Der Sandmann / Kommissar Linna Bd.4
Kriminalroman
Mit „Der Sandmann“ legt das schwedische Autoren-Duo Lars Kepler einen weiteren packenden Thriller mit dem Stockholmer Kommissar Joona Linna vor: Hochspannung pur und eine ausgeklügelte Story!
Seit Jahren sitzt Jurek...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Sandmann / Kommissar Linna Bd.4 “
Mit „Der Sandmann“ legt das schwedische Autoren-Duo Lars Kepler einen weiteren packenden Thriller mit dem Stockholmer Kommissar Joona Linna vor: Hochspannung pur und eine ausgeklügelte Story!
Seit Jahren sitzt Jurek Walter in der Isolationszelle der Psychiatrie. Niemand darf ohne Aufsicht seine Zelle betreten, denn dem Serienmörder wird zugetraut, auch hinter Gittern noch schreckliches Unheil anzurichten. Außerdem wird Walter nachgesagt, dass er über die Fähigkeit verfügt, mit nur wenigen Worten und Gesten andere Menschen in den Selbstmord zu treiben.
Als eines von Walters Opfern plötzlich lebendig wieder auftaucht, besteht für den Stockholmer Kriminalkommissar Joona Linna kein Zweifel daran, dass der Mörder seine Verbrechen nicht ohne einen Komplizen begangen haben kann.
Linna lässt sich in die Psychiatrie einweisen
Ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Die Schwester des geretteten Mannes war damals auch verschwunden, und Kommissar Linna hält es für durchaus möglich, dass sie noch lebt. Damit er eine Chance erhält, ihren Aufenthaltsort zu erfahren, bittet Joona Linna seine Kollegin Saga Bauer, sich selbst in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Sein Plan ist es, das Vertrauen des Serienmörders gewinnen – ein äußerst riskanter Plan …
Thriller mit Suchtpotential
Das Literaturportal buecherfreff.de lobte den neuen Thriller von Alexandra und Alexander Ahndoril alias „Lars Kepler“: „’Der Sandmann’ hat Suchtpotential, denn man fiebert regelrecht mit und kann es kaum erwarten, bis Lars Kepler mit dem nächsten Coup aufwarten. Alle Liebhaber von Psychothrillern werden hier bestens bedient.“
afterdark.de bescheinigt dem Autorenehepaar einen vielschichtigen, atmosphärisch sehr dichten und hoch spannenden Thriller geschrieben zu haben.
leser-welt.de schrieb über den neuen Lars-Kepler-Thriller: „’Der Sandmann’ präsentiert sich als vierter Teil einer Serie um den schwedischen Kriminalkommissar Joona Linna mit einem äußerst brutalen Fall, der nahtlos an seinen Vorgänger ‚Flammenkinder’ anknüpft und hinsichtlich seines Spannungsverlaufes und seiner Umsetzung einhundertprozentig überzeugt.“
Gönnen Sie sich fesselnde Lesestunden und bestellen Sie den neuen Thriller von Lars Kepler, „Der Sandmann“, hier online!
Seit Jahren sitzt Jurek Walter in der Isolationszelle der Psychiatrie. Niemand darf ohne Aufsicht seine Zelle betreten, denn dem Serienmörder wird zugetraut, auch hinter Gittern noch schreckliches Unheil anzurichten. Außerdem wird Walter nachgesagt, dass er über die Fähigkeit verfügt, mit nur wenigen Worten und Gesten andere Menschen in den Selbstmord zu treiben.
Als eines von Walters Opfern plötzlich lebendig wieder auftaucht, besteht für den Stockholmer Kriminalkommissar Joona Linna kein Zweifel daran, dass der Mörder seine Verbrechen nicht ohne einen Komplizen begangen haben kann.
Linna lässt sich in die Psychiatrie einweisen
Ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Die Schwester des geretteten Mannes war damals auch verschwunden, und Kommissar Linna hält es für durchaus möglich, dass sie noch lebt. Damit er eine Chance erhält, ihren Aufenthaltsort zu erfahren, bittet Joona Linna seine Kollegin Saga Bauer, sich selbst in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Sein Plan ist es, das Vertrauen des Serienmörders gewinnen – ein äußerst riskanter Plan …
Thriller mit Suchtpotential
Das Literaturportal buecherfreff.de lobte den neuen Thriller von Alexandra und Alexander Ahndoril alias „Lars Kepler“: „’Der Sandmann’ hat Suchtpotential, denn man fiebert regelrecht mit und kann es kaum erwarten, bis Lars Kepler mit dem nächsten Coup aufwarten. Alle Liebhaber von Psychothrillern werden hier bestens bedient.“
afterdark.de bescheinigt dem Autorenehepaar einen vielschichtigen, atmosphärisch sehr dichten und hoch spannenden Thriller geschrieben zu haben.
leser-welt.de schrieb über den neuen Lars-Kepler-Thriller: „’Der Sandmann’ präsentiert sich als vierter Teil einer Serie um den schwedischen Kriminalkommissar Joona Linna mit einem äußerst brutalen Fall, der nahtlos an seinen Vorgänger ‚Flammenkinder’ anknüpft und hinsichtlich seines Spannungsverlaufes und seiner Umsetzung einhundertprozentig überzeugt.“
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Klappentext zu „Der Sandmann / Kommissar Linna Bd.4 “
Ein hochspannender Schweden-Krimi! - Jurek Walter sitzt seit Jahren in Isolationshaft. Niemand darf ohne Aufsicht seine Zelle betreten. Dem Serienmörder wird zugetraut, auch hinter Gittern noch schreckliches Unheil anzurichten. Als eines seiner letzten Opfer plötzlich lebendig wieder auftaucht, steht für Kommissar Joona Linna fest, dass der Mörder einen Komplizen haben muss. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Die Schwester des geretteten Mannes war damals auch verschwunden - und ist womöglich noch am Leben! Um ihren Aufenthaltsort zu erfahren, bittet Joona seine Kollegin Saga Bauer, sich in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Jemand muss das Vertrauen des Serienmörders gewinnen ...- Über den Autor: Lars Kepler ist das Pseudonym von Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril. Der Hypnotiseur, ihr Krimidebüt, war sensationell erfolgreich. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und hat in vielen Ländern die Bestsellerlisten gestürmt. Der Sandmann, der vierte Kriminalroman mit Kommissar Joona Linna, setzt die Erfolgsgeschichte fort. Das Buch führte in Schweden wochenlang die Bestsellerliste an. Das Ehepaar lebt mit seinen Kindern in Stockholm.
Lese-Probe zu „Der Sandmann / Kommissar Linna Bd.4 “
Der Sandmann von Lars KeplerÜbersetzung aus dem Schwedischen von Paul Berf
Es ist mitten in der Nacht, und der Wind weht Schnee vom Meer heran. Auf einer hohen Eisenbahnbrücke geht ein junger Mann in Richtung Stockholm. Sein Gesicht ist bleich wie beschlagenes Glas. Seine Jeans ist steif von gefrorenem Blut. Er geht zwischen den Schienen und steigt über die Schwellen. Fünfzig Meter unter ihm liegt das Eis der Meeresbucht wie ein Streifen Leinen. Die weißen Bäume und Öltanks des Hafens sind kaum zu sehen, und durch das Scheinwerferlicht des Containerkrans tief unter der Brücke wirbeln Schneeflocken.
Warmes Blut läuft über den linken Unterarm des Mannes in seine Hand und tropft von den Fingerkuppen herab. Es rauscht und sirrt, als sich auf der zwei Kilometer langen Brücke ein Nachtzug nähert. Der junge Mann taumelt, setzt sich auf die Schienen, rappelt sich dann jedoch wieder auf und geht weiter.
Der Zug verdrängt die Luft, und die Sicht wird von Schneerauch behindert. Die Traxx-Lokomotive ist bereits mitten auf der Brücke, als der Lokomotivführer den Mann auf den Gleisen entdeckt. Er hupt und sieht, wie die Gestalt beinahe hinfällt, dann aber einen großen Satz nach links auf das zweite Gleis macht, um sich schließlich an dem dünnen Brückengeländer festzuhalten.
Die Kleider am Körper des Mannes flattern. Die Brücke unter seinen Füßen bebt. Er bleibt mit weit aufgerissenen Augen und einer Hand auf dem Geländer regungslos stehen.
Alles ist wirbelnder Schnee und abgrundtiefe Dunkelheit.
Als er weitergehen will, klebt seine blutige Hand schon leicht an dem eisigen Geländer.
... mehr
Sein Name ist Mikael Kohler-Frost. Dreizehn Jahre war er verschwunden, und sieben Jahre zuvor wurde er für tot erklärt.
1
Sicherheitstrakt der Gerichtspsychiatrie
Löwenströmsches Krankenhaus
Das Stahltor fällt hinter dem neuen Arzt mit einem dumpfen Ton ins Schloss. Das metallische Echo fliegt an ihm vorbei und die Wendeltreppe hinab.
Als es dann plötzlich vollkommen still wird, läuft Anders Rönn ein Schauer über den Rücken.
Von diesem Tag an wird er im Sicherheitstrakt der Gerichtspsychiatrie arbeiten.
In dem streng isolierten Bunker ist seit dreizehn Jahren der gealterte Jurek Walter untergebracht, der zur Sicherheitsverwahrung in der Psychiatrie verurteilt wurde.
Der junge Arzt weiß nicht viel über seinen Patienten, er kennt nur die Diagnose: »Schizophrenie, unspezifisch. Chaotisches Denken. Wiederkehrende akute psychotische Zustände mit bizarren und sehr gewaltsamen Zügen.«
Anders Rönn weist sich auf Ebene Null aus, gibt sein Handy ab und hängt den Schlüssel zum Stahltor in ein Kästchen, dann öffnet die Frau vom Sicherheitsdienst die erste Tür der Schleuse. Er geht hinein und wartet, bis sich die Tür geschlossen hat, bevor er zur nächsten weitergeht. Als ein Signal ertönt, öffnet die Frau auch diese. Anders Rönn dreht sich um und winkt ihr zu, ehe er durch den Korridor zum Personalraum der Isolierstation geht.
