Der Mondscheingarten
Roman
Antiquitätenhändlerin Lilly entdeckt auf der Unterseite einer Geige eine ins Holz gebrannte Rose. Sie will das Geheimnis der Blume entschlüsseln und stößt dabei auf die Spuren einer Violinistin, die vor über hundert Jahren...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Mondscheingarten “
Antiquitätenhändlerin Lilly entdeckt auf der Unterseite einer Geige eine ins Holz gebrannte Rose. Sie will das Geheimnis der Blume entschlüsseln und stößt dabei auf die Spuren einer Violinistin, die vor über hundert Jahren spurlos verschwand. Die Spur führt bis nach Sumatra.
Klappentext zu „Der Mondscheingarten “
Antiquitätenhändlerin Lilly bekommt eine ungewöhnliche alte Geige angeboten: Auf ihrer Unterseite ist eine Rose ins Holz gebrannt. Lilly ist fasziniert von dem alten Instrument und will das Rätsel der Rose unbedingt entschlüsseln. Sie sucht Hilfe bei dem charmanten Musikexperten Gabriel. Gemeinsam finden die beiden heraus, dass die Geige vor über hundert Jahren einer berühmten Violinistin gehörte, die damals plötzlich verschwand. Gebannt vom geheimnisvollen Schicksal der schönen Frau begibt Lilly sich auf deren Spuren, die sie nach Italien und schliesslich nach Sumatra führen. Dort findet sie des Rätsels Lösung - das auch ihr eigenes Leben in seinen Grundfesten erschüttert...
Lese-Probe zu „Der Mondscheingarten “
Der Mondscheingarten von Corina BomannProlog
London 1920
Verwirrt betrachtete Helen Carter ihr Spiegelbild. Ein langer Riss teilte ihr leichenblasses Gesicht in zwei Hälften, Schminke vermischt mit Tränen zeichnete ein Marmormuster auf ihre Wangen. Ihre exotisch geschnittenen, bernsteinfarbenen Augen leuchteten seltsam inmitten des dick aufgetragenen schwarzen Lidschattens, der sie wie ein Stummfilmsternchen aussehen ließ.
Helen hatte sich nie fürs Lichtspieltheater interessiert, ihre Leidenschaft galt allein der Musik. Doch in diesem Augenblick fühlte sie sich, als würde sie in einem dieser Streifen mitspielen. Das, was eben geschehen war, hätte auch aus der Feder eines der Schreiberlinge stammen können, die mit Drehbüchern vor den Türen der Filmstudios herumlungerten in der Hoffnung, einen Produzenten zu treffen. Helen lachte bitter, schluchzte dann kurz auf. Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sich schwarz färbten, als sie über ihre Wangen glitten.
Bis vor wenigen Minuten war alles noch in Ordnung gewesen. Als aufstrebende Violinistin stand ihr die gesamte Welt offen. In einer halben Stunde sollte sie auf der Bühne der London Hall Tschaikowsky spielen – sogar King George V. würde mit seiner Gemahlin zugegen sein. Eine Ehre, wie sie einem Musiker nur selten zuteilwurde.
Helen hatte von jeher Glück gehabt. Mit gerade mal zehn Jahren als Wunderkind bekannt geworden, galt sie heute, knapp zwanzigjährig, als eine der besten Musikerinnen der Welt. In Italien hatten die Zeitungen sie, die gebürtige Engländerin, bereits als Paganinis Enkelin gefeiert. Als ihr Agent ihr diese Schlagzeile zeigte, hatte sie darüber gelächelt. Sollten die Leute glauben, was sie wollten! Sie selbst wusste, wem sie ihren Erfolg zu verdanken hatte. Nur zu gut erinnerte sie sich an das Versprechen, das
... mehr
sie gegeben hatte.
