Der Mann mit dem Fagott
Roman. Mit Bonusmaterial
Ein Roman wie ein Jahrhundertkonzert - Familiensaga und Zeitgeschichte in einem:
"Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und mein Weltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich viele Jahre...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Mann mit dem Fagott “
Ein Roman wie ein Jahrhundertkonzert - Familiensaga und Zeitgeschichte in einem:
"Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und mein Weltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich viele Jahre begleitet, die Idee zu diesem Buch trage ich schon beinahe mein ganzes Leben mit mir herum."
Udo Jürgens-Bockelmann
Udo Jürgens erzählt die Geschichte seiner Familie und macht sich auf die Suche nach seinen eigenen Wurzeln in einem politisch aufgewühlten Jahrhundert. Sein Buch wurde als Zweiteiler für die ARD verfilmt.
"Wunderschönes, spannendes Familienepos." KULTUR
Klappentext zu „Der Mann mit dem Fagott “
Ein Roman wie ein Jahrhundertkonzert - Familiensaga und Zeitgeschichte in einem: Udo Jürgens' Familiengeschichte, eine unter die Haut gehende Saga von Glanz und Elend, Aufstieg und Fall, Angst und Triumph!München, 1955: Die Jazzband des legendären Freddie Brocksieper geht von der Bühne. Ein junger Gast aus Salzburg darf ein wenig Pausenmusik spielen. Er nutzt seine Chance, spielt Blues, Jazz und Swing und singt dazu. Tosender Applaus erfüllt das Schwabinger Studio 15. Niemanden hält es auf den Stühlen, die Menschen umringen das Klavier. Es ist kurz nach Mitternacht. Udo Jürgens ist soeben 21 Jahre alt geworden, und in dieser Geburtstagsnacht beginnt eine der eindrucksvollsten Karrieren der deutschen Musikgeschichte.
In grossen, opulenten Bildern erzählen Udo Jürgens und Michaela Moritz die wechselvolle Geschichte der Familie. Sie erzählen von der Musik, die Jürgens seit seiner Kindheit zum Mittel wird, die Welt zu begreifen und das Leben zu bestehen.
»Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und mein Weltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich viele Jahre begleitet, die Idee zu diesem Buch trage ich schon beinahe mein ganzes Leben mit mir herum.« Udo Jürgens-Bockelmann
Diese Filmsonderausgabe enthält umfangreiches Bonusmaterial: ein Exklusiv-Interview mit Udo Jürgens, zahlreiche Fotos und ausführliche Informationen zu den Dreharbeiten.
Ausstattung: 3 Bildteile s/w mit je 8 Seiten; mit Bonusmaterial
Grossformatiges Paperback. Klappenbroschur, mit Bonusmaterial
Lese-Probe zu „Der Mann mit dem Fagott “
Der Mann mit dem Fagott von Udo JürgensWahrheit oder Lüge? -
Das Leben als Roman
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Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und mein Weltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich seit vielen Jahren begleitet, die Idee zu diesem Buch trage ich schon beinahe mein ganzes Leben mit mir herum.
Es erzählt die Wahrheit und ist doch ein Roman: Es erzählt die Geschichte so, wie ich sie sehe, sie recherchiert oder erlebt, sie aus den Geschichten meiner Kindheit und Jugend rekonstruiert habe. Aber jede Geschichte enthält so viele Wahrheiten wie Personen, die dabeiwaren oder darüber erzählen.
Ich war nicht dabei, als mein Großvater im Jahre 1912 durch Moskau fuhr, als mein Vater seinen ersten Theaterbesuch erlebte, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und mein Großvater in St. Petersburg den Jubel der Massen sah und hörte oder als mein Vater 1945 in Klagenfurt in Gestapohaft saß. Ich weiß nicht, bei welchem Satz genau mein Onkel Werner die Stirn runzelte, als er 1958 beim Versuch, das Haus seiner Kindheit zu photographieren, verhaftet wurde, und mich mögen auch meine Erinnerungen an meine eigene Kindheit und Jugend da oder dort trügen. Freunde und Weggefährten von damals werden vielleicht andere Geschichten erzählen, weil sie genau die gleiche Geschichte anders erlebt haben. Dieses Risiko muß man eingehen, wenn man sich vornimmt, so ein Buch zu schreiben.
Was ich recherchieren konnte, habe ich recherchiert, ich habe historische Bücher studiert, alte Dokumente gesucht und gefunden, bin bis nach Moskau und St. Petersburg gereist, um die Orte zu besuchen, die ich hier beschreibe, und um in Archiven zu forschen. Ich habe Historiker und meine Familie befragt und mich auf meine Erinnerungen und mein Lebensgefühl verlassen.
Wahrscheinlich war nicht jede Geschichte ganz genau so, wie sie hier beschrieben ist, aber sie könnte so gewesen sein, und sicher liegt die Wahrheit nicht allzuweit davon entfernt. Letztendlich enthält dieses Buch die einzige Wahrheit, die ich über meine Familie, meinen eigenen Lebensweg und den »Mann mit dem Fagott« erzählen konnte.
Da und dort haben wir Namen geändert und Personen ein wenig anonymisiert, um niemanden zu verletzen oder an den Pranger zu stellen und die Nachkommen jener, die irgendwann fragwürdig gehandelt haben, zu schützen, denn dieses Buch will nicht anklagen und alte Wunden aufreißen, sondern die Geschichte meiner Familie, an der sich die Geschichte dieses Jahrhunderts spiegelt, auf eine ganz persönliche Weise neu erzählen.