Oberarzt Roland Brolin ist ein kräftig gebauter Mann zwischen fünfzig und sechzig mit hängenden Schultern und kurzen, stoppeligen Haaren. Er raucht unter der Dunstabzugshaube in der Küchenzeile und blättert in einem Artikel über die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen in der Ärztezeitung.
»Jurek Walter darf niemals mit jemandem vom Personal allein sein«, erklärt der Oberarzt. »Er darf keine anderen Patienten treffen, keinen Besuch empfangen und niemals das Außengelände betreten. Außerdem ...«
»Niemals?«, unterbricht Anders Rönn ihn. »Ist es denn erlaubt, jemanden ...«
»Nein, das ist es nicht.« Roland Brolin schneidet ihm mit gereizter Stimme das Wort ab.
»Was hat er denn eigentlich getan?«
»Nur nette Dinge«, antwortet der Oberarzt und geht in Richtung Flur.
Obwohl Jurek Walter der schlimmste Serienmörder ist, den es in Schweden je gegeben hat, ist er für die Öffentlichkeit ein unbeschriebenes Blatt. Die Gerichtsverhandlungen im Rathaus fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und die Akten des Falls unterliegen der Geheimhaltung.
Anders Rönn und Oberarzt Roland Brolin passieren eine weitere Sicherheitstür und eine junge Frau mit tätowierten Armen und gepiercten Wangen zwinkert ihnen zu.
»Kommt lebend zurück«, sagt sie kurz.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt Roland Brolin mit gesenkter Stimme zu Anders Rönn. »Jurek Walter ist ein ruhiger, älterer Herr. Er prügelt sich nicht und wird niemals laut. Unsere goldene Regel lautet, dass wir niemals zu ihm hineingehen. Aber Leffe von der Nachtschicht hat leider beobachtet, dass er sich ein Messer gebastelt und unter seiner Matratze versteckt hat, und das müssen wir natürlich konfiszieren.«
»Wie gehen wir vor?«, fragt Anders.
»Wir verstoßen gegen die Regeln.«
»Wir gehen zu Jurek Walter hinein?«
»Sie gehen zu ihm hinein ... und bitten ihn höflich, Ihnen das Messer zu geben.«
»Ich soll da reingehen ...?«
Roland Brolin lacht laut und erläutert anschließend, dass sie so tun würden, als injizierten sie dem Patienten wie üblich eine Dosis Risperdal, während es in Wahrheit eine Überdosis Zypadhera sei.
Der Oberarzt zieht seine Zugangskarte durch ein weiteres Lesegerät und tippt eine Zahlenkombination ein. Es piept, und das Schloss der Sicherheitstür surrt.
»Warten Sie«, sagt Roland Brolin und hält ihm eine kleine Schachtel mit gelben Ohrstöpseln hin.
»Sie haben doch gesagt, er wird nicht laut.«
Roland Brolin verzieht matt den Mund, betrachtet seinen neuen Kollegen mit müden Augen und seufzt schwer.
»Jurek Walter wird mit Ihnen sprechen, und zwar ganz ruhig und bestimmt sehr freundlich«, erläutert er mit ernster Stimme. »Aber wenn Sie dann heute Abend nach Hause fahren, werden Sie Ihr Auto in den Gegenverkehr lenken und frontal mit einem Lastwagen zusammenstoßen ... oder Sie fahren noch kurz beim Baumarkt vorbei und kaufen sich eine Axt, bevor Sie Ihre Kinder aus der Kita abholen.«
»Soll ich jetzt etwa Angst bekommen?«, fragt Anders Rönn lächelnd.
»Nein, aber Sie werden hoffentlich vorsichtig sein«, entgegnet Roland Brolin.
Anders Rönn ist normalerweise nicht gerade ein Glückspilz, aber als er in der Ärztezeitung die Stellenanzeige für eine längerfristige Vertretungsstelle im Sicherheitstrakt des Löwenströmschen Krankenhauses las, schlug sein Herz schneller.
Mit dem Auto sind es nur zwanzig Minuten nach Hause, und es besteht die Aussicht, dass die Vertretungsstelle in eine Festanstellung umgewandelt wird.
Nach seinem Praktischen Jahr am Krankenhaus Skaraborg und in einer Poliklinik in Huddinge hat er sich mit kurzen Zeitverträgen am Sankt Sigfrids-Krankenhaus über Wasser halten müssen. Die langen Fahrten nach Växjö und die unregelmäßigen Arbeitszeiten ließen sich aber nur schwer mit Petras Stelle in der Hortverwaltung und der Belastung durch das autistische Syndrom seiner Tochter Agnes vereinbaren.
Es ist gerade einmal zwei Wochen her, da saßen Anders und Petra am Küchentisch, um eine Lösung zu finden.
»So geht es einfach nicht mehr weiter«, sagte er ganz ruhig.
»Aber was sollen wir denn tun?«, flüsterte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Anders und strich die Tränen von ihren Wangen.
Agnes' Betreuerin in der Vorschule hatte erzählt, dass Agnes einen schweren Tag gehabt habe. Sie hatte sich geweigert, ihr Milchglas loszulassen, und daraufhin war sie von den anderen Kindern ausgelacht worden. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass die Mahlzeit vorbei war, denn Anders hatte sie nicht zur selben Zeit wie sonst abgeholt. Er war direkt von Växjö aus zur Vorschule gefahren, war aber dennoch erst gegen sechs dort angekommen. Da hatte Agnes noch immer mit im Speisesaal gesessen, die Hände hielt sie fest um das Glas geschlossen.
Als sie nach Hause kamen, hatte Agnes sich in ihr Zimmer gestellt, die Wand neben dem Puppenhaus angestarrt und auf ihre introvertierte Art in die Hände geklatscht. Er und Petra wissen nicht, was sie an der Wand sieht, aber sie sagt, dass dort graue Stäbchen auftauchen, die sie zählen und stoppen muss. Manchmal reichen ihr schon zehn Minuten, aber an diesem Abend musste sie mehr als vier Stunden so stehen bleiben, bis ihre Eltern sie ins Bett bringen konnten.
2
Die letzte Sicherheitstür schließt sich hinter ihnen, und sie gehen durch einen Flur zu dem einzigen der drei Isolierzimmer, das benutzt wird. Das Licht der Neonröhre an der Decke spiegelt sich im Kunststoffboden. In etwa ein Meter Höhe ist die Gewebetapete ganz abgescheuert, dort wo der Servierwagen entlangschabt.
Der Oberarzt benutzt seine Zugangskarte und lässt Anders durch die schwere Metalltür vorgehen.
Hinter Panzerglas sieht Anders einen schlanken Mann auf einem Plastikstuhl sitzen. Er trägt eine blaue Jeans und ein Jeanshemd. Der Mann ist glattrasiert, und seine Augen sind seltsam ruhig. Die vielen Falten in seinem blassen Gesicht erinnern an rissigen Lehm in einem ausgetrockneten Flussbett.
Jurek Walter ist nur für zwei Morde und einen Mordversuch verurteilt worden, steht aber in weiteren neunzehn Mordfällen unter dringendem Tatverdacht.
Dreizehn Jahre zuvor wurde er im Lill Jans-Wald auf frischer Tat ertappt, als er eine fünfzigjährige Frau zwang, wieder in einen Sarg in der Erde zu steigen. Sie war fast zwei Jahre lang von ihm gezwungen worden, in diesem Sarg zu bleiben, und sie hatte es überlebt. Die Frau war damals in einem grauenvollen Zustand gewesen, sie war unterernährt, ihre Muskeln waren verkümmert, sie hatte furchtbare Erfrierungen und schwere Gehirnschäden erlitten und sich wundgelegen. Hätte die Polizei Jurek Walter nicht aufgespürt und ihn an ihrem Sarg gefasst, wäre er wahrscheinlich nie gestoppt worden.
Der Oberarzt greift zu drei schmalen Ampullen mit einem gelben Pulver, fügt Wasser hinzu und schüttelt sie vorsichtig, ehe er die Flüssigkeit auf eine Spritze zieht.
Er setzt die Ohrstöpsel ein und öffnet anschließend eine kleine Luke in der Tür. Metall rasselt, und ein satter Geruch von Beton und Staub schlägt ihnen entgegen.
Mit schleppender Stimme teilt der Oberarzt Jurek Walter mit, dass es Zeit für seine Spritze sei.
Der Mann hebt den Kopf, steht geschmeidig von seinem Stuhl auf, wendet den Blick der Luke in der Tür zu, nähert sich und knöpft gleichzeitig sein Hemd auf.
»Bleiben Sie stehen, und ziehen Sie das Hemd aus«, weist Roland Brolin ihn an.
Jurek Walter bewegt sich weiter langsam vorwärts, woraufhin Roland Brolin rasch die Luke schließt und verriegelt. Jurek Walter hält inne, öffnet die letzten Knöpfe und lässt das Hemd zu Boden fallen.
Sein Körper ist früher durchtrainiert gewesen, doch heute hängen die Muskeln und die faltige Haut schlaff herab.
Der Oberarzt öffnet wieder die Luke. Jurek Walter legt die letzten Meter zurück und streckt einen sehnigen Arm mit hunderten von Pigmentflecken hindurch.
Anders Rönn reinigt den Oberarm mit Alkohol. Roland Brolin drückt die Spritze in den weichen Muskel und injiziert die Flüssigkeit viel zu schnell. Jurek Walters Hand zuckt vor Überraschung leicht zusammen, aber er zieht den Arm trotzdem erst zurück, als er die Erlaubnis dazu erhält. Der Oberarzt schließt und verriegelt hastig die Luke, nimmt die Ohrstöpsel heraus und schaut in den Raum hinter dem Panzerglas.
Jurek Walter geht mit stolpernden Schritten zum Bett, bleibt stehen und setzt sich dann.
