Der Himmel über dem Kilimandscharo
Roman. Originalausgabe
Charlotte ist 22, abenteuerlustig und träumt von der großen weiten Welt. Als ihr Christian einen Heiratsantrag macht, stimmt sie zu. Doch schon bald bereut sie diese Entscheidung, denn er betrügt sie. Und Charlotte weiß, dass sie ihr Glück nur in der Ferne finden kann.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Himmel über dem Kilimandscharo “
Charlotte ist 22, abenteuerlustig und träumt von der großen weiten Welt. Als ihr Christian einen Heiratsantrag macht, stimmt sie zu. Doch schon bald bereut sie diese Entscheidung, denn er betrügt sie. Und Charlotte weiß, dass sie ihr Glück nur in der Ferne finden kann.
Klappentext zu „Der Himmel über dem Kilimandscharo “
Im Schatten des Kilimandscharo sucht eine junge Frau gegen alle Widerstände ihr Glück ...Charlotte Harmsen träumt von der grossen weiten Welt, von Reisen in exotische Länder und hat es mit dem Heiraten nicht eilig. Sie ist 22, als ihr der weitaus ältere Christian Otten einen Antrag macht. Fasziniert von seinem Laden, in dem es exotische Gewürze, Tabak und Waren aus Übersee gibt, stimmt sie seinem Werben zu. Und bereut dies bald bitterlich. Denn Christian betrügt sie und steht bald kurz vor dem finanziellen Ruin. Charlotte weiss, dass sie nur eine Chance auf eine Zukunft haben: indem sie Deutschland verlassen und in der Ferne ein neues Leben beginnen ...
Lese-Probe zu „Der Himmel über dem Kilimandscharo “
Der Himmel über dem Kilimandscharo von Leah BachMai 1880
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Jahrelang konnte sich Charlotte an jede Einzelheit dieses Vormittags erinnern: die Gerüche des alten Hauses, die Gespräche und Streitereien, den Kellerstaub auf den Marmeladentöpfen. Auch die Apfelbäume, von deren Ästen es wie weißrosige Schneeflöckchen wehte, blieben ihr im Gedächtnis, ebenso wie das versteinerte Gesicht des Großvaters in der dämmrigen, schweigenden Stube. An jenem Tag geschah etwas Unfassliches, das das Leben der Zehnjährigen von Grund auf veränderte.
Eine Fliege weckte sie auf. Eine dumme Stubenfliege, die sich kitzelnd auf ihre schlafwarme Wange setzte. Sie konnte die kleinen Beinchen auf der Haut spüren und machte voller Ekel eine rasche Handbewegung. Die Fliege flog auf, kreiste zornig brummend über den Betten und prallte zweimal gegen die Tapete, was klang, als ob jemand mit dem Finger fest gegen die Wand tippte. Eigentlich hätte sie davon benommen sein müssen, aber sie surrte einfach weiter und war plötzlich zwischen den grünen Fenstervorhängen verschwunden. Draußen war es schon hell.
Charlotte zog sich einen Zipfel des Federbetts übers Gesicht und kuschelte sich an Klara, die warm und rosig neben ihr schlummerte. Klara war ihre Lieblingscousine, gute zwei Jahre jünger als Charlotte; immer wenn sie bei den Großeltern zu Besuch waren, schlief Charlotte mit in Klaras Bett. Das war das Schönste an diesen Besuchen. Da ging Charlotte sogar freiwillig mit den Hühnern schlafen, nur um mit Klara noch zu flüstern, Geschichten zu erzählen oder alberne Witze. Die beiden anderen Betten in der engen Schlafkammer gehörten der älteren Cousine Ettje und Tante Fanny. Bei denen hätte Charlotte auf keinen Fall liegen wollen. Ettje knirschte im Schlaf mit den Zähnen, und manchmal schlug sie mit Armen und Beinen um sich. Außerdem hatte sie schon ihre Regel und jammerte immer fürchterlich, wenn es so weit war, was einen Angst und Bange machen konnte. Mit Tante Fanny das Bett zu teilen wäre noch schrecklicher gewesen; die legte sich abends steif und gerade auf den Rücken, die Hände über dem Bauch verschränkt, und wachte am Morgen in derselben Stellung wieder auf Sobald Tante Fanny zu Bett gegangen war, durfte in der Kammer nicht mehr geflüstert werden, Kichern oder gar Lachen war gänzlich verboten. Einmal war die Tante aufgestanden und mit dem Nachtlicht in der Hand wie ein weißes Gespenst zu ihnen hinübergegangen, um Klara eine Ohrfeige zu geben. Die Strafe hätte Charlotte genauso verdient gehabt, aber Tante Fanny traute sich nicht, Charlotte zu schlagen, das hätte Papa nicht geduldet. Also hatte es die arme Klara abbekommen, Tante Fannys eigene Tochter.
