Der Marsch
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E.L. Doctorow erzählt von Liebe in Zeiten der Gewalt, von Idealen im Mahlstrom der Schlacht und vom Krieg als alles verschlingendem Ungeheuer - gestern wie heute. Ein von der Kritik gefeierter und mit dem PEN/Faulkner Award ausgezeichneter US-Bestseller.
1865, der Amerikanische Bürgerkrieg liegt in den letzten Zügen. General William T. Sherman marschiert mit einer Armee von sechzigtausend Mann durch Georgia, South und North Carolina. Die notdürftig ausgestatteten Rebellen der Südstaaten haben keine Chance gegen die hochgerüstete Union. Und folglich führt Shermans Marsch zum Sieg der Nord- über die Südstaaten und zur Abschaffung der Sklaverei. Doch am Ende ist jeder Opfer des Krieges: einfache Soldaten ebenso wie hochstehende Generäle, befreite Sklaven ebenso wie ihre Unterdrücker, die Bewohner des Nordens wie des Südens.
Der Marsch eröffnet das eindringliche Panorama einer der schmerzhaftesten Epochen der amerikanischen Geschichte. Mit grossem Einfühlungsvermögen folgt er den Protagonisten dieses unfassbaren Dramas und zeigt dem Leser mit ungeheurer Suggestivkraft, mit welcher Wucht jeder Krieg eine zivilisierte Welt in Barbarei und Chaos stürzen kann - aber auch, dass in jedem Chaos der Keim für einen Neubeginn steckt.
DerMarsch von E. L. Doctorow
LESEPROBE
SOUTHCAROLINA
I
Der rechteFlügel von Shermans Armee, das Fünfzehnte und Sechzehnte Korps unter GeneralHowards, marschierte von Beaufort, wo sie gelandet waren, westwärts, und derlinke Flügel, das Vierzehnte und Zwanzigste Korps unter Slocum,folgte dem Savannah River in nordwestlicher Richtung,sodass die Generäle der Sezession nicht wussten, ob sie Augusta oder Charlestonwürden verteidigen müssen. Tatsächlich war Columbia Shermans Ziel, und Morrisonkonnte, trotz seiner persönlichen Vorbehalte gegen den Mann, nicht leugnen,dass diese Strategie etwas Geniales hatte. Es war eine doppelte Finte, und obwohldie Anführer der Sezession Sherman mittlerweile als den Fuchs erkannt hatten,der er war, konnten sie ihre Truppen nicht zusammenziehen, solange er seineAbsichten nicht kundtat.
AlsVergeltung mutete ihnen die Konföderation immerhin dieses höllische Sumpflandvon Carolina und das dazugehörige Wetter zu. Der Regen strömte nur so vonMorrisons Hutkrempe, ein Wasserschleier, durch den die glühenden Kiefernbündel,die viele der Soldaten mitführten, um auf ihrem Weg durchs Moor etwas zu sehen,flimmernden Sternen glichen. Vor und hinter Morrison auf der halbüberschwemmten Landstrasse ertönten die lauten Rufe und Flüche der Fuhrleute unddie Kommandos der Offiziere, und seinem Rang als Major wurde in dieser Nacht,obwohl doch die Epauletten auf seinen durchnässten Schultern nicht zu übersehenwaren, nicht der gebührende Respekt erwiesen, denn jeder, einfacher Soldat wieOffizier, war von der Mühsal des Vorankommens zu sehr beansprucht, um aufMorrison oder seine Befehle einen Furz zu geben.
Morrisonführte sein Pferd am Zügel. Selbst da, wo die Strasse befestigt worden war, drücktendie schweren Wagen die Hölzer in den Schlamm, und weitere Stämme musstennachgelegt werden. Und mehr als einmal kam Morrison an einem Gespann vorbei,dessen Maultier sich den Huf zwischen den Hölzern eingeklemmt hatte, einerbärmlich wimmerndes Geschöpf, drauf und dran, sich selbst das Bein auszureissen.Wo ein Wagen festsass, wurde der gesamte Zug angehalten, und Dutzende vonMännern wurden herbeigerufen, um die Zugtiere auszuspannen und den Wagen zuentladen, bevor sie die Räder aus dem Schlamm ziehen konnten. Da zog Morrisones vor, neben der Strasse durch den Sumpf zu waten und den kalten Schlamm, derihm in die Stiefel drang, zu geniessen. Er hatte Schreiben von Sherman und von GeneralHoward an General Joe Mower zu überbringen, der dieVorhutdivision des Flügels befehligte. Aber er konnte MowersHauptquartier nicht finden.