Plötzlich schaut er zur Tür, und Roland Brolin lässt die Spritze fallen.
Er versucht noch, sie aufzufangen, aber da rollt sie schon über den Beton. Anders Rönn macht einen Schritt und hebt die Spritze auf, und als sie sich beide wieder aufrichten und dem Isolierzimmer zuwenden, sehen sie, dass die Innenseite des Panzerglases beschlagen ist. Jurek Walter hat die Fensterscheibe angehaucht und mit dem Finger »JOONA« darauf geschrieben.
»Was steht da?«, fragt Anders Rönn mit schwacher Stimme.
»Er hat Joona geschrieben.«
»Joona?«
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
Die Kondensschicht verschwindet, und sie sehen, dass Jurek Walter dasitzt, als hätte er sich nie wegbewegt. Er betrachtet den Arm, in den das Medikament injiziert wurde, massiert den Muskel und sieht die beiden Ärzte durch die Scheibe an.
»Sonst stand da nichts?«, fragt Anders Rönn.
»Ich habe nur gesehen ...«
Durch die dicke Tür dringt ein tierisches Brüllen zu ihnen hinaus. Jurek Walter ist vom Bett heruntergerutscht, kniet und schreit. Die Sehnen an seinem Hals sind gespannt, die Adern geschwollen.
»Wie viel haben Sie ihm eigentlich gegeben?«, fragt Anders Rönn.
Jurek Walters Augen rollen nach oben und werden weiß, er stützt sich mit der Hand ab, streckt ein Bein aus, kippt jedoch jäh nach hinten, schlägt mit dem Kopf gegen den Nachttisch, schreit, und sein ganzer Körper beginnt, krampfhaft zu zucken.
»Oh verdammt«, flüstert Anders Rönn.
Jurek Walter rutscht auf den Boden, tritt unkontrolliert mit den Beinen, beißt sich in die Zunge, schnaubt Blut auf seine Brust und liegt anschließend keuchend auf dem Rücken.
»Was machen wir, wenn er stirbt?«
»Ihn verbrennen«, antwortet Brolin.
Jurek Walter wird von neuen Krämpfen geschüttelt, und seine Hände schlagen in alle Richtungen, bis sie zur Ruhe kommen.
Brolin schaut auf die Uhr. Schweiß läuft ihm über die Wangen.
Jurek Walter wimmert, dreht sich auf die Seite und versucht aufzustehen, aber seine Kräfte versagen.
»In ein paar Minuten können Sie hineingehen«, erklärt der Oberarzt.
»Ich soll wirklich da reingehen?«
»Er ist bald außer Gefecht.«
Jurek Walter kriecht auf allen vieren, und mit Speichel vermischtes Blut läuft ihm aus dem Mund. Er wankt und kriecht langsamer, bis er schließlich zu Boden sinkt und regungslos liegen bleibt.
3
Anders Rönn schaut durch die dicke Glasscheibe in der Tür. In den letzten zehn Minuten hat Jurek Walter sich nicht mehr gerührt. Sein Körper ist nach den Krämpfen erschlafft.
Der Oberarzt zieht den Schlüssel aus der Tasche, steckt ihn ins Schloss, zögert, schaut durchs Fenster und schließt auf.
»Viel Spaß«, sagt er.
»Was tun wir, wenn er aufwacht?«, fragt Anders Rönn.
»Er darf nicht aufwachen.«
Brolin öffnet, und Anders Rönn geht hinein. Die Tür wird hinter ihm zugemacht, und das Schloss rasselt. Im Isolierzimmer riecht es nach Schweiß, aber auch noch nach etwas anderem. Es ist der säuerliche Geruch von Essigessenz. Jurek Walter liegt vollkommen still, aber sein Rücken hebt und senkt sich in langsamen Atemzügen.
Obwohl er weiß, dass der Mann tief schläft, hält Anders Rönn Distanz zu ihm.
Es herrscht eine eigentümliche, aufdringliche Akustik in dem Raum, als folgten die Laute ein wenig zu schnell auf die Bewegungen.
Der Arztkittel raschelt bei jedem Schritt.
Jurek Walter atmet schneller.
Am Waschbecken tropft der Wasserhahn.
Anders Rönn erreicht das Bett, wendet den Blick Jurek Walter zu und lässt sich dann auf die Knie fallen.
Als er sich bückt und unter das festgeschraubte Bett zu schauen versucht, sieht er aus den Augenwinkeln kurz den Oberarzt, der ihn mit ängstlichen Augen durch die Panzerglasscheibe beobachtet.
Auf dem Fußboden liegt nichts.
Er reckt den Kopf noch weiter vor, mustert Jurek Walter aufmerksam und legt sich anschließend flach auf den Boden.
Jetzt kann er den Mann nicht mehr im Auge behalten. Er muss ihm den Rücken zukehren, um nach dem Messer suchen zu können.
Schwaches Licht fällt unter das Bett. Entlang der Wand liegen Wollmäuse.
Unwillkürlich stellt er sich vor, Jurek Walter hätte die Augen geöffnet.
Etwas ist zwischen Lattenrost und Matratze gesteckt worden. Es ist schwer zu erkennen, was es ist.
Anders Rönn streckt sich, kommt aber nicht an den Gegenstand heran. Er muss sich auf dem Rücken unter das Bett schieben. Dort ist so wenig Platz, dass er den Kopf nicht drehen kann. Er zieht sich weiter unter das Bett und spürt bei jedem Atemzug den Druck des Bettgestells auf seinem Brustkorb. Seine Finger tasten, aber er muss sich noch etwas weiter hineinschieben. Ein Knie stößt gegen eine Latte. Er bläst eine Staubflocke von seinem Gesicht fort und bewegt sich langsam weiter.
Plötzlich ertönt hinter ihm im Isolierzimmer ein dumpfer Knall, aber er kann sich nicht umdrehen und hinsehen. Also bleibt er still liegen und lauscht, aber seine eigenen Atemzüge gehen so schnell, dass er Mühe hat, andere Geräusche wahrzunehmen.
Vorsichtig streckt er die Hand aus, erreicht den Gegenstand mit den Fingerspitzen, rutscht noch ein Stück weiter und bekommt ihn zu fassen.
Jurek Walter hat aus einem Stück Stahl ein kurzes Messer mit einer Klinge hergestellt.
»Kommen Sie«, ruft der Oberarzt durch die Luke.
Anders Rönn versucht, sich wieder hinauszuwinden, und kratzt sich dabei die Wange auf.
Irgendwo hängt er fest, er kommt nicht weiter, sein Arztkittel hat sich verfangen, und es ist unmöglich, ihn im Liegen abzustreifen.
Er glaubt, scharrende Bewegungen von Jurek Walter zu hören, aber vielleicht hat er sich auch geirrt.
Anders Rönn zieht, so fest er kann. Die Nähte knirschen, aber sie halten. Er weiß, dass er sich wieder unter das Bett schieben muss, um den Kittel loszumachen.
»Was tun Sie denn da?«, ruft Roland Brolin mit aufgeregter Stimme.
Die kleine Luke in der Tür klirrt und wird wieder verriegelt.
Anders Rönn sieht, dass eine Tasche seines Kittels an einer lose herabhängenden Bettlatte hängen geblieben ist. Er macht sie rasch los, hält die Luft an und windet sich erfüllt von wachsender Panik hinaus. Das Bett schürft über Bauch und Knie, dann bekommt er mit einer Hand einen Bettpfosten zu packen und zieht sich hinaus.
Jurek Walter liegt auf der Seite, ein Auge ist im Schlaf halb geöffnet und starrt blind vor sich hin.
Anders Rönn geht mit schnellen Schritten zur Tür, begegnet durch das Panzerglas hindurch dem erregten Blick des Oberarztes und versucht zu lächeln, aber als er spricht, ist seiner Stimme der Stress anzuhören:
»Machen Sie die Tür auf.«
Roland Brolin öffnet stattdessen die Luke:
»Erst geben Sie mir das Messer.«
Anders Rönn sieht ihn fragend an und streckt das Messer durch die Luke.
»Sie haben doch noch etwas gefunden«, sagt Roland Brolin.
»Nein«, widerspricht Anders Rönn und sieht Jurek Walter an.
»Einen Brief.«
»Da war sonst nichts.«
Jurek Walter beginnt, sich auf dem Boden zu winden und schwach zu schnaufen.
»Schauen Sie in seinen Taschen nach«, sagt der Oberarzt und lächelt gestresst.
»Warum?«
»Weil das eine Visitation ist.«
Anders Rönn macht kehrt und nähert sich vorsichtig Jurek Walter. Seine Augen sind wieder geschlossen, aber auf dem faltigen Gesicht haben sich Schweißperlen gebildet.
Widerwillig bückt sich Anders Rönn und greift in eine der Taschen. Der Jeansstoff des Hemds strafft sich auf den Schultern, und Jurek Walter brummt leise.
In der Gesäßtasche steckt ein Plastikkamm. Zitternd durchsucht Anders Rönn die engen Taschen.
Von seiner Nasenspitze tropft Schweiß, und er muss heftig blinzeln.
Jurek Walters große Hand schließt sich mehrmals.
Die Taschen sind leer.
Anders Rönn schaut zum Panzerglas und schüttelt den Kopf. Er kann nicht sehen, ob Brolin hinter der Tür steht. Das Licht der Deckenlampe spiegelt sich in ihrem Glas wie eine graue Sonne.
Er muss jetzt hier raus.
Es ist schon zu viel Zeit verstrichen.
Anders Rönn richtet sich auf und eilt zur Tür. Der Oberarzt ist nicht mehr da. Anders geht ganz nahe an das Glas heran, sieht aber nichts.
Jurek Walter atmet so schnell wie ein Kind, das einen Albtraum hat.
Anders Rönn hämmert gegen die Tür. Seine Hände knallen fast lautlos gegen das dicke Metall. Er hämmert noch einmal.