Charlotte schloss die Augen und versuchte, Klaras regelmäßigen Atemzügen nachzuspüren, um ihr in den Schlaf zu folgen, doch es wollte nicht gelingen. Wahrscheinlich lag es am Morgenlicht, das durch die Ritzen des Vorhangs quoll und das ausgebleichte Grün mit silbernen Rändern versah. Leise seufzend drehte sie sich wieder auf den Rücken, ganz vorsichtig natürlich, um Klara nicht aufzuwecken. Vielleicht war es ja gut, dass sie jetzt wach war; sie hätte das Segelschiff auf dem unendlich weiten Ozean sowieso nicht wieder gesehen, man träumte einen Traum niemals zum zweiten Mal. Und dann war der Traum zwar schön, aber auch kummervoll gewesen, so dass sie fast geweint hatte. Der stolze Dreimaster, der mit prall gefüllten Segeln die Wellen pflügte, trug Eltern und Bruder immer weiter von ihr fort, jeder Tag, jede Stunde machte die Entfernung zwischen ihnen größer. Sie reisten nach Indien, wo Mamas Eltern wohnten, in das Land voller Sonne und brauner Menschen, wo die Pflanzen geheimnisvoll dufteten und perlmuttfarbige Blüten auf den Teichen schwammen, lächelnd und schön wie Menschengesichter. Wie hatte sie gebettelt und gefleht, dass sie sie doch mitnehmen mögen, doch Mama hatte sich nicht erweichen lassen. Charlotte wurde zu den Großeltern nach Leer gebracht, ein Frachtschiff war kein Ort für eine Zehnjährige, auch wenn ihr Papa der Kapitän war. Ihr siebenjähriger Bruder Jonny aber durfte mitfahren. Weil er eben ein Junge war.
Mama hatte sehr geweint, als der Großvater Charlotte in Emden abholte, auch Jonny hatte beim Abschied geheult; der kleine Dummkopf wäre viel lieber mit nach Leer gefahren, denn dort konnte er mit Paul spielen. Papa hatte Charlotte hochgestemmt und sich mit ihr auf der Stelle gedreht, so dass sie wie ein Vogel in der Luft schwebte, dazu hatte er gelacht. Das nächste Mal dürfe sie mit - das war hoch und heilig versprochen.
Drüben im Bett reckte Ettje die Arme; sie gähnte verschlafen und ballte dabei die Fäuste.
»Schlaft ihr noch?«, krächzte sie morgenheiser. »Denkt nicht, dass ihr faulenzen könnt, bloß weil heute keine Schule ist. Morgen ist Pfingsten, da wird hier alles geputzt.«
Ettjes rundes Gesicht war umrahmt von einer spitzenbesetzten Nachthaube, die aus dem Bestand der Großmutter stammte. Die Cousine war der Meinung, ihr Haar sei dadurch besser geschützt und werde - so ihre große Hoffnung -auch üppiger wachsen. Ettje hatte dunkelblondes, flusiges Haar, das sie für die Nacht zu einem Zopf flocht; wenn sie es tagsüber offen trug, bündelte es sich zu schmalen Strähnen, die sie so oft bürsten konnte, wie sie wollte - sie kamen immer wieder.
»Ich bin schon lange wach! Länger als du!«, prahlte Charlotte, während Klara neben ihr die Decke ein wenig herab-schob und leise gähnte. Bei allem, was sie tat, war Klara leise wie ein Mäuschen, sogar wenn sie ging, machte sie kaum ein Geräusch. Das war seltsam, denn Klara hatte ein zu kurzes linkes Bein, auch der Fuß war nicht richtig, er war dick und gar nicht wie ein Fuß geformt.
