Der Purpurhimmel
Roman. Originalausgabe
1778: Olivia wächst als behütete Offizierstochter in London auf. Als ihr Vater nach Gibraltar versetzt wird, endet ihre heile Welt. Olivia heiratet den Offizier John in der Hoffnung, nach England zurückkehren zu können. Doch als John in...
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Produktinformationen zu „Der Purpurhimmel “
1778: Olivia wächst als behütete Offizierstochter in London auf. Als ihr Vater nach Gibraltar versetzt wird, endet ihre heile Welt. Olivia heiratet den Offizier John in der Hoffnung, nach England zurückkehren zu können. Doch als John in den Krieg zieht, entdeckt Olivia ein dunkles Geheimnis.
Klappentext zu „Der Purpurhimmel “
1778: Das Leben der Offizierstochter Olivia Kilbourne ändert sich schlagartig, als ihr Vater nach Gibraltar versetzt wird. Ihre Eltern entzweien sich, ihre Geschwister scheinen etwas vor ihr zu verbergen, und der Offizier Sir John Retallick drängt sie in eine Ehe. Trotz der Unnahbarkeit, die ihn umgibt, verliebt sich Olivia in ihn. Als es zur Belagerung von Gibraltar kommt, spitzt sich ihr Schicksal jedoch dramatisch zu. Ein düsteres Geheimnis verbindet John und ihre Familie, und Olivia wird hineingezogen in ein Spiel um Vergeltung, Intrigen und Verrat.
Lese-Probe zu „Der Purpurhimmel “
Der Purpurhimmel von Laila El OmariKnaur Taschenbuch Verlag
Teil I
»Wenn jemand wünscht,
al-Andalus zu besuchen, dies ist sein Tor.«
Lisan ad-Din ibn Jatib über Gibraltar
... mehr
1
Ostindienfahrer Athena,
Atlantischer Ozean, Juli 1778
Wenn Olivia Gefühle als Farben hätte beschreiben
können, so wären die ihren grau mit silbrig-blauen
Schlieren gewesen, wie der regenschwangere Himmel, den
das von sanften Wellen gekräuselte Wasser spiegelte - ein
Spiegelbild ihrer selbst, das um das Schiff herum zerfloss
bis an den Horizont.
Sie hatten erst vor wenigen Minuten abgelegt, und Olivia
hielt eisern an dem Entschluss fest, die Reise nicht mit Blick
zum Ufer anzutreten. Abschied hatte sie bereits vor Wochen
genommen, hatte jede Blume im Garten ihrer Eltern
berührt, auf ihre eigenen Schritte gelauscht, auf das Geräusch
ihrer Schuhe auf den Londoner Straßen, Bekanntes
mit Blicken abgetastet. Portsmouth war die erste Etappe
ihrer Reise, und es war ihr fremd gewesen, ein erster kleiner
Schritt ins Unbekannte, aber dennoch vertraut genug,
um noch Heimat genannt werden zu dürfen. Während nun
ihre ganze Familie mit den übrigen Fahrgästen den am Kai
drängenden Freunden, Bekannten oder auch einfach nur
Schaulustigen zuwinkte, war sie über das Deck nach vorne
gegangen, denn es fühlte sich falsch an, einem neuen Leben
mit dem Rücken voran zu begegnen.
Der Bug des Schiffes wälzte sich durchs Wasser und grub
eine Schneise, die sich hinter dem Heck wieder schloss.
Feiner Sprühnebel benetzte Olivias Gesicht, während sie
unter ihren Fingerspitzen das glatte Holz der Reling spürte.
Sie lehnte sich so weit nach vorne, dass die Stangen ihres
Schnürleibchens gegen ihre Rippen drückten, und sah in
das aufgewühlte Wasser, wo das Meer aufgerissen wurde
wie eine Wunde.
»Wenn du dich an dieser Stelle vom Schiff stürzt, gerät dein
Körper direkt unter den Bug, und du würdest unbemerkt
einfach verschwinden. Kein sehr eindrucksvoller Abgang«,
spottete ihr Zwillingsbruder Stanley, der leise hinter sie getreten
war.
Sie richtete sich auf und drehte ihm den Kopf halb zu.
»Vielleicht überlebe ich es auch und schwimme einfach an
Land zurück - unbemerkt von allen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wäre auch kein großer Verlust.«
Kurz darauf wandte er sich ihrer älteren Schwester
Ruby zu, die in diesem Moment zu ihnen trat, und jeder
Spott in seinem Gesicht wich Zärtlichkeit und Besorgnis.
Ihre Großtante hatte einmal zu Olivia gesagt: »Du und
Stanley habt alles an dunkler Schönheit bekommen, was
diese Familie zu bieten hatte, während Ruby wirkt, als habe
sie alle Helligkeit aufgesogen.«
Wenn Ruby jemals etwas Sonnengleiches gehabt hatte, war
davon nun, im Angesicht ihres nahenden Todes, nicht mehr
übrig als ein Abglanz. Aber selbst dieser zauberte Röte auf
ihre Wangen und Glanz in ihre Augen, die nur jemand, der
sie kannte, als fiebrig bezeichnen würde.
Die beiden stellten sich ebenfalls an die Reling, nahe beieinander,
als wollten sie Geheimnisse austauschen. Zwischen
Stanley und Olivia hingegen war zwei Schritte breit
Platz, was zwar sicher unbeabsichtigt, aber bezeichnend
dafür war, wie es immer schon gewesen war. Stanley hatte
Ruby immer nähergestanden als seiner Zwillingsschwester.
Ruby, die Lebenslustige, die Abenteuerhungrige, an die er
sich von klein auf gehängt hatte, als hungere er nach dem
Leben, das sie ausstrahlte. Olivia hingegen hatte sich vor
dem aufbrausenden Temperament ihrer älteren Schwester
stets in Distanziertheit geflüchtet. »So schön ist sie«, hatte
Olivia ihre Großtante einmal über sich sagen hören, »aber
Mädchen von ihrem Schlag haben kein Herz.« Und die
schöne Olivia ohne Herz wusste, sie sollte Mitleid haben
mit der lebenshungrigen Ruby, die nun, anstatt vom Leben
zu zehren, von diesem aufgezehrt wurde.
Es hatte sich seit einigen Monaten jedoch eine seltsame
Kühle zwischen Ruby und Stanley geschlichen, nach einer
Reise an die Küste von Cornwall, die Ruby unternommen
und während der Stanley sie kurz vor ihrer Rückkehr besucht
hatte, um die restliche Zeit mit ihr zu verbringen. Rubys
Distanziertheit hatte gleichwohl etwas Verzweifeltes,
als wolle sie Stanleys Bemühen um sie nachgeben, könne es
jedoch nicht, ohne sich selbst zu verraten.
Ihre Mutter stellte sich nun in die Lücke zwischen Olivia
und Stanley, ihre Lieblinge. Zwischen ihr und Ruby hatte
es nie Nähe gegeben, und ihr Zusammenleben war geprägt
von Streitereien bei Tisch und Rubys Widerstand gegen alles,
was das gesellschaftliche Leben vorschrieb. Was auch
immer es war, das von ihr verlangt wurde, sie wollte es
nicht, und oftmals schien es, als begehre sie auf nur um des
Aufbegehrens willen. Mit ihrem Vater verstand sie sich
gut, dieser jedoch war ständig gedanklich abwesend und
sagte stets auf Rubys tränenreiche Bitten, ihr beizustehen:
»Deine Mutter weiß, was sie tut.«
War das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwes-
ter schon immer von Spannungen geprägt, so hatten sich
diese kurz vor Rubys Abreise nach Cornwall auffallend zugespitzt.
Ruby und Stanley hingegen schienen einander
zu jenem Zeitpunkt näher gewesen als je zuvor. Niedergedrückt
hatte Stanley gewirkt, ohne jeden ersichtlichen
Grund. Zu der Zeit hatte es angefangen, dass Ruby immer
blasser wurde, kränkelte und schließlich zur Erholung, wie
man Olivia sagte, nach Cornwall geschickt wurde. Bis zu
ihrer Abreise suchte sie Stanleys Nähe, und einmal hatte
Olivia sie heimlich dabei beobachtet, wie sie weinend an
seiner Brust lag.
