Der Russe ist einer, der Birken liebt
Roman
Mascha ist jung und eigenwillig, sie ist Aserbaidschanerin, Jüdin, und wenn nötig auch Türkin und Französin. Als Immigrantin musste sie in Deutschland früh die Erfahrung der Sprachlosigkeit machen. Nun spricht sie fünf Sprachen fliessend und ein paar weitere...
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Produktinformationen zu „Der Russe ist einer, der Birken liebt “
Klappentext zu „Der Russe ist einer, der Birken liebt “
Mascha ist jung und eigenwillig, sie ist Aserbaidschanerin, Jüdin, und wenn nötig auch Türkin und Französin. Als Immigrantin musste sie in Deutschland früh die Erfahrung der Sprachlosigkeit machen. Nun spricht sie fünf Sprachen fliessend und ein paar weitere so "wie die Ballermann-Touristen Deutsch". Sie plant gerade ihre Karriere bei der UNO, als ihr Freund Elias schwer krank wird. Verzweifelt flieht sie nach Israel und wird schliesslich von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Mit perfekter Ausgewogenheit von Tragik und Komik und mit einem bemerkenswerten Sinn für das Wesentliche erzählt Olga Grjasnowa die Geschichte einer Generation, die keine Grenzen kennt, aber auch keine Heimat hat.
Lese-Probe zu „Der Russe ist einer, der Birken liebt “
Der Russe ist einer, der Birken liebt von Olga GrjasnowaI.
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Ich wartete am Ben-Gurion-Flughafen unter bunten Luftballons, die an der Decke klebten. Ich las die Anzeigetafel, aß ein Sandwich, beobachtete Menschen, die sich ratlos umsahen, Soldaten, russische Großmütter, orthodoxe Juden und arabische Großfamilien. An der Schleuse zur Ankunftshalle war eine Mesusa angebracht, viele der Ankommenden küssten sie, indem sie die Fingerspitzen ihrer rechten Hand an die Mesusa führten und dann zum Mund. In den meisten Gesichtern waren Freude und große Erwartungen zu lesen. Immer wieder liefen zwei Menschen aufeinander zu, umarmten sich, ließen voneinander ab, musterten das Gesicht des anderen, als versuchten sie, die verlorene Zeit wettzumachen. Neben mir fiel ein Ultraorthodoxer im schwarzen Anzug und mit einem breitkrempigen Hut auf die Knie und küsste den Boden, eine junge Frau, die einen kleinen Jungen im Arm hielt, wurde von einem älteren Mann abgeholt, der Junge schrie und trat um sich, als dieser ihn berühren wollte. Eine ältere Frau redete energisch auf ihren Enkel ein, in der Flughafenhalle vermischten sich die Sprachmelodien zu einem Klangteppich: Russisch, Hebräisch, Englisch, Italienisch und Arabisch. Über die Lautsprecher mahnte eine tiefe Frauenstimme immer wieder, das Gepäck nicht aus den Augen zu lassen, und fügte hinzu:
»It's prohibited to carry weapons in all the terminal halls.«
Mein Computer war vor einer Viertelstunde erschossen worden, und ich wartete nun auf die Bestätigungsformulare, die mich dazu berechtigen würden, einen Antrag auf eine Kompensationszahlung seitens des Staates Israel zu stellen. Es hatte mit der Passkontrolle angefangen. Ich wurde nach meinen Namen gefragt.
»Maria Kogan.«
»Ausgerechnet Maria.«
Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Der Name hatte meiner Mutter gefallen. Mascha.«
»Was für eine Mascha?«
»Mein Kosename.«
Er machte einen Vermerk in eines seiner Formulare und studierte eingehend mein Arbeitsvisum. Weshalb ich gekommen sei.
»Um zu trauern.«
Ein weiterer Vermerk.
»Wie lange wollen Sie bleiben?«
»So lange wie möglich.«
»Ist es wirklich Ihr Computer?« Er betrachtete missmutig die Aufkleber mit den arabischen Schriftzeichen auf meiner Tastatur.
»Ja.«
»Sie interessieren sich wohl für unsere Nachbarn? Darf ich mit Ihrem Computer einen kleinen Test machen?«, sagte er grinsend und ging mit meinem Computer fort.