»Dann hättest du uns längst warmes Waschwasser aus der Küche holen können!«, versetzte Ettje vorwurfsvoll.
»Wieso ich?«
»Wieso nicht? Hast du gedacht, ich mach das jeden Tag für euch? Ich muss schon immer Klara alles beischleppen.«
»Lass bloß Klara in Ruhe!«, versetzte Charlotte wütend.
Sie stand aus dem Bett auf und wickelte sich Mamas blaues Wolltuch um das lange Nachthemd. Um den Waschkrug zu holen, musste sie über die hölzerne Reisekiste klettern. Darin befand sich die eigentliche Ursache für Ettjes schlechte Laune - es waren Charlottes hübsche Kleider, ihre Schuhe und die feine Wäsche, auch ihre Spielsachen, einige Bücher und ihre beiden Puppen. Solch teure Sachen hatte Ettje nie besessen, dazu war kein Geld da im Hause des pensionierten Pfarrers Dirksen, der seine verwitwete Tochter Fanny mit den drei Kindern durchfüttern musste.
»Wenn ich das Wasser hole, darf ich mich als Erste waschen«, verkündete Charlotte fröhlich. »Und dann Klara. Du zuletzt, Ettje!«
»Schlag bloß den Krug nicht an, und verschütte nichts, das gibt Flecken auf der Stiege!«, rief Ettje ihr nach und drehte sich auf die Seite, um die wohlige Schlafwärme ihres Bettes noch ein wenig zu genießen.
Die Stiege war eng und dunkel, es roch nach Bohnerwachs und altem Holz und auch ein bisschen nach Großvaters Pfeifentabak. Charlotte hielt den Krug mit beiden Händen vor dem Bauch und ertastete die Stufen mit den bloßen Füßen, auf keinen Fall wollte sie das kostbare, mit lila Blüten bemalte Gefäß an Wand oder Treppengeländer anschlagen. Kein Wunder, dass Klara für diese Arbeit nichts taugte, sie hatte ja auch so schon Mühe, die Treppe hinunterzugehen.
Unten im Flur war es ein wenig heller. Das kam durch das Oberlicht über der weiß gestrichenen Haustür, dafür zog es ordentlich, und der geflieste Boden war kalt. Auf der Flurkommode standen allerlei irdene Töpfe mit eingekochtem Mus und anderen Sachen. Die hatte die Großmutter wohl aus dem Keller geholt, denn die bunten Stoffe, mit denen sie bedeckt waren, trugen eine graue Staubschicht. Morgen war Pfingsten, da würde die Tante bestimmt einen Kuchen backen, vielleicht gab es sogar einen Braten.
Zum Glück war die Küchentür nur angelehnt, sie öffnete sich knarrend, als das Mädchen mit dem bloßen Fuß dagegendrückte. Wärme und der beißende Geruch des Herdfeuers quollen ihr entgegen, es roch auch ein wenig nach Kaffee und gekochter Milch. Die Großmutter stand vor dem Ofen, hatte die runde Herdplatte abgehoben und stocherte im Feuer herum, dass die Funken aufstoben.
»Dich Spatz haben sie geschickt?«, meinte sie und deckte das Feuer speiende Ungetüm im Ofen wieder mit der Eisenplatte zu. »Pass nur auf, dass du nicht auf der Stiege ins Stolpern kommst und mitsamt dem Krug herunterpurzelst!«
»Ich kann das schon! Ist ganz leicht für mich!«, behauptete Charlotte beleidigt und stellte den Krug neben dem Herd auf den Küchenboden.
»Na, denn man los!«
Großmutter Grete nahm die Kelle und schöpfte heißes Wasser aus dem »Schiff« in den Krug hinein. Das Schiff war ein viereckiger Behälter im Herd, der höchstens einem jämmerlichen Kahn ähnlich sah, mit dem man auf dem Fluss herumrudern konnte. Ein richtiges Schiff wie das, das ihr Vater befehligte, war es auf keinen Fall, dazu war es viel zu plump.