Morrisonscherte nach rechts aus, in der Hoffnung, eine andere, vielleicht leichterbegehbare Strasse zu erreichen. Doch Sumpf wechselte mit Wasserläufen,Wasserläufe mit morastigem, von Gestrüpp überwuchertem Gelände, und in derDunkelheit war Morrison sich keineswegs sicher, ob er sich in gerader Liniefortbewegte. Er spürte die Dornen an seinen Hosenbeinen zerren, stapfte jedochweiter durch den Matsch, sein störrisches Pferd hinter sich. Das Gestrüppmachte Zypressen Platz, einem dichten Zypressenwäldchen, deren gewundeneWurzeln, glatt und tückisch, er unter den Füssen spürte. Jetzt werde ichertrinken, sagte er, stolperte aber dennoch weiter, und schliesslich fandenseine Füsse Halt auf der schmalen Böschung eines lebhaften Wasserlaufs, einesHochwasserkanals des Salkehatchie, auf die er erst sichund dann sein Pferd hinaufzog. Das Tier fröstelte und bebte, es hatte blutendeDornenschrammen an den Läufen.
Nachdem erder Böschung ein paar Hundert Meter gefolgt war, stiess er auf eine Kompanie vonPionieren, die eine Pontonbrücke über den Kanal errichteten. Sie hatten bereitsdie Pfeilerboote verankert und verbanden sie nun mit gefällten Stämmen, und amdiesseitigen Ende legten sie zur Befestigung kreuzweise Planken, auf denen nochder Anstrich von Behausungen zu erkennen war. Hier entstand eine weitere Route,auf der das Korps vorrücken konnte, wenn der Fluss eingenommen sein würde. Das Hämmernund Brüllen der Pioniere ging im Geprassel des Regens und in einem fernenDonnern unter, das nicht von einem Gewitter, sondern von Feldkanonen kam, dennin diesem vierten Kriegsjahr galt die Übereinkunft nicht mehr, dass bei Nachtdie Kämpfe ruhten. Morrison schaute über das Gewässer hinweg und sah dort nurweiteres Sumpfland. Also war die Vorhut weiter - aber wie weit? Eine halbe,eine ganze Meile? - bis zum eigentlichen Salkehatchievorgestossen, an dessen jenseitigem Ufer die Brigaden der Rebellen hinter ihrenWällen kauerten.
Nur wenigeMinuten der Suche vergingen, bis Morrison so niedergeschlagen und hoffnungsloswar wie noch nie. Mit einiger Bitterkeit fragte er sich, warum er, ein Major,als Kurier dienen musste, wenn nicht, weil Sherman es auf ihn abgesehen hatte.Als er dem General in Savannah mitgeteilt hatte, dassMinister Stanton eingetroffen sei, da hatte Sherman gesagt: Im Senden sind Siebesser als im Empfangen, Morrison, und dieser Bemerkung hatte er einmerkwürdiges, kurzes Lachen hinterhergeschickt. Morrison hatte es aber nichtgefallen, dass man ihm, und seis im Scherz, die Schuld an der Nachrichtzuschob, die er überbracht hatte. Er hatte ehrenhaft und korrekt Dienst getan,und das wurde ihm nun mit dieser nassen, kalten Hölle vergolten, die einengenauso umbringen konnte wie eine Kugel, nur langsamer.
Jemand riefnach ihm, doch als er sich umblickte, sah er niemanden. Dann landete ein StückAst so krachend und nachfedernd vor seinen Füssen, als sei es nicht herabgefallen, sondern geworfen worden. Morrison sah nachoben, und dort, im Geäst einer riesigen Ulme, vermochte er allmählich mehrerein Decken gehüllte Männer auszumachen. Einer davon rauchte eine Pfeife mit demPfeifenkopf nach unten, und im Lichtschimmer der Glut zeichneten sich schwachdie Konturen des Stammes und der Äste ab. Im Regen hinaufbrüllend, erstatteteMorrison Meldung und stellte fest, dass er auf das Hauptquartier des Generalstabsgestossen war, nach dem er gesucht hatte. In der obersten Astgabelung stand, wieein Matrose auf dem Bug eines Schiffes und im Dunkel dem Schlachtenlärmzugewandt, General Mower, der Mann, den Sherman inseinem Schreiben dringlich aufforderte, unverzüglich den Widerstand am Salkehatchie zu brechen. Sherman plante eine glattverlaufende Vereinigung mit Slocums Flügel auf derHochebene an der Strecke der South Carolina Railroadbei dem Ort Blackville, und jede Stunde zählte.