Die Lage war ernst, denn nun musste auch mein Koffer durchsucht werden. Das übernahmen zwei junge Soldaten, die beide nicht älter als zwanzig sein konnten. Sie trugen durchsichtige Plastikhandschuhe und machten Scherze, um die Situation aufzulockern. Das Mädchen durchwühlte meine Sachen und versuchte respektvoll, nicht genau hinzuschauen, weshalb sie vom glatzköpfigen Soldaten immer wieder harsch angefahren wurde. Er stand breitbeinig daneben, schaute genau auf den Inhalt des Koffers und gab Anweisungen. Jedes Kleidungsstück, jeder Schal, jede Unterhose wurden auseinandergefaltet, sämtliche Dosen aufgeschraubt, selbst meine elektrische Zahnbürste wurde auf Sprengstoff getestet. Dass ich kaum Kleidung, dafür viele Wörterbücher dabeihatte, weckte Misstrauen. Während dieser Untersuchung fand die Befragung statt.
Wen kennen Sie in Israel? Bei wem werden Sie wohnen? Für wen werden Sie arbeiten? Worin besteht Ihre Aufgabe? Der Soldat sah mir in die Augen. Weshalb ich nach Israel gekommen bin und weshalb ich nicht schon früher gekommen bin und weshalb nicht für immer. Die Soldatin durchsuchte mit ihren langen rot lackierten Nägeln meine Arabisch-Wörterbücher, auch ihr Ton wurde zunehmend aggressiv. Weshalb ich in arabische Länder gereist bin und was ich über den Nahostkonflikt wisse.
»Sprechen Sie Arabisch?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Ich habe es studiert.«
»Sprechen Sie Hebräisch?«
»Nein.«
»Haben Sie einen Freund?«
»Ja. Nein. Ich meine nein.«
»Ist er Araber, Ägypter oder Palästinenser?«
»Nein.«
»Was denn dann?«
»Tot.«
Sie schauten einander irritiert an.
»Wann ist er verstorben?«, fragte die junge Frau schüchtern.
»Vor kurzem.«
»Das tut mir leid«, sagte die Soldatin und zeigte ein kleines Lächeln.
»Woran ist er gestorben?«, fragte der Soldat.
»An einer Lungenembolie.«
»War er Araber, Ägypter oder Palästinenser?«
Als ich noch überlegte, ob mir diese Frage eben tatsächlich gestellt wurde, hörten wir die Durchsage: »Do not be alarmed by gunshots because the Israeli security needs to blow up suspicious passanger luggage.«
Mehrere Schüsse folgten. Das Walkie-Talkie des Glatzkopfs klingelte, er sprach schnell und aufgeregt hinein. Die Soldaten schlossen meinen Koffer. Sie entschuldigten sich für die Untersuchung, sagten, sie sei wegen der Sicherheitssituation nötig gewesen, und wünschten mir viel Vergnügen im Heiligen Land. Der Soldat wollte mich überreden, nach Eilat zu fahren, dort käme er her und kenne jeden Stein.
Seine Kollegin unterbrach ihn und erzählte von kleinen Wasserfällen rund um Jerusalem. Sie schrieb mir die Busverbindungen vom Zentralen Busbahnhof auf, als ein besorgter Offizier auf uns zurannte.
Er stellte sich vor, gab mir die Hand und entschuldigte sich ausgesprochen höflich dafür, dass mein Computer soeben gesprengt worden war. Dann führte er mich in einen anderen Raum, wo die Überreste bereits auf einem Tisch aufgebahrt waren. Mein Computer war allerdings nicht wirklich in die Luft gesprengt worden: Das weiße Gehäuse war von drei Einschusslöchern zerstört. Der Offizier kaute Kaugummi.
»Wieso haben Sie meinen Computer erschossen?«, fragte ich ungläubig.
»Wir dachten, es wäre eine Bombe. Das ist ein normales Vorgehen bei einem vermuteten terroristischen Anschlag.«
Er sprach langsam, wie zu einem Kind, dem das Offensichtliche erklärt werden muss.