»Ach Gott, das schafft sie doch gar nicht«, ließ sich Tante Fanny vernehmen, die drüben am Küchentisch stand und Möhren schrappte. »Sie wird den Krug fallen lassen, Mutter. Es ist schade um das schöne Stück. Ich ruf mal fix nach Ettje ...«
»Lass sie nur«, entgegnete die Großmutter unbeirrt und goss kaltes Wasser nach. »Und werft Paul aus den Federn, ich glaub fast, der schläft bis Pfingstmontag durch, wenn ihn keiner aufweckt.«
Großmutter Grete überragte Charlotte nur um einen halben Kopf, dafür war sie breit, bewegte sich rasch und hatte eine kräftige Stimme. Wenn sie ernst dreinblickte, war ihr Gesicht ganz glatt, nur die Wangen hingen ein wenig herunter. Wenn sie aber lachte - und das tat sie oft -, glich ihre Haut zerknittertem Papier und hatte tausende winzige Fältchen. Obgleich sie so klein war, hatte die Großmutter doch das Sagen im Haus, nicht einmal der Großvater wagte ihr zu widersprechen, dabei war er doch früher Pfarrer gewesen und auch jetzt noch eine Respektsperson für alle guten Lutheraner in Leer.
Charlotte hob den Krug vorsichtig an - er war jetzt elend schwer und noch dazu ziemlich voll.
»Geh langsam, und oben lass Ettje einschütten!«
Die Großmutter drehte sich wieder zum Herd, um einen Topf zurechtzuschieben, und schien sich nicht weiter um Charlottes Kampf mit dem Waschkrug zu kümmern. Dafür folgte Tante Fanny ihrer Nichte mit besorgtem Blick, hielt sogar mit der Arbeit inne, und ihrer Miene war zu entnehmen, dass sie jeden Augenblick eine Katastrophe befürchtete. Aber das war nichts Ungewöhnliches - die dünne, blasse Tante zog immer ein Gesicht, als stünde ihnen schon morgen der Jüngste Tag bevor. Das erste Mal schwappte das warme Wasser im Flur über, aber auch nur deshalb, weil ihr der dumme, graue Kater zwischen die Beine lief. Ein Schwall klatschte ihm auf den Rücken, und er zischte zu Tode erschrocken in Richtung Küche davon. Auf der Treppe musste sie zweimal stehen bleiben, weil sie beinahe Mamas hellblaues Wolltuch verloren hätte. Das Wasser schwappte erneut über, und Charlotte versuchte, die Lachen mit dem nackten Fuß zu verwischen. Oben im halbdunklen Flur stand Paul im kurzen Nachthemd am Geländer und sah gespannt zu, wie die Cousine den Krug balancierte. Als sie mit ihrer Last heil oben ankam, machte er ein enttäuschtes Gesicht.
»Ich hab dich verhext«, feixte er. »Gleich musst du den Krug fallen lassen.«
»Geh weg!«
»Er fällt, er fällt ...«
Er hampelte dicht vor ihr herum und zog allerlei Grimassen, aber er wagte doch nicht, sie anzustoßen, denn wenn der Krug tatsächlich zu Bruch gegangen wäre, hätte er großen Ärger bekommen.
»Du hast gelbe Augen wie ein Kater!«, rief er hämisch, als sie schon vor der Tür der Schlafkammer war und er das Spiel aufgeben musste. »Kateraugen, Hexenaugen ...«
Es war wirklich schade, dass ihr Bruder Jonny nicht hier war, der hätte Paul jetzt verdroschen, auch wenn er zwei Jahre jünger war als der Cousin. Charlotte hätte Paul auch gern eine gescheuert, aber sie musste den Krug festhalten, außerdem war sie ein Mädchen und durfte sich nicht prügeln.
In der Schlafkammer waren die Vorhänge noch zugezogen, aber durch den Spalt fiel ein Sonnenstrahl in den Raum hinein wie ein schmaler, goldener Schleier. Als Klara sich im Bett aufsetzte, fiel er direkt über ihr Gesicht, und sie musste blinzeln.