Er hört nichts, und es geschieht nichts. Er klopft mit seinem Ehering an die Glasscheibe und sieht dann an der Wand einen Schatten wachsen.
Ein Schauer läuft ihm über Rücken und Arme. Mit pochendem Herzen und Adrenalin im Körper dreht er sich um und sieht, dass Jurek Walter sich langsam aufsetzt. Sein Gesicht ist schlaff, und der Blick seiner hellen Augen geht ins Nichts. Er blutet immer noch aus dem Mund, und seine Lippen sehen seltsam rot aus.
4
Anders Rönn hämmert gegen die schwere Stahltür und ruft, aber der Oberarzt macht ihm nicht auf. Als er sich wieder dem Patienten zuwendet, hämmert der Puls in seinem Kopf. Jurek Walter sitzt auf dem Boden, blinzelt ihn mehrmals an und macht Anstalten aufzustehen.
»Es ist eine Lüge«, sagt Jurek Walter so, dass Blut auf sein Kinn spritzt. »Man behauptet, ich sei ein Monster, aber ich bin nur ein Mensch ...«
Zum Aufstehen fehlt ihm die Kraft, stattdessen sinkt er keuchend auf den Fußboden zurück.
»Ein Mensch«, murmelt er.
Mit einer müden Bewegung schiebt er eine Hand unter sein Hemd, zieht ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus und wirft es Anders Rönn vor die Füße.
»Der Brief, nach dem er gefragt hat«, erläutert er. »Sieben Jahre lang habe ich darum gebeten, einen Anwalt sprechen zu dürfen ... Es geht mir gar nicht darum, dass ich mir Hoffnungen mache, hier jemals wieder herauszukommen ... Ich bin der, der ich bin, aber ich bin immer noch ein Mensch ...«
Anders Rönn bückt sich und streckt sich nach dem Blatt, ohne Jurek Walter aus den Augen zu lassen. Der runzlige Mann versucht erneut aufzustehen, stützt sich auf die Hände und wankt, schafft es aber, einen Fuß auf den Boden zu setzen.
Anders Rönn hebt das Blatt vom Boden auf, weicht zurück und hört endlich ein klirrendes Geräusch, als ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt wird. Er dreht sich um, starrt durch das Panzerglas und spürt, dass er weiche Knie hat.
»Sie hätten mir keine Überdosis geben sollen«, murmelt Jurek Walter.
Der junge Arzt dreht sich nicht um, weiß aber, dass Jurek Walter nun steht und ihn ansieht.
Das Panzerglas in der Tür ist wie eine Scheibe aus trübem Eis. Es lässt sich nicht erkennen, wer auf der anderen Seite steht und den Schlüssel im Schloss dreht.
»Aufmachen, aufmachen«, flüstert er und hört Atemzüge hinter seinem Rücken.
Die Tür geht auf, und Anders Rönn stolpert aus der Isolierzelle. Er schlägt gegen die Betonwand des Flurs und hört den dumpfen Knall, als die Tür geschlossen wird, und das Klackern, als der schwere Mechanismus des Schlosses auf das Drehen des Schlüssels reagiert.
Keuchend lehnt er sich an die kühle Wand, dreht sich um und sieht, dass nicht der Oberarzt ihn gerettet hat, sondern die junge Frau mit den gepiercten Wangen.
»Ich begreife nicht, was passiert ist«, sagt sie. »Brolin muss den Verstand verloren haben, denn sonst nimmt er es mit der Sicherheit immer sehr genau.«
»Ich werde mit ihm reden ...«
»Vielleicht ging es ihm ja nicht gut ... ich glaube, er ist zuckerkrank. «
Anders Rönn wischt seine feuchten Handflächen am Arztkittel ab und sieht die Frau an.
»Danke, dass Sie mir aufgemacht haben«, sagt er.
»Für Sie tue ich doch alles«, erwidert sie scherzhaft.
Er versucht, ihr sein lockeres, jungenhaftes Lächeln zu schenken, aber als er sie durch die Sicherheitstür begleitet, schlottern seine Knie. Sie bleibt an der Überwachungszentrale stehen und sieht ihn an.
»Das einzige Problem bei dem Job hier unten«, sagt sie, »ist ehrlich gesagt, dass es so verdammt ruhig ist, dass man eine Menge Süßigkeiten futtern muss, um sich wachzuhalten.«
»Das hört sich doch gut an.«
Auf einem Monitor sieht man Jurek Walter, der auf seinem Bett sitzt und den Kopf in die Hände gestützt hat. Der Aufenthaltsraum mit dem Fernseher und dem Laufband ist verwaist.
5
Den restlichen Tag verwendet Anders Rönn darauf, sich mit den neuen Arbeitsabläufen mit Visiten auf Station 30, individuellen Therapieplänen und Entlassungsgutachten vertraut zu machen, aber seine Gedanken schweifen immer wieder zu dem Brief in seiner Tasche und zu Jurek Walters Worten ab.
Um zehn nach fünf verlässt er die Gerichtspsychiatrie und tritt in die kühle Winterluft hinaus. Jenseits des beleuchteten Krankenhausgeländes hat sich die Winterdunkelheit herabgesenkt.
Er wärmt seine Hände in den Jackentaschen und eilt über das Straßenpflaster auf den großen Parkplatz vor dem Haupteingang des Krankenhauses.
Als er kam, war der Platz voller Autos, inzwischen ist er fast leer.
Er blinzelt und sieht, dass hinter seinem Wagen jemand steht.
»Hallo!«, ruft Anders Rönn und geht schneller.
Ein Mann dreht sich um, streicht sich mit der Hand über den Mund und weicht vom Auto zurück. Es ist Oberarzt Roland Brolin.
Anders Rönn geht die letzten Meter langsamer und zieht den Autoschlüssel aus der Tasche.
»Sie erwarten sicher eine Entschuldigung«, sagt Brolin mit einem bemühten Lächeln.
»Ich möchte nur ungern mit der Krankenhausleitung darüber sprechen müssen, was heute passiert ist«, erwidert Anders.
Brolin sieht ihm in die Augen, streckt die linke Hand aus und öffnet sie.
»Geben Sie mir den Brief«, sagt er ruhig.
»Welchen Brief?«
»Den Brief, von dem Jurek Walter wollte, dass Sie ihn finden «, antwortet der Oberarzt. »Einen Zettel, ein Stück Zeitungspapier, eine Ecke Karton.«
»Ich habe wie besprochen das Messer geholt.«
»Das war der Köder«, entgegnet Brolin. »Sie glauben doch nicht, dass er sich grundlos diesen Schmerzen aussetzt?«
Anders Rönn sieht den Oberarzt an, der sich mit der Hand Schweiß von der Oberlippe wischt.
»Was tun wir, wenn der Patient einen Anwalt sprechen möchte?«, fragt er.
»Nichts«, flüstert Brolin.
»Hat er Sie schon einmal darum gebeten?«
»Ich weiß nicht, ich hätte es ohnehin nicht gehört, da ich grundsätzlich Ohrstöpsel trage«, antwortet Brolin lächelnd.
»Aber ich kapiere ehrlich gesagt nicht, warum ...«
»Sie brauchen diesen Job«, unterbricht der Oberarzt ihn. »Ich habe gehört, dass Sie in Ihrem Jahrgang die schlechtesten Noten hatten, Sie müssen sicher hohe Kredite abtragen, haben keinerlei Erfahrung, keine Referenzen.«
»Sind Sie fertig?«
»Sie sollten mir jetzt einfach den Brief geben«, antwortet Brolin und beißt die Zähne zusammen.
»Ich habe keinen Brief gefunden.«
Brolin sieht ihm eine Weile in die Augen.
»Sollten Sie irgendwann einmal einen Brief finden«, sagt er, »müssen Sie ihn mir geben, ohne ihn zu lesen.«
»Verstehe«, sagt Anders Rönn und schließt den Wagen auf.
Als er sich hineinsetzt, die Tür zuschlägt und das Auto anlässt, hat er das Gefühl, dass der Oberarzt ein wenig erleichtert aussieht. Er ignoriert Brolin, der ans Fenster klopft, legt einfach nur den Gang ein und fährt los. Im Rückspiegel sieht er den Oberarzt, der stehen bleibt und dem Wagen hinterherstarrt, ohne zu lächeln.
6
Als Anders Rönn nach Hause kommt, zieht er rasch die Tür hinter sich zu, schließt ab und legt die Sicherheitskette vor.
Sein Herz pocht schnell - aus irgendeinem Grund ist er vom Auto bis zum Haus gerannt.
Aus Agnes' Zimmer dringt Petras ruhige Stimme an sein Ohr. Anders lächelt. Sie liest ihrer Tochter schon aus Ferien auf Saltkrokan vor. Normalerweise sind die Schlafrituale um diese Zeit noch längst nicht bis zur Gutenachtgeschichte fortgeschritten. Es muss wieder ein guter Tag gewesen sein. Weil er die neue Stelle hat, konnte Petra ihre Arbeitszeit reduzieren.
Auf dem Fußboden im Flur hat sich rund um Agnes' lehmverschmierte Winterstiefel ein nasser Fleck gebildet. Mütze und Wollkragen liegen vor der Kommode auf dem Boden. Anders geht in die Küche, stellt die Sektflasche auf den Tisch, bleibt stehen und schaut in den dunklen Garten hinaus.
Er denkt an Jurek Walters Brief und weiß nicht, was er tun soll.
Die Zweige des großen Fliederstrauchs scharren über das Fenster. Er betrachtet das schwarze Glas, sieht das Spiegelbild seiner Küche, hört, wie die Zweige knarren, und überlegt, dass er die große Gartenschere aus der Abstellkammer holen sollte.
»Warte, warte«, hört er Petra sagen. »Ich lese erst noch zu Ende ...«
Anders geht leise zum Kinderzimmer. Die Prinzessinnenlampe an der Decke leuchtet. Petra schaut vom Buch auf und begegnet seinem Blick. Sie hat ihre hellbraunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und trägt wie üblich ihre Herzohrringe. Agnes sitzt auf ihrem Schoß und wiederholt, dass es wieder falsch gewesen sei und dass sie noch einmal mit dem Hund anfangen müssten.