Morrisonüberreichte dem Offizier auf dem untersten Ast die Depeschen und wurde aufgefordert,hinaufzuklettern und einen Nistplatz für sich zu finden. Morrison mochte nichteinmal den Versuch unternehmen, übergewichtig und nicht sonderlich gelenkig,wie er war. Mit dem Rücken am Stamm liess er sich zu Boden sacken, und von derKälte wurde sein Hinterteil taub.
II
Der Regenhatte die Strasse unpassierbar gemacht, und man liess den gesamten Zug anhalten. Wrede zündete eine Lampe an, legte seinenInstrumentenkoffer auf die Knie und nutzte die Zeit zum Briefeschreiben. An wenwohl? Er hatte einmal einen Bruder erwähnt, ebenfalls Arzt, zu Hause inDeutschland. Emily war unruhig. Der Regen trommelte laut auf die Plane. Durchdie offene Klappe sah sie die Maultiere mit gesenkten Köpfen in stumpferUnterwürfigkeit warten. Die Räder auf der rechten Seite waren in den feuchtenSand gesunken, und der Wagen stand leicht nach rechts gekippt da. Bequem machenkonnte Emily es sich nur, indem sie sich auf den Stapel von Steppdecken undFederbetten legte, die für Verwundete einbehalten worden waren. Mit angezogenenBeinen lag sie auf der Seite, die Hände unter dem Kopf, damit ihr Gesicht nichtunmittelbar mit den übelriechenden Decken inBerührung kam, von denen manche steif waren von eingetrocknetem Blut.
Die Zeit,da Emily ihr Abenteuer als belebend empfunden hatte, war vorbei. Siebeobachtete Wrede, der sich über seinen Brief beugteund die Welt, den Krieg und Emily vergessen hatte. Sein Konzentrationsvermögenwar übermenschlich. In Momenten wie diesem kam er ihr wie ein völlig Fremder vor,dessen Sklavin sie geworden war. Wie trostlos, wie verlassen sie sich dochfühlte. Solange sie ihre kühn gewählte Wanderschaft als aufregend erlebt hatte,hatte sie über die Zukunft nicht nachgedacht. Nun aber hing sie bedrohlich unddunkel über ihr, wie eine Nacht endlosen Regens. Dr. WredeSartorius war kein normaler Mann. Sie konnte ihn sich nicht an einem festenWohnsitz vorstellen. Er lebte in der Gegenwart, als gäbe es keine Zukunft, oderin einem Zustand solcher Entschlossenheit, dass die Zukunft, wenn sie dennkäme, ihn gerade so antreffen würde, wie er jetzt war, seelisch so vollendetwie in diesem Augenblick. Nichts brachte ihn aus der Fassung - seineGelassenheit war übernatürlich. Unentwegt sandte er an die medizinischeZentrale der Armee Aufsätze über chirurgische Verfahren, die er entwickelt,oder über verbesserte Methoden der postoperativen Versorgung, die er entdeckthatte. Die dicken Handbücher der Feldmedizin hielt er für wertlos, und überjedweden Ratschlag, den die medizinische Zentrale verbreiten liess, sah er mitsouveräner Missachtung hinweg. Letztlich war er ein Mann, der niemanden brauchteausser sich selbst, weder in beruflichen Dingen noch, leider Gottes, in seinemprivaten Leben. Emily konnte sich nicht vorstellen, dass er je melancholischoder wehmütig oder unglücklich sein oder gar in eine alberne, närrischeStimmung oder sonst eine vorübergehende Laune geraten könnte. Er war ein distanzierterMensch, der sich selbst genügte, in seiner eigenen Gedankenwelt lebte undkeines anderen bedurfte. Zwar hatte er ihr Zuneigung bewiesen und ihr wie einLehrer seine Interessen nahegebracht; sollte siejedoch bei einem Angriff sterben, würde er dann - das fragte sie sich ernstlich- ihren leblosen Körper wie ein Liebender voll Trauer betrachten oder aber eineAutopsie vornehmen, um die Auswirkung der Hagel- oder Minié-Geschosse,die sie getötet hätten, auf ihr Gewebe und ihre Organe zu untersuchen?