»Ettje!«, rief Klara leise zum Bett der Schwester hinüber. »Psst!«, machte Charlotte und schüttelte den Kopf. »Lass sie ruhig schlafen.«
Charlotte nahm die Waschschüssel von der Kommode und stellte sie auf den Boden, um leichter eingießen zu können. Dann musste sie Klara beim Aufstehen helfen. Das dicke Federbett lag bleischwer auf ihren Beinen, weil in der Nacht wieder alle Federn nach unten gerutscht waren. Ihre Cousine hatte ein wenig Mühe, sich auf den Boden zu knien, aber sie klagte nicht, sondern tauchte genau wie Charlotte den Lappen in die Waschschüssel, um sich den Schlaf aus dem Gesicht zu reiben. Auch Hände und Arme wurden mit warmem Wasser gesäubert, dann die Brust. Dazu musste man das Nachthemd aufknöpfen und herunterziehen, aber nicht bis über den Bauch, das wäre unschicklich gewesen. Alles, was unterhalb der Körpermitte war, durfte man auf keinen Fall mit dem nassen Lappen berühren, man sollte dort überhaupt so wenig wie möglich hinfassen. Nur die Füße mussten gewaschen werden, aber bloß bis zu den Knien hinauf. Einmal in der Woche wurden die Kinder gebadet, zuerst die Mädchen, dann die Knaben, damit das Badewasser gut ausgenutzt war. Doch nur die ganz kleinen Kinder waren dabei nackig, die älteren - auch Charlotte - behielten das Hemd an.
Klaras Haut war hell, ihre Brust und die Arme erschienen Charlotte sehr durchsichtig und mager, aber sie waren ganz normal und nicht verwachsen wie ihr Bein. Ihr Gesicht war schmal, die Nase ein bisschen zu groß, und die blauen Augen hatten Schattenränder - das kam wohl daher, dass Klara früher so oft krank gewesen war. Immerhin hatte sie keine Sommersprossen wie Ettje, die sich schrecklich über die Sprenkel auf Stirn und Nase ärgerte und schon einmal versucht hatte, sich mit weißem Mehl zu pudern. Es hatte nicht viel genutzt, die braunen Tupfer leuchteten durch das Mehl hindurch, und sie hatte von der Großmutter eine saftige Backpfeife bekommen. Im Hause Dirksen verschwendete man keine Lebensmittel, schon gar nicht für die Eitelkeit, die eine schlimme Sünde war.
»Ich wünschte, ich hätte Haare wie du«, flüsterte Klara. »So dicht und solche Locken.«
Sie hatte den Lappen ausgewrungen und über den Rand der Schüssel gelegt, jetzt griff sie nach Charlottes langem Zopf. Man brauchte niemals ein Band oder eine Spange dafür; es genügte, das Ende um den Finger zu schlingen, dann entstand eine Ringellocke, die den Zopf zusammenhielt.
»Wünsch dir das bloß nicht. Es ziept furchtbar beim Kämmen!«
»Es fühlt sich ganz weich an. Und es glänzt blau.« »Blau?«, fragte Charlotte kichernd.
»Nicht richtig blau. Nur ein klein wenig. Wenn das Licht darauf scheint. Schwarzblau. Silberblau ...«
Charlotte besah sich das Zopfende mit kritischen Augen und schüttelte den Kopf. Dann hob sie es in die Höhe, um es in den flimmernden Sonnenstrahl zu halten, der jetzt noch ein wenig heller und breiter geworden war. Dabei stieß sie mit dem Knie gegen die Waschschüssel, und das Wasser schwappte auf den Fußboden. Erschrocken wich Klara zurück, damit ihr Hemd nicht nass wurde.
»Was treibt ihr denn da?«, rief Ettje von ihrem Bett hinüber. »Wisch das auf, Charlotte! Wenn das Wasser durch die Dielen läuft, tropft es in die Wohnstube hinunter.«
»Das bisschen ...«
»Mach schon! Und dann zieht euch an. Aber fix!«
Ettje stieg aus dem Bett, warf einen Blick in den leicht erblindeten Wandspiegel und zog sich selbst eine Grimasse. Dann hob sie schimpfend die Waschschüssel auf die Kommode und sah neiderfüllt zu, wie Charlotte den hölzernen Deckel ihrer Kiste aufklappte.