Udo Jürgens-Bockelmann
PROLOG
Bremen, Weihnachten 1891
Der Mann mit dem Fagott
Ein dumpfer Aufprall. Ein Schneeball zerspringt dicht vor Heinrich Bockelmanns Kopf an einer Hauswand. Kinderlachen, sich schnell entfernende Schritte. Wieder Stille, nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen und in der Ferne leise die geheimnisvollen Klänge des Weihnachtsmarktes.
Die frühe Dunkelheit und das Glitzern der Festbeleuchtung im seltsam kalten Winter geben der Stadt ein fremdes, verzaubertes Gesicht. Vielleicht ist es der in dieser Stadt so seltene Schnee, der alles verändert. Oder vielleicht ist es auch nur Heinrichs Blick, der bereits fremd geworden ist, die Stadt wie zum ersten Mal betrachtet mit Augen, die das Besondere suchen, das Bleibende, Bilder, an denen die Erinnerung sich festhalten kann in der Fremde.
Jedes Haus, jeder Baum, jedes Licht, jeder Blick ein Abschiedsgruß. Er hatte es sich nicht so schwer vorgestellt. Mit 21 hatte man erwachsen zu sein, ein zielstrebiger junger Mann, der seinen Weg ging. Er mußte sich an diese Rolle erst herantasten, an den festen, zuversichtlichen Schritt in seine Zukunft.
»Halte die Augen und Ohren offen, sei dir sicher, wer du bist, und sei bereit zu lernen, dann wirst du deinen Weg finden«, hatte sein Vater zum Abschied gesagt und war wieder fortgereist, auf seinem Passagierschiff »Henriette«, mit dem Kapitän Bockelmann die Route Bremen - New York befuhr. Wie meistens würde sein Vater an Weihnachten nicht zu Hause sein. Heinrich kannte es nicht anders, und doch wäre es schön gewesen, den Vater noch ein wenig länger hier zu haben, diesmal... Der Rat des in der Fremde und im Leben so erfahrenen Vaters hätte ihm in diesen Tagen viel bedeutet. Solche Gespräche waren selten gewesen in Heinrichs Leben. Monatelang war der Vater fort, unterwegs auf den Weltmeeren. Kam er zurück, war er ein Fremder. Und kaum war die Fremdheit gewichen, war er schon wieder auf See, existierte nur noch in den wenigen Briefen und bunten Postkarten aus aller Welt, um die Heinrichs Spielkameraden ihn immer beneidet hatten.
Nun trieb es auch ihn fort, so stark die Stimme der Ungewißheit im Moment in ihm auch war und ihn zu halten suchte. Er wird gehen. In wenigen Tagen. Nur wohin, das weiß er noch nicht.
Die goldene Taschenuhr des Vaters, sein Abschiedsgeschenk, fühlt sich schwer an, fremd. Noch berührt er sie ein wenig distanziert, voll Respekt vor ihrem unschätzbaren Wert - und vor dem Gefühl, sie sich erst noch verdienen zu müssen. Noch öffnet er ein wenig verstohlen den Deckel, wie früher, als er heimlich mit ihr spielte. Manchmal ertappte sein Vater ihn damals dabei, lächelte, nahm ihm die Uhr aus der Hand, sagte: »Das ist eine Zauberuhr! Wenn dir die Zauberkräfte hold sind, kannst du sie mit deinem Atem öffnen.« Er ging in die Hocke, um mit Heinrich auf Augenhöhe zu sein, hielt sie ihm vor sein ungläubig-gespanntes Gesicht. »Puste!« Heinrich gab sich Mühe. »Das kannst du aber besser! Fester!« Heinrich pustete mit all seiner Kraft. »Noch mal!« Da sprang wie von Zauberhand der Deckel auf, und die Uhr machte summend und bimmelnd und klingend die Zeit hörbar. Zauberkraft... die könnte er jetzt wirklich brauchen. Heinrich lächelt, schließt den Deckel wieder, steckt die Uhr in seine Tasche. Die Zeit bis zu seiner Abreise möchte er gar nicht ermessen.
Duft nach Zimt und Mandeln aus jedem Haus. Schnaubende Pferde, knirschendes Zaumzeug. Ein zugerufener Gruß. Menschen auf dem Weg in die Stadt. Der Schnee dämpft die Geräusche der Straße, macht sie weicher, sanfter. Alles Alltägliche erscheint Heinrich heute besonders, festhaltenswert. Seit Kindertagen zieht es ihn in die Ferne. Stundenlang hatte er schon als kleiner Junge den Globus im Arbeitszimmer des Vaters studiert, sich die wohlklingenden Namen ferner Länder, fremder Städte eingeprägt, sich vorgestellt, sie später einmal alle zu bereisen.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, wegzugehen, sich irgendwo in der Welt einen Platz zu suchen. Nur wo, das zu entscheiden, fällt ihm schwer. Beim letzten Besuch seines Vaters hatte er ihn um Rat gefragt. Man hatte in großer Runde mit Freunden und deren Familien zusammengesessen. Von Amerika hatte der Vater ihm abgeraten. Natürlich könne er mitfahren auf der »Henriette«, auf der Überfahrt arbeiten und sich damit die Kosten für die Reise verdienen. Natürlich sei das eine Möglichkeit, und sehenswert sei das Land allemal, aber zum Leben? Eher nicht. Es sei auf einem unheilvollen Weg. Unruhen, Aufstände, Streiks, die Stimmung gereizt, nervös. Es wimmle von gescheiterten Existenzen, Kriminellen, ein undurchschaubarer Sumpf, und die Wirtschaft sei auch nicht gerade stabil. Schwierig schon für die Etablierten, aber bestimmt kein gutes Pflaster für einen jungen Mann, der seinen Weg machen wolle. Und dann die Entfernung zu Europa, der unvergleichlichen europäischen Kultur... Der ganze Atlantik dazwischen... Diese Weite beeindrucke sogar ihn selbst noch. Nach all den Jahren, die er diese Strecke nun schon befuhr... Die Freunde des Vaters waren seiner Meinung.