Anders betritt den Raum und lässt sich vor ihnen auf die Knie fallen.
»Hallo, mein kleiner Liebling«, sagt er.
Agnes begegnet flüchtig seinem Blick und schaut dann weg. Er streicht behutsam über ihren Kopf, steckt ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und steht auf.
»Es ist noch etwas zu essen da, das kannst du dir warmmachen «, sagt Petra. »Ich muss erst das Kapitel noch einmal lesen, dann komme ich.«
»Das mit dem Hund war falsch«, wiederholt Agnes, den Blick auf den Fußboden gerichtet.
Anders geht in die Küche, holt den Teller mit dem Essen aus dem Kühlschrank und stellt ihn neben der Mikrowelle auf die Arbeitsfläche.
Langsam zieht er den Brief aus der Gesäßtasche seiner Jeans und erinnert sich, dass Jurek Walter mehrfach wiederholt hat, er sei ein Mensch.
In einer kleinen, schrägen Handschrift hat er einige wenige, fast nichtssagende Sätze auf das dünne Papier geschrieben. Der Brief ist an eine Anwaltskanzlei in Tensta adressiert und enthält lediglich eine offizielle Anfrage. Jurek Walter bittet um juristischen Beistand, um die Begründung für seine Verurteilung zur Sicherheitsverwahrung zu verstehen. Er hat das Bedürfnis, sich seine Rechte erklären zu lassen und sich über die Möglichkeit zu informieren, in der Zukunft gegen das Urteil Beschwerde einzulegen.
Anders Rönn weiß nicht, woher sein plötzliches Unbehagen rührt, aber irgendetwas am Ton des Briefs, an der korrekten Wortwahl in Kombination mit der fast legasthenischen Schreibweise erscheint ihm seltsam.
Als er ins Arbeitszimmer geht und einen Briefumschlag heraussucht, gehen ihm Jurek Walters Worte nicht aus dem Kopf. Er schreibt die Adresse ab, legt den Brief in den Umschlag und frankiert ihn.
Anschließend verlässt er das Haus, überquert in der kühlen Dunkelheit eine Brachfläche und geht zu dem Kiosk am Kreisverkehr hinauf. Nachdem er den Brief eingeworfen hat, bleibt er eine ganze Weile stehen und betrachtet den Sandavägen und die vorbeifahrenden Autos, ehe er wieder heimkehrt.
Der Wind lässt das gefrorene Gras wogen wie Wasser. Ein Hase wird aufgeschreckt und rennt in Richtung der alten Gärten davon.
Er öffnet das Gartentor und schaut zum Küchenfenster hinein. Das Gebäude wirkt wie ein Puppenhaus. Alles ist hell erleuchtet und gut einsehbar. Er blickt geradewegs in den Flur und sieht das blaue Bild, das dort schon immer gehangen hat.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer steht offen. Mitten im Raum steht der Staubsauger. Er ist noch eingesteckt.
Plötzlich nimmt Anders eine Bewegung wahr und zuckt vor Überraschung zusammen. Im Schlafzimmer, neben ihrem Bett, steht jemand.
Anders will schon hineinrennen, als ihm klar wird, dass die Gestalt sich in Wahrheit im Garten auf der Rückseite des Hauses befindet.
Er kann sie nur durch das Schlafzimmerfenster sehen.
Anders läuft auf dem Plattenweg an der Sonnenuhr vorbei und um die Hausecke herum.
Der Eindringling muss ihn gehört haben, denn er ist schon auf der Flucht. Anders hört, wie sich jemand durch die Flieder- hecke presst. Er läuft hinterher, schiebt die Äste zur Seite und versucht, etwas zu sehen, aber es ist zu dunkel.
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
Sein Name ist Mikael Kohler-Frost. Dreizehn Jahre war er verschwunden, und sieben Jahre zuvor wurde er für tot erklärt.
1
Sicherheitstrakt der Gerichtspsychiatrie
Löwenströmsches Krankenhaus
Das Stahltor fällt hinter dem neuen Arzt mit einem dumpfen Ton ins Schloss. Das metallische Echo fliegt an ihm vorbei und die Wendeltreppe hinab.
Als es dann plötzlich vollkommen still wird, läuft Anders Rönn ein Schauer über den Rücken.
Von diesem Tag an wird er im Sicherheitstrakt der Gerichtspsychiatrie arbeiten.
In dem streng isolierten Bunker ist seit dreizehn Jahren der gealterte Jurek Walter untergebracht, der zur Sicherheitsverwahrung in der Psychiatrie verurteilt wurde.
Der junge Arzt weiß nicht viel über seinen Patienten, er kennt nur die Diagnose: »Schizophrenie, unspezifisch. Chaotisches Denken. Wiederkehrende akute psychotische Zustände mit bizarren und sehr gewaltsamen Zügen.«
Anders Rönn weist sich auf Ebene Null aus, gibt sein Handy ab und hängt den Schlüssel zum Stahltor in ein Kästchen, dann öffnet die Frau vom Sicherheitsdienst die erste Tür der Schleuse. Er geht hinein und wartet, bis sich die Tür geschlossen hat, bevor er zur nächsten weitergeht. Als ein Signal ertönt, öffnet die Frau auch diese. Anders Rönn dreht sich um und winkt ihr zu, ehe er durch den Korridor zum Personalraum der Isolierstation geht.
Oberarzt Roland Brolin ist ein kräftig gebauter Mann zwischen fünfzig und sechzig mit hängenden Schultern und kurzen, stoppeligen Haaren. Er raucht unter der Dunstabzugshaube in der Küchenzeile und blättert in einem Artikel über die unterschiedliche Bezahlung von Männern und Frauen in der Ärztezeitung.
»Jurek Walter darf niemals mit jemandem vom Personal allein sein«, erklärt der Oberarzt. »Er darf keine anderen Patienten treffen, keinen Besuch empfangen und niemals das Außengelände betreten. Außerdem ...«
»Niemals?«, unterbricht Anders Rönn ihn. »Ist es denn erlaubt, jemanden ...«
»Nein, das ist es nicht.« Roland Brolin schneidet ihm mit gereizter Stimme das Wort ab.
»Was hat er denn eigentlich getan?«
»Nur nette Dinge«, antwortet der Oberarzt und geht in Richtung Flur.
Obwohl Jurek Walter der schlimmste Serienmörder ist, den es in Schweden je gegeben hat, ist er für die Öffentlichkeit ein unbeschriebenes Blatt. Die Gerichtsverhandlungen im Rathaus fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und die Akten des Falls unterliegen der Geheimhaltung.
Anders Rönn und Oberarzt Roland Brolin passieren eine weitere Sicherheitstür und eine junge Frau mit tätowierten Armen und gepiercten Wangen zwinkert ihnen zu.
»Kommt lebend zurück«, sagt sie kurz.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt Roland Brolin mit gesenkter Stimme zu Anders Rönn. »Jurek Walter ist ein ruhiger, älterer Herr. Er prügelt sich nicht und wird niemals laut. Unsere goldene Regel lautet, dass wir niemals zu ihm hineingehen. Aber Leffe von der Nachtschicht hat leider beobachtet, dass er sich ein Messer gebastelt und unter seiner Matratze versteckt hat, und das müssen wir natürlich konfiszieren.«
»Wie gehen wir vor?«, fragt Anders.
»Wir verstoßen gegen die Regeln.«
»Wir gehen zu Jurek Walter hinein?«
»Sie gehen zu ihm hinein ... und bitten ihn höflich, Ihnen das Messer zu geben.«
»Ich soll da reingehen ...?«
Roland Brolin lacht laut und erläutert anschließend, dass sie so tun würden, als injizierten sie dem Patienten wie üblich eine Dosis Risperdal, während es in Wahrheit eine Überdosis Zypadhera sei.
Der Oberarzt zieht seine Zugangskarte durch ein weiteres Lesegerät und tippt eine Zahlenkombination ein. Es piept, und das Schloss der Sicherheitstür surrt.
»Warten Sie«, sagt Roland Brolin und hält ihm eine kleine Schachtel mit gelben Ohrstöpseln hin.
»Sie haben doch gesagt, er wird nicht laut.«
Roland Brolin verzieht matt den Mund, betrachtet seinen neuen Kollegen mit müden Augen und seufzt schwer.
»Jurek Walter wird mit Ihnen sprechen, und zwar ganz ruhig und bestimmt sehr freundlich«, erläutert er mit ernster Stimme. »Aber wenn Sie dann heute Abend nach Hause fahren, werden Sie Ihr Auto in den Gegenverkehr lenken und frontal mit einem Lastwagen zusammenstoßen ... oder Sie fahren noch kurz beim Baumarkt vorbei und kaufen sich eine Axt, bevor Sie Ihre Kinder aus der Kita abholen.«
»Soll ich jetzt etwa Angst bekommen?«, fragt Anders Rönn lächelnd.
»Nein, aber Sie werden hoffentlich vorsichtig sein«, entgegnet Roland Brolin.
Anders Rönn ist normalerweise nicht gerade ein Glückspilz, aber als er in der Ärztezeitung die Stellenanzeige für eine längerfristige Vertretungsstelle im Sicherheitstrakt des Löwenströmschen Krankenhauses las, schlug sein Herz schneller.
Mit dem Auto sind es nur zwanzig Minuten nach Hause, und es besteht die Aussicht, dass die Vertretungsstelle in eine Festanstellung umgewandelt wird.
Nach seinem Praktischen Jahr am Krankenhaus Skaraborg und in einer Poliklinik in Huddinge hat er sich mit kurzen Zeitverträgen am Sankt Sigfrids-Krankenhaus über Wasser halten müssen. Die langen Fahrten nach Växjö und die unregelmäßigen Arbeitszeiten ließen sich aber nur schwer mit Petras Stelle in der Hortverwaltung und der Belastung durch das autistische Syndrom seiner Tochter Agnes vereinbaren.