»Schau - das könnte dir passen, Klara!«, flüsterte Charlotte. »Das ist zu fein für mich.«
»Morgen ist Feiertag, und wir gehen zur Kirche, da ist es genau richtig. Das Kleid hat Mama genäht, der Stoff kommt aus Indien. Fühl doch mal, wie glatt er ist.«
Ettje sah nicht hin, stattdessen rieb sie sich mit dem Lappen fest über das Gesicht und schnaube laut. Sie war vierzehn und hatte schon weibliche Formen, Charlottes Wäsche wäre ihr sowieso zu eng gewesen und die Kleider zu kurz. Trotzdem war es ungerecht. »Kämmt euch das Haar! Trödelt nicht so herum!«
Charlotte musste unters Bett kriechen, um die hässlichen Holzschuhe hervorzuangeln, die sie im Haus der Großmutter tragen musste. Beim Aufstehen lugte sie neugierig zu Ettje hinüber, die gerade ihr Nachthemd heruntergeschoben hatte. Mama zog sich niemals vor den Kindern aus, daher war es für Charlotte aufregend, Ettjes Busen zu betrachten. Komisch schaute das aus, wie zwei Mückenstiche, die ordentlich angeschwollen waren. Die linke Seite war dicker, rechts musste wohl noch wachsen. Ein richtiger Busen war das nicht, wenn Ettje das Kleid anhatte, sah man nichts davon. Charlotte war froh, dass sie noch ein wenig Zeit hatte. Um nichts in der Welt wollte sie solche komischen Schwellungen an der Brust haben. Weshalb konnte man nicht einfach am Morgen aufwachen, und der Busen war fix und fertig, wie er sein musste?
Klara war schon auf der Treppe, und Charlotte quetschte sich an ihr vorbei, um langsam vor ihr herzugehen.
»Das musst du nicht, Lotte. Lauf hinunter in die Küche, ich komm schon nach«, flüsterte Klara verschämt.
»Ich geh doch bloß langsam, weil ich mir vorhin den Zeh am Bettpfosten gestoßen hab!«
Klara rutschte oft auf der Treppe aus und fiel die Stufen hinab, was niemanden hier im Haus besonders aufregte - man war daran gewöhnt. Aber Charlotte wollte nicht, dass Klara sich wehtat, deshalb lief sie auf der Treppe immer dicht vor ihr her, damit Klara sich an ihr festhalten konnte, falls sie ins Stolpern geriet.
Unten saß Paul am Küchentisch und stopfte ein Butterbrot in sich hinein, dazu trank er warme Milch. Tante Fanny presste den Brotlaib gegen die Brust und schnitt schmale Scheiben ab, dazu gab es Butter und schwarzbraunes Birnenmus, das mit Wasser aufgekocht und verlängert worden war. Die Großmutter bereitete das Frühstück für den Großvater vor, das er wie immer in seinem kleinen Arbeitszimmer einnehmen würde. Auf dem Tablett stand eine große Tasse Milchkaffee, daneben auf dem Teller lagen zwei Brotscheiben, dick mit Butter und Mus bestrichen. Kaffee gab es für die anderen höchstens zu Feiertagen oder wenn Besuch kam.
»Nun mal rasch«, befahl Großmutter Grete. »Ettje soll zum Schlachter und dann noch auf den Markt. Paul kann tragen helfen. Klara bleibt hier zum Sockenwaschen, und Charlotte hilft uns beim Saubermachen.«
Die Großmutter war wie ein Feldherr; wenn sie die Arbeiten einteilte, hatte man zu gehorchen. Morgen war Pfingsten, dann musste das ganze Haus blitzblank sein: Alle Böden mussten gewischt und die Betten geschüttelt werden, auf den Möbeln durfte kein Stäubchen liegen, vor allem nicht in der Wohnstube, für den Fall, dass überraschend Besuch kam.
Saubermachen war keine schöne Arbeit, fand Charlotte. Daheim in Emden gab es dafür ein Mädchen. Auch die Wäsche wurde von einer Frau abgeholt, nur die kleinen Sachen wusch Mama selbst.