Aber Rußland, das sei eine Überlegung wert. Ein junger Maat auf seinem Schiff stamme aus Sankt Petersburg. Was der so erzähle! Es müsse ein unvergleichlich glanzvolles Land sein und vor allem offen, das Land der Starken, so sagte man, das Land, in dem man mit einer Idee und harter Arbeit alles erreichen konnte. Besonders als Deutscher. Die vielen deutschen Einwanderer dort hatten großes Ansehen, Einfluß und Macht erlangt. In ihrem Kreis konnte man sich etablieren. Das wäre vielleicht das richtige für Heinrich. Die Knoops, Freunde des Vaters, hatten begeistert zugestimmt. Man habe Verwandte in Moskau. Die könnten Heinrich bestimmt Adressen für eine Stellung vermitteln. Rußland sei wundervoll! Man sei selbst schon dagewesen! Herrlich! Der Glanz des Zarenhauses, die Kultur, die Weltoffenheit... Dort sei wirklich alles möglich.
Also Rußland? Heinrich zögert noch. Er muß sich bald entscheiden. Mit Jahresbeginn möchte er sein neues Leben beginnen, so hatte er sich vorgenommen, und was man sich vornahm, das hielt man auch ein.
Vielleicht könnte er ja auch in eine andere der europäischen Metropolen gehen? Adressen hatte er sich von überallher besorgt. Die Freunde seines Vaters hatten Kontakte in aller Herren Länder. Vielleicht sollte er sich mit einem etwas kleineren Schritt begnügen?
Rußland war sicher die exotischste der Möglichkeiten. Dort wäre ihm der größte Aufstieg möglich, aber auch das größte Versagen. Es würde alles in seiner Hand liegen. Also eigentlich genau das, was er suchte, auch wenn er manchmal sogar mit dem Gedanken an ein ganz normales Leben spielte: Er könnte sich einfach in Bremen eine Stelle suchen, vielleicht in einiger Zeit sogar um Katharinas Hand anhalten...
Ja, Katharina. Bei dem Gedanken an ihre warme, weiche Stimme, ihr feines, fröhliches Gesicht, ihre langen blonden Haare, wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt. Diese Gefühle kamen zur falschen Zeit. Zu spät. Oder auch zu früh. Er kannte sie noch nicht lange genug, um ihretwegen seine Pläne zu ändern und hierzubleiben. Es wäre wie das Eingeständnis eines Versagens gewesen. Er konnte sie aber auch nicht bitten, auf ihn zu warten. Er hatte daran gedacht, doch zu ungewiß war seine Zukunft, zu wenig klar umrissen die Zeit, die er brauchen würde, um sich zu etablieren, um ihr dort, wohin er ging, ein angemessenes Heim bieten zu können. Die Ungewißheit seines Lebens konnte er ihr nicht zumuten, das war ihm in den letzten Wochen des Kampfes mit sich selbst klargeworden. Damit mußte er fertig werden. Es fiel ihm schwer.
Er wirft eine Münze von der Brücke aus in einen der romantischen Kanäle der Weser. Ein kleines Ritual, wie immer, wenn es im Leben für ihn darauf ankam. Es sollte ja bekanntlich Glück bringen, und Glück konnte er brauchen.
Plötzlich aus der Ferne leise ein ganz besonderer, seltsam anrührender Klang, der ihn merkwürdig berührt. Er lauscht, folgt seiner Richtung, verliert ihn wieder, hält den Atem an.
Da ist er wieder, leise und doch deutlich hörbar, abgesetzt von den Alltagsgeräuschen und den Klängen des Weihnachtsmarktes, eine ganz eigene Stimme im Chor der Töne, allem anderen unterlegt, als wäre er mit seiner sonderbar melancholisch-fröhlichen Melodie das Fundament für alle anderen Klänge und Farben dieses Tages.
Unbewußt versucht Heinrich die Richtung auszumachen, aus der er erklingt und folgt ihm wie selbstverständlich, ohne daß er es beschlossen, sich aus einer Laune heraus oder aus Langeweile dazu entschieden hat. Es war zwingender. Er hatte in diesem Augenblick keine Wahl.