Ein rasselndes Husten ertönte. Als Olivia sich nach links
wandte und leicht vorbeugte, um an ihrer Mutter und Stanley
vorbei ihre Schwester anzusehen, bemerkte sie, wie diese
sich in Hustenkrämpfen leicht krümmte, den Arm ihres
Bruders um die Schultern. Auch ihre Mutter drehte den
Kopf zu ihrer Ältesten hin.
Sir John Retallick stand an einen Mast gelehnt, sah von
weitem über die Reling hinweg bis zum Horizont, während
ihm der Wind dunkle Haarsträhnen ins Gesicht wehte
und die Bänder, die sein Haar im Nacken zusammenhielten,
flattern ließ. Er verengte die Augen leicht, als könne er
dadurch dem, was er sah, noch mehr Schärfe verleihen. Seine
Blicke ruhten nun auf der Familie, die nur wenige Schritte
von ihm entfernt stand, ihn jedoch nicht bemerkte. Die
Mutter war, als sie zur Reling trat, sogar so nah an ihm vorbeigekommen,
dass John sich wunderte, dass sie ihn nicht
gesehen hatte.
Erst hatte die jüngste Tochter allein dort gestanden, den
Rücken durchgedrückt, so gerade, als wolle sie sich selbst
Stärke beweisen. Während er sie beobachtete, hatte er sich
zum ersten Mal gefragt, wie wohl alles gekommen wäre,
hätten sie und ihr Bruder Stanley sich so nahegestanden,
wie Zwillinge dies normalerweise taten.
Als Ruby sich plötzlich krümmte und sich mit einer Hand
an der Reling festhielt, während sie die andere Hand mit
einem Taschentuch an den Mund führte, beobachtete John
die Mutter eindringlich. Aus ihrem Profi l ließ sich keine
Gefühlsregung ablesen, doch war sie nie eine Frau gewesen,
die ihre Emotionen zeigte. Sieh genau hin, dachte er, so
fühlt es sich an, sein Kind zu verlieren.
Die Ostindienfahrer segelten im Auftrag der East India
Company zwischen Europa und Indien hin und her. Auf
dem Weg nach Indien wurden verschiedene Häfen angelaufen,
darunter auch Gibraltar, wo die Reise von Olivia
und ihrer Familie ihr Ende finden würde. Es waren die
größten Handelsschiffe, die derzeit auf den Meeren verkehrten,
massiv und aus gut abgelagertem, sehr haltbarem
Holz gefertigt. Sie waren dafür gebaut, sowohl Handelsgüter
als auch Passagiere zu transportieren, und fuhren
schwer bewaffnet, um sich gegen Piratenüberfälle zur Wehr
zu setzen. Die Athena war mit drei Decks in der Länge von
hundertfünfundsiebzig Fuß und fünfzig Kanonen ausgestattet.
Es war ein imposanter Anblick gewesen, als das
Schiff vor Portsmouth vor Anker gelegen hatte. Auf dem
Rückweg von Indien würde es beladen sein mit Waren wie
Seide, edlen Stoffen, Baumwolle, Opium und Gewürzen.
Olivia schlenderte über das Deck, das vom Regen der vor
hergehenden Nacht feucht glänzte. Wind rauschte in den
Segeln. Gibraltar. Wer wollte schon ins karge Nirgendwo?
Indien, Arabien - das wäre eine Reise wert gewesen. Versetzte
man nicht nur Offiziere nach Gibraltar, die sich etwas
hatten zuschulden kommen lassen? Ihre Mutter hatte
sie zwar diesbezüglich beruhigt, aber Olivia war dennoch
nicht überzeugt. Zu plötzlich war alles gekommen.
Sie ging wieder an den Bug des Schiffes, hielt sich an einem
Tau fest und lehnte sich vor, um in das schäumende Wasser
zu sehen, schiefergraue Tiefe unter bleigrauem Himmel.
Die Meerluft schmeckte salzig auf den Lippen, und
Gischtspritzer benetzten ihre Wimpern. Sie hatte die Nacht
hindurch wenig geschlafen, weil sie Ruby durch die dünne
Wand, die ihre Kabinen trennte, immer wieder hatte husten
hören. Sie fragte sich, ob ihre Schwester den Tod an ihrem
Bett lauern sah. Der Gedanke an einen wartenden Tod auf
der anderen Seite der dünnen Wand brachte auch Olivia
um den Schlaf.
Irgendwann hatte sie eine Männerstimme gehört - unzweifelhaft
die ihres Bruders. Es war ungehörig, bei Nacht zu
seiner Schwester ins Zimmer zu gehen, aber wer sollte ihn
dafür schelten? Erst hatte er geredet, und falls Ruby geantwortet
hatte, dann so leise, dass nichts zu hören gewesen
war. Irgendwann war das Sprechen melodischen Tönen gewichen,
und Olivia wusste, dass Stanley sang, so wie Ruby
für ihn gesungen hatte, als sie beide noch Kinder gewesen
waren. Sie hatten beide schöne Singstimmen.
Ihre Erinnerung an die vergangene Nacht wurde jäh durch
das Gefühl unterbrochen, nicht mehr allein zu sein. Sie
drehte sich um und sah sich einem ihr fremden Mann gegenüber,
der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt.
Er musterte sie mit einer Art distanziertem Interesse,
als sitze er im Theater und versuche zu ergründen, ob die
Vorstellung ihr Geld wert sei. Seiner Kleidung zufolge gehörte
er zu ihren Kreisen, aber sie hatte ihn bei noch keiner
der Mahlzeiten an Bord gesehen. Er trat auf sie zu, ohne sie
aus den Augen zu lassen, und Olivia wollte instinktiv einen
Schritt zurücktreten, was jedoch mit der Reling im Rücken
unmöglich war.
»Miss Kilbourne, nehme ich an?« Er lächelte.
»Olivia Kilbourne«, murmelte sie, ehe sie sich daran erinnerte,
dass er sich zuerst hätte vorstellen müssen.
»Olivia.« Die Art, wie er ihren Namen aussprach, hatte,
gepaart mit seinem taxierenden Blick, etwas erschreckend
Sinnliches. »Haben Sie etwa vor zu springen, Miss Kilbourne?«
Irritiert sah sie ihn an. »Keineswegs.« Wirkte sie etwa wie
eine versuchte Selbstmörderin? Oder war Gibraltar so
schrecklich, dass sich Stanley und diesem Unbekannten
beim Anblick einer Frau allein am Bug nur dieser eine
Schluss aufdrängte?
»Keineswegs, Mr. ...?« Sie neigte abwartend den Kopf.
»Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung.« Er wirkte dabei
keineswegs zerknirscht, sondern eher, als mache er sich
insgeheim lustig über sie. »Sir John Retallick, zu Ihren
Diensten.«
Er hatte grüne Augen, wie sie selbst. Diese Gemeinsamkeit
erschien Olivias phantasiebegabtem Geist plötzlich bedeutsam,
ebenso der Sonnenstrahl, der in diesem Moment
durch die Wolkendecke brach und das Deck in buttergelbes
Licht tauchte.
Mit einem Platschen schlug weißer Möwenmist auf den
Planken direkt vor ihr auf und spritzte auf ihren Rocksaum.
Olivia sprang zur Seite, was in ihrem ausladenden
Kleid vermutlich ebenso unbeholfen aussah, wie es sich
anfühlte. Sir John Retallick legte den Kopf in den Nacken
und brach in schallendes Gelächter aus.
»Olivia?« Stanley kam über das Deck, lief beinahe, und
umfasste ihr Handgelenk fester, als notwendig gewesen
wäre. »Mama sucht dich überall.«
Er drehte sich zu dem Mann und nickte ihm zu. »Sir John.«
»Lieutenant Kilbourne.«
Mit einer zaghaften, der Höflichkeit geschuldeten Geste
wandte Olivia sich noch einmal um, ehe sie ihrem Bruder
folgte. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen.«
»Es war mir ein Vergnügen, Miss Kilbourne.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Olivia ihren Bruder, als sie außer
Hörweite waren.