»Soll ich nicht besser mit auf den Markt gehen, Großmutter? Du weißt doch, dass ich neulich die Eier billiger bekommen habe und die Butter auch.«
Großmutter Grete schwieg und ging in die Speisekammer, um die Speckseite vom Haken zu nehmen. Sie schwieg auch noch, während sie ein Stück davon herunterschnitt und in kleine Würfel zerteilte.
»Wir haben vier Pfennige gespart, weil ich so gut handeln kann«, beharrte Charlotte und nahm einen tiefen Schluck aus der Milchtasse. »Wenn ich heute wieder handele, sparen wir vielleicht noch mal vier oder fünf Pfennige.«
Ettjes Holzpantinen klapperten im Flur. Sie trat in die Küche und hörte gerade noch, was Charlotte sagte.
»Mit der gehe ich nicht auf den Markt, Großmutter. Man schämt sich ja vor den Leuten, so wie die schachert.«
»Du hast wohl Geld zu verschenken, wie?«, fuhr die Großmutter Ettje an, ohne von ihrer Arbeit hochzuschauen. Es fiel ihr schwer, die Anordnung zurückzunehmen, aber vier Pfennige waren vier Pfennige, und Geld war knapp.
»Weiß der Himmel, woher du dieses Talent hast«, knurrte sie Charlotte an. »Von deinem Vater gewiss nicht. Also geh mit auf den Markt, und versuche dein Glück.«
Ettje kaute verbissen an ihrem Butterbrot. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit, ihren Ärger an Charlotte auszulassen, denn nun musste sie sich die Aufträge der Großmutter genau einprägen. Den Braten beim Schlachter abholen, der war vorbestellt, dazu drei Leberwürste und drei kleine Blutwürste. Auf dem Markt ein Pfund Butter, Zwiebeln, Eier, drei frische Brote. Und ein Päckchen Tabak. Dieser Auftrag wurde von einem leisen Seufzer begleitet, da sich der Großvater das Pfeiferauchen einfach nicht abgewöhnen wollte. Das Geld bekam Ettje abgezählt auf die Hand, und sie band es umständlich in ein Schnupftuch, damit sie es auf keinen Fall verlor. Paul hatte blitzschnell den großen Einkaufskorb aus der Speisekammer geholt und stellte sich dienstfertig neben die ältere Schwester, voller Sorge, daheim gelassen zu werden, weil jetzt ja Charlotte tragen helfen konnte. Er wusste, dass dann er an
ihrer Stelle hätte ausfegen müssen - eine Arbeit, die er hasste.
Er hatte Glück. Großmutter Grete hatte immer eine kleine Schwäche für flehende Knabenaugen gehabt, und sie befahl ihm, die Jacke zuzuknöpfen und die Socken hochzuziehen. Das war alles.
Helle Maisonne empfing sie draußen und blendete die Augen, in den Hecken grünte es mächtig, neben der Eingangstür glänzte ein großer, weißer Klecks auf dem Boden. Der kam von dem Schwalbennest unterm Dach, in dem jetzt eifrig zwitscherndes Leben war. Drüben auf der anderen Straßenseite blühte das Spalierobst, weiße, rosig geränderte Pracht umhüllte die lange Reihe der ausgespannten Äste. Wenn ein Lüftchen aufkam, wehten die Blütenblätter wie Schnee über den Gartenweg und schwebten sogar bis auf die Straße. Die Ulrichstraße war ein gutes Stück vom Markt entfernt, und Ettje, die für die Schönheiten des Frühlings völlig blind war, trieb zur Eile an. Nachbarinnen kamen ihnen mit vollen Körben entgegen, manche zogen auch einen Karren oder Bollerwagen hinter sich her, darauf hockten zwischen Bündeln, Flaschen und Körben die Kleinen, die noch nicht so weit laufen konnten. Charlotte hatte längst gelernt, dass man freundlich zu grüßen hatte, denn hier in Leer war es nicht wie in Emden, hier kannte jeder jeden. Pastor Henrich Dirksen war überall hoch angesehen, auch bei den Reformierten, obgleich die ja nicht den richtigen, christlichen Glauben hatten, und so blieb immer wieder eine der Frauen stehen, um einen kleinen Schnack zu halten. Ob das die Enkelin aus Emden sei? Die Tochter vom Ernst. Wo sie denn den kleinen Bruder gelassen habe? Dann erklärte Charlotte, dass ihre Eltern und der Bruder unterwegs nach Indien seien, und spürte voller Unbehagen die aufdringlichen Blicke. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass die Frauen das alles längst wussten, sie wollten sie nur anstarren und ausfragen, vielleicht wollten sie auch wissen, ob sie ordentliches Deutsch reden konnte und nicht etwa Englisch oder Indisch.