Es kommt aus der Richtung des Marktplatzes, da ist Heinrich sich mittlerweile sicher. Es klingt tiefer als eine Oboe und erhabener als eine Klarinette. Es ist weicher als eine Posaune und rauher als eine Flöte. Heinrich lauscht. Es ist kein Instrument, das man Tag für Tag hört. Vielleicht ist es ja ein Musiker, der zu Hause übt, bei geöffnetem Fenster, aber das ist unwahrscheinlich. Dazu ist der Klang zu präsent, nicht gedämpft durch Mauern und Fenster. Es schweigt, einen Augenblick nur, dann setzt es wieder ein. Er muß jetzt ganz nah sein.
Heinrich tritt aus dem Dunkel der Arkaden und bleibt erstaunt stehen. Der Mann steht etwas abseits des Weihnachtsmarktes. Er trägt eine merkwürdige, prächtig-bunte Verkleidung, einen dunkelblauen Gehrock mit rot umfaßten goldenen Knöpfen, eine dunkle Hose und auf dem Kopf einen schwarzen, zerknitterten Zylinder. Seine Haltung leicht nach vorn gebeugt. Und er spielt auf einem Fagott.
Das war kein Instrument für einen Straßenmusikanten. Und der Mann sieht auch nicht aus wie ein gewöhnlicher Straßenmusikant. Er spielt ein bekanntes Stück, eine ganz einfache Melodie, die Heinrich irgendwoher kennt und doch nicht zu benennen weiß. Es klingt nach einem russischen Volkslied. Unverkennbar. Erstaunlich bitter und traurig die Verse und auf eine seltsame Weise fröhlich und doch nicht unbeschwert der rhythmische, sich ständig steigernde Refrain, als müsse man die Traurigkeit der Welt nur intensiv genug erleben, um sie in etwas Schönes zu verwandeln. Die dunklen Augen des Mannes strahlen, ruhen ganz in sich selbst. Irgendwo hat er diese Augen schon einmal gesehen, denkt er, doch er weiß nicht, wo. Vielleicht im Traum.
Einige Passanten bleiben stehen, versammeln sich um den Fagottisten, klatschen begeistert im immer schneller werdenden Rhythmus der Melodie. Das bunte Treiben des Weihnachtsmarktes verblaßt, so lange er spielt, das kleine Karussell, die bunten Stände mit Lebkuchen und Mandeln und Zimtsternen, der Leierkastenmann mit den Weihnachtsliedern. Das alles kann warten. Heinrich fragt sich, was es mit dem Spiel, der Verkleidung auf sich haben könnte.
Für einen Bettler ist die Kleidung zu gut, die Erscheinung des Mannes zu fein, zu lebendig. Ein Bettler würde den Hut auch nicht auf dem Kopf tragen, sondern vor sich stellen in der Hoffnung auf milde Gaben.
Der Kreis der Zuhörer vergrößert sich. Heinrich wird ein wenig abgedrängt. Er kann den Fagott-Spieler nicht mehr sehen. Nur noch hören. Jemand tuschelt: »Der macht Reklame für das Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. Da vorn ist ein Plakat mit der Einladung.«
Heinrich Bockelmann lächelt. Erinnerungen an die noch nicht so lange zurückliegende Schulzeit werden wach. Kameraden, Lehrer. Das Alte Gymnasium war auch das seine gewesen. Und das Katharinas. Vielleicht sollte er hingehen. Es wäre eine schöne Gelegenheit, die alten Freunde wiederzusehen. Ein seltsamer Gedanke: Menschen wiederzufinden, die er lange nicht gesehen hat, um sie danach gleich wieder zu verlieren. Er schüttelt den Kopf. Erwachsen zu werden, schien zu bedeuten, Abschied zu nehmen. Nicht nur von der Kindheit. Das hatte er nie in der Schule gelernt.
Heinrich geht ein wenig auf und ab. Das fast mystische Spiel des Fagottisten begleitet ihn, zaubert ein Lächeln auf sein Gesicht, ist in geheimnisvoller Weise Antwort auf Heinrichs unausgesprochene Sehnsucht. Heinrich fühlt es plötzlich ganz klar: Er muß nach Rußland. Es ist, als wäre der Klang des Fagotts, die russische Melodie so etwas wie ein Versprechen, ein Hinweis auf den richtigen Weg. Manchmal konnte Musik solch einen Hinweis geben. Oder auch Dichtung oder Malerei. Er hatte es schon manches Mal in seinem Leben gespürt: wenn er ein Buch las und ihm plötzlich etwas über ihn selbst bewußt wurde, er neue Werte fand oder etwas begriff, was er schon immer in sich selbst gefühlt hatte, ohne es benennen zu können. Doch so stark wie heute hatte er es noch nie empfunden.
Das Fagott schweigt. Plötzlich. Heinrich horcht auf, hält inne, wartet, vermißt den Klang; bestimmt macht der Mann nur eine kurze Pause, setzt gleich wieder ein. Doch ein Atemzug vergeht. Und noch einer. Und wieder einer. Das Fagott schweigt. Hastig bezahlt Heinrich seinen Lebkuchen, eilt zurück an die Stelle, an der er den Mann mit dem Fagott zuletzt gesehen hat, doch die Menge zerstreut sich, der Mann ist verschwunden. Nur das Plakat erinnert noch an ihn, ein Beweis, daß er sich den Mann mit dem Fagott nicht einfach nur eingebildet hat. »Einladung zum Schüler-Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. An allen Sonntagen im Advent und am Christtag um fünf Uhr nachmittags. Bringen Sie Ihre Freunde mit! Der Eintritt ist frei, Spenden sind erwünscht.«
Heinrich sieht sich um, tritt aus den Arkaden, sieht in jede Straße. Weit kann er noch nicht sein. Er geht ein Stück, biegt um eine Ecke. Plötzlich, in weiter Ferne, in seltsam lichtem Nebel, ist ihm, als ahne er die Konturen des zerknitterten Zylinders, ahne den Gehrock wehen, doch schon im nächsten Moment ist niemand mehr zu sehen. Stille, die ihn beunruhigt, als habe er etwas unendlich Wertvolles in ihr verloren.