Warum binich so verstimmt, fragte sie sich. Aber sie kannte die Antwort. Sie erhielt siein Form eines inneren Zusammenzuckens, das sie die Beine zusammenpressen liess.Dabei war sie als junges Mädchen doch keineswegs eine von Phantasien betörteRomantikerin gewesen, der die Wirklichkeit unausweichlich einen Schockversetzen würde. Sie war eine gebildete Frau und hatte genug gelesen, um zuwissen, dass es in der Realität eine körperliche Mechanik der Liebe gab. Abersie hatte sich in Andacht hingegeben. Und sie hatte nur ein Gefühl: erfüllt zusein.
Er hattesich zuvor durchaus fürsorglich gezeigt. Als sie entkleidet dagelegen hatte,mit geschlossenen Augen, hatte sie gespürt, wie neben ihr ein Gewicht vom Bettgenommen wurde. Er hatte einen Beschluss gefasst. Sie hatte ihn seinenInstrumentenkoffer öffnen gehört. Um dir Schmerzen zu ersparen, hatte er, überihr stehend, gesagt, werde ich diesen kleinen Eingriff vornehmen. Du wirst nurein leichtes Stechen spüren. Und sie fühlte, wie seine Finger sie dehnten, unddann war es genau so, wie er gesagt hatte, und es kam so gut wie kein Blut. Undnatürlich war das ein fürsorgliches, vernünftiges Vorgehen gewesen, aber dochein so sehr seinem medizinischen Denken verpflichtetes, dass sie sich mehr wieeine Patientin denn ein geliebtes Wesen fühlte. Dann die Vereinigung. Und imMoment seines Höhepunkts hatte sie den Fehler begangen, die Augen zu öffnen,und im Licht des Herdfeuers wirkte sein Gesicht grässlich, von Gedankenleereüberwältigt und verzerrt, sein Blick wie in Blindheit erstarrt, was Emily wiedie Qual eines Sehers vorkam, der ein gottloses All erschaut. Und als er seinkehliges, ersticktes Stöhnen von sich gab und sie spürte, wie er in ihrerschauerte, hielt sie ihn fest, nicht aus Leidenschaft, sondern aus Sorge umihn, weil er so leiden musste, obwohl dies natürlich kein Leiden war, nichtwahr, sondern nur etwas, das in Kontrast zu dem stand, was sie selbst fühlteerfüllt zu sein.
Und seitdem- war das nur ein paar Nächte her? - hatte er sich ein wenig distanziertverhalten, anscheinend froh, mit den Vorbereitungen auf den neuen Feldzugbeschäftigt zu sein, und allen seine ruhigen Anweisungen erteilt, auch ihr. Undnun hatte sie das sichere Gefühl, es werde für sie keine Zukunft mit diesemMann geben. Sie war eine Last, ein Flüchtling aus dem Süden, deren Anwesenheitnur dadurch gerechtfertigt war, dass sie als Ersatzpflegerin für die nichtvorhandenen Fachkräfte, die Wrede vorgezogen hätte,einsprang. Und sie hatte sich noch niemals so verlassen gefühlt, nicht einmal,als ihr Vater gestorben war, denn da hatte sie in ihrem eigenen Haus gelebt,von vertrauten Dingen umgeben, und noch nicht begriffen, dass das Leben, wiesie es gekannt hatte, zu Ende war und dass sie sich binnen kürzester Zeit als gefalleneFrau in einem Armeefuhrwerk wiederfinden würde, woder Regen wie Geschosshagel auf die Planen prasselte, irgendwo imgottversumpften Tiefland von South Carolina.
