Der Richter
Richter Atlee ist beliebt und einflussreich. Weil er sein Ende nahen fühlt, ruft er seine beiden Söhne nach Hause, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln:
Ray, 43, ist Juraprofessor und seit kurzem wieder allein stehend.
Der jüngere Forrest ist das...
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Richter Atlee ist beliebt und einflussreich. Weil er sein Ende nahen fühlt, ruft er seine beiden Söhne nach Hause, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln:
Ray, 43, ist Juraprofessor und seit kurzem wieder allein stehend.
Der jüngere Forrest ist das ''schwarze Schaf'' der Familie.
Zu dem geplanten Treffen kommt es nicht mehr, denn der Richter stirbt vorher. Er hinterlässt ein schockierendes Geheimnis, das nur Ray kennt. Und vielleicht noch ein Dritter.
John Grisham, geboren 1955, war Anwalt und Strafverteidiger. Seinen ersten Roman ''Die Jury'' schrieb er zum Spass morgens vor der Arbeit in seiner Kanzlei.
Ein Juraprofessor an der Universität von Virginia wird urplötzlich mit seiner Vergangenheit und der seiner Familie konfrontiert, als ihn sein kranker Vater ruft, um gemeinsam mit seinem Bruder das Erbe zu regeln. Doch bei der Ankunft ist der alte Herr bereits tot. Längst gebannte Geister kehren wieder zurück und bringen schockierende Geheimnisse ans Tageslicht.
Der Richter von JohnGrisham
LESEPROBE
Dader Richter fast achtzig Jahre alt war und der modernen Technik misstraute, kamsein Brief auf dem guten alten Postweg. Für E-Mails oder Sendungen per Faxhatte der greise Mann nichts übrig. Einen Anrufbeantworter benutzte er nicht;selbst das Telefon war ihm immer unsympathisch gewesen. Seine Briefe tippte erim Zwei-Finger-Suchsystem auf einer altersschwachen Underwood-Schreibmaschine,die auf einem ebenfalls betagten Sekretär mit Rollverschluss thronte. An derWand dahinter hing ein Porträt von Nathan Bedford Forrest. Der Grossvater desRichters hatte im Amerikanischen Bürgerkrieg mit Forrest in der Schlacht vonShiloh und vielen anderen Orten im tiefen Süden gekämpft, und es gab keinehistorische Persönlichkeit, die der Richter mehr verehrte. Zweiunddreissig Jahrelang hatte er sich ohne weitere Begründung standhaft geweigert, am 13. Juli,Forrests Geburtstag, seinen Amtsgeschäften nachzukommen.
Mitdem Brief des Richters kamen ein weiteres persönliches Schreiben, eineZeitschrift sowie zwei Rechnungen. Alle Sendungen waren wie üblich in ProfessorRay Atlees Postfach in der juristischen Fakultät deponiert worden. Solange Rayzurückdenken konnte, waren Kuverts wie dieses ein Teil seines Lebens gewesen,und folglich wusste er sofort Bescheid. Der Absender war sein Vater, den aucher nur »den Richter« nannte.
Weiler unschlüssig war, ob er den Brief sofort öffnen oder noch etwas wartensollte, betrachtete Professor Atlee das Kuvert einen Augenblick lang. Gute Nachrichtenoder schlechte? Bei seinem Vater konnte man das nie wissen, auch wenn der alteMann todkrank war und gute Nachrichten selten geworden waren. Der dünneUmschlag schien nur einen Briefbogen zu enthalten, aber auch das war nichtsUngewöhnliches. Obwohl der alte Atlee einst wegen seiner wortreichenStrafpredigten bei Gericht bekannt gewesen war, ging er in schriftlicher Formäusserst sparsam mit Wörtern um.