»Wie soll ich nun arbeiten?«
»Der Staat Israel wird Ihnen einen anderen Computer zur Verfügung stellen.«
»Wann?«
»Bald.«
Meine Cousine kam etwa vierzig Minuten später, fiel mir um den Hals und war wunderschön. Mein Anruf hatte sie direkt aus dem Bett ihres neuen Regisseurs geholt, wie sie mir augenblicklich berichtete. Hannah war eine Nichte meiner Mutter. Allerdings waren wir eine weitverzweigte Familie mit unklaren Verwandtschaftsgraden, und Mutter konnte sich weder Namen noch Gesichter sonderlich gut merken. Also waren alle, die kein eigenes Geld verdienten, Nichten oder Neffen, die Rentner Onkeln und Tanten, und der Rest bestand aus Cousinen. Um sie besser auseinanderzuhalten, vergab Mutter ihren Verwandten insgeheim Nummern. Hannah war die Nichte # 5 und ihre Mutter die Cousine # 13, aber da war Mutter unschlüssig.
Ich kannte meine Verwandtschaft vor allem von Fotos, die uns regelmäßig geschickt wurden. Besonders traurig waren die Fotos von Familienfeiern - meine Tanten hatten noch ein bröckelndes Lächeln im Gesicht, ihre Männer aber gaben sich nicht mehr die Mühe und schauten niedergeschlagen in die Kamera. Auf den Tischen vor ihnen stand das aus der UdSSR mitgebrachte Geschirr. Hannah hingegen war stets das auffallend hübsche Mädchen vor spektakulären Motiven: das Tote Meer, Jerusalem, der See Genezareth, die Wüste.
Hannah hatte ich nie richtig kennengelernt. Zuletzt hatten wir uns vor sieben Jahren gesehen, als ihre Eltern uns in Deutschland besuchten. Es war ein kurzer, unaufgeregter Urlaub. Hannah war sechzehn, ich war zwölf, und sie hatte immer Kopfhörer auf. Ihre Eltern hatten damals ein Auto gemietet und fuhren die rheinischen Schlösser und vergessene Synagogen ab. Meine Mutter war fest entschlossen, ihnen zu beweisen, dass man in Deutschland als Jude leben konnte.
Nach Elischas Tod hatte Hannah angefangen, mich regelmäßig anzurufen. Abends, zwischen zehn und elf, nachdem meine Mutter gegangen war. Wir verstanden es, einander nicht zu nahe zu kommen, keine unangenehmen Fragen zu stellen oder ehrliche Antworten zu erwarten. Wir redeten nicht über Elischas Tod und auch nicht über Hannahs Tochter. Hannah erzählte von Israel, der Landschaft und dem Strand, von verschiedenen Wanderrouten im Norden, die sie mit mir ausprobieren und von den Clubs in Tel Aviv, die sie mir zeigen wollte. Sie sprach mit mir über ganz normale Dinge, an die ich nicht mehr dachte. Bald wusste ich um ihren Alltag, kannte die Namen und die Lebensgeschichten ihrer Bekannten, bis zu den Einheiten, in denen sie gedient hatten.
»Mach doch Alija«, sagte sie.
»Auf gar keinen Fall«, sagte ich. »Ich gebe doch nicht die deutsche Staatsbürgerschaft auf.«
»Okay, dann komm wenigstens für eine Weile. Es wird dir gefallen.«
Ein paar Monate später, auf dem Parkplatz des Ben-Gurion- Flughafens, schlug mir feuchtwarme Luft entgegen, ich fühlte mich wie in den Tropen. Plötzlich freute ich mich, hier zu sein. Ich freute mich auf die Arbeit und darüber, dass mein Leben vielleicht noch nicht ganz vorbei war. Hannah ließ nicht vom Gaspedal ab. Hinter uns blinkten die roten und gelben Lichter des Flughafens.
»So habe ich dich mir nicht vorgestellt«, sagte Hannah und zündete sich eine Zigarette an. »Du siehst mir gar nicht ähnlich. Ich dachte, du würdest mir ähnlich sehen. Nein, ich habe es nicht gedacht, ich habe gehofft. Ich habe gehofft, du würdest mir ähnlich sehen.«
»Wir sind nur Cousinen.«
»Ja, aber du siehst gar nicht so aus.«
»Wie?«
»Jüdisch.«
»Findest du?«
Hannah nickte und sah wieder auf die Straße.
»Überhaupt nicht?«, fragte ich sie.
»Nein.«
Ich musterte mich heimlich im Rückspiegel.
»Wirklich nicht?«
»Tut mir leid.«
»Schon gut.«
»Habe ich dich getroffen?«
»Nein.« Ich lachte auf, laut und hysterisch.