Doch dann war diese Frau aufgetaucht. Wie ein Schatten war sie ihr drei Tage lang an beinah alle Orte gefolgt. Wann immer Helen durch Londons Straßen gegangen war, geriet sie in ihr Blickfeld. Wann immer ihr Blick beim Üben aus dem Fenster geglitten war, sah sie sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Am ersten Tag hatte Helen es noch für Zufall gehalten, doch als sich das Geschehen an den beiden folgenden Tagen wiederholte, hatte sie begonnen, nervös zu werden. Hin und wieder gab es verrückte Bewunderer – auch weibliche –, die alles daransetzten, sie einen Augenblick allein anzutreffen. Trevor Black, ihr Agent, hatte nur abgewunken, als sie ihm davon erzählte. »Das ist nur eine alte Frau, eine harmlose Verrückte.«
»Harmlos? Verrückte sind nie harmlos! Vielleicht hat sie ein Messer in der Tasche«, hatte Helen geantwortet, doch Trevor schien der Überzeugung zu sein, dass die Alte ihr nichts antun würde.
»Sollte sie dich nach dem Konzert immer noch belästigen, sagen wir der Polizei Bescheid.«
»Und warum nicht jetzt?«
»Weil sie uns auslachen würden. Schau sie dir doch an!« Trevor hatte auf das Fenster gedeutet, durch das die Fremde am anderen Ende der Straße zu sehen war. Ihre Gestalt wirkte ein wenig krumm, ihr schwarzes Kleid war altmodisch, und die Züge wirkten irgendwie … asiatisch! Helen wollte kein Grund einfallen, weshalb diese Frau ihr nachschleichen sollte. Für einen Moment fühlte sich Helen an ihre Kindheit erinnert, doch sie schob den Gedanken schnell beiseite.
Doch mittlerweile wusste sie, dass die Fremde sie tatsächlich beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet hatte, Helen allein zu sprechen. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, in ihre Garderobe vorzudringen, kurz nachdem Rosie auf Helens Wunsch losgegangen war, um nachzusehen, wie voll der Zuschauerraum war.
Helen hatte zunächst um Hilfe rufen wollen, doch die Frau hatte etwas geradezu Hypnotisches an sich gehabt, das es ihr unmöglich machte, zu schreien. Was ihr die Besucherin in dem kurzen Gespräch mitgeteilt hatte, war so ungeheuerlich und erschütternd gewesen, dass etwas in ihrem Innern gesprungen war. Wütend hatte Helen den ersten Gegenstand, der sich ihr bot, nach der Frau geworfen, sie aber verfehlt und den Garderobenspiegel getroffen.
Erschrocken hatte die Alte das Weite gesucht, aber ihre Behauptung hing immer noch im Raum. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie log, doch etwas sagte Helen, dass das nicht zutraf. Alles passte zueinander. Längst vergessene Bilder, Erinnerungen an gesprochene Worte, Gedanken, alles ergab plötzlich einen Sinn.
Helen blickte auf die Violine neben sich. Bevor die Fremde aufgetaucht war, hatte sie noch einmal eine besonders schwierige Passage des Konzerts üben wollen. Doch dazu war es nicht mehr gekommen.
Mit zitternden Händen griff die junge Frau nach dem Instrument und drehte es herum. Während ihre Finger über die dort eingebrannte Rose glitten, tauchte ein Gesicht vor Helens geistigem Auge auf. Das Gesicht der Frau, die ihr diese Geige geschenkt hatte. War es wirklich möglich …? Als die Tür hinter Helen aufgestoßen wurde, gab die Violine ein seltsam blechernes Geräusch von sich. Die gerissene Saite peitschte über ihre Haut und hinterließ einen blutigen Striemen. Erschüttert beobachtete Helen, wie Blutstropfen aus dem Schnitt hervorquollen. Die Erinnerung an ihre grausame Musiklehrerin ließ Zorn in ihr hochwallen. Schon wollte sie aufspringen und die Geige wütend in die Ecke werfen, da erschien Rosies gütiges Gesicht hinter ihr im Spiegel. »Wir haben volles Haus!« Das Lächeln verging ihr augenblicklich. »Du lieber Himmel!« Erschrocken schlug die Garderobiere die Hand vor den Mund, als sie sah, dass Blut zwischen den Fingern der Geigerin hervorquoll. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Es ist nichts«, entgegnete Helen beherrscht. Den Schmerz an ihrem Handgelenk spürte sie kaum, denn der Zorn in ihrem Innern war stärker und überdeckte alle körperlichen Empfindungen. »Eine der Saiten ist gerissen, ich war unachtsam.«
Eigentlich hätte sie die Violine sogleich in Ordnung bringen lassen sollen. Doch sie schaffte es nicht, sich von ihrem Hocker zu erheben. Sie zweifelte sogar daran, sich jemals wieder erheben zu können.