»Kennen ist zu viel gesagt.«
»Warum sind wir ihm auf dem Schiff noch nicht begegnet?«
Stanley hielt inne und drehte sich zu ihr um. »Von dem
halte dich fern.«
»Ist er nicht gesellschaftsfähig? Er ist ein Adliger.«
»Verarmt und auf der Flucht vor seinen Gläubigern, heißt es.«
Olivia war nicht beeindruckt. »Viele Adlige sind verarmt
und heiraten dann reiche Frauen.«
»Heiraten?« Er warf ihr beim Gehen einen kurzen Blick
über die Schulter zu. »Na, das ging ja schnell nach nur einer
Begegnung.«
»Ich habe nicht von mir gesprochen.«
»Natürlich. Er kommt für dich ohnehin nicht in Frage.«
Olivia hasste kryptische Andeutungen, und ihr Bruder
neigte dazu, sie damit zu provozieren. Sie wusste ganz genau,
dass es nur darum ging, ihre Neugierde anzustacheln,
nicht jedoch zu befriedigen. Sie ging ihm dennoch in die
Falle. »Warum nicht?«
Wieder blieb er stehen und drehte sich zu ihr um, seufzend,
als habe er ein begriffsstutziges Kind vor sich. »Olivia,
denk doch mal nach. Wenn er gesellschaftsfähig wäre, als
Adliger und Offizier, würde er dann nicht nach Indien gehen
oder irgendwohin, wo er eine richtige Karriere und
eine passende Frau finden würde? Aber er fährt nach Gibraltar.«
»So wie wir.«
Er zögerte und wandte sich ab. »Ja, so wie wir.«
»Wo willst du hin?«
Augusta Kilbourne blickte über die Schulter zu ihrem
Mann, der auf einem der beiden Sessel in der Kabine saß
und ein Buch in der Hand hielt - zweifellos irgendeine
langweilige Erzählung über Kriegsschlachten. »An die frische
Luft.«
»Um diese Zeit?«
»Ich brauche frische Luft, Frank«, antwortete sie scharf.
Das täte ihm fürwahr ebenfalls gut, so blass, wie er aussah.
Ein Gesicht wie ein Fischbauch, dachte sie plötzlich, wer
hatte das noch gesagt? Der Vergleich reizte sie zum Lachen,
das hatte er damals schon, als sie ihn von - sie kam einfach
nicht auf den Namen - gehört hatte. Dennoch schaffte sie
es, ernst zu bleiben, und sah ihren Mann an.
Er ruderte zurück. »Ich war lediglich interessiert.«
Sie zuckte in einer nachlässigen Geste mit den Schultern
und verließ die Kabine.
Der Korridor war eng und nur spärlich beleuchtet. Den
Nachmittag hatte sie mit Konversation und später mit
ihren Töchtern verbracht. Sie konnte nur hoffen, dass Gibraltar
nicht so langweilig war, wie ihr jeder erzählte. Aber
eine Wahl war ihr nicht geblieben. Es musste sein, um ihre
Kinder zu schützen, genauer gesagt Stanley, denn Ruby
war ohnehin nicht mehr zu helfen. Wieder diese ungewohnte
Enge in der Brust beim Gedanken an ihre Älteste.
Die Vorstellung, ihr Kind zu überleben, war unerträglich,
darin unterschied sie sich in nichts von den meisten anderen
Müttern. Auch dass Ruby selbst schuld war, bot keinen Trost.
Eine Bekannte, deren Kind gestorben war, hatte einmal gesagt,
dass sie, hätte man sie vor die Wahl gestellt, anstelle
ihres Kindes hätte sterben wollen. Augusta dachte darüber
nach. Nein, sterben wollte sie nicht für Ruby, denn wer
würde dann auf Stanley und Olivia aufpassen?
Stanley hatte Olivia mit John Retallick schäkern sehen. Es
hatte einer freundlichen, wenn auch unmissverständlichen
Zurechtweisung bedurft. Aber Augusta machte sich keine
Sorgen, um Olivias Gehorsam machte sie sich niemals Sorgen.
Im kommenden Jahr würde sie ihr einen Ehemann
suchen, und Olivia, die Ruhige, Besonnene, würde sich
fügen. Patty, eine Tante von Frank und Großtante der Kinder,
sagte zwar: »Stille Wasser sind tief«, aber solche Allgemeinplätze
galten schwerlich für jeden. »Bei Ruby«, so ihre
weiteren Worte, »weißt du, woran du bist, bei Olivia nicht.«
Es lag wohl an Pattys Alter, dass sie ständig und überall
glaubte, ihre Weisheit kundtun zu müssen.
Augusta ging an Deck. Kühl war die Luft, wie gewaschen
vom Regen. Es waren wenige Passagiere unterwegs, was ihr
nur recht war. Sie spazierte über die feuchten Planken und
lauschte auf das Rauschen des Meeres. Irgendwann blieb sie
stehen und sah in die Dunkelheit, eine so tiefe allumfassende
Finsternis, dass sie sich fragte, wie die Seeleute diese Nacht
um Nacht, Monat um Monat ertragen konnten.
»Suchen Sie ebenfalls die Einsamkeit?«, fragte eine Männerstimme
leise hinter ihr. Sie fuhr herum, sah jedoch niemanden
und spähte mit halbgeschlossenen Augen zu den
Masten, wo sie nun die Silhouette eines Mannes ausmachen
konnte, der langsam auf sie zukam und schließlich im milchigen
Licht einer Laterne stand.
»Lord Westlake, ganz der Ihre.« Er neigte leicht den Kopf.
»Augusta Kilbourne.« Sie lächelte und sah ihn aufmerksam
an. »Die Einsamkeit?«, kam sie auf seine Frage zurück.
»Suchen Sie die denn?«
Er erwiderte das Lächeln. »Das zumindest dachte ich bis
eben.«
Olivia hatte von John Retallick geträumt, seltsam wirre
Träume, in denen auch Ruby vorkam, die eine wachsbleiche
Totenmaske trug, wie Olivia sie auf alten Bildern gesehen
hatte. Morgens wurde sie von Kopfschmerzen geplagt
und fühlte sich elend. Sie stand auf, wusch sich, so gut es in
diesen beengten Verhältnissen möglich war, und wartete
auf ihr Dienstmädchen, damit dieses ihr beim Ankleiden
zur Hand ging.
Am Frühstückstisch saß nur ihr Vater, und auch ansonsten
war der Raum noch weitgehend leer. Sie neigte sich zu ihm
und küsste ihn auf die Wange.
»Guten Morgen, Papa.«
Auf das Frühstück verzichtete sie und trank stattdessen
nur einige Schlucke Tee.
»Hast du Ruby heute schon gesehen?«, fragte ihr Vater.
Sie schüttelte den Kopf. Nur gehört.
»Gehört habe ich sie nachts«, sprach er ihren Gedanken
aus. »Das arme Kind.« Er wirkte bekümmert und war sehr
blass. Olivia wusste, dass ihm das Fortgehen aus England
arg zu schaffen machte und die fortschreitende Krankheit
seiner Ältesten ihn niederdrückte, seit der Arzt seinerzeit
die Diagnose mitgeteilt hatte - Schwindsucht. Mit jedem
Tag sah er schlechter aus. Dass sein volles hellbraunes Haar
durch das zunehmende Grau stumpf wirkte, machte ihn
älter, und die Blässe hatte etwas Kränkliches. Seine Züge
hätte niemand als fest oder markant bezeichnen können,
aber dafür war sein Gesicht immer schon ein Spiegel all seiner
Empfindungen gewesen. Er würde nie jemanden über
seine Gefühle täuschen können, er war wie Ruby.
Olivia trank ihren Tee aus und legte eine Hand auf die ihres
Vaters. »Ich gehe ein wenig an Deck spazieren. Möchtest
du nicht mitkommen?«
»Nein, geh nur, mein liebes Kind, ich werde noch ein wenig
lesen.« Er runzelte die Stirn, als komme ihm gerade ein unliebsamer
Gedanke. »Aber solltest du nicht lieber Stanley
mitnehmen? So allein als junge Frau unter lauter Matrosen ...«
»Mach dir keine Sorgen, es sind sicher schon einige Passagiere
draußen, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen.«
Sie stand auf und griff nach ihrem Hut. »Bis später, Papa.«
Die frische Seeluft tat ihr gut. Es war wärmer als am Tag
zuvor, und die steingrauen Wolkenmassen waren weißen
Wolkenfetzen gewichen. Olivia beschattete die Augen mit
der Hand und sah zu dem Küstenstreifen, der eine dunkle
Linie am dunstigen Horizont war.
»Das ist Portugal«, hörte sie eine Frauenstimme sagen.
Olivia drehte sich um und sah sich einer jungen Dame gegenüber,
die sie bereits beim Essen am Vortag gesehen hatte,
die Tochter irgendeines Ingenieurs.
»Constance Stockwell«, stellte die junge Frau sich vor.