© Carl Hanser Verlag, München
Ich wartete am Ben-Gurion-Flughafen unter bunten Luftballons, die an der Decke klebten. Ich las die Anzeigetafel, aß ein Sandwich, beobachtete Menschen, die sich ratlos umsahen, Soldaten, russische Großmütter, orthodoxe Juden und arabische Großfamilien. An der Schleuse zur Ankunftshalle war eine Mesusa angebracht, viele der Ankommenden küssten sie, indem sie die Fingerspitzen ihrer rechten Hand an die Mesusa führten und dann zum Mund. In den meisten Gesichtern waren Freude und große Erwartungen zu lesen. Immer wieder liefen zwei Menschen aufeinander zu, umarmten sich, ließen voneinander ab, musterten das Gesicht des anderen, als versuchten sie, die verlorene Zeit wettzumachen. Neben mir fiel ein Ultraorthodoxer im schwarzen Anzug und mit einem breitkrempigen Hut auf die Knie und küsste den Boden, eine junge Frau, die einen kleinen Jungen im Arm hielt, wurde von einem älteren Mann abgeholt, der Junge schrie und trat um sich, als dieser ihn berühren wollte. Eine ältere Frau redete energisch auf ihren Enkel ein, in der Flughafenhalle vermischten sich die Sprachmelodien zu einem Klangteppich: Russisch, Hebräisch, Englisch, Italienisch und Arabisch. Über die Lautsprecher mahnte eine tiefe Frauenstimme immer wieder, das Gepäck nicht aus den Augen zu lassen, und fügte hinzu:
»It's prohibited to carry weapons in all the terminal halls.«
Mein Computer war vor einer Viertelstunde erschossen worden, und ich wartete nun auf die Bestätigungsformulare, die mich dazu berechtigen würden, einen Antrag auf eine Kompensationszahlung seitens des Staates Israel zu stellen. Es hatte mit der Passkontrolle angefangen. Ich wurde nach meinen Namen gefragt.
»Maria Kogan.«
»Ausgerechnet Maria.«
Ich zuckte mit den Schultern und sagte: »Der Name hatte meiner Mutter gefallen. Mascha.«
»Was für eine Mascha?«
»Mein Kosename.«
Er machte einen Vermerk in eines seiner Formulare und studierte eingehend mein Arbeitsvisum. Weshalb ich gekommen sei.
»Um zu trauern.«
Ein weiterer Vermerk.
»Wie lange wollen Sie bleiben?«
»So lange wie möglich.«
»Ist es wirklich Ihr Computer?« Er betrachtete missmutig die Aufkleber mit den arabischen Schriftzeichen auf meiner Tastatur.
»Ja.«
»Sie interessieren sich wohl für unsere Nachbarn? Darf ich mit Ihrem Computer einen kleinen Test machen?«, sagte er grinsend und ging mit meinem Computer fort.
Die Lage war ernst, denn nun musste auch mein Koffer durchsucht werden. Das übernahmen zwei junge Soldaten, die beide nicht älter als zwanzig sein konnten. Sie trugen durchsichtige Plastikhandschuhe und machten Scherze, um die Situation aufzulockern. Das Mädchen durchwühlte meine Sachen und versuchte respektvoll, nicht genau hinzuschauen, weshalb sie vom glatzköpfigen Soldaten immer wieder harsch angefahren wurde. Er stand breitbeinig daneben, schaute genau auf den Inhalt des Koffers und gab Anweisungen. Jedes Kleidungsstück, jeder Schal, jede Unterhose wurden auseinandergefaltet, sämtliche Dosen aufgeschraubt, selbst meine elektrische Zahnbürste wurde auf Sprengstoff getestet. Dass ich kaum Kleidung, dafür viele Wörterbücher dabeihatte, weckte Misstrauen. Während dieser Untersuchung fand die Befragung statt.
Wen kennen Sie in Israel? Bei wem werden Sie wohnen? Für wen werden Sie arbeiten? Worin besteht Ihre Aufgabe? Der Soldat sah mir in die Augen. Weshalb ich nach Israel gekommen bin und weshalb ich nicht schon früher gekommen bin und weshalb nicht für immer. Die Soldatin durchsuchte mit ihren langen rot lackierten Nägeln meine Arabisch-Wörterbücher, auch ihr Ton wurde zunehmend aggressiv. Weshalb ich in arabische Länder gereist bin und was ich über den Nahostkonflikt wisse.