»Soll ich Ihnen etwas holen, Miss Carter?«, fragte die Garderobiere ratlos, doch Helen schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist gut, Rosie, ich brauche nichts.« Die Worte kamen ihr heftiger über die Lippen, als sie eigentlich sollten. »Aber Ihr Auftritt ist doch gleich, Madam. Die Violine …« Helen nickte abwesend. Ja, der Auftritt. So wie der Besuch etwas in ihrem Innern verändert hatte, so hatte er ihr auch die Zuversicht genommen, dieses Konzert spielen zu können.
Vielleicht bedeutete es das Ende ihrer Karriere, aber in diesem Augenblick wollte Helen nur weg von hier und diese verfluchte Geige loswerden, die sie nun ebenso wie ihre Musiklehrerin verletzt hatte. Das Instrument, das ihr von einer Toten geschenkt worden war.
Mit der Violine in der Hand erhob Helen sich und schritt erhobenen Hauptes zur Tür, öffnete sie und verließ die Garderobe. Den Ruf der Garderobiere ignorierte sie ebenso wie die kaputte Saite, die gegen ihre Waden pendelte. Aus der Konzerthalle hörte sie die Geräusche der Musiker, die gerade ihre Instrumente stimmten. Vergebliche Mühe, denn das Konzert würde nicht stattfinden. Und auch das erwartungsvolle Raunen der Zuschauer war verschenkt.
Zielsicher fand sie den Weg zum Hinterausgang. Die verwunderten Blicke der Bühnenarbeiter ignorierte sie. Ich gehöre nicht hierher. Ich will das alles nicht. Ich will nur meine Ruhe, ich will … Klarheit.
Die Geige in ihrer Hand gab einen Misston von sich, als Helen die Tür aufstieß, fast so, als wollte sie sie warnen. Feuchtkalte Luft strömte Helen entgegen. Um diese Jahreszeit war London nachts besonders unangenehm, doch das war ihr egal. Der Schnitt an ihrer Hand pulsierte, die Violine wurde auf einmal schwer. Die Augen der toten Frau jagten Helen, trieben sie dazu an, einfach auf die Straße vor der London Hall zu laufen.
Erst als sie ein markerschütterndes Hupen neben sich hörte, erstarrte Helen und riss angesichts der auf sie zurasenden grellen Lichter die Arme hoch.
Kapitel 1
Berlin, Januar 2011
Als die Zeiger der großen Standuhr auf kurz vor fünf rückten, war Lilly Kaiser sicher, dass niemand mehr in ihren Laden kommen würde. Versteckt hinter hochgeschlagenen Mantelkrägen und unter tief ins Gesicht gezogenen Mützen, huschten die Leute an dem Schaufenster vorbei, ohne die Auslage eines Blickes zu würdigen.
In den ersten Wochen des neuen Jahres interessierte sich niemand mehr für Antiquitäten. Die Geldbörsen und Konten waren leer, die Menschen hatten kein Bedürfnis, irgendwelche besonderen Stücke für die liebe Verwandtschaft zu suchen. Das würde sich im Frühjahr und Sommer, wenn die ersten Touristen aus aller Welt wieder anrückten, ändern. Solange musste sie die Flaute irgendwie überbrücken. Seufzend ließ sich Lilly auf einem kleinen Louis-XV.-Hocker nieder und blickte durch das Schaufenster zum Himmel hinauf, von dem schon seit Tagen unablässig Schnee fiel. Dabei streifte ihr Blick das Abbild ihres Gesichts in der blankpolierten Wand eines Schränkchens, das zur kleinen Armee ihrer Ladenhüter gehörte.
Ihre feinen, fast mädchenhaften Züge wirkten blass und abgespannt, nur ihr rotes Haar und ihre grünen Augen leuchteten. Die Weihnachtsfeiertage hatten ihr nicht viel Erholung gebracht. Der Besuch bei ihren Eltern hatte wieder einmal damit geendet, dass sie ihr ans Herz gelegt hatten, sich einen neuen Mann zu suchen.