Sicherwar, dass es sich um einen Brief von einigermassen wichtiger Natur handelte. DerRichter hasste Smalltalk, Tratsch und müssiges Geschwätz, gleichgültig obmündlich oder schriftlich. Wenn man mit ihm auf der Veranda Eistee trank, wurdeder Amerikanische Bürgerkrieg rekapituliert, vornehmlich die Schlacht vonShiloh. Stets gab der Alte General Pierre G. T. Beauregard die Schuld an derNiederlage der Konföderierten, weil der sich seiner Ansicht nach zu feingewesen war, sich die blank gewienerten Stiefel schmutzig zu machen. Sollte derRichter den General zufällig im Himmel treffen, würde er ihn selbst dort nochhassen.
Dennschon bald würde der alte Atlee nicht mehr unter den Lebenden weilen. Er warneunundsiebzig Jahre alt, hatte Magenkrebs, war übergewichtig und Diabetikerund rauchte unablässig Pfeife. Dazu kamen ein schwaches Herz, das bereits dreiInfarkten getrotzt hatte, und eine Reihe weniger schwerer Leiden, die ihn schonseit zwanzig Jahren quälten und sich jetzt anschickten, seinem Leben ein Endezu machen. Die Schmerzen gönnten ihm keine Ruhepause mehr. Vor drei Wochen, beiihrem letzten Telefonat, das auf Rays Initiative zustande gekommen war, weilder alte Mann Ferngespräche für Geldschneiderei hielt, hatte die Stimme desRichters schwach und arg mitgenommen geklungen. Das Gespräch hatte keine zweiMinuten gedauert.
DieAbsenderangabe war mit Goldprägung auf das Kuvert gedruckt: Chancellor ReubenV. Atlee, 25. Chancery District, Ford County, Gerichtsgebäude, Clanton, Mississippi. Nachdem er den Umschlag in die Zeitschrift geschobenhatte, setzte sich Ray in Bewegung. Mittlerweile war sein Vater nicht mehrVorsitzender Richter des Chancery Courts, eines Gerichts für Zivilsachen. Vorneun Jahren hatten ihn die Wähler in Pension geschickt, und von dieser bitterenNiederlage würde sich der alte Atlee nie erholen. Zweiunddreissig Jahre langhatte er gewissenhaft seine Pflicht erfüllt - und dann jagten ihn die Wähleraus dem Amt und gaben einem jüngeren Kandidaten, der mit Wahlkampfspots imRadio und im Fernsehen für sich geworben hatte, den Vorzug. Der Richter hatte sichgeweigert, ebenfalls eine Wahlkampagne zu führen, und behauptet, durch seineArbeit zu sehr in Anspruch genommen zu sein. Ausserdem verliess er sich darauf,dass ihn die Menschen kannten. Wenn sie ihn also erneut wählen wollten, würdensie das auch tun. Vielen erschien diese Strategie damals als arrogant. In FordCounty ging seine Rechnung auf, doch in den anderen fünf Landkreisen musste ervernichtende Niederlagen einstecken.
Bisman den alten Atlee dazu gebracht hatte, endlich sein Büro im zweiten Stock desGerichtsgebäudes zu räumen, gingen drei volle Jahre ins Land. Das Büro hatteein Feuer überdauert und war bei zwei Renovierungen des Gebäudes nichtberücksichtigt worden, da der Richter sich weigerte, Anstreicher oderHandwerker in sein Refugium zu lassen. Erst als die County-Offiziellen ihm klarmachten, dass er das Büro verlassen oder im Zuge einer Zwangsräumung mit demRauswurf rechnen musste, packte der Richter endlich seine Sachen. Nachdem ermittlerweile nutzlos gewordene Akten aus drei Jahrzehnten, Notizen undverstaubte alte Bücher in Pappkartons verstaut und damit in sein Haustransportiert hatte, stapelte er sie in seinem Arbeitszimmer. Als dort keinPlatz mehr war, benutzte er den Flur zum Esszimmer und sogar die Diele.
Raynickte einem im Korridor sitzenden Studenten zu und sprach vor seinem Büro kurzmit einem Kollegen. Dann trat er ein, verschloss die Tür und legte die Post aufseinen Schreibtisch. Nachdem er das Jackett ausgezogen und an einen Haken ander Tür gehängt hatte, stieg er über einen Stapel dicker juristischerFachbücher, die ihm schon seit über einem halben Jahr im Weg lagen. Dabeiwiederholte er seinen täglichen Schwur, endlich sein Büro aufzuräumen.