»Sprechen Sie Arabisch?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Ich habe es studiert.«
»Sprechen Sie Hebräisch?«
»Nein.«
»Haben Sie einen Freund?«
»Ja. Nein. Ich meine nein.«
»Ist er Araber, Ägypter oder Palästinenser?«
»Nein.«
»Was denn dann?«
»Tot.«
Sie schauten einander irritiert an.
»Wann ist er verstorben?«, fragte die junge Frau schüchtern.
»Vor kurzem.«
»Das tut mir leid«, sagte die Soldatin und zeigte ein kleines Lächeln.
»Woran ist er gestorben?«, fragte der Soldat.
»An einer Lungenembolie.«
»War er Araber, Ägypter oder Palästinenser?«
Als ich noch überlegte, ob mir diese Frage eben tatsächlich gestellt wurde, hörten wir die Durchsage: »Do not be alarmed by gunshots because the Israeli security needs to blow up suspicious passanger luggage.«
Mehrere Schüsse folgten. Das Walkie-Talkie des Glatzkopfs klingelte, er sprach schnell und aufgeregt hinein. Die Soldaten schlossen meinen Koffer. Sie entschuldigten sich für die Untersuchung, sagten, sie sei wegen der Sicherheitssituation nötig gewesen, und wünschten mir viel Vergnügen im Heiligen Land. Der Soldat wollte mich überreden, nach Eilat zu fahren, dort käme er her und kenne jeden Stein.
Seine Kollegin unterbrach ihn und erzählte von kleinen Wasserfällen rund um Jerusalem. Sie schrieb mir die Busverbindungen vom Zentralen Busbahnhof auf, als ein besorgter Offizier auf uns zurannte.
Er stellte sich vor, gab mir die Hand und entschuldigte sich ausgesprochen höflich dafür, dass mein Computer soeben gesprengt worden war. Dann führte er mich in einen anderen Raum, wo die Überreste bereits auf einem Tisch aufgebahrt waren. Mein Computer war allerdings nicht wirklich in die Luft gesprengt worden: Das weiße Gehäuse war von drei Einschusslöchern zerstört. Der Offizier kaute Kaugummi.
»Wieso haben Sie meinen Computer erschossen?«, fragte ich ungläubig.
»Wir dachten, es wäre eine Bombe. Das ist ein normales Vorgehen bei einem vermuteten terroristischen Anschlag.«
Er sprach langsam, wie zu einem Kind, dem das Offensichtliche erklärt werden muss.
»Wie soll ich nun arbeiten?«
»Der Staat Israel wird Ihnen einen anderen Computer zur Verfügung stellen.«
»Wann?«
»Bald.«
Meine Cousine kam etwa vierzig Minuten später, fiel mir um den Hals und war wunderschön. Mein Anruf hatte sie direkt aus dem Bett ihres neuen Regisseurs geholt, wie sie mir augenblicklich berichtete. Hannah war eine Nichte meiner Mutter. Allerdings waren wir eine weitverzweigte Familie mit unklaren Verwandtschaftsgraden, und Mutter konnte sich weder Namen noch Gesichter sonderlich gut merken. Also waren alle, die kein eigenes Geld verdienten, Nichten oder Neffen, die Rentner Onkeln und Tanten, und der Rest bestand aus Cousinen. Um sie besser auseinanderzuhalten, vergab Mutter ihren Verwandten insgeheim Nummern. Hannah war die Nichte # 5 und ihre Mutter die Cousine # 13, aber da war Mutter unschlüssig.
Ich kannte meine Verwandtschaft vor allem von Fotos, die uns regelmäßig geschickt wurden. Besonders traurig waren die Fotos von Familienfeiern - meine Tanten hatten noch ein bröckelndes Lächeln im Gesicht, ihre Männer aber gaben sich nicht mehr die Mühe und schauten niedergeschlagen in die Kamera. Auf den Tischen vor ihnen stand das aus der UdSSR mitgebrachte Geschirr. Hannah hingegen war stets das auffallend hübsche Mädchen vor spektakulären Motiven: das Tote Meer, Jerusalem, der See Genezareth, die Wüste.
Hannah hatte ich nie richtig kennengelernt. Zuletzt hatten wir uns vor sieben Jahren gesehen, als ihre Eltern uns in Deutschland besuchten. Es war ein kurzer, unaufgeregter Urlaub. Hannah war sechzehn, ich war zwölf, und sie hatte immer Kopfhörer auf. Ihre Eltern hatten damals ein Auto gemietet und fuhren die rheinischen Schlösser und vergessene Synagogen ab. Meine Mutter war fest entschlossen, ihnen zu beweisen, dass man in Deutschland als Jude leben konnte.