Obwohl sie ihre Eltern liebte, war das zu viel für Lilly gewesen. Entnervt war sie nach Berlin zurückgefahren, um dort den Jahreswechsel allein in ihrer Wohnung zu verbringen und sich dann an die Inventur des Ladens zu machen. Doch die war nun erledigt, und ihr blieb nur das Warten auf Kundschaft. Lilly hasste es, untätig zu sein. Aber was blieb ihr anderes übrig?
Vielleicht sollte ich den Laden einfach schließen und für acht Wochen in den Urlaub fahren, ging es ihr durch den Sinn. Wenn ich wiederkomme, ist der Schnee weg und der Laden wieder voll.
Der Klang der Türglocke – ein Stück, das aus einem Landhaus stammte und das stets das Bild einer umherwuselnden Dienerschaft in ihr heraufbeschwor – riss sie aus ihren Gedanken. Auf dem Mantel des alten Mannes, der auf der Türschwelle stand und sich zu fragen schien, ob er hereinkommen durfte, glitzerten Schneeflocken, die in der Wärme des Raumes langsam zu Wassertropfen vergingen. Sein wettergegerbtes Gesicht hätte gut das eines Seemanns aus einem Werbespot sein können. Unter seinem Arm trug er einen alten, an einigen Stellen abgewetzten Geigenkasten. Wollte er ihn verkaufen?
Lilly erhob sich, strich kurz über ihre dunkelblaue Strickjacke und trat dem Mann entgegen. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«
Der Mann musterte sie kurz, dann erschien ein verhaltenes Lächeln auf seinem Gesicht. »Ich nehme an, Ihnen gehört dieses Geschäft.«
»Ja, genau«, antwortete Lilly lächelnd, während sie versuchte, sich ein Bild von ihrem Kunden zu machen. War er ein alternder Musiker auf dem Heimweg von einer Veranstaltung? Ein Geigenlehrer, der sich mit irgendwelchen mäßig talentierten Schülern herumschlagen musste? »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Wieder musterte der Mann sie, als suchte er in ihrem Gesicht irgendwas. Dann nahm er den Geigenkasten unter seinem Arm hervor.
»Ich habe da etwas für Sie. Wenn Sie mir gestatten, es Ihnen zu zeigen?« Eigentlich wollte Lilly in diesem Monat nichts Neues mehr ankaufen, aber dass ihr jemand ein Musikinstrument anbot, war so selten, dass sie nicht nein sagen konnte. »Kommen Sie bitte mit rüber, da können Sie es mir zeigen.« Sie führte den Mann zu einem einfachen Tisch neben dem Verkaufstresen. Hier ließ sie sich von Kunden, die kamen, um ihr etwas anzubieten, die Ware zeigen.
Meist war nicht viel Brauchbares darunter. Die Leute schätzten das, was sie auf den Dachböden und in den Nachlässen ihrer verstorbenen Angehörigen fanden, oft wertvoller ein, als es letztlich war. Wie oft hatte sie sich schon Vorwürfe anhören müssen, wenn sie behauptete, das alte Porzellanfigürchen sei Nippes.
Doch als der alte Mann den Deckel seines Geigenkastens öffnete, ahnte Lilly bereits, dass sie etwas Besonderes erwartete. Auf dem verschlissenen und mottenzerfressenen Futter, dessen Farbe früher einmal tiefrot gewesen sein musste, lag eine Violine. Eine alte Violine. Lilly war keine Expertin, doch sie schätzte, dass das Instrument mindestens hundert Jahre auf dem Buckel hatte, wenn nicht mehr. »Nehmen Sie sie ruhig heraus«, sagte der alte Mann, während er sie ganz genau beobachtete.
Copyright © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
Doch dann war diese Frau aufgetaucht. Wie ein Schatten war sie ihr drei Tage lang an beinah alle Orte gefolgt. Wann immer Helen durch Londons Straßen gegangen war, geriet sie in ihr Blickfeld. Wann immer ihr Blick beim Üben aus dem Fenster geglitten war, sah sie sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Am ersten Tag hatte Helen es noch für Zufall gehalten, doch als sich das Geschehen an den beiden folgenden Tagen wiederholte, hatte sie begonnen, nervös zu werden. Hin und wieder gab es verrückte Bewunderer – auch weibliche –, die alles daransetzten, sie einen Augenblick allein anzutreffen. Trevor Black, ihr Agent, hatte nur abgewunken, als sie ihm davon erzählte. »Das ist nur eine alte Frau, eine harmlose Verrückte.«
»Harmlos? Verrückte sind nie harmlos! Vielleicht hat sie ein Messer in der Tasche«, hatte Helen geantwortet, doch Trevor schien der Überzeugung zu sein, dass die Alte ihr nichts antun würde.