...
Filmsonderausgabe August 2011 bei Limes Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Die Geschichte meiner Familie hat mich seit meiner Kindheit geprägt und mein Weltbild entscheidend mitbestimmt, die Suche nach ihren Spuren hat mich seit vielen Jahren begleitet, die Idee zu diesem Buch trage ich schon beinahe mein ganzes Leben mit mir herum.
Es erzählt die Wahrheit und ist doch ein Roman: Es erzählt die Geschichte so, wie ich sie sehe, sie recherchiert oder erlebt, sie aus den Geschichten meiner Kindheit und Jugend rekonstruiert habe. Aber jede Geschichte enthält so viele Wahrheiten wie Personen, die dabeiwaren oder darüber erzählen.
Ich war nicht dabei, als mein Großvater im Jahre 1912 durch Moskau fuhr, als mein Vater seinen ersten Theaterbesuch erlebte, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und mein Großvater in St. Petersburg den Jubel der Massen sah und hörte oder als mein Vater 1945 in Klagenfurt in Gestapohaft saß. Ich weiß nicht, bei welchem Satz genau mein Onkel Werner die Stirn runzelte, als er 1958 beim Versuch, das Haus seiner Kindheit zu photographieren, verhaftet wurde, und mich mögen auch meine Erinnerungen an meine eigene Kindheit und Jugend da oder dort trügen. Freunde und Weggefährten von damals werden vielleicht andere Geschichten erzählen, weil sie genau die gleiche Geschichte anders erlebt haben. Dieses Risiko muß man eingehen, wenn man sich vornimmt, so ein Buch zu schreiben.
Was ich recherchieren konnte, habe ich recherchiert, ich habe historische Bücher studiert, alte Dokumente gesucht und gefunden, bin bis nach Moskau und St. Petersburg gereist, um die Orte zu besuchen, die ich hier beschreibe, und um in Archiven zu forschen. Ich habe Historiker und meine Familie befragt und mich auf meine Erinnerungen und mein Lebensgefühl verlassen.
Wahrscheinlich war nicht jede Geschichte ganz genau so, wie sie hier beschrieben ist, aber sie könnte so gewesen sein, und sicher liegt die Wahrheit nicht allzuweit davon entfernt. Letztendlich enthält dieses Buch die einzige Wahrheit, die ich über meine Familie, meinen eigenen Lebensweg und den »Mann mit dem Fagott« erzählen konnte.
Da und dort haben wir Namen geändert und Personen ein wenig anonymisiert, um niemanden zu verletzen oder an den Pranger zu stellen und die Nachkommen jener, die irgendwann fragwürdig gehandelt haben, zu schützen, denn dieses Buch will nicht anklagen und alte Wunden aufreißen, sondern die Geschichte meiner Familie, an der sich die Geschichte dieses Jahrhunderts spiegelt, auf eine ganz persönliche Weise neu erzählen.
Udo Jürgens-Bockelmann
PROLOG
Bremen, Weihnachten 1891
Der Mann mit dem Fagott
Ein dumpfer Aufprall. Ein Schneeball zerspringt dicht vor Heinrich Bockelmanns Kopf an einer Hauswand. Kinderlachen, sich schnell entfernende Schritte. Wieder Stille, nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen und in der Ferne leise die geheimnisvollen Klänge des Weihnachtsmarktes.
Die frühe Dunkelheit und das Glitzern der Festbeleuchtung im seltsam kalten Winter geben der Stadt ein fremdes, verzaubertes Gesicht. Vielleicht ist es der in dieser Stadt so seltene Schnee, der alles verändert. Oder vielleicht ist es auch nur Heinrichs Blick, der bereits fremd geworden ist, die Stadt wie zum ersten Mal betrachtet mit Augen, die das Besondere suchen, das Bleibende, Bilder, an denen die Erinnerung sich festhalten kann in der Fremde.
Jedes Haus, jeder Baum, jedes Licht, jeder Blick ein Abschiedsgruß. Er hatte es sich nicht so schwer vorgestellt. Mit 21 hatte man erwachsen zu sein, ein zielstrebiger junger Mann, der seinen Weg ging. Er mußte sich an diese Rolle erst herantasten, an den festen, zuversichtlichen Schritt in seine Zukunft.
»Halte die Augen und Ohren offen, sei dir sicher, wer du bist, und sei bereit zu lernen, dann wirst du deinen Weg finden«, hatte sein Vater zum Abschied gesagt und war wieder fortgereist, auf seinem Passagierschiff »Henriette«, mit dem Kapitän Bockelmann die Route Bremen - New York befuhr. Wie meistens würde sein Vater an Weihnachten nicht zu Hause sein. Heinrich kannte es nicht anders, und doch wäre es schön gewesen, den Vater noch ein wenig länger hier zu haben, diesmal... Der Rat des in der Fremde und im Leben so erfahrenen Vaters hätte ihm in diesen Tagen viel bedeutet. Solche Gespräche waren selten gewesen in Heinrichs Leben. Monatelang war der Vater fort, unterwegs auf den Weltmeeren. Kam er zurück, war er ein Fremder. Und kaum war die Fremdheit gewichen, war er schon wieder auf See, existierte nur noch in den wenigen Briefen und bunten Postkarten aus aller Welt, um die Heinrichs Spielkameraden ihn immer beneidet hatten.