Im Wagengleich dahinter studierte Pearl den versiegelten Brief, den sie Leutnant Clarkein Sandersonville aus der toten Hand gezogen hatte.Sobald sie entschieden hatte, dass der Brief an seine Familie gleichen Nachnamensgerichtet war, konnte sie dem Klang nach weitere Buchstaben erraten, nurklangen das »C« am Anfang und das »k« weiter hinten doch eigentlich gleich, undsie wusste nicht, warum es für diesen Laut zwei Zeichen geben sollte. Das »e«am Ende bereitete ihr auch Probleme, denn sie konnte sich nicht vorstellen,wozu es gut sein sollte. Aber jedenfalls, dachte sie, kann ich die meistenBuchstaben in seinem Namen lesen, und dann kann ich sie auch lesen, wenn ichsie anderswo seh. Doch obwohl sie den Brief in verschiedenenWinkeln in den Lichtschein der Kerosinlampe hielt, konnte Pearl die übrigenWörter beim besten Willen nicht entschlüsseln. Es standen noch drei weitereZeilen da, und sie bekam nicht heraus, was sie bedeuten sollten.
Mattie Jameson schlief auf dem Stapel zusammengeklappter Tragen.Die Hände unter dem Kinn, lag sie eingerollt wie ein Kind im Mutterleib. Mehrals einmal hatte Pearl Fehlgeburten zu sehen bekommen, und immer hatten siediese Stellung gehabt, in der jetzt die Madame vom Massa dalag. Und so holpriges sich mit dieser Armee hier auch reiste, es war, als schwebte die Madame aufeiner Wolke, und zum grössten Teil verschlief sie ihr Leben, sogar jetzt, wo derRegen ein solches Getöse machte, dass man sich ja kaum selbst denken hörenkonnte. Und wenn sie wach war und Pearl versuchte, ihr etwas zu essen zu geben,dann nahm sie nicht mehr als einen Bissen von einem Biskuit oder einen SchluckKaffee zu sich. Und sie redete auch nicht, kein einziges Wort, und manchmal sahsie Pearl so an, als versuchte sie, sich an ihren Namen zu erinnern.
Pearl kams so vor - sicher war sie sich allerdings nicht, dennauf der Plantage hatte sie nie Gelegenheit gehabt, das Gesicht von dem Massaseiner Madame so aus der Nähe zu beäugen -, dass der Madame ihr Haar an denSchläfen grau wurde, wos doch vorher weizengelb gewesen war. Sie hatte esstraff nach hinten gekämmt und im Nacken zusammengebunden, und damit sah sieaus wie eine ältere Frau, dabei wusste Pearl genau, dass die Madame um Jahrejünger war als ihr Pa. Aber ihr Gesicht war matt und teigig, und die Hautleuchtete nicht. Der Pa war ein alter Mann gewesen, als er dahingeschieden war,sechzig Jahre bestimmt, und so alt konnte die Madame noch längst nicht sein,obwohl sie sich ganz so gab in ihrer stummen Trauer, als ob sie auch gestorbenwäre und ständig schlafen müsste, ums zu beweisen. NachdemPa gestorben war, hatte Pearl der Madame erzählt, dass Fieldstonebis zu den Grundmauern niedergebrannt war - für den Fall, dass sie darandachte, nach Hause zurückzugehen -, und danach war die Madame ganz stillgeworden und hatte den Blick so ganz nach innen gekehrt.
Pearl sahsich um - im Wagen kam es ihr in diesem Moment so eng vor. Sie zog dieUniformjacke aus und spürte sofort den feuchten Wind, der unter der Planehereindrang. Sie dachte an die Plantage, auf der sie geboren war und ihr ganzesLeben bisher verbracht hatte, an den Sonnenschein auf ihrem Kopf und an dieFelder, die sie liebte. Und dann wurde sie böse auf sich. Wenn du so denkst,Mädchen, bist du noch nicht ganz frei. Ich bin doch nicht frei, um mich um dieMadame hier, die mich nie beachtet hat, zu kümmern, als ob ich noch ihreSklavin wär. He, Miz Jameson, rief sie, aufwachen, aufwachen! Und sie beugtesich hinüber und rüttelte an Matties Schulter.
Mattie,wach geworden, blinzelte, setzte sich langsam auf und hob die Hände an dieKehle. Sie hörte das Prasseln des Regens und fröstelte. Sie zog sich den Schalum die Schultern, und erst dann wurde sie gewahr, dass die kleine Pearl sieanstarrte.