DerRaum war etwa sechzehn Quadratmeter gross. Es gab einen kleinen Schreibtisch undein kleines Sofa, und auf beiden stapelte sich genügend unerledigte Arbeit, umRay als einen sehr beschäftigten Mann erscheinen zu lassen. Doch das war ernicht. Im Sommersemester lehrte er lediglich über einen Paragrafen desKartellrechts. Ausserdem sollte er ein Buch schreiben, einen weiterenlangweiligen, weitschweifigen Wälzer über die Monopolproblematik, den niemandlesen, der sich aber neben dem Vorgängerwerk gut machen würde. Zwar hatte Rayeine feste Anstellung als Professor, aber genau wie für alle anderen seinerseriösen Kollegen galt auch für ihn die Maxime »Wer schreibt, der bleibt«, diedas akademische Leben heute dominierte.
Raysetzte sich an seinen Schreibtisch und räumte lästige Papiere aus dem Weg.
Dannstudierte er die auf das Kuvert geschriebene Adresse: Professor N. Ray Atlee,Universität von Virginia, Juristische Fakultät, Charlottesville, Virginia. DieBuchstaben »E« und »O« drängten sich zu dicht an ihre Nachbarn, ein neuesFarbband wäre schon vor einem Jahrzehnt fällig gewesen. Auch von Postleitzahlenhielt Atlee senior nichts.
Das»N« stand für »Nathan«, als Reminiszenz an den Bürgerkriegsgeneral, aber daswusste kaum jemand. Bei einer der heftigeren Auseinandersetzungen mit seinemVater war es um die Entscheidung des Sohnes gegangen, auf »Nathan« zuverzichten und sich nur als »Ray« durchs Leben zu schlagen.
DerRichter schickte seine Briefe stets an die juristische Fakultät, nie an diePrivatadresse seines Sohnes in der Innenstadt von Charlottesville. ImposanteAdressen gefielen dem alten Mann, und alle in Clanton, selbst die Angestelltender Post, sollten wissen, dass sein Sohn Juraprofessor war. Allerdings war dasüberflüssig. Mittlerweile lehrte und publizierte Ray seit dreizehn Jahren, unddie Leute, die in Ford County wirklich eine Rolle spielten, wussten längstBescheid.
©Heyne Verlag
Übersetzer: Heiner Friedlich, Bernhard Liesen, BeaReiter u. a
Autoren-Porträt von John Grisham
JohnGrisham wird 1955 in Jonesboro, Arkansas, als Sohneines kleinen Bauunternehmers geboren. Er studiert Jura an der Universität vonMississippi und wird Anwalt und Strafverteidiger. 1983 wird er ins Parlamentdes Staates Mississippi gewählt. Aus Spass beginnt er seinen ersten Roman undschreibt ihn jeden Morgen vor der Arbeit in seiner Kanzlei. 1988 erscheint seinerster Gerichstthriller Die Jury mit einer Auflage von 5000 Exemplaren. Mit seinem zweitenRoman Die Firma wird Grishamendgültig zum Bestsellerautor und hängt im Frühjahr 1991 seinen Beruf alsAnwalt und seine politischen Ämter an den Nagel, um nur noch als Schriftstellerzu arbeiten. Ihm gelingt, was noch keinem Autor bisher geglückt ist: er ist mitvier Titeln gleichzeitig in den Bestseller-Listen der New York Times Book Review vertreten, wobei ersowohl die Hardcover- als auch die Paperback-Liste anführte.
Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt der strenggläubige Baptist inOxford, einer Kleinstadt in Tennessee (wo schon William Faulkner lebte).
- Autor: John Grisham
- 2003, 432 Seiten, Masse: 12 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Heiner Friedlich, Bea Reiter
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345386980X
- ISBN-13: 9783453869806
- Erscheinungsdatum: 01.05.2003
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