Nun trieb es auch ihn fort, so stark die Stimme der Ungewißheit im Moment in ihm auch war und ihn zu halten suchte. Er wird gehen. In wenigen Tagen. Nur wohin, das weiß er noch nicht.
Die goldene Taschenuhr des Vaters, sein Abschiedsgeschenk, fühlt sich schwer an, fremd. Noch berührt er sie ein wenig distanziert, voll Respekt vor ihrem unschätzbaren Wert - und vor dem Gefühl, sie sich erst noch verdienen zu müssen. Noch öffnet er ein wenig verstohlen den Deckel, wie früher, als er heimlich mit ihr spielte. Manchmal ertappte sein Vater ihn damals dabei, lächelte, nahm ihm die Uhr aus der Hand, sagte: »Das ist eine Zauberuhr! Wenn dir die Zauberkräfte hold sind, kannst du sie mit deinem Atem öffnen.« Er ging in die Hocke, um mit Heinrich auf Augenhöhe zu sein, hielt sie ihm vor sein ungläubig-gespanntes Gesicht. »Puste!« Heinrich gab sich Mühe. »Das kannst du aber besser! Fester!« Heinrich pustete mit all seiner Kraft. »Noch mal!« Da sprang wie von Zauberhand der Deckel auf, und die Uhr machte summend und bimmelnd und klingend die Zeit hörbar. Zauberkraft... die könnte er jetzt wirklich brauchen. Heinrich lächelt, schließt den Deckel wieder, steckt die Uhr in seine Tasche. Die Zeit bis zu seiner Abreise möchte er gar nicht ermessen.
Duft nach Zimt und Mandeln aus jedem Haus. Schnaubende Pferde, knirschendes Zaumzeug. Ein zugerufener Gruß. Menschen auf dem Weg in die Stadt. Der Schnee dämpft die Geräusche der Straße, macht sie weicher, sanfter. Alles Alltägliche erscheint Heinrich heute besonders, festhaltenswert. Seit Kindertagen zieht es ihn in die Ferne. Stundenlang hatte er schon als kleiner Junge den Globus im Arbeitszimmer des Vaters studiert, sich die wohlklingenden Namen ferner Länder, fremder Städte eingeprägt, sich vorgestellt, sie später einmal alle zu bereisen.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, wegzugehen, sich irgendwo in der Welt einen Platz zu suchen. Nur wo, das zu entscheiden, fällt ihm schwer. Beim letzten Besuch seines Vaters hatte er ihn um Rat gefragt. Man hatte in großer Runde mit Freunden und deren Familien zusammengesessen. Von Amerika hatte der Vater ihm abgeraten. Natürlich könne er mitfahren auf der »Henriette«, auf der Überfahrt arbeiten und sich damit die Kosten für die Reise verdienen. Natürlich sei das eine Möglichkeit, und sehenswert sei das Land allemal, aber zum Leben? Eher nicht. Es sei auf einem unheilvollen Weg. Unruhen, Aufstände, Streiks, die Stimmung gereizt, nervös. Es wimmle von gescheiterten Existenzen, Kriminellen, ein undurchschaubarer Sumpf, und die Wirtschaft sei auch nicht gerade stabil. Schwierig schon für die Etablierten, aber bestimmt kein gutes Pflaster für einen jungen Mann, der seinen Weg machen wolle. Und dann die Entfernung zu Europa, der unvergleichlichen europäischen Kultur... Der ganze Atlantik dazwischen... Diese Weite beeindrucke sogar ihn selbst noch. Nach all den Jahren, die er diese Strecke nun schon befuhr... Die Freunde des Vaters waren seiner Meinung.
Aber Rußland, das sei eine Überlegung wert. Ein junger Maat auf seinem Schiff stamme aus Sankt Petersburg. Was der so erzähle! Es müsse ein unvergleichlich glanzvolles Land sein und vor allem offen, das Land der Starken, so sagte man, das Land, in dem man mit einer Idee und harter Arbeit alles erreichen konnte. Besonders als Deutscher. Die vielen deutschen Einwanderer dort hatten großes Ansehen, Einfluß und Macht erlangt. In ihrem Kreis konnte man sich etablieren. Das wäre vielleicht das richtige für Heinrich. Die Knoops, Freunde des Vaters, hatten begeistert zugestimmt. Man habe Verwandte in Moskau. Die könnten Heinrich bestimmt Adressen für eine Stellung vermitteln. Rußland sei wundervoll! Man sei selbst schon dagewesen! Herrlich! Der Glanz des Zarenhauses, die Kultur, die Weltoffenheit... Dort sei wirklich alles möglich.
Also Rußland? Heinrich zögert noch. Er muß sich bald entscheiden. Mit Jahresbeginn möchte er sein neues Leben beginnen, so hatte er sich vorgenommen, und was man sich vornahm, das hielt man auch ein.