Ein eher reizloses Geschöpf, urteilte Olivia, während sie
sich ihrerseits vorstellte und kaum verhehlen konnte, wie
wenig Lust sie auf ein Gespräch hatte. Constance Stockwell
hatte kupferrotes Haar, war ein wenig zu füllig, ihr
Mund ein wenig zu groß und die Nase ein wenig zu klein.
Zudem war sie bestimmt schon Mitte zwanzig und offenkundig
unverheiratet, also eine alte Jungfer, und diese waren
in den seltensten Fällen unterhaltsame Gesprächspartnerinnen.
»Wie können Sie erkennen, dass dies Portugal ist und nicht
bereits Spanien?«, fragte Olivia, weniger aus Interesse,
sondern nur, weil sie es noch unangenehmer fand, wenn
sie schweigend nebeneinanderstünden, als wären sie alte
Freundinnen.
»Ich habe diese Reise bereits einmal gemacht, aber damals
bin ich bis nach Indien gefahren.«
»Und bis wohin reisen Sie diesmal?«
»Mein Vater lässt sich in Gibraltar nieder. Ich war nicht
lange in Indien, nur zwei Jahre. Meine jüngeren Schwestern
haben dort geheiratet.« Sie lächelte spöttisch. »Der
Heiratsmarkt in Indien soll großartig sein.«
Für dich hat offenbar nicht einmal der gereicht, dachte Olivia
und nickte höflich.
»Reisen Sie nach Indien?«, fragte Miss Stockwell.
»Nein, wir sind ebenfalls auf dem Weg nach Gibraltar.«
»Ich bin schon so gespannt darauf.«
Olivia musterte sie. »Tatsächlich?«
Einige Passagiere spazierten an ihnen vorbei und neigten
grüßend die Köpfe. Olivia sah sich nach einer Möglichkeit
um, sich von der jungen Frau verabschieden zu können,
ohne unhöflich zu wirken.
»Dort ist Sir John Retallick«, sagte Constance Stockwell in
diesem Moment und schaute zum Heck des Schiffes.
Olivia drehte sich um, mildes Interesse heuchelnd, dann jedoch
runzelte sie irritiert die Stirn. Sie hatte Ruby noch schlafend
gewähnt, aber diese junge Frau, die dort auf Sir John
einredete, war ohne Zweifel ihre Schwester. John Retallick
schwieg, die Hände in die Seiten gestemmt, den Blick gesenkt.
Als Ruby verstummte, sah er auf und gab eine Antwort,
wobei er nur eine knappe Handbewegung machte, als
wolle er verdeutlichen, dass etwas abgeschlossen sei. Und im
selben Moment überkam Ruby wieder ein Hustenanfall. Sie
suchte nach ihrem Taschentuch, aber John Retallick reichte
ihr bereits seines. Ohne lange zu zögern, nahm sie es und
presste es an ihre Lippen, krümmte sich. Passagiere blieben
stehen, eine Frau legte ihr die Hand auf den Arm. John Retallick
sagte noch etwas, wahrscheinlich ein Abschiedswort,
und verließ die kleine Ansammlung. Er kam in ihre Richtung,
und Olivia, die immer noch peinlich berührt war von
dem Vorfall am Tag zuvor, tat so, als bemerke sie ihn nicht.
»Constance, meine Liebe«, sagte er, als er bei ihnen war.
»Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut, Sir John, danke der Nachfrage.«
»Grüßen Sie Ihre Eltern von mir.« Er nickte Olivia zu.
»Miss Kilbourne.« Dann ging er weiter und stieg die Treppe
hinunter, die unter Deck führte.
Als Olivia sich umwandte, begegnete sie dem forschenden
Blick von Miss Stockwell. »Vor dem nehmen Sie sich lieber
in Acht, er ist offenbar interessiert.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verabschiedete sie sich.
Olivia starrte ihr nach und ging dann langsam zu ihrer
Schwester. Ruby hatte sich wieder gefangen und hielt das Taschentuch
zerknüllt in ihrer Hand. Blutflecken waren noch
nicht zu sehen. Manchmal beobachtete Olivia, wie Ruby zögerte,
ehe sie auf das Taschentuch sah, und dann beim Anblick
des blütenweißen Stoffes die angehaltene Luft ausstieß.
»Komm«, sagte Olivia, »ich bringe dich in die Kabine.«
Ruby schien widersprechen zu wollen, fügte sich dann jedoch.
»Hat der Gentleman dich aufgeregt?«, fragte Olivia.
»Nein.« Ruby spielte abwesend mit dem Taschentuch, zog
es auseinander und knüllte es wieder zusammen. Sie war
blasser als gewöhnlich.
»Ihr wirktet, als ob ihr euch kennt.«
Ruby schüttelte nur den Kopf, aber ob sie das tat, um damit
eine Bekanntschaft zu verneinen oder um zum Ausdruck
zu bringen, dass sie darüber nicht sprechen wollte,
ließ sich nicht unterscheiden.
Auf dem Weg die Treppe hinunter kam ihnen ihre Mutter
entgegen, die im Gegensatz zu ihrem Vater überaus frisch
und gut gelaunt wirkte. Sie wechselte ein paar Worte mit
ihnen, erklärte Ruby dann, sie werde sie später in ihrer
Kabine besuchen, und ging weiter.
»Sag ihr, ich schlafe, dann wird sie mich nicht stören wollen«,
bat Ruby Olivia.
Admiral zur See war eine Laufbahn, die einzuschlagen
Stanley sich schon als Kind gewünscht hatte. Seine Eltern
jedoch hatten andere Pläne mit ihm gehabt. Es war, so sagten
sie, wesentlich leichter, seine Karriere zu fördern, wenn
er in die Fußstapfen seines Vaters trat. Man kannte sich untereinander.
Stanley konnte gut fechten, aber er war nicht
gerade das, was man einen begnadeten Taktiker nannte,
denn ihm fehlte die Hingabe an das, was er tat. Daher
konnte auch die Hilfe seines Vaters seine Laufbahn nicht
beschleunigen - wobei sich Stanley des Öfteren fragte,
wer in dessen Einfluss bestand, denn er hatte seinen Vater
nie für einen guten Offizier gehalten und konnte sich nicht
erklären, wie dieser es so rasch zum Major gebracht hatte.
Was seine eigene Karriere anging, so war Stanley sich inzwischen
sicher, jede Aussicht auf eine mögliche Beförderung
zum Captain verspielt zu haben. Eine unbedachte
Entscheidung hier, eine falsche Entscheidung da, und schon
war es darum geschehen gewesen. Wenn er jedoch an Ruby
dachte, so war seine verspielte Captain-Würde wohl wahrlich
das kleinere Problem.
Stanley wanderte durch das Schiff und erkundete alles.
Seine Uniform sorgte dafür, dass man ihm den nötigen Respekt
entgegenbrachte und ihm kein Zugang verwehrt
wurde. Schließlich konnte es durchaus passieren, dass man
irgendwann Seite an Seite kämpfte. Die East India Company
hatte ihre eigene Armee.
Es gab einen Ort, den die Seeleute an Bord »die Hölle«
nannten, jener Raum im Bug am Vordersteven, wo der
Bootsmann und sein Maat arbeiteten, wenn es etwas instand
zu setzen gab, und wo einiges an Material für die Betakelung
gelagert wurde. Stanley hatte ihn sich angesehen,
weniger aus Interesse, sondern weil ihn seit Monaten der
Gedanke an die Hölle verfolgte und er sich einen Vorgeschmack
geben wollte, um der Vorstufe, die er durchlebte,
noch eine physische Komponente hinzuzufügen. Hier hatte
er jede Bewegung des Schiffs in ihrer vollen Wucht spüren
können, und das Donnern der Wassermassen gegen den
Bug war ohrenbetäubend.
Stanley ging die Stufen zurück zum Passagierdeck und strich
mit der Hand über das polierte Holz des Geländers. Aus
dem Salon hörte er leises Klavierspiel und musste unwillkürlich
an Olivia denken. In gewisser Weise waren sie alle
musikalisch, er und Ruby konnten singen, waren dafür jedoch
völlig untalentiert, was das Spielen eines Instruments
anging, bei Olivia war es umgekehrt. Auf Soireen war es
nicht selten vorgekommen, dass ihre Mutter ihn und Ruby
hatte singen lassen, während Olivia sie beide am Klavier begleitete.