Es ist gerade einmal zwei Wochen her, da saßen Anders und Petra am Küchentisch, um eine Lösung zu finden.
»So geht es einfach nicht mehr weiter«, sagte er ganz ruhig.
»Aber was sollen wir denn tun?«, flüsterte sie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Anders und strich die Tränen von ihren Wangen.
Agnes' Betreuerin in der Vorschule hatte erzählt, dass Agnes einen schweren Tag gehabt habe. Sie hatte sich geweigert, ihr Milchglas loszulassen, und daraufhin war sie von den anderen Kindern ausgelacht worden. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass die Mahlzeit vorbei war, denn Anders hatte sie nicht zur selben Zeit wie sonst abgeholt. Er war direkt von Växjö aus zur Vorschule gefahren, war aber dennoch erst gegen sechs dort angekommen. Da hatte Agnes noch immer mit im Speisesaal gesessen, die Hände hielt sie fest um das Glas geschlossen.
Als sie nach Hause kamen, hatte Agnes sich in ihr Zimmer gestellt, die Wand neben dem Puppenhaus angestarrt und auf ihre introvertierte Art in die Hände geklatscht. Er und Petra wissen nicht, was sie an der Wand sieht, aber sie sagt, dass dort graue Stäbchen auftauchen, die sie zählen und stoppen muss. Manchmal reichen ihr schon zehn Minuten, aber an diesem Abend musste sie mehr als vier Stunden so stehen bleiben, bis ihre Eltern sie ins Bett bringen konnten.
2
Die letzte Sicherheitstür schließt sich hinter ihnen, und sie gehen durch einen Flur zu dem einzigen der drei Isolierzimmer, das benutzt wird. Das Licht der Neonröhre an der Decke spiegelt sich im Kunststoffboden. In etwa ein Meter Höhe ist die Gewebetapete ganz abgescheuert, dort wo der Servierwagen entlangschabt.
Der Oberarzt benutzt seine Zugangskarte und lässt Anders durch die schwere Metalltür vorgehen.
Hinter Panzerglas sieht Anders einen schlanken Mann auf einem Plastikstuhl sitzen. Er trägt eine blaue Jeans und ein Jeanshemd. Der Mann ist glattrasiert, und seine Augen sind seltsam ruhig. Die vielen Falten in seinem blassen Gesicht erinnern an rissigen Lehm in einem ausgetrockneten Flussbett.
Jurek Walter ist nur für zwei Morde und einen Mordversuch verurteilt worden, steht aber in weiteren neunzehn Mordfällen unter dringendem Tatverdacht.
Dreizehn Jahre zuvor wurde er im Lill Jans-Wald auf frischer Tat ertappt, als er eine fünfzigjährige Frau zwang, wieder in einen Sarg in der Erde zu steigen. Sie war fast zwei Jahre lang von ihm gezwungen worden, in diesem Sarg zu bleiben, und sie hatte es überlebt. Die Frau war damals in einem grauenvollen Zustand gewesen, sie war unterernährt, ihre Muskeln waren verkümmert, sie hatte furchtbare Erfrierungen und schwere Gehirnschäden erlitten und sich wundgelegen. Hätte die Polizei Jurek Walter nicht aufgespürt und ihn an ihrem Sarg gefasst, wäre er wahrscheinlich nie gestoppt worden.
Der Oberarzt greift zu drei schmalen Ampullen mit einem gelben Pulver, fügt Wasser hinzu und schüttelt sie vorsichtig, ehe er die Flüssigkeit auf eine Spritze zieht.
Er setzt die Ohrstöpsel ein und öffnet anschließend eine kleine Luke in der Tür. Metall rasselt, und ein satter Geruch von Beton und Staub schlägt ihnen entgegen.
Mit schleppender Stimme teilt der Oberarzt Jurek Walter mit, dass es Zeit für seine Spritze sei.
Der Mann hebt den Kopf, steht geschmeidig von seinem Stuhl auf, wendet den Blick der Luke in der Tür zu, nähert sich und knöpft gleichzeitig sein Hemd auf.
»Bleiben Sie stehen, und ziehen Sie das Hemd aus«, weist Roland Brolin ihn an.
Jurek Walter bewegt sich weiter langsam vorwärts, woraufhin Roland Brolin rasch die Luke schließt und verriegelt. Jurek Walter hält inne, öffnet die letzten Knöpfe und lässt das Hemd zu Boden fallen.
Sein Körper ist früher durchtrainiert gewesen, doch heute hängen die Muskeln und die faltige Haut schlaff herab.
Der Oberarzt öffnet wieder die Luke. Jurek Walter legt die letzten Meter zurück und streckt einen sehnigen Arm mit hunderten von Pigmentflecken hindurch.
Anders Rönn reinigt den Oberarm mit Alkohol. Roland Brolin drückt die Spritze in den weichen Muskel und injiziert die Flüssigkeit viel zu schnell. Jurek Walters Hand zuckt vor Überraschung leicht zusammen, aber er zieht den Arm trotzdem erst zurück, als er die Erlaubnis dazu erhält. Der Oberarzt schließt und verriegelt hastig die Luke, nimmt die Ohrstöpsel heraus und schaut in den Raum hinter dem Panzerglas.
Jurek Walter geht mit stolpernden Schritten zum Bett, bleibt stehen und setzt sich dann.
Plötzlich schaut er zur Tür, und Roland Brolin lässt die Spritze fallen.
Er versucht noch, sie aufzufangen, aber da rollt sie schon über den Beton. Anders Rönn macht einen Schritt und hebt die Spritze auf, und als sie sich beide wieder aufrichten und dem Isolierzimmer zuwenden, sehen sie, dass die Innenseite des Panzerglases beschlagen ist. Jurek Walter hat die Fensterscheibe angehaucht und mit dem Finger »JOONA« darauf geschrieben.
»Was steht da?«, fragt Anders Rönn mit schwacher Stimme.
»Er hat Joona geschrieben.«
»Joona?«
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«
Die Kondensschicht verschwindet, und sie sehen, dass Jurek Walter dasitzt, als hätte er sich nie wegbewegt. Er betrachtet den Arm, in den das Medikament injiziert wurde, massiert den Muskel und sieht die beiden Ärzte durch die Scheibe an.
»Sonst stand da nichts?«, fragt Anders Rönn.
»Ich habe nur gesehen ...«
Durch die dicke Tür dringt ein tierisches Brüllen zu ihnen hinaus. Jurek Walter ist vom Bett heruntergerutscht, kniet und schreit. Die Sehnen an seinem Hals sind gespannt, die Adern geschwollen.
»Wie viel haben Sie ihm eigentlich gegeben?«, fragt Anders Rönn.
Jurek Walters Augen rollen nach oben und werden weiß, er stützt sich mit der Hand ab, streckt ein Bein aus, kippt jedoch jäh nach hinten, schlägt mit dem Kopf gegen den Nachttisch, schreit, und sein ganzer Körper beginnt, krampfhaft zu zucken.
»Oh verdammt«, flüstert Anders Rönn.
Jurek Walter rutscht auf den Boden, tritt unkontrolliert mit den Beinen, beißt sich in die Zunge, schnaubt Blut auf seine Brust und liegt anschließend keuchend auf dem Rücken.
»Was machen wir, wenn er stirbt?«
»Ihn verbrennen«, antwortet Brolin.
Jurek Walter wird von neuen Krämpfen geschüttelt, und seine Hände schlagen in alle Richtungen, bis sie zur Ruhe kommen.
Brolin schaut auf die Uhr. Schweiß läuft ihm über die Wangen.
Jurek Walter wimmert, dreht sich auf die Seite und versucht aufzustehen, aber seine Kräfte versagen.
»In ein paar Minuten können Sie hineingehen«, erklärt der Oberarzt.
»Ich soll wirklich da reingehen?«
»Er ist bald außer Gefecht.«
Jurek Walter kriecht auf allen vieren, und mit Speichel vermischtes Blut läuft ihm aus dem Mund. Er wankt und kriecht langsamer, bis er schließlich zu Boden sinkt und regungslos liegen bleibt.
3
Anders Rönn schaut durch die dicke Glasscheibe in der Tür. In den letzten zehn Minuten hat Jurek Walter sich nicht mehr gerührt. Sein Körper ist nach den Krämpfen erschlafft.
Der Oberarzt zieht den Schlüssel aus der Tasche, steckt ihn ins Schloss, zögert, schaut durchs Fenster und schließt auf.
»Viel Spaß«, sagt er.
»Was tun wir, wenn er aufwacht?«, fragt Anders Rönn.
»Er darf nicht aufwachen.«
Brolin öffnet, und Anders Rönn geht hinein. Die Tür wird hinter ihm zugemacht, und das Schloss rasselt. Im Isolierzimmer riecht es nach Schweiß, aber auch noch nach etwas anderem. Es ist der säuerliche Geruch von Essigessenz. Jurek Walter liegt vollkommen still, aber sein Rücken hebt und senkt sich in langsamen Atemzügen.
Obwohl er weiß, dass der Mann tief schläft, hält Anders Rönn Distanz zu ihm.
Es herrscht eine eigentümliche, aufdringliche Akustik in dem Raum, als folgten die Laute ein wenig zu schnell auf die Bewegungen.
Der Arztkittel raschelt bei jedem Schritt.
Jurek Walter atmet schneller.
Am Waschbecken tropft der Wasserhahn.
Anders Rönn erreicht das Bett, wendet den Blick Jurek Walter zu und lässt sich dann auf die Knie fallen.
Als er sich bückt und unter das festgeschraubte Bett zu schauen versucht, sieht er aus den Augenwinkeln kurz den Oberarzt, der ihn mit ängstlichen Augen durch die Panzerglasscheibe beobachtet.
Auf dem Fußboden liegt nichts.
Er reckt den Kopf noch weiter vor, mustert Jurek Walter aufmerksam und legt sich anschließend flach auf den Boden.