Vielleicht könnte er ja auch in eine andere der europäischen Metropolen gehen? Adressen hatte er sich von überallher besorgt. Die Freunde seines Vaters hatten Kontakte in aller Herren Länder. Vielleicht sollte er sich mit einem etwas kleineren Schritt begnügen?
Rußland war sicher die exotischste der Möglichkeiten. Dort wäre ihm der größte Aufstieg möglich, aber auch das größte Versagen. Es würde alles in seiner Hand liegen. Also eigentlich genau das, was er suchte, auch wenn er manchmal sogar mit dem Gedanken an ein ganz normales Leben spielte: Er könnte sich einfach in Bremen eine Stelle suchen, vielleicht in einiger Zeit sogar um Katharinas Hand anhalten...
Ja, Katharina. Bei dem Gedanken an ihre warme, weiche Stimme, ihr feines, fröhliches Gesicht, ihre langen blonden Haare, wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt. Diese Gefühle kamen zur falschen Zeit. Zu spät. Oder auch zu früh. Er kannte sie noch nicht lange genug, um ihretwegen seine Pläne zu ändern und hierzubleiben. Es wäre wie das Eingeständnis eines Versagens gewesen. Er konnte sie aber auch nicht bitten, auf ihn zu warten. Er hatte daran gedacht, doch zu ungewiß war seine Zukunft, zu wenig klar umrissen die Zeit, die er brauchen würde, um sich zu etablieren, um ihr dort, wohin er ging, ein angemessenes Heim bieten zu können. Die Ungewißheit seines Lebens konnte er ihr nicht zumuten, das war ihm in den letzten Wochen des Kampfes mit sich selbst klargeworden. Damit mußte er fertig werden. Es fiel ihm schwer.
Er wirft eine Münze von der Brücke aus in einen der romantischen Kanäle der Weser. Ein kleines Ritual, wie immer, wenn es im Leben für ihn darauf ankam. Es sollte ja bekanntlich Glück bringen, und Glück konnte er brauchen.
Plötzlich aus der Ferne leise ein ganz besonderer, seltsam anrührender Klang, der ihn merkwürdig berührt. Er lauscht, folgt seiner Richtung, verliert ihn wieder, hält den Atem an.
Da ist er wieder, leise und doch deutlich hörbar, abgesetzt von den Alltagsgeräuschen und den Klängen des Weihnachtsmarktes, eine ganz eigene Stimme im Chor der Töne, allem anderen unterlegt, als wäre er mit seiner sonderbar melancholisch-fröhlichen Melodie das Fundament für alle anderen Klänge und Farben dieses Tages.
Unbewußt versucht Heinrich die Richtung auszumachen, aus der er erklingt und folgt ihm wie selbstverständlich, ohne daß er es beschlossen, sich aus einer Laune heraus oder aus Langeweile dazu entschieden hat. Es war zwingender. Er hatte in diesem Augenblick keine Wahl.
Es kommt aus der Richtung des Marktplatzes, da ist Heinrich sich mittlerweile sicher. Es klingt tiefer als eine Oboe und erhabener als eine Klarinette. Es ist weicher als eine Posaune und rauher als eine Flöte. Heinrich lauscht. Es ist kein Instrument, das man Tag für Tag hört. Vielleicht ist es ja ein Musiker, der zu Hause übt, bei geöffnetem Fenster, aber das ist unwahrscheinlich. Dazu ist der Klang zu präsent, nicht gedämpft durch Mauern und Fenster. Es schweigt, einen Augenblick nur, dann setzt es wieder ein. Er muß jetzt ganz nah sein.
Heinrich tritt aus dem Dunkel der Arkaden und bleibt erstaunt stehen. Der Mann steht etwas abseits des Weihnachtsmarktes. Er trägt eine merkwürdige, prächtig-bunte Verkleidung, einen dunkelblauen Gehrock mit rot umfaßten goldenen Knöpfen, eine dunkle Hose und auf dem Kopf einen schwarzen, zerknitterten Zylinder. Seine Haltung leicht nach vorn gebeugt. Und er spielt auf einem Fagott.
Das war kein Instrument für einen Straßenmusikanten. Und der Mann sieht auch nicht aus wie ein gewöhnlicher Straßenmusikant. Er spielt ein bekanntes Stück, eine ganz einfache Melodie, die Heinrich irgendwoher kennt und doch nicht zu benennen weiß. Es klingt nach einem russischen Volkslied. Unverkennbar. Erstaunlich bitter und traurig die Verse und auf eine seltsame Weise fröhlich und doch nicht unbeschwert der rhythmische, sich ständig steigernde Refrain, als müsse man die Traurigkeit der Welt nur intensiv genug erleben, um sie in etwas Schönes zu verwandeln. Die dunklen Augen des Mannes strahlen, ruhen ganz in sich selbst. Irgendwo hat er diese Augen schon einmal gesehen, denkt er, doch er weiß nicht, wo. Vielleicht im Traum.
Einige Passanten bleiben stehen, versammeln sich um den Fagottisten, klatschen begeistert im immer schneller werdenden Rhythmus der Melodie. Das bunte Treiben des Weihnachtsmarktes verblaßt, so lange er spielt, das kleine Karussell, die bunten Stände mit Lebkuchen und Mandeln und Zimtsternen, der Leierkastenmann mit den Weihnachtsliedern. Das alles kann warten. Heinrich fragt sich, was es mit dem Spiel, der Verkleidung auf sich haben könnte.