Natürlich hatte Ruby sich dazu nur selten bewegen
lassen, was meist Anlass zu heftigen Szenen gewesen war.
London, Januar 1776
Ich bin doch kein dressierter Affe!«
»Ruby! Nicht diese Wortwahl.« Augusta Kilbourne war
mit ihrer Geduld sichtlich am Ende, auch wenn sie sich alle
Mühe gab, sich nichts dergleichen anmerken zu lassen.
Stanley hatte auf einem Sessel im Salon Platz genommen,
die Beine lang ausgestreckt, und beobachtete die Szene
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Originalausgabe März 2011
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Printed in Germany
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Ostindienfahrer Athena,
Atlantischer Ozean, Juli 1778
Wenn Olivia Gefühle als Farben hätte beschreiben
können, so wären die ihren grau mit silbrig-blauen
Schlieren gewesen, wie der regenschwangere Himmel, den
das von sanften Wellen gekräuselte Wasser spiegelte - ein
Spiegelbild ihrer selbst, das um das Schiff herum zerfloss
bis an den Horizont.
Sie hatten erst vor wenigen Minuten abgelegt, und Olivia
hielt eisern an dem Entschluss fest, die Reise nicht mit Blick
zum Ufer anzutreten. Abschied hatte sie bereits vor Wochen
genommen, hatte jede Blume im Garten ihrer Eltern
berührt, auf ihre eigenen Schritte gelauscht, auf das Geräusch
ihrer Schuhe auf den Londoner Straßen, Bekanntes
mit Blicken abgetastet. Portsmouth war die erste Etappe
ihrer Reise, und es war ihr fremd gewesen, ein erster kleiner
Schritt ins Unbekannte, aber dennoch vertraut genug,
um noch Heimat genannt werden zu dürfen. Während nun
ihre ganze Familie mit den übrigen Fahrgästen den am Kai
drängenden Freunden, Bekannten oder auch einfach nur
Schaulustigen zuwinkte, war sie über das Deck nach vorne
gegangen, denn es fühlte sich falsch an, einem neuen Leben
mit dem Rücken voran zu begegnen.
Der Bug des Schiffes wälzte sich durchs Wasser und grub
eine Schneise, die sich hinter dem Heck wieder schloss.
Feiner Sprühnebel benetzte Olivias Gesicht, während sie
unter ihren Fingerspitzen das glatte Holz der Reling spürte.
Sie lehnte sich so weit nach vorne, dass die Stangen ihres
Schnürleibchens gegen ihre Rippen drückten, und sah in
das aufgewühlte Wasser, wo das Meer aufgerissen wurde
wie eine Wunde.
»Wenn du dich an dieser Stelle vom Schiff stürzt, gerät dein
Körper direkt unter den Bug, und du würdest unbemerkt
einfach verschwinden. Kein sehr eindrucksvoller Abgang«,
spottete ihr Zwillingsbruder Stanley, der leise hinter sie getreten
war.
Sie richtete sich auf und drehte ihm den Kopf halb zu.
»Vielleicht überlebe ich es auch und schwimme einfach an
Land zurück - unbemerkt von allen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wäre auch kein großer Verlust.«
Kurz darauf wandte er sich ihrer älteren Schwester
Ruby zu, die in diesem Moment zu ihnen trat, und jeder
Spott in seinem Gesicht wich Zärtlichkeit und Besorgnis.
Ihre Großtante hatte einmal zu Olivia gesagt: »Du und
Stanley habt alles an dunkler Schönheit bekommen, was
diese Familie zu bieten hatte, während Ruby wirkt, als habe
sie alle Helligkeit aufgesogen.«
Wenn Ruby jemals etwas Sonnengleiches gehabt hatte, war
davon nun, im Angesicht ihres nahenden Todes, nicht mehr
übrig als ein Abglanz. Aber selbst dieser zauberte Röte auf
ihre Wangen und Glanz in ihre Augen, die nur jemand, der
sie kannte, als fiebrig bezeichnen würde.
Die beiden stellten sich ebenfalls an die Reling, nahe beieinander,
als wollten sie Geheimnisse austauschen. Zwischen
Stanley und Olivia hingegen war zwei Schritte breit
Platz, was zwar sicher unbeabsichtigt, aber bezeichnend
dafür war, wie es immer schon gewesen war. Stanley hatte
Ruby immer nähergestanden als seiner Zwillingsschwester.
Ruby, die Lebenslustige, die Abenteuerhungrige, an die er
sich von klein auf gehängt hatte, als hungere er nach dem
Leben, das sie ausstrahlte. Olivia hingegen hatte sich vor
dem aufbrausenden Temperament ihrer älteren Schwester
stets in Distanziertheit geflüchtet. »So schön ist sie«, hatte
Olivia ihre Großtante einmal über sich sagen hören, »aber
Mädchen von ihrem Schlag haben kein Herz.« Und die
schöne Olivia ohne Herz wusste, sie sollte Mitleid haben
mit der lebenshungrigen Ruby, die nun, anstatt vom Leben
zu zehren, von diesem aufgezehrt wurde.
Es hatte sich seit einigen Monaten jedoch eine seltsame
Kühle zwischen Ruby und Stanley geschlichen, nach einer
Reise an die Küste von Cornwall, die Ruby unternommen
und während der Stanley sie kurz vor ihrer Rückkehr besucht
hatte, um die restliche Zeit mit ihr zu verbringen. Rubys
Distanziertheit hatte gleichwohl etwas Verzweifeltes,
als wolle sie Stanleys Bemühen um sie nachgeben, könne es
jedoch nicht, ohne sich selbst zu verraten.
Ihre Mutter stellte sich nun in die Lücke zwischen Olivia
und Stanley, ihre Lieblinge. Zwischen ihr und Ruby hatte
es nie Nähe gegeben, und ihr Zusammenleben war geprägt
von Streitereien bei Tisch und Rubys Widerstand gegen alles,
was das gesellschaftliche Leben vorschrieb. Was auch
immer es war, das von ihr verlangt wurde, sie wollte es
nicht, und oftmals schien es, als begehre sie auf nur um des
Aufbegehrens willen. Mit ihrem Vater verstand sie sich
gut, dieser jedoch war ständig gedanklich abwesend und
sagte stets auf Rubys tränenreiche Bitten, ihr beizustehen:
»Deine Mutter weiß, was sie tut.«
War das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwes-
ter schon immer von Spannungen geprägt, so hatten sich
diese kurz vor Rubys Abreise nach Cornwall auffallend zugespitzt.
Ruby und Stanley hingegen schienen einander
zu jenem Zeitpunkt näher gewesen als je zuvor. Niedergedrückt
hatte Stanley gewirkt, ohne jeden ersichtlichen
Grund. Zu der Zeit hatte es angefangen, dass Ruby immer
blasser wurde, kränkelte und schließlich zur Erholung, wie
man Olivia sagte, nach Cornwall geschickt wurde. Bis zu
ihrer Abreise suchte sie Stanleys Nähe, und einmal hatte
Olivia sie heimlich dabei beobachtet, wie sie weinend an
seiner Brust lag.
Ein rasselndes Husten ertönte. Als Olivia sich nach links
wandte und leicht vorbeugte, um an ihrer Mutter und Stanley
vorbei ihre Schwester anzusehen, bemerkte sie, wie diese
sich in Hustenkrämpfen leicht krümmte, den Arm ihres
Bruders um die Schultern. Auch ihre Mutter drehte den
Kopf zu ihrer Ältesten hin.
Sir John Retallick stand an einen Mast gelehnt, sah von
weitem über die Reling hinweg bis zum Horizont, während
ihm der Wind dunkle Haarsträhnen ins Gesicht wehte
und die Bänder, die sein Haar im Nacken zusammenhielten,
flattern ließ. Er verengte die Augen leicht, als könne er
dadurch dem, was er sah, noch mehr Schärfe verleihen. Seine
Blicke ruhten nun auf der Familie, die nur wenige Schritte
von ihm entfernt stand, ihn jedoch nicht bemerkte. Die
Mutter war, als sie zur Reling trat, sogar so nah an ihm vorbeigekommen,
dass John sich wunderte, dass sie ihn nicht
gesehen hatte.
Erst hatte die jüngste Tochter allein dort gestanden, den
Rücken durchgedrückt, so gerade, als wolle sie sich selbst
Stärke beweisen. Während er sie beobachtete, hatte er sich
zum ersten Mal gefragt, wie wohl alles gekommen wäre,
hätten sie und ihr Bruder Stanley sich so nahegestanden,
wie Zwillinge dies normalerweise taten.