Jetzt kann er den Mann nicht mehr im Auge behalten. Er muss ihm den Rücken zukehren, um nach dem Messer suchen zu können.
Schwaches Licht fällt unter das Bett. Entlang der Wand liegen Wollmäuse.
Unwillkürlich stellt er sich vor, Jurek Walter hätte die Augen geöffnet.
Etwas ist zwischen Lattenrost und Matratze gesteckt worden. Es ist schwer zu erkennen, was es ist.
Anders Rönn streckt sich, kommt aber nicht an den Gegenstand heran. Er muss sich auf dem Rücken unter das Bett schieben. Dort ist so wenig Platz, dass er den Kopf nicht drehen kann. Er zieht sich weiter unter das Bett und spürt bei jedem Atemzug den Druck des Bettgestells auf seinem Brustkorb. Seine Finger tasten, aber er muss sich noch etwas weiter hineinschieben. Ein Knie stößt gegen eine Latte. Er bläst eine Staubflocke von seinem Gesicht fort und bewegt sich langsam weiter.
Plötzlich ertönt hinter ihm im Isolierzimmer ein dumpfer Knall, aber er kann sich nicht umdrehen und hinsehen. Also bleibt er still liegen und lauscht, aber seine eigenen Atemzüge gehen so schnell, dass er Mühe hat, andere Geräusche wahrzunehmen.
Vorsichtig streckt er die Hand aus, erreicht den Gegenstand mit den Fingerspitzen, rutscht noch ein Stück weiter und bekommt ihn zu fassen.
Jurek Walter hat aus einem Stück Stahl ein kurzes Messer mit einer Klinge hergestellt.
»Kommen Sie«, ruft der Oberarzt durch die Luke.
Anders Rönn versucht, sich wieder hinauszuwinden, und kratzt sich dabei die Wange auf.
Irgendwo hängt er fest, er kommt nicht weiter, sein Arztkittel hat sich verfangen, und es ist unmöglich, ihn im Liegen abzustreifen.
Er glaubt, scharrende Bewegungen von Jurek Walter zu hören, aber vielleicht hat er sich auch geirrt.
Anders Rönn zieht, so fest er kann. Die Nähte knirschen, aber sie halten. Er weiß, dass er sich wieder unter das Bett schieben muss, um den Kittel loszumachen.
»Was tun Sie denn da?«, ruft Roland Brolin mit aufgeregter Stimme.
Die kleine Luke in der Tür klirrt und wird wieder verriegelt.
Anders Rönn sieht, dass eine Tasche seines Kittels an einer lose herabhängenden Bettlatte hängen geblieben ist. Er macht sie rasch los, hält die Luft an und windet sich erfüllt von wachsender Panik hinaus. Das Bett schürft über Bauch und Knie, dann bekommt er mit einer Hand einen Bettpfosten zu packen und zieht sich hinaus.
Jurek Walter liegt auf der Seite, ein Auge ist im Schlaf halb geöffnet und starrt blind vor sich hin.
Anders Rönn geht mit schnellen Schritten zur Tür, begegnet durch das Panzerglas hindurch dem erregten Blick des Oberarztes und versucht zu lächeln, aber als er spricht, ist seiner Stimme der Stress anzuhören:
»Machen Sie die Tür auf.«
Roland Brolin öffnet stattdessen die Luke:
»Erst geben Sie mir das Messer.«
Anders Rönn sieht ihn fragend an und streckt das Messer durch die Luke.
»Sie haben doch noch etwas gefunden«, sagt Roland Brolin.
»Nein«, widerspricht Anders Rönn und sieht Jurek Walter an.
»Einen Brief.«
»Da war sonst nichts.«
Jurek Walter beginnt, sich auf dem Boden zu winden und schwach zu schnaufen.
»Schauen Sie in seinen Taschen nach«, sagt der Oberarzt und lächelt gestresst.
»Warum?«
»Weil das eine Visitation ist.«
Anders Rönn macht kehrt und nähert sich vorsichtig Jurek Walter. Seine Augen sind wieder geschlossen, aber auf dem faltigen Gesicht haben sich Schweißperlen gebildet.
Widerwillig bückt sich Anders Rönn und greift in eine der Taschen. Der Jeansstoff des Hemds strafft sich auf den Schultern, und Jurek Walter brummt leise.
In der Gesäßtasche steckt ein Plastikkamm. Zitternd durchsucht Anders Rönn die engen Taschen.
Von seiner Nasenspitze tropft Schweiß, und er muss heftig blinzeln.
Jurek Walters große Hand schließt sich mehrmals.
Die Taschen sind leer.
Anders Rönn schaut zum Panzerglas und schüttelt den Kopf. Er kann nicht sehen, ob Brolin hinter der Tür steht. Das Licht der Deckenlampe spiegelt sich in ihrem Glas wie eine graue Sonne.
Er muss jetzt hier raus.
Es ist schon zu viel Zeit verstrichen.
Anders Rönn richtet sich auf und eilt zur Tür. Der Oberarzt ist nicht mehr da. Anders geht ganz nahe an das Glas heran, sieht aber nichts.
Jurek Walter atmet so schnell wie ein Kind, das einen Albtraum hat.
Anders Rönn hämmert gegen die Tür. Seine Hände knallen fast lautlos gegen das dicke Metall. Er hämmert noch einmal.
Er hört nichts, und es geschieht nichts. Er klopft mit seinem Ehering an die Glasscheibe und sieht dann an der Wand einen Schatten wachsen.
Ein Schauer läuft ihm über Rücken und Arme. Mit pochendem Herzen und Adrenalin im Körper dreht er sich um und sieht, dass Jurek Walter sich langsam aufsetzt. Sein Gesicht ist schlaff, und der Blick seiner hellen Augen geht ins Nichts. Er blutet immer noch aus dem Mund, und seine Lippen sehen seltsam rot aus.
4
Anders Rönn hämmert gegen die schwere Stahltür und ruft, aber der Oberarzt macht ihm nicht auf. Als er sich wieder dem Patienten zuwendet, hämmert der Puls in seinem Kopf. Jurek Walter sitzt auf dem Boden, blinzelt ihn mehrmals an und macht Anstalten aufzustehen.
»Es ist eine Lüge«, sagt Jurek Walter so, dass Blut auf sein Kinn spritzt. »Man behauptet, ich sei ein Monster, aber ich bin nur ein Mensch ...«
Zum Aufstehen fehlt ihm die Kraft, stattdessen sinkt er keuchend auf den Fußboden zurück.
»Ein Mensch«, murmelt er.
Mit einer müden Bewegung schiebt er eine Hand unter sein Hemd, zieht ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus und wirft es Anders Rönn vor die Füße.
»Der Brief, nach dem er gefragt hat«, erläutert er. »Sieben Jahre lang habe ich darum gebeten, einen Anwalt sprechen zu dürfen ... Es geht mir gar nicht darum, dass ich mir Hoffnungen mache, hier jemals wieder herauszukommen ... Ich bin der, der ich bin, aber ich bin immer noch ein Mensch ...«
Anders Rönn bückt sich und streckt sich nach dem Blatt, ohne Jurek Walter aus den Augen zu lassen. Der runzlige Mann versucht erneut aufzustehen, stützt sich auf die Hände und wankt, schafft es aber, einen Fuß auf den Boden zu setzen.
Anders Rönn hebt das Blatt vom Boden auf, weicht zurück und hört endlich ein klirrendes Geräusch, als ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt wird. Er dreht sich um, starrt durch das Panzerglas und spürt, dass er weiche Knie hat.
»Sie hätten mir keine Überdosis geben sollen«, murmelt Jurek Walter.
Der junge Arzt dreht sich nicht um, weiß aber, dass Jurek Walter nun steht und ihn ansieht.
Das Panzerglas in der Tür ist wie eine Scheibe aus trübem Eis. Es lässt sich nicht erkennen, wer auf der anderen Seite steht und den Schlüssel im Schloss dreht.
»Aufmachen, aufmachen«, flüstert er und hört Atemzüge hinter seinem Rücken.
Die Tür geht auf, und Anders Rönn stolpert aus der Isolierzelle. Er schlägt gegen die Betonwand des Flurs und hört den dumpfen Knall, als die Tür geschlossen wird, und das Klackern, als der schwere Mechanismus des Schlosses auf das Drehen des Schlüssels reagiert.
Keuchend lehnt er sich an die kühle Wand, dreht sich um und sieht, dass nicht der Oberarzt ihn gerettet hat, sondern die junge Frau mit den gepiercten Wangen.
»Ich begreife nicht, was passiert ist«, sagt sie. »Brolin muss den Verstand verloren haben, denn sonst nimmt er es mit der Sicherheit immer sehr genau.«
»Ich werde mit ihm reden ...«
»Vielleicht ging es ihm ja nicht gut ... ich glaube, er ist zuckerkrank. «
Anders Rönn wischt seine feuchten Handflächen am Arztkittel ab und sieht die Frau an.
»Danke, dass Sie mir aufgemacht haben«, sagt er.
»Für Sie tue ich doch alles«, erwidert sie scherzhaft.
Er versucht, ihr sein lockeres, jungenhaftes Lächeln zu schenken, aber als er sie durch die Sicherheitstür begleitet, schlottern seine Knie. Sie bleibt an der Überwachungszentrale stehen und sieht ihn an.
»Das einzige Problem bei dem Job hier unten«, sagt sie, »ist ehrlich gesagt, dass es so verdammt ruhig ist, dass man eine Menge Süßigkeiten futtern muss, um sich wachzuhalten.«
»Das hört sich doch gut an.«
Auf einem Monitor sieht man Jurek Walter, der auf seinem Bett sitzt und den Kopf in die Hände gestützt hat. Der Aufenthaltsraum mit dem Fernseher und dem Laufband ist verwaist.