»Sollte sie dich nach dem Konzert immer noch belästigen, sagen wir der Polizei Bescheid.«
»Und warum nicht jetzt?«
»Weil sie uns auslachen würden. Schau sie dir doch an!« Trevor hatte auf das Fenster gedeutet, durch das die Fremde am anderen Ende der Straße zu sehen war. Ihre Gestalt wirkte ein wenig krumm, ihr schwarzes Kleid war altmodisch, und die Züge wirkten irgendwie … asiatisch! Helen wollte kein Grund einfallen, weshalb diese Frau ihr nachschleichen sollte. Für einen Moment fühlte sich Helen an ihre Kindheit erinnert, doch sie schob den Gedanken schnell beiseite.
Doch mittlerweile wusste sie, dass die Fremde sie tatsächlich beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet hatte, Helen allein zu sprechen. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, in ihre Garderobe vorzudringen, kurz nachdem Rosie auf Helens Wunsch losgegangen war, um nachzusehen, wie voll der Zuschauerraum war.
Helen hatte zunächst um Hilfe rufen wollen, doch die Frau hatte etwas geradezu Hypnotisches an sich gehabt, das es ihr unmöglich machte, zu schreien. Was ihr die Besucherin in dem kurzen Gespräch mitgeteilt hatte, war so ungeheuerlich und erschütternd gewesen, dass etwas in ihrem Innern gesprungen war. Wütend hatte Helen den ersten Gegenstand, der sich ihr bot, nach der Frau geworfen, sie aber verfehlt und den Garderobenspiegel getroffen.
Erschrocken hatte die Alte das Weite gesucht, aber ihre Behauptung hing immer noch im Raum. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie log, doch etwas sagte Helen, dass das nicht zutraf. Alles passte zueinander. Längst vergessene Bilder, Erinnerungen an gesprochene Worte, Gedanken, alles ergab plötzlich einen Sinn.
Helen blickte auf die Violine neben sich. Bevor die Fremde aufgetaucht war, hatte sie noch einmal eine besonders schwierige Passage des Konzerts üben wollen. Doch dazu war es nicht mehr gekommen.
Mit zitternden Händen griff die junge Frau nach dem Instrument und drehte es herum. Während ihre Finger über die dort eingebrannte Rose glitten, tauchte ein Gesicht vor Helens geistigem Auge auf. Das Gesicht der Frau, die ihr diese Geige geschenkt hatte. War es wirklich möglich …? Als die Tür hinter Helen aufgestoßen wurde, gab die Violine ein seltsam blechernes Geräusch von sich. Die gerissene Saite peitschte über ihre Haut und hinterließ einen blutigen Striemen. Erschüttert beobachtete Helen, wie Blutstropfen aus dem Schnitt hervorquollen. Die Erinnerung an ihre grausame Musiklehrerin ließ Zorn in ihr hochwallen. Schon wollte sie aufspringen und die Geige wütend in die Ecke werfen, da erschien Rosies gütiges Gesicht hinter ihr im Spiegel. »Wir haben volles Haus!« Das Lächeln verging ihr augenblicklich. »Du lieber Himmel!« Erschrocken schlug die Garderobiere die Hand vor den Mund, als sie sah, dass Blut zwischen den Fingern der Geigerin hervorquoll. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Es ist nichts«, entgegnete Helen beherrscht. Den Schmerz an ihrem Handgelenk spürte sie kaum, denn der Zorn in ihrem Innern war stärker und überdeckte alle körperlichen Empfindungen. »Eine der Saiten ist gerissen, ich war unachtsam.«
Eigentlich hätte sie die Violine sogleich in Ordnung bringen lassen sollen. Doch sie schaffte es nicht, sich von ihrem Hocker zu erheben. Sie zweifelte sogar daran, sich jemals wieder erheben zu können.