Als Ruby sich plötzlich krümmte und sich mit einer Hand
an der Reling festhielt, während sie die andere Hand mit
einem Taschentuch an den Mund führte, beobachtete John
die Mutter eindringlich. Aus ihrem Profi l ließ sich keine
Gefühlsregung ablesen, doch war sie nie eine Frau gewesen,
die ihre Emotionen zeigte. Sieh genau hin, dachte er, so
fühlt es sich an, sein Kind zu verlieren.
Die Ostindienfahrer segelten im Auftrag der East India
Company zwischen Europa und Indien hin und her. Auf
dem Weg nach Indien wurden verschiedene Häfen angelaufen,
darunter auch Gibraltar, wo die Reise von Olivia
und ihrer Familie ihr Ende finden würde. Es waren die
größten Handelsschiffe, die derzeit auf den Meeren verkehrten,
massiv und aus gut abgelagertem, sehr haltbarem
Holz gefertigt. Sie waren dafür gebaut, sowohl Handelsgüter
als auch Passagiere zu transportieren, und fuhren
schwer bewaffnet, um sich gegen Piratenüberfälle zur Wehr
zu setzen. Die Athena war mit drei Decks in der Länge von
hundertfünfundsiebzig Fuß und fünfzig Kanonen ausgestattet.
Es war ein imposanter Anblick gewesen, als das
Schiff vor Portsmouth vor Anker gelegen hatte. Auf dem
Rückweg von Indien würde es beladen sein mit Waren wie
Seide, edlen Stoffen, Baumwolle, Opium und Gewürzen.
Olivia schlenderte über das Deck, das vom Regen der vor
hergehenden Nacht feucht glänzte. Wind rauschte in den
Segeln. Gibraltar. Wer wollte schon ins karge Nirgendwo?
Indien, Arabien - das wäre eine Reise wert gewesen. Versetzte
man nicht nur Offiziere nach Gibraltar, die sich etwas
hatten zuschulden kommen lassen? Ihre Mutter hatte
sie zwar diesbezüglich beruhigt, aber Olivia war dennoch
nicht überzeugt. Zu plötzlich war alles gekommen.
Sie ging wieder an den Bug des Schiffes, hielt sich an einem
Tau fest und lehnte sich vor, um in das schäumende Wasser
zu sehen, schiefergraue Tiefe unter bleigrauem Himmel.
Die Meerluft schmeckte salzig auf den Lippen, und
Gischtspritzer benetzten ihre Wimpern. Sie hatte die Nacht
hindurch wenig geschlafen, weil sie Ruby durch die dünne
Wand, die ihre Kabinen trennte, immer wieder hatte husten
hören. Sie fragte sich, ob ihre Schwester den Tod an ihrem
Bett lauern sah. Der Gedanke an einen wartenden Tod auf
der anderen Seite der dünnen Wand brachte auch Olivia
um den Schlaf.
Irgendwann hatte sie eine Männerstimme gehört - unzweifelhaft
die ihres Bruders. Es war ungehörig, bei Nacht zu
seiner Schwester ins Zimmer zu gehen, aber wer sollte ihn
dafür schelten? Erst hatte er geredet, und falls Ruby geantwortet
hatte, dann so leise, dass nichts zu hören gewesen
war. Irgendwann war das Sprechen melodischen Tönen gewichen,
und Olivia wusste, dass Stanley sang, so wie Ruby
für ihn gesungen hatte, als sie beide noch Kinder gewesen
waren. Sie hatten beide schöne Singstimmen.
Ihre Erinnerung an die vergangene Nacht wurde jäh durch
das Gefühl unterbrochen, nicht mehr allein zu sein. Sie
drehte sich um und sah sich einem ihr fremden Mann gegenüber,
der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt.
Er musterte sie mit einer Art distanziertem Interesse,
als sitze er im Theater und versuche zu ergründen, ob die
Vorstellung ihr Geld wert sei. Seiner Kleidung zufolge gehörte
er zu ihren Kreisen, aber sie hatte ihn bei noch keiner
der Mahlzeiten an Bord gesehen. Er trat auf sie zu, ohne sie
aus den Augen zu lassen, und Olivia wollte instinktiv einen
Schritt zurücktreten, was jedoch mit der Reling im Rücken
unmöglich war.
»Miss Kilbourne, nehme ich an?« Er lächelte.
»Olivia Kilbourne«, murmelte sie, ehe sie sich daran erinnerte,
dass er sich zuerst hätte vorstellen müssen.
»Olivia.« Die Art, wie er ihren Namen aussprach, hatte,
gepaart mit seinem taxierenden Blick, etwas erschreckend
Sinnliches. »Haben Sie etwa vor zu springen, Miss Kilbourne?«
Irritiert sah sie ihn an. »Keineswegs.« Wirkte sie etwa wie
eine versuchte Selbstmörderin? Oder war Gibraltar so
schrecklich, dass sich Stanley und diesem Unbekannten
beim Anblick einer Frau allein am Bug nur dieser eine
Schluss aufdrängte?
»Keineswegs, Mr. ...?« Sie neigte abwartend den Kopf.
»Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung.« Er wirkte dabei
keineswegs zerknirscht, sondern eher, als mache er sich
insgeheim lustig über sie. »Sir John Retallick, zu Ihren
Diensten.«
Er hatte grüne Augen, wie sie selbst. Diese Gemeinsamkeit
erschien Olivias phantasiebegabtem Geist plötzlich bedeutsam,
ebenso der Sonnenstrahl, der in diesem Moment
durch die Wolkendecke brach und das Deck in buttergelbes
Licht tauchte.
Mit einem Platschen schlug weißer Möwenmist auf den
Planken direkt vor ihr auf und spritzte auf ihren Rocksaum.
Olivia sprang zur Seite, was in ihrem ausladenden
Kleid vermutlich ebenso unbeholfen aussah, wie es sich
anfühlte. Sir John Retallick legte den Kopf in den Nacken
und brach in schallendes Gelächter aus.
»Olivia?« Stanley kam über das Deck, lief beinahe, und
umfasste ihr Handgelenk fester, als notwendig gewesen
wäre. »Mama sucht dich überall.«
Er drehte sich zu dem Mann und nickte ihm zu. »Sir John.«
»Lieutenant Kilbourne.«
Mit einer zaghaften, der Höflichkeit geschuldeten Geste
wandte Olivia sich noch einmal um, ehe sie ihrem Bruder
folgte. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen.«
»Es war mir ein Vergnügen, Miss Kilbourne.«
»Ihr kennt euch?«, fragte Olivia ihren Bruder, als sie außer
Hörweite waren.
»Kennen ist zu viel gesagt.«
»Warum sind wir ihm auf dem Schiff noch nicht begegnet?«
Stanley hielt inne und drehte sich zu ihr um. »Von dem
halte dich fern.«
»Ist er nicht gesellschaftsfähig? Er ist ein Adliger.«
»Verarmt und auf der Flucht vor seinen Gläubigern, heißt es.«
Olivia war nicht beeindruckt. »Viele Adlige sind verarmt
und heiraten dann reiche Frauen.«
»Heiraten?« Er warf ihr beim Gehen einen kurzen Blick
über die Schulter zu. »Na, das ging ja schnell nach nur einer
Begegnung.«
»Ich habe nicht von mir gesprochen.«
»Natürlich. Er kommt für dich ohnehin nicht in Frage.«
Olivia hasste kryptische Andeutungen, und ihr Bruder
neigte dazu, sie damit zu provozieren. Sie wusste ganz genau,
dass es nur darum ging, ihre Neugierde anzustacheln,
nicht jedoch zu befriedigen. Sie ging ihm dennoch in die
Falle. »Warum nicht?«
Wieder blieb er stehen und drehte sich zu ihr um, seufzend,
als habe er ein begriffsstutziges Kind vor sich. »Olivia,
denk doch mal nach. Wenn er gesellschaftsfähig wäre, als
Adliger und Offizier, würde er dann nicht nach Indien gehen
oder irgendwohin, wo er eine richtige Karriere und
eine passende Frau finden würde? Aber er fährt nach Gibraltar.«
»So wie wir.«
Er zögerte und wandte sich ab. »Ja, so wie wir.«
»Wo willst du hin?«
Augusta Kilbourne blickte über die Schulter zu ihrem
Mann, der auf einem der beiden Sessel in der Kabine saß
und ein Buch in der Hand hielt - zweifellos irgendeine
langweilige Erzählung über Kriegsschlachten. »An die frische
Luft.«
»Um diese Zeit?«
»Ich brauche frische Luft, Frank«, antwortete sie scharf.