5
Den restlichen Tag verwendet Anders Rönn darauf, sich mit den neuen Arbeitsabläufen mit Visiten auf Station 30, individuellen Therapieplänen und Entlassungsgutachten vertraut zu machen, aber seine Gedanken schweifen immer wieder zu dem Brief in seiner Tasche und zu Jurek Walters Worten ab.
Um zehn nach fünf verlässt er die Gerichtspsychiatrie und tritt in die kühle Winterluft hinaus. Jenseits des beleuchteten Krankenhausgeländes hat sich die Winterdunkelheit herabgesenkt.
Er wärmt seine Hände in den Jackentaschen und eilt über das Straßenpflaster auf den großen Parkplatz vor dem Haupteingang des Krankenhauses.
Als er kam, war der Platz voller Autos, inzwischen ist er fast leer.
Er blinzelt und sieht, dass hinter seinem Wagen jemand steht.
»Hallo!«, ruft Anders Rönn und geht schneller.
Ein Mann dreht sich um, streicht sich mit der Hand über den Mund und weicht vom Auto zurück. Es ist Oberarzt Roland Brolin.
Anders Rönn geht die letzten Meter langsamer und zieht den Autoschlüssel aus der Tasche.
»Sie erwarten sicher eine Entschuldigung«, sagt Brolin mit einem bemühten Lächeln.
»Ich möchte nur ungern mit der Krankenhausleitung darüber sprechen müssen, was heute passiert ist«, erwidert Anders.
Brolin sieht ihm in die Augen, streckt die linke Hand aus und öffnet sie.
»Geben Sie mir den Brief«, sagt er ruhig.
»Welchen Brief?«
»Den Brief, von dem Jurek Walter wollte, dass Sie ihn finden «, antwortet der Oberarzt. »Einen Zettel, ein Stück Zeitungspapier, eine Ecke Karton.«
»Ich habe wie besprochen das Messer geholt.«
»Das war der Köder«, entgegnet Brolin. »Sie glauben doch nicht, dass er sich grundlos diesen Schmerzen aussetzt?«
Anders Rönn sieht den Oberarzt an, der sich mit der Hand Schweiß von der Oberlippe wischt.
»Was tun wir, wenn der Patient einen Anwalt sprechen möchte?«, fragt er.
»Nichts«, flüstert Brolin.
»Hat er Sie schon einmal darum gebeten?«
»Ich weiß nicht, ich hätte es ohnehin nicht gehört, da ich grundsätzlich Ohrstöpsel trage«, antwortet Brolin lächelnd.
»Aber ich kapiere ehrlich gesagt nicht, warum ...«
»Sie brauchen diesen Job«, unterbricht der Oberarzt ihn. »Ich habe gehört, dass Sie in Ihrem Jahrgang die schlechtesten Noten hatten, Sie müssen sicher hohe Kredite abtragen, haben keinerlei Erfahrung, keine Referenzen.«
»Sind Sie fertig?«
»Sie sollten mir jetzt einfach den Brief geben«, antwortet Brolin und beißt die Zähne zusammen.
»Ich habe keinen Brief gefunden.«
Brolin sieht ihm eine Weile in die Augen.
»Sollten Sie irgendwann einmal einen Brief finden«, sagt er, »müssen Sie ihn mir geben, ohne ihn zu lesen.«
»Verstehe«, sagt Anders Rönn und schließt den Wagen auf.
Als er sich hineinsetzt, die Tür zuschlägt und das Auto anlässt, hat er das Gefühl, dass der Oberarzt ein wenig erleichtert aussieht. Er ignoriert Brolin, der ans Fenster klopft, legt einfach nur den Gang ein und fährt los. Im Rückspiegel sieht er den Oberarzt, der stehen bleibt und dem Wagen hinterherstarrt, ohne zu lächeln.
6
Als Anders Rönn nach Hause kommt, zieht er rasch die Tür hinter sich zu, schließt ab und legt die Sicherheitskette vor.
Sein Herz pocht schnell - aus irgendeinem Grund ist er vom Auto bis zum Haus gerannt.
Aus Agnes' Zimmer dringt Petras ruhige Stimme an sein Ohr. Anders lächelt. Sie liest ihrer Tochter schon aus Ferien auf Saltkrokan vor. Normalerweise sind die Schlafrituale um diese Zeit noch längst nicht bis zur Gutenachtgeschichte fortgeschritten. Es muss wieder ein guter Tag gewesen sein. Weil er die neue Stelle hat, konnte Petra ihre Arbeitszeit reduzieren.
Auf dem Fußboden im Flur hat sich rund um Agnes' lehmverschmierte Winterstiefel ein nasser Fleck gebildet. Mütze und Wollkragen liegen vor der Kommode auf dem Boden. Anders geht in die Küche, stellt die Sektflasche auf den Tisch, bleibt stehen und schaut in den dunklen Garten hinaus.
Er denkt an Jurek Walters Brief und weiß nicht, was er tun soll.
Die Zweige des großen Fliederstrauchs scharren über das Fenster. Er betrachtet das schwarze Glas, sieht das Spiegelbild seiner Küche, hört, wie die Zweige knarren, und überlegt, dass er die große Gartenschere aus der Abstellkammer holen sollte.
»Warte, warte«, hört er Petra sagen. »Ich lese erst noch zu Ende ...«
Anders geht leise zum Kinderzimmer. Die Prinzessinnenlampe an der Decke leuchtet. Petra schaut vom Buch auf und begegnet seinem Blick. Sie hat ihre hellbraunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden und trägt wie üblich ihre Herzohrringe. Agnes sitzt auf ihrem Schoß und wiederholt, dass es wieder falsch gewesen sei und dass sie noch einmal mit dem Hund anfangen müssten.
Anders betritt den Raum und lässt sich vor ihnen auf die Knie fallen.
»Hallo, mein kleiner Liebling«, sagt er.
Agnes begegnet flüchtig seinem Blick und schaut dann weg. Er streicht behutsam über ihren Kopf, steckt ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und steht auf.
»Es ist noch etwas zu essen da, das kannst du dir warmmachen «, sagt Petra. »Ich muss erst das Kapitel noch einmal lesen, dann komme ich.«
»Das mit dem Hund war falsch«, wiederholt Agnes, den Blick auf den Fußboden gerichtet.
Anders geht in die Küche, holt den Teller mit dem Essen aus dem Kühlschrank und stellt ihn neben der Mikrowelle auf die Arbeitsfläche.
Langsam zieht er den Brief aus der Gesäßtasche seiner Jeans und erinnert sich, dass Jurek Walter mehrfach wiederholt hat, er sei ein Mensch.
In einer kleinen, schrägen Handschrift hat er einige wenige, fast nichtssagende Sätze auf das dünne Papier geschrieben. Der Brief ist an eine Anwaltskanzlei in Tensta adressiert und enthält lediglich eine offizielle Anfrage. Jurek Walter bittet um juristischen Beistand, um die Begründung für seine Verurteilung zur Sicherheitsverwahrung zu verstehen. Er hat das Bedürfnis, sich seine Rechte erklären zu lassen und sich über die Möglichkeit zu informieren, in der Zukunft gegen das Urteil Beschwerde einzulegen.
Anders Rönn weiß nicht, woher sein plötzliches Unbehagen rührt, aber irgendetwas am Ton des Briefs, an der korrekten Wortwahl in Kombination mit der fast legasthenischen Schreibweise erscheint ihm seltsam.
Als er ins Arbeitszimmer geht und einen Briefumschlag heraussucht, gehen ihm Jurek Walters Worte nicht aus dem Kopf. Er schreibt die Adresse ab, legt den Brief in den Umschlag und frankiert ihn.
Anschließend verlässt er das Haus, überquert in der kühlen Dunkelheit eine Brachfläche und geht zu dem Kiosk am Kreisverkehr hinauf. Nachdem er den Brief eingeworfen hat, bleibt er eine ganze Weile stehen und betrachtet den Sandavägen und die vorbeifahrenden Autos, ehe er wieder heimkehrt.
Der Wind lässt das gefrorene Gras wogen wie Wasser. Ein Hase wird aufgeschreckt und rennt in Richtung der alten Gärten davon.
Er öffnet das Gartentor und schaut zum Küchenfenster hinein. Das Gebäude wirkt wie ein Puppenhaus. Alles ist hell erleuchtet und gut einsehbar. Er blickt geradewegs in den Flur und sieht das blaue Bild, das dort schon immer gehangen hat.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer steht offen. Mitten im Raum steht der Staubsauger. Er ist noch eingesteckt.
Plötzlich nimmt Anders eine Bewegung wahr und zuckt vor Überraschung zusammen. Im Schlafzimmer, neben ihrem Bett, steht jemand.
Anders will schon hineinrennen, als ihm klar wird, dass die Gestalt sich in Wahrheit im Garten auf der Rückseite des Hauses befindet.
Er kann sie nur durch das Schlafzimmerfenster sehen.
Anders läuft auf dem Plattenweg an der Sonnenuhr vorbei und um die Hausecke herum.
Der Eindringling muss ihn gehört haben, denn er ist schon auf der Flucht. Anders hört, wie sich jemand durch die Flieder- hecke presst. Er läuft hinterher, schiebt die Äste zur Seite und versucht, etwas zu sehen, aber es ist zu dunkel.
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
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Autoren-Porträt von Lars Kepler
Lars Kepler ist das Pseudonym von Alexandra Coelho Ahndoril und Alexander Ahndoril. Der Hypnotiseur, ihr Krimidebüt, war international sensationell erfolgreich. Der Sandmann, der vierte Kriminalroman mit dem Ermittler Joona Linna, setzt die Erfolgsgeschichte fort. Er eroberte sofort Platz 1 der schwedischen Bessellerliste. Das Ehepaar lebt mit seinen Kindern in Stockholm. www.larskepler.comBibliographische Angaben
- Autor: Lars Kepler
- 2014, 1. Aufl., 574 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Paul Berf
- Verlag: Ehrenwirth
- ISBN-10: 3431038875
- ISBN-13: 9783431038873
- Erscheinungsdatum: 10.02.2014
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