»Soll ich Ihnen etwas holen, Miss Carter?«, fragte die Garderobiere ratlos, doch Helen schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist gut, Rosie, ich brauche nichts.« Die Worte kamen ihr heftiger über die Lippen, als sie eigentlich sollten. »Aber Ihr Auftritt ist doch gleich, Madam. Die Violine …« Helen nickte abwesend. Ja, der Auftritt. So wie der Besuch etwas in ihrem Innern verändert hatte, so hatte er ihr auch die Zuversicht genommen, dieses Konzert spielen zu können.
Vielleicht bedeutete es das Ende ihrer Karriere, aber in diesem Augenblick wollte Helen nur weg von hier und diese verfluchte Geige loswerden, die sie nun ebenso wie ihre Musiklehrerin verletzt hatte. Das Instrument, das ihr von einer Toten geschenkt worden war.
Mit der Violine in der Hand erhob Helen sich und schritt erhobenen Hauptes zur Tür, öffnete sie und verließ die Garderobe. Den Ruf der Garderobiere ignorierte sie ebenso wie die kaputte Saite, die gegen ihre Waden pendelte. Aus der Konzerthalle hörte sie die Geräusche der Musiker, die gerade ihre Instrumente stimmten. Vergebliche Mühe, denn das Konzert würde nicht stattfinden. Und auch das erwartungsvolle Raunen der Zuschauer war verschenkt.
Zielsicher fand sie den Weg zum Hinterausgang. Die verwunderten Blicke der Bühnenarbeiter ignorierte sie. Ich gehöre nicht hierher. Ich will das alles nicht. Ich will nur meine Ruhe, ich will … Klarheit.
Die Geige in ihrer Hand gab einen Misston von sich, als Helen die Tür aufstieß, fast so, als wollte sie sie warnen. Feuchtkalte Luft strömte Helen entgegen. Um diese Jahreszeit war London nachts besonders unangenehm, doch das war ihr egal. Der Schnitt an ihrer Hand pulsierte, die Violine wurde auf einmal schwer. Die Augen der toten Frau jagten Helen, trieben sie dazu an, einfach auf die Straße vor der London Hall zu laufen.
Erst als sie ein markerschütterndes Hupen neben sich hörte, erstarrte Helen und riss angesichts der auf sie zurasenden grellen Lichter die Arme hoch.
Kapitel 1
Berlin, Januar 2011
Als die Zeiger der großen Standuhr auf kurz vor fünf rückten, war Lilly Kaiser sicher, dass niemand mehr in ihren Laden kommen würde. Versteckt hinter hochgeschlagenen Mantelkrägen und unter tief ins Gesicht gezogenen Mützen, huschten die Leute an dem Schaufenster vorbei, ohne die Auslage eines Blickes zu würdigen.
In den ersten Wochen des neuen Jahres interessierte sich niemand mehr für Antiquitäten. Die Geldbörsen und Konten waren leer, die Menschen hatten kein Bedürfnis, irgendwelche besonderen Stücke für die liebe Verwandtschaft zu suchen. Das würde sich im Frühjahr und Sommer, wenn die ersten Touristen aus aller Welt wieder anrückten, ändern. Solange musste sie die Flaute irgendwie überbrücken. Seufzend ließ sich Lilly auf einem kleinen Louis-XV.-Hocker nieder und blickte durch das Schaufenster zum Himmel hinauf, von dem schon seit Tagen unablässig Schnee fiel. Dabei streifte ihr Blick das Abbild ihres Gesichts in der blankpolierten Wand eines Schränkchens, das zur kleinen Armee ihrer Ladenhüter gehörte.
Ihre feinen, fast mädchenhaften Züge wirkten blass und abgespannt, nur ihr rotes Haar und ihre grünen Augen leuchteten. Die Weihnachtsfeiertage hatten ihr nicht viel Erholung gebracht. Der Besuch bei ihren Eltern hatte wieder einmal damit geendet, dass sie ihr ans Herz gelegt hatten, sich einen neuen Mann zu suchen.