Sind Siejetzt auf?, fragte Pearl.
Mattienickte.
Na fein.Dann machen Sie sich mal klar, wo Sie sind. Sehen Sie die Kisten hier, dieFlaschen und so? Sie sind hier in diesem Sanitätswagen zusammen mit Pearl, demleiblichen Kind von Ihrem Massa. Wissen Sie das? Wenn Sie nicht sprechenkönnen, dann nicken Sie eben zu Antwort mit Ihrem kranken Kopf.
Mattienickte.
Fein. Undwir sind hier bei General Sherman, und seine Armee macht Schluss mit dem, wasvon der Sklavenhalterei noch übrig ist. Wissen Sie das?
Mattienickte.
Und blossaus Gutmütigkeit haben bestimmte Leute Sie mitgenommen, als Sie drum gebeten haben.Wissen Sie das noch?
Mattienickte.
Fein. Undich weiss auch, warum Sie drum gebeten haben. Sie suchen nach Bruder eins undBruder zwo. Stimmt doch, dass Sie der Armee hier folgen, weil Sie hoffen, diebringt Sie zu Ihren Jungen, oder? Mund auf, Frau. Ist doch so, oder?
Ja, hauchteMattie.
Ja. Und Siewollen fuchtelnd zwischen die Armeen treten, den Beschuss stoppen, die zweiJungen rauspicken und ihnen die Haut retten, stimmts?
Ja. Mattie straffte die Schultern und faltete die Hände auf demSchoss. Ja.
Na, wennSie glauben, das geht, dann sind Sie verrückt, aber Sie sind eben eine Mutter,und Mütter denken so. Das ist Mutterwahnsinn, und ich schätz mal, es gibtschlimmere Arten als den. Aber von jetzt an müssen Sie wach bleiben und dürfennur noch einschlafen, wenns Schlafenszeit ist. Wissen Sie, warum? Mattie schüttelte den Kopf.
Sehn Siemeine Uniform? Ich mach Pflegearbeit für den Oberst-Doktor, der versucht hat,dem Massa das Leben zu retten. Ich kann Bandagen wickeln, ich kann ihnen Wassergeben, wenn sie durstig sind, die Männer, und so weiter. Ich mach mich nützlichin der Armee hier, die mich ernährt und mich mitnimmt, weil ich zurzeit keinanderes Zuhause auf der Welt hab. Verstanden?
Mattienickte.
Na, undgenauso werden Sie sich nützlich machen, das ist Ihre Pflicht, wo Sie nun malmitkommen, denn um die gebrochenen Männer hier zu versorgen, brauchen sie jedefreundliche Frau, die sie nur finden können.
Was kannich tun?, fragte Mattiebeinahe flüsternd.
Sie werdendas Miz Thompson fragen, wenn wir das nächste Mal dasLager aufschlagen, und die wird genug Arbeit für Sie haben, keine Sorge. Was Pohrl tun kann, das können Sie sicher auch. Aber da gibts nochwas, wenn ich schon auf Sie aufpasse, wo Sie so schwach und bekümmert sind, undwissen Sie was? Nein.
Na, wasIhnen die ganze Zeit über, als ich ein Kind in Ihrem Haus war, nichteingefallen ist. Sie können Pohrl lesen beibringen.Fangen Sie mal mit dem hier an, sagte Pearl und hielt ihr Clarkes Brief hin.
Mattiestreckte die Hand aus, und Pearl gab ihr das Kuvert. Ihre Blicke begegnetensich.
Jetztfangen Sie mir bloss nicht an zu heulen, rief Pearl, aber das half nichts. DieTränen flossen Mattie über die Wangen. Sie schüttelteden Kopf und biss sich auf die Lippe, und in Pearl, die nicht wusste, ob sie dieFrau trösten oder anherrschen sollte, wallten auf einmal Gefühle auf, und auchaus ihren Augen quollen Tränen, ungerufen und unerwünscht.
© VerlagKiepenheuer & Witsch
Übersetzung:Angela Praesent
- Autor: E. L. Doctorow
- 2007, 2. Auflage, 416 Seiten, Masse: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Praesent, Angela
- Übersetzer: Angela Praesent
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462039172
- ISBN-13: 9783462039177
- Erscheinungsdatum: 22.08.2007
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