nicht so, dass sie
nicht aufgefallen wäre, aber die verständnislosen Blicke,
die sie von den Hafenarbeitern erntete, trafen sie weniger
als die verächtlichen Bemerkungen ihres Vaters.
Über ihr hingen dicke weiße Wolken, scheinbar zum Greifen
nah und so weich, dass Ida sich mit ihnen am liebsten umhüllt
hätte. Je weiter sie ihren Blick über den zarthellen Frühjahrshimmel
schweifen ließ, desto flüchtiger wurden sie, bis
von ihnen nur noch eine vage Ahnung am dunstigen Horizont
zurückblieb. Ida versuchte zu zeichnen, was sie sah, aber
der Himmel auf dem weißen Papier glich in ihren Augen eher
einer leblosen Wand als einem sanften Naturschauspiel. Sie
zerknüllte das Blatt und warf es achtlos neben sich.
Ich muss dringend Unterricht nehmen, wenn ich malen will
wie Herbert Klausen, dachte sie und setzte die ersten Striche
auf ein frisches Blatt Papier. Wenn Vater das sieht, sie schüttelte
den Kopf. Er wird niemals die Stunden bei Herrn Vogel
finanzieren. Vorsichtig rieb sie über das Papier, so dass aus
den plumpen Strichen ein nebliger Schleier entstand, der am
oberen Bildrand hing wie eine bedrohliche Gewitterfront.
Ida stöhnte. So funktionierte das nicht. Sie zeichnete und
rieb und machte damit alles nur noch schlimmer. Aus dem
freundlichen Himmel über ihr war endgültig ein düsteres
Chaos geworden. Erneut zerknüllte sie das Papier. Aber
auch der nächste Versuch scheiterte, und als sie das fünfte
Blatt zerknüllt hatte, zeichnete sie aus dem Kopf ihre kleine
Schwester Lilla. Das tat sie immer, wenn sie nicht weiterkam,
und so war im Lauf der Zeit eine beachtliche Porträtserie
entstanden, die sie wie einen Schatz hütete.
Ihre zwölfjährige Schwester war für sie schon immer ein
Lichtblick gewesen. Deren kindlich unschuldiges Wesen,
deren unbekümmerte Frechheit ließen sie hoffen, dass sie
es schaffen konnte, ein anderes Leben als das für sie vorge-
sehene zu führen. Haushalt, schoss es ihr durch den Kopf.
Lieber sterbe ich, als dass ich mich wie Emma füge. Sie
warf noch einen letzten Blick auf Lillas Porträt, und einmal
mehr war sie fest entschlossen, sich dem Wunsch ihres Vaters
nicht zu unterwerfen. Ich muss einfach nur besser werden,
dachte sie, ich muss zu Herrn Vogel, ich muss unbedingt
zu Herrn Vogel.
Vorsichtig öffnete Ida die Tür zum Musikzimmer. Ihre
Mutter saß am Flügel und übte ein Stück, das Ida
noch nie zuvor gehört hatte.
»Stör ich?«
Ruckartig wandte sich Bertha Grotjahn ihr zu. Sie war
ganz versunken gewesen in ihr Spiel und musste erst den
Schreck verwinden, bevor sie ihrer Tochter freundlich zunicken
konnte.
»Komm, setz dich neben mich.« Sie rutschte etwas zur Seite,
so dass Ida auf der breiten Klavierbank Platz fand.
»Weißt du noch, wie wir früher immer vierhändig Bach
gespielt haben?«
Ida nickte.
»Lass es uns doch noch mal versuchen. Ich vermisse unsere
gemeinsamen Musikstunden.«
»Ach, Mutter.« Ida seufzte. »Ich weiß doch gar nicht mehr,
wie das geht.«
»Na, na, na.« Bertha Grotjahn lächelte ihrer Tochter
aufmunternd zu. »Das glaub ich nicht. Du wirst sehen,
deine Finger werden ganz allein die richtigen Tasten finden.
Außerdem bist du doch sonst auch nicht so ängstlich.«
»Ich wollte eigentlich mit dir reden«, sagte Ida.
»Wegen Vater?«
»Auch. Es ist«, sie zögerte kurz, »ich könnte doch vielleicht
von Herrn Vogel Zeichenunterricht bekommen, aber
Vater ...«
»Ich weiß«, unterbrach ihre Mutter sie rasch. »Lass uns
erst spielen, dann sehen wir weiter.«
»Mutter, bitte, es ist wichtig«, protestierte Ida, aber Bertha
Grotjahn kannte in dieser Hinsicht kein Erbarmen. Die
Musik war seit langem das Wichtigste in ihrem Leben, und
sie konnte ganze Tage am Flügel verbringen, die sie nur für
die gemeinsamen Mittag- und Abendessen unterbrach, für
deren Zubereitung Trude, die Köchin, zuständig war. Sie
war eine gute Pianistin, aber nicht so gut, dass aus ihr eine
große Musikerin geworden wäre, wenn sie mehr Möglichkeiten
gehabt hätte, wie Ida insgeheim glaubte. Für Bertha
Grotjahn war die Musik vor allem ein idealer Zufluchtsort,
und seitdem klar war, dass sie ihrem Mann keinen Erben
schenken würde, und in der Fabrik längst auch nicht
mehr alles zum Besten stand, ließ sie sich nur ungern aus
ihrem Paradies vertreiben.
Bertha stellte die Noten auf und schlug den ersten Ton an.
»Komm, so schwer ist es nicht.«
Ida wusste, dass sie keine Wahl hatte, wenn sie mit ihrer
Mutter noch sprechen wollte. Und das wollte sie unbedingt,
schließlich hoffte sie, bei ihr mehr Verständnis zu
finden als bei ihrem Vater. Ungeübt, aber mit vielen Stunden
Klavierunterricht in den Fingern, meisterte sie ihren
Part besser, als sie gedacht hatte.
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www.knaur.de
Originalausgabe April 2011
Copyright © 2011 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise -
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Dr. Gisela Menza
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Gettyimages / Lars Oppermann;
FinePic®, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50765-0
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Autoren-Porträt von Judith Kern
Judith Kern, 1968 geboren, studierte Politische Wissenschaften, Germanistik und Romanistik in Paris und Tübingen, bevor es sie in den hohen Norden zog, wo sie seitdem als Journalistin, Texterin und Autorin in Hamburg lebt. Zahlreiche Aufenthalte an der Ostsee haben ihre Liebe zu dieser Gegend geweckt und vertieft und sie zu ihren Romanen inspiriert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judith Kern
- 2011, 1. Auflage, 570 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342650765X
- ISBN-13: 9783426507650
- Erscheinungsdatum: 28.03.2011
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