Für einen Bettler ist die Kleidung zu gut, die Erscheinung des Mannes zu fein, zu lebendig. Ein Bettler würde den Hut auch nicht auf dem Kopf tragen, sondern vor sich stellen in der Hoffnung auf milde Gaben.
Der Kreis der Zuhörer vergrößert sich. Heinrich wird ein wenig abgedrängt. Er kann den Fagott-Spieler nicht mehr sehen. Nur noch hören. Jemand tuschelt: »Der macht Reklame für das Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. Da vorn ist ein Plakat mit der Einladung.«
Heinrich Bockelmann lächelt. Erinnerungen an die noch nicht so lange zurückliegende Schulzeit werden wach. Kameraden, Lehrer. Das Alte Gymnasium war auch das seine gewesen. Und das Katharinas. Vielleicht sollte er hingehen. Es wäre eine schöne Gelegenheit, die alten Freunde wiederzusehen. Ein seltsamer Gedanke: Menschen wiederzufinden, die er lange nicht gesehen hat, um sie danach gleich wieder zu verlieren. Er schüttelt den Kopf. Erwachsen zu werden, schien zu bedeuten, Abschied zu nehmen. Nicht nur von der Kindheit. Das hatte er nie in der Schule gelernt.
Heinrich geht ein wenig auf und ab. Das fast mystische Spiel des Fagottisten begleitet ihn, zaubert ein Lächeln auf sein Gesicht, ist in geheimnisvoller Weise Antwort auf Heinrichs unausgesprochene Sehnsucht. Heinrich fühlt es plötzlich ganz klar: Er muß nach Rußland. Es ist, als wäre der Klang des Fagotts, die russische Melodie so etwas wie ein Versprechen, ein Hinweis auf den richtigen Weg. Manchmal konnte Musik solch einen Hinweis geben. Oder auch Dichtung oder Malerei. Er hatte es schon manches Mal in seinem Leben gespürt: wenn er ein Buch las und ihm plötzlich etwas über ihn selbst bewußt wurde, er neue Werte fand oder etwas begriff, was er schon immer in sich selbst gefühlt hatte, ohne es benennen zu können. Doch so stark wie heute hatte er es noch nie empfunden.
Das Fagott schweigt. Plötzlich. Heinrich horcht auf, hält inne, wartet, vermißt den Klang; bestimmt macht der Mann nur eine kurze Pause, setzt gleich wieder ein. Doch ein Atemzug vergeht. Und noch einer. Und wieder einer. Das Fagott schweigt. Hastig bezahlt Heinrich seinen Lebkuchen, eilt zurück an die Stelle, an der er den Mann mit dem Fagott zuletzt gesehen hat, doch die Menge zerstreut sich, der Mann ist verschwunden. Nur das Plakat erinnert noch an ihn, ein Beweis, daß er sich den Mann mit dem Fagott nicht einfach nur eingebildet hat. »Einladung zum Schüler-Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. An allen Sonntagen im Advent und am Christtag um fünf Uhr nachmittags. Bringen Sie Ihre Freunde mit! Der Eintritt ist frei, Spenden sind erwünscht.«
Heinrich sieht sich um, tritt aus den Arkaden, sieht in jede Straße. Weit kann er noch nicht sein. Er geht ein Stück, biegt um eine Ecke. Plötzlich, in weiter Ferne, in seltsam lichtem Nebel, ist ihm, als ahne er die Konturen des zerknitterten Zylinders, ahne den Gehrock wehen, doch schon im nächsten Moment ist niemand mehr zu sehen. Stille, die ihn beunruhigt, als habe er etwas unendlich Wertvolles in ihr verloren.
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Filmsonderausgabe August 2011 bei Limes Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Udo Jürgens, Michaela Moritz
Udo Jürgens-Bockelmann, geb. am 30.9.1934 in Klagenfurt, Komponist, Interpret, Musiker und Entertainer. Mit diesem Buch begab er sich auf die Suche nach seinen Wurzeln und erzählt die Geschichte seiner Familie, die ihm von Kindesbeinen an zum wichtigen und prägenden Lebensthema wurde - eine literarische Spurensuche in diesem politisch aufgewühlten Jahrhundert zwischen Monarchie, Kommunismus, Faschismus und Demokratie, zwischen Glanz und Elend, Krieg und Frieden. Udo Jürgens-Bockelmann verstarb am 21.12.2014 in Münsterlingen, Schweiz.Michaela Moritz, geb. 1970, erhielt 1994 unter Pseudonym den österreichischen Nachwuchsförderpreis für Literatur. Die Autorin lebt am Bodensee. Michaela Moritz, geb. 1970, erhielt 1994 unter Pseudonym den österreichischen Nachwuchsförderpreis für Literatur. Die Autorin lebt am Bodensee.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Udo Jürgens , Michaela Moritz
- 2011, Neuveröffentlichung, 731 Seiten, 3 Schwarz-Weiss-Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Masse: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Limes
- ISBN-10: 380902600X
- ISBN-13: 9783809026006
- Erscheinungsdatum: 19.08.2011
Rezension zu „Der Mann mit dem Fagott “
"Eine unglaubliche Familienchronik."
Pressezitat
"Eine unglaubliche Familienchronik." Die Presse
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