Das täte ihm fürwahr ebenfalls gut, so blass, wie er aussah.
Ein Gesicht wie ein Fischbauch, dachte sie plötzlich, wer
hatte das noch gesagt? Der Vergleich reizte sie zum Lachen,
das hatte er damals schon, als sie ihn von - sie kam einfach
nicht auf den Namen - gehört hatte. Dennoch schaffte sie
es, ernst zu bleiben, und sah ihren Mann an.
Er ruderte zurück. »Ich war lediglich interessiert.«
Sie zuckte in einer nachlässigen Geste mit den Schultern
und verließ die Kabine.
Der Korridor war eng und nur spärlich beleuchtet. Den
Nachmittag hatte sie mit Konversation und später mit
ihren Töchtern verbracht. Sie konnte nur hoffen, dass Gibraltar
nicht so langweilig war, wie ihr jeder erzählte. Aber
eine Wahl war ihr nicht geblieben. Es musste sein, um ihre
Kinder zu schützen, genauer gesagt Stanley, denn Ruby
war ohnehin nicht mehr zu helfen. Wieder diese ungewohnte
Enge in der Brust beim Gedanken an ihre Älteste.
Die Vorstellung, ihr Kind zu überleben, war unerträglich,
darin unterschied sie sich in nichts von den meisten anderen
Müttern. Auch dass Ruby selbst schuld war, bot keinen Trost.
Eine Bekannte, deren Kind gestorben war, hatte einmal gesagt,
dass sie, hätte man sie vor die Wahl gestellt, anstelle
ihres Kindes hätte sterben wollen. Augusta dachte darüber
nach. Nein, sterben wollte sie nicht für Ruby, denn wer
würde dann auf Stanley und Olivia aufpassen?
Stanley hatte Olivia mit John Retallick schäkern sehen. Es
hatte einer freundlichen, wenn auch unmissverständlichen
Zurechtweisung bedurft. Aber Augusta machte sich keine
Sorgen, um Olivias Gehorsam machte sie sich niemals Sorgen.
Im kommenden Jahr würde sie ihr einen Ehemann
suchen, und Olivia, die Ruhige, Besonnene, würde sich
fügen. Patty, eine Tante von Frank und Großtante der Kinder,
sagte zwar: »Stille Wasser sind tief«, aber solche Allgemeinplätze
galten schwerlich für jeden. »Bei Ruby«, so ihre
weiteren Worte, »weißt du, woran du bist, bei Olivia nicht.«
Es lag wohl an Pattys Alter, dass sie ständig und überall
glaubte, ihre Weisheit kundtun zu müssen.
Augusta ging an Deck. Kühl war die Luft, wie gewaschen
vom Regen. Es waren wenige Passagiere unterwegs, was ihr
nur recht war. Sie spazierte über die feuchten Planken und
lauschte auf das Rauschen des Meeres. Irgendwann blieb sie
stehen und sah in die Dunkelheit, eine so tiefe allumfassende
Finsternis, dass sie sich fragte, wie die Seeleute diese Nacht
um Nacht, Monat um Monat ertragen konnten.
»Suchen Sie ebenfalls die Einsamkeit?«, fragte eine Männerstimme
leise hinter ihr. Sie fuhr herum, sah jedoch niemanden
und spähte mit halbgeschlossenen Augen zu den
Masten, wo sie nun die Silhouette eines Mannes ausmachen
konnte, der langsam auf sie zukam und schließlich im milchigen
Licht einer Laterne stand.
»Lord Westlake, ganz der Ihre.« Er neigte leicht den Kopf.
»Augusta Kilbourne.« Sie lächelte und sah ihn aufmerksam
an. »Die Einsamkeit?«, kam sie auf seine Frage zurück.
»Suchen Sie die denn?«
Er erwiderte das Lächeln. »Das zumindest dachte ich bis
eben.«
Olivia hatte von John Retallick geträumt, seltsam wirre
Träume, in denen auch Ruby vorkam, die eine wachsbleiche
Totenmaske trug, wie Olivia sie auf alten Bildern gesehen
hatte. Morgens wurde sie von Kopfschmerzen geplagt
und fühlte sich elend. Sie stand auf, wusch sich, so gut es in
diesen beengten Verhältnissen möglich war, und wartete
auf ihr Dienstmädchen, damit dieses ihr beim Ankleiden
zur Hand ging.
Am Frühstückstisch saß nur ihr Vater, und auch ansonsten
war der Raum noch weitgehend leer. Sie neigte sich zu ihm
und küsste ihn auf die Wange.
»Guten Morgen, Papa.«
Auf das Frühstück verzichtete sie und trank stattdessen
nur einige Schlucke Tee.
»Hast du Ruby heute schon gesehen?«, fragte ihr Vater.
Sie schüttelte den Kopf. Nur gehört.
»Gehört habe ich sie nachts«, sprach er ihren Gedanken
aus. »Das arme Kind.« Er wirkte bekümmert und war sehr
blass. Olivia wusste, dass ihm das Fortgehen aus England
arg zu schaffen machte und die fortschreitende Krankheit
seiner Ältesten ihn niederdrückte, seit der Arzt seinerzeit
die Diagnose mitgeteilt hatte - Schwindsucht. Mit jedem
Tag sah er schlechter aus. Dass sein volles hellbraunes Haar
durch das zunehmende Grau stumpf wirkte, machte ihn
älter, und die Blässe hatte etwas Kränkliches. Seine Züge
hätte niemand als fest oder markant bezeichnen können,
aber dafür war sein Gesicht immer schon ein Spiegel all seiner
Empfindungen gewesen. Er würde nie jemanden über
seine Gefühle täuschen können, er war wie Ruby.
Olivia trank ihren Tee aus und legte eine Hand auf die ihres
Vaters. »Ich gehe ein wenig an Deck spazieren. Möchtest
du nicht mitkommen?«
»Nein, geh nur, mein liebes Kind, ich werde noch ein wenig
lesen.« Er runzelte die Stirn, als komme ihm gerade ein unliebsamer
Gedanke. »Aber solltest du nicht lieber Stanley
mitnehmen? So allein als junge Frau unter lauter Matrosen ...«
»Mach dir keine Sorgen, es sind sicher schon einige Passagiere
draußen, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen.«
Sie stand auf und griff nach ihrem Hut. »Bis später, Papa.«
Die frische Seeluft tat ihr gut. Es war wärmer als am Tag
zuvor, und die steingrauen Wolkenmassen waren weißen
Wolkenfetzen gewichen. Olivia beschattete die Augen mit
der Hand und sah zu dem Küstenstreifen, der eine dunkle
Linie am dunstigen Horizont war.
»Das ist Portugal«, hörte sie eine Frauenstimme sagen.
Olivia drehte sich um und sah sich einer jungen Dame gegenüber,
die sie bereits beim Essen am Vortag gesehen hatte,
die Tochter irgendeines Ingenieurs.
»Constance Stockwell«, stellte die junge Frau sich vor.
Ein eher reizloses Geschöpf, urteilte Olivia, während sie
sich ihrerseits vorstellte und kaum verhehlen konnte, wie
wenig Lust sie auf ein Gespräch hatte. Constance Stockwell
hatte kupferrotes Haar, war ein wenig zu füllig, ihr
Mund ein wenig zu groß und die Nase ein wenig zu klein.
Zudem war sie bestimmt schon Mitte zwanzig und offenkundig
unverheiratet, also eine alte Jungfer, und diese waren
in den seltensten Fällen unterhaltsame Gesprächspartnerinnen.
»Wie können Sie erkennen, dass dies Portugal ist und nicht
bereits Spanien?«, fragte Olivia, weniger aus Interesse,
sondern nur, weil sie es noch unangenehmer fand, wenn
sie schweigend nebeneinanderstünden, als wären sie alte
Freundinnen.