Nach Elischas Tod hatte Hannah angefangen, mich regelmäßig anzurufen. Abends, zwischen zehn und elf, nachdem meine Mutter gegangen war. Wir verstanden es, einander nicht zu nahe zu kommen, keine unangenehmen Fragen zu stellen oder ehrliche Antworten zu erwarten. Wir redeten nicht über Elischas Tod und auch nicht über Hannahs Tochter. Hannah erzählte von Israel, der Landschaft und dem Strand, von verschiedenen Wanderrouten im Norden, die sie mit mir ausprobieren und von den Clubs in Tel Aviv, die sie mir zeigen wollte. Sie sprach mit mir über ganz normale Dinge, an die ich nicht mehr dachte. Bald wusste ich um ihren Alltag, kannte die Namen und die Lebensgeschichten ihrer Bekannten, bis zu den Einheiten, in denen sie gedient hatten.
»Mach doch Alija«, sagte sie.
»Auf gar keinen Fall«, sagte ich. »Ich gebe doch nicht die deutsche Staatsbürgerschaft auf.«
»Okay, dann komm wenigstens für eine Weile. Es wird dir gefallen.«
Ein paar Monate später, auf dem Parkplatz des Ben-Gurion- Flughafens, schlug mir feuchtwarme Luft entgegen, ich fühlte mich wie in den Tropen. Plötzlich freute ich mich, hier zu sein. Ich freute mich auf die Arbeit und darüber, dass mein Leben vielleicht noch nicht ganz vorbei war. Hannah ließ nicht vom Gaspedal ab. Hinter uns blinkten die roten und gelben Lichter des Flughafens.
»So habe ich dich mir nicht vorgestellt«, sagte Hannah und zündete sich eine Zigarette an. »Du siehst mir gar nicht ähnlich. Ich dachte, du würdest mir ähnlich sehen. Nein, ich habe es nicht gedacht, ich habe gehofft. Ich habe gehofft, du würdest mir ähnlich sehen.«
»Wir sind nur Cousinen.«
»Ja, aber du siehst gar nicht so aus.«
»Wie?«
»Jüdisch.«
»Findest du?«
Hannah nickte und sah wieder auf die Straße.
»Überhaupt nicht?«, fragte ich sie.
»Nein.«
Ich musterte mich heimlich im Rückspiegel.
»Wirklich nicht?«
»Tut mir leid.«
»Schon gut.«
»Habe ich dich getroffen?«
»Nein.« Ich lachte auf, laut und hysterisch.
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Olga Grjasnowa
Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan, wuchs im Kaukasus auf. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland und Israel. Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. 2011 erhielt sie das Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung. Für ihren vielbeachteten Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt wurde sie 2012 mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Bei Hanser erschien zuletzt ihr Roman Die juristische Unschärfe einer Ehe.
Bibliographische Angaben
- Autor: Olga Grjasnowa
- 2012, 10. Aufl., 288 Seiten, Masse: 13,2 x 20,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446238549
- ISBN-13: 9783446238541
- Erscheinungsdatum: 01.02.2012
Rezension zu „Der Russe ist einer, der Birken liebt “
"Dass Olga Grjasnowa ... sich erzählerisch unerschrocken, ja leichtfüssig zwischen Kulturen und Religionen bewegt, beschert dem Roman eine faszinierende, zeitgemässe Exotik." Sibylle Birrer, Neue Züricher Zeitung, 31.01.2015"Hier kommt die Welt zu Ihnen, wie sie noch nie zu Ihnen gekommen ist in einem Roman. Mit Macht, mit Witz, mit Weisheit, mit Scharfsicht und Scharfsinn, mit Tempo und Trauer." Elmar Krekeler, Die Welt
"Olga Grjasnowa trifft aus dem Stand den Nerv ihrer Generation. Zeitgeschichtlich wacher und eigensinniger als dieser Roman war lange kein deutsches Debüt." Ursula März, Die Zeit, 15.03.12
"Ein faszinierender Roman, ein sprunghaftes Stationendrama rund um die Heldin mit dem Tschechow-Namen (...) kraftvoll, dialogstark, anmutig." Meike Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 24.03.12