»Bis in den Sommer hinein bleibst du bei der Großmutter? Da wird sie sich aber freuen, du bist doch eine ganz fixe Deern!«
Möwen kreisten über der Stadt, weiß gefiederte Diebe mit spitzen Schnäbeln; sie kamen von der Anlegestelle der Fischerboote her, wo manchmal etwas für sie abfiel. Die Maisonne ließ das spärliche Grün in den Straßen und Vorgärten leuchten, trotzdem erschien Charlotte die Stadt grau und irgendwie trostlos. Die Häuser waren niedrig, der Backstein dunkel verfärbt von Wind und Regen, zwischen den Häusern standen halb verfallene Remisen, wacklige Unterstände für Brennholz und allerlei Krempel, auch kaputte Boote, die vor sich hin moderten. Windmühlen drehten ihre Flügel wie kreischende, flatternde Ungetüme, ein Geräusch, das Charlotte heute seltsamerweise Angst machte, obgleich sie es bei früheren Besuchen in Leer immer lustig gefunden hatte. Vielleicht kam ihr die Stadt auch nur so hässlich vor, weil die Rosen noch nicht blühten, die vielerorts die Eingangstüren umrankten, doch vielleicht war der Grund auch einfach der, dass Charlotte so gerne auf dem Schiff bei Jonny und den Eltern gewesen wäre. Bis zum Spätsommer - das war so lang, dass es sich nicht lohnte, die Tage zu zählen, ein ganzes Leben, eine Ewigkeit.
»Wenn du wieder handelst und wir Geld sparen, könnten wir uns Bärendreck kaufen«, schlug Paul vor.
»Nee«, widersprach Ettje energisch. »Das kommt auf.«
Charlotte schwieg entrüstet. Wenn sie schon handelte, dann tat sie es, um die Großmutter zu beeindrucken, um ihr Lob zu hören, wenn sie die gesparten Pfennige auf den Tisch zählte, keinesfalls aber, um für Ettje und Paul heimlich Süßes zu kaufen, denn das war gemeiner Betrug.
...
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Jahrelang konnte sich Charlotte an jede Einzelheit dieses Vormittags erinnern: die Gerüche des alten Hauses, die Gespräche und Streitereien, den Kellerstaub auf den Marmeladentöpfen. Auch die Apfelbäume, von deren Ästen es wie weißrosige Schneeflöckchen wehte, blieben ihr im Gedächtnis, ebenso wie das versteinerte Gesicht des Großvaters in der dämmrigen, schweigenden Stube. An jenem Tag geschah etwas Unfassliches, das das Leben der Zehnjährigen von Grund auf veränderte.
Eine Fliege weckte sie auf. Eine dumme Stubenfliege, die sich kitzelnd auf ihre schlafwarme Wange setzte. Sie konnte die kleinen Beinchen auf der Haut spüren und machte voller Ekel eine rasche Handbewegung. Die Fliege flog auf, kreiste zornig brummend über den Betten und prallte zweimal gegen die Tapete, was klang, als ob jemand mit dem Finger fest gegen die Wand tippte. Eigentlich hätte sie davon benommen sein müssen, aber sie surrte einfach weiter und war plötzlich zwischen den grünen Fenstervorhängen verschwunden. Draußen war es schon hell.
Charlotte zog sich einen Zipfel des Federbetts übers Gesicht und kuschelte sich an Klara, die warm und rosig neben ihr schlummerte. Klara war ihre Lieblingscousine, gute zwei Jahre jünger als Charlotte; immer wenn sie