»Ich habe diese Reise bereits einmal gemacht, aber damals
bin ich bis nach Indien gefahren.«
»Und bis wohin reisen Sie diesmal?«
»Mein Vater lässt sich in Gibraltar nieder. Ich war nicht
lange in Indien, nur zwei Jahre. Meine jüngeren Schwestern
haben dort geheiratet.« Sie lächelte spöttisch. »Der
Heiratsmarkt in Indien soll großartig sein.«
Für dich hat offenbar nicht einmal der gereicht, dachte Olivia
und nickte höflich.
»Reisen Sie nach Indien?«, fragte Miss Stockwell.
»Nein, wir sind ebenfalls auf dem Weg nach Gibraltar.«
»Ich bin schon so gespannt darauf.«
Olivia musterte sie. »Tatsächlich?«
Einige Passagiere spazierten an ihnen vorbei und neigten
grüßend die Köpfe. Olivia sah sich nach einer Möglichkeit
um, sich von der jungen Frau verabschieden zu können,
ohne unhöflich zu wirken.
»Dort ist Sir John Retallick«, sagte Constance Stockwell in
diesem Moment und schaute zum Heck des Schiffes.
Olivia drehte sich um, mildes Interesse heuchelnd, dann jedoch
runzelte sie irritiert die Stirn. Sie hatte Ruby noch schlafend
gewähnt, aber diese junge Frau, die dort auf Sir John
einredete, war ohne Zweifel ihre Schwester. John Retallick
schwieg, die Hände in die Seiten gestemmt, den Blick gesenkt.
Als Ruby verstummte, sah er auf und gab eine Antwort,
wobei er nur eine knappe Handbewegung machte, als
wolle er verdeutlichen, dass etwas abgeschlossen sei. Und im
selben Moment überkam Ruby wieder ein Hustenanfall. Sie
suchte nach ihrem Taschentuch, aber John Retallick reichte
ihr bereits seines. Ohne lange zu zögern, nahm sie es und
presste es an ihre Lippen, krümmte sich. Passagiere blieben
stehen, eine Frau legte ihr die Hand auf den Arm. John Retallick
sagte noch etwas, wahrscheinlich ein Abschiedswort,
und verließ die kleine Ansammlung. Er kam in ihre Richtung,
und Olivia, die immer noch peinlich berührt war von
dem Vorfall am Tag zuvor, tat so, als bemerke sie ihn nicht.
»Constance, meine Liebe«, sagte er, als er bei ihnen war.
»Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut, Sir John, danke der Nachfrage.«
»Grüßen Sie Ihre Eltern von mir.« Er nickte Olivia zu.
»Miss Kilbourne.« Dann ging er weiter und stieg die Treppe
hinunter, die unter Deck führte.
Als Olivia sich umwandte, begegnete sie dem forschenden
Blick von Miss Stockwell. »Vor dem nehmen Sie sich lieber
in Acht, er ist offenbar interessiert.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verabschiedete sie sich.
Olivia starrte ihr nach und ging dann langsam zu ihrer
Schwester. Ruby hatte sich wieder gefangen und hielt das Taschentuch
zerknüllt in ihrer Hand. Blutflecken waren noch
nicht zu sehen. Manchmal beobachtete Olivia, wie Ruby zögerte,
ehe sie auf das Taschentuch sah, und dann beim Anblick
des blütenweißen Stoffes die angehaltene Luft ausstieß.
»Komm«, sagte Olivia, »ich bringe dich in die Kabine.«
Ruby schien widersprechen zu wollen, fügte sich dann jedoch.
»Hat der Gentleman dich aufgeregt?«, fragte Olivia.
»Nein.« Ruby spielte abwesend mit dem Taschentuch, zog
es auseinander und knüllte es wieder zusammen. Sie war
blasser als gewöhnlich.
»Ihr wirktet, als ob ihr euch kennt.«
Ruby schüttelte nur den Kopf, aber ob sie das tat, um damit
eine Bekanntschaft zu verneinen oder um zum Ausdruck
zu bringen, dass sie darüber nicht sprechen wollte,
ließ sich nicht unterscheiden.
Auf dem Weg die Treppe hinunter kam ihnen ihre Mutter
entgegen, die im Gegensatz zu ihrem Vater überaus frisch
und gut gelaunt wirkte. Sie wechselte ein paar Worte mit
ihnen, erklärte Ruby dann, sie werde sie später in ihrer
Kabine besuchen, und ging weiter.
»Sag ihr, ich schlafe, dann wird sie mich nicht stören wollen«,
bat Ruby Olivia.
Admiral zur See war eine Laufbahn, die einzuschlagen
Stanley sich schon als Kind gewünscht hatte. Seine Eltern
jedoch hatten andere Pläne mit ihm gehabt. Es war, so sagten
sie, wesentlich leichter, seine Karriere zu fördern, wenn
er in die Fußstapfen seines Vaters trat. Man kannte sich untereinander.
Stanley konnte gut fechten, aber er war nicht
gerade das, was man einen begnadeten Taktiker nannte,
denn ihm fehlte die Hingabe an das, was er tat. Daher
konnte auch die Hilfe seines Vaters seine Laufbahn nicht
beschleunigen - wobei sich Stanley des Öfteren fragte,
wer in dessen Einfluss bestand, denn er hatte seinen Vater
nie für einen guten Offizier gehalten und konnte sich nicht
erklären, wie dieser es so rasch zum Major gebracht hatte.
Was seine eigene Karriere anging, so war Stanley sich inzwischen
sicher, jede Aussicht auf eine mögliche Beförderung
zum Captain verspielt zu haben. Eine unbedachte
Entscheidung hier, eine falsche Entscheidung da, und schon
war es darum geschehen gewesen. Wenn er jedoch an Ruby
dachte, so war seine verspielte Captain-Würde wohl wahrlich
das kleinere Problem.
Stanley wanderte durch das Schiff und erkundete alles.
Seine Uniform sorgte dafür, dass man ihm den nötigen Respekt
entgegenbrachte und ihm kein Zugang verwehrt
wurde. Schließlich konnte es durchaus passieren, dass man
irgendwann Seite an Seite kämpfte. Die East India Company
hatte ihre eigene Armee.
Es gab einen Ort, den die Seeleute an Bord »die Hölle«
nannten, jener Raum im Bug am Vordersteven, wo der
Bootsmann und sein Maat arbeiteten, wenn es etwas instand
zu setzen gab, und wo einiges an Material für die Betakelung
gelagert wurde. Stanley hatte ihn sich angesehen,
weniger aus Interesse, sondern weil ihn seit Monaten der
Gedanke an die Hölle verfolgte und er sich einen Vorgeschmack
geben wollte, um der Vorstufe, die er durchlebte,
noch eine physische Komponente hinzuzufügen. Hier hatte
er jede Bewegung des Schiffs in ihrer vollen Wucht spüren
können, und das Donnern der Wassermassen gegen den
Bug war ohrenbetäubend.
Stanley ging die Stufen zurück zum Passagierdeck und strich
mit der Hand über das polierte Holz des Geländers. Aus
dem Salon hörte er leises Klavierspiel und musste unwillkürlich
an Olivia denken. In gewisser Weise waren sie alle
musikalisch, er und Ruby konnten singen, waren dafür jedoch
völlig untalentiert, was das Spielen eines Instruments
anging, bei Olivia war es umgekehrt. Auf Soireen war es
nicht selten vorgekommen, dass ihre Mutter ihn und Ruby
hatte singen lassen, während Olivia sie beide am Klavier begleitete.
Natürlich hatte Ruby sich dazu nur selten bewegen
lassen, was meist Anlass zu heftigen Szenen gewesen war.
London, Januar 1776
Ich bin doch kein dressierter Affe!«
»Ruby! Nicht diese Wortwahl.« Augusta Kilbourne war
mit ihrer Geduld sichtlich am Ende, auch wenn sie sich alle
Mühe gab, sich nichts dergleichen anmerken zu lassen.
Stanley hatte auf einem Sessel im Salon Platz genommen,
die Beine lang ausgestreckt, und beobachtete die Szene
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Originalausgabe März 2011
Copyright © 2011 by Knaur Taschenbuch.
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Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50674-5
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Autoren-Porträt von Laila El Omari
El Omari, LailaLaila El Omari, geboren in Münster als Kind eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter, studierte Orientalistik, Germanistik und Politikwissenschaften in Münster und Bonn. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und ihren Töchtern in Bonn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Laila El Omari
- 2011, 2. Aufl., 725 Seiten, Masse: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426506742
- ISBN-13: 9783426506745
- Erscheinungsdatum: 28.02.2011
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