Obwohl sie ihre Eltern liebte, war das zu viel für Lilly gewesen. Entnervt war sie nach Berlin zurückgefahren, um dort den Jahreswechsel allein in ihrer Wohnung zu verbringen und sich dann an die Inventur des Ladens zu machen. Doch die war nun erledigt, und ihr blieb nur das Warten auf Kundschaft. Lilly hasste es, untätig zu sein. Aber was blieb ihr anderes übrig?
Vielleicht sollte ich den Laden einfach schließen und für acht Wochen in den Urlaub fahren, ging es ihr durch den Sinn. Wenn ich wiederkomme, ist der Schnee weg und der Laden wieder voll.
Der Klang der Türglocke – ein Stück, das aus einem Landhaus stammte und das stets das Bild einer umherwuselnden Dienerschaft in ihr heraufbeschwor – riss sie aus ihren Gedanken. Auf dem Mantel des alten Mannes, der auf der Türschwelle stand und sich zu fragen schien, ob er hereinkommen durfte, glitzerten Schneeflocken, die in der Wärme des Raumes langsam zu Wassertropfen vergingen. Sein wettergegerbtes Gesicht hätte gut das eines Seemanns aus einem Werbespot sein können. Unter seinem Arm trug er einen alten, an einigen Stellen abgewetzten Geigenkasten. Wollte er ihn verkaufen?
Lilly erhob sich, strich kurz über ihre dunkelblaue Strickjacke und trat dem Mann entgegen. »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«
Der Mann musterte sie kurz, dann erschien ein verhaltenes Lächeln auf seinem Gesicht. »Ich nehme an, Ihnen gehört dieses Geschäft.«
»Ja, genau«, antwortete Lilly lächelnd, während sie versuchte, sich ein Bild von ihrem Kunden zu machen. War er ein alternder Musiker auf dem Heimweg von einer Veranstaltung? Ein Geigenlehrer, der sich mit irgendwelchen mäßig talentierten Schülern herumschlagen musste? »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Wieder musterte der Mann sie, als suchte er in ihrem Gesicht irgendwas. Dann nahm er den Geigenkasten unter seinem Arm hervor.
»Ich habe da etwas für Sie. Wenn Sie mir gestatten, es Ihnen zu zeigen?« Eigentlich wollte Lilly in diesem Monat nichts Neues mehr ankaufen, aber dass ihr jemand ein Musikinstrument anbot, war so selten, dass sie nicht nein sagen konnte. »Kommen Sie bitte mit rüber, da können Sie es mir zeigen.« Sie führte den Mann zu einem einfachen Tisch neben dem Verkaufstresen. Hier ließ sie sich von Kunden, die kamen, um ihr etwas anzubieten, die Ware zeigen.
Meist war nicht viel Brauchbares darunter. Die Leute schätzten das, was sie auf den Dachböden und in den Nachlässen ihrer verstorbenen Angehörigen fanden, oft wertvoller ein, als es letztlich war. Wie oft hatte sie sich schon Vorwürfe anhören müssen, wenn sie behauptete, das alte Porzellanfigürchen sei Nippes.
Doch als der alte Mann den Deckel seines Geigenkastens öffnete, ahnte Lilly bereits, dass sie etwas Besonderes erwartete. Auf dem verschlissenen und mottenzerfressenen Futter, dessen Farbe früher einmal tiefrot gewesen sein musste, lag eine Violine. Eine alte Violine. Lilly war keine Expertin, doch sie schätzte, dass das Instrument mindestens hundert Jahre auf dem Buckel hatte, wenn nicht mehr. »Nehmen Sie sie ruhig heraus«, sagte der alte Mann, während er sie ganz genau beobachtete.
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Autoren-Porträt von Corina Bomann
Bomann, CorinaCorina Bomann ist in einem kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und hat schon immer geschrieben. Mit "Die Schmetterlingsinsel" gelang ihr der absolute Durchbruch. Seitdem ist jeder ihrer Romane ein Bestseller geworden, auch international. Inzwischen wohnt sie wieder in einem gemütlichen Haus in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist der perfekte Ort zum Schreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Corina Bomann
- 2013, 528 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548285260
- ISBN-13: 9783548285269
- Erscheinungsdatum: 12.04.2013
Rezension zu „Der Mondscheingarten “
"Schön!", Lea, 05.06.2013
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