"Grjasnowa besitzt den Mut, eine Heldin vor uns hinzustellen, die in einer Gesellschaft, die inzwischen vor allem Gefügigkeit und Stromlinienförmigkeit prämiert, mit einer geradezu herausfordernden Eigensinnigkeit daherkommt. (...) Trotz, Durchsetzungsvermögen und permanente Lernbereitschaft bilden ihre Waffen. Als rote Zora (...) stürmt sie durch die globalisierte Welt. Ein so ungeschminktes Bild derselben hat man selten so temperamentvoll hingepfeffert bekommen wie in diesem Buch. (...) Mit diesem Buch gibt eine Erzählerin ihr Entréebillet für die deutsche Literatur ab, von der man sich noch viel erhoffen kann." Tilman Krause, Die Welt, 31.03.2012
"Er (der Roman) passt in keine Schublade. Es ist einfach ein starkes Erzähldebüt einer vielversprechenden Autorin." Hajo Steinert, Tages-Anzeiger, 06.06.12
"Hier schreibt eine Frau, von der man mehr lesen möchte." Cornelia Geissler, Berliner Zeitung, 14.06.12
"Der Roman liest sich flott weg, der raschen Mascha will man unbedingt folgen, denn Humor hat sie auch. Was für eine Bereicherung." Barbara Schäfer, Stuttgarter Zeitung, 15.06.12
"Szenisch stark, wort- bildmächtig, entwickelt Olga Grjasnowa einen Sog, der
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mitreisst in eine globalisierte Welt, die immer wieder explosiv auf eine von Kleingeistigkeit und Misstrauen beherrschte Enge prallt." Sandra Leis, NZZ am Sonntag, 24.06.12
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Pressezitat
"Dass Olga Grjasnowa ... sich erzählerisch unerschrocken, ja leichtfüssig zwischen Kulturen und Religionen bewegt, beschert dem Roman eine faszinierende, zeitgemässe Exotik." Sibylle Birrer, Neue Züricher Zeitung, 31.01.2015"Hier kommt die Welt zu Ihnen, wie sie noch nie zu Ihnen gekommen ist in einem Roman. Mit Macht, mit Witz, mit Weisheit, mit Scharfsicht und Scharfsinn, mit Tempo und Trauer." Elmar Krekeler, Die Welt
"Olga Grjasnowa trifft aus dem Stand den Nerv ihrer Generation. Zeitgeschichtlich wacher und eigensinniger als dieser Roman war lange kein deutsches Debüt." Ursula März, Die Zeit, 15.03.12
"Ein faszinierender Roman, ein sprunghaftes Stationendrama rund um die Heldin mit dem Tschechow-Namen (...) kraftvoll, dialogstark, anmutig." Meike Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 24.03.12
"Grjasnowa besitzt den Mut, eine Heldin vor uns hinzustellen, die in einer Gesellschaft, die inzwischen vor allem Gefügigkeit und Stromlinienförmigkeit prämiert, mit einer geradezu herausfordernden Eigensinnigkeit daherkommt. (...) Trotz, Durchsetzungsvermögen und permanente Lernbereitschaft bilden ihre Waffen. Als rote Zora (...) stürmt sie durch die globalisierte Welt. Ein so ungeschminktes Bild derselben hat man selten so temperamentvoll hingepfeffert bekommen wie in diesem Buch. (...) Mit diesem Buch gibt eine Erzählerin ihr Entréebillet für die deutsche Literatur ab, von der man sich noch viel erhoffen kann." Tilman Krause, Die Welt, 31.03.2012
"Er (der Roman) passt in keine Schublade. Es ist einfach ein starkes Erzähldebüt einer vielversprechenden Autorin." Hajo Steinert, Tages-Anzeiger, 06.06.12
"Hier schreibt eine Frau, von der man mehr lesen möchte." Cornelia Geissler, Berliner Zeitung, 14.06.12
"Der Roman liest sich flott weg, der raschen Mascha will man unbedingt folgen, denn Humor hat sie auch. Was für eine Bereicherung." Barbara Schäfer, Stuttgarter Zeitung, 15.06.12
"Szenisch stark, wort- bildmächtig, entwickelt Olga Grjasnowa einen Sog,
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der mitreisst in eine globalisierte Welt, die immer wieder explosiv auf eine von Kleingeistigkeit und Misstrauen beherrschte Enge prallt." Sandra Leis, NZZ am Sonntag, 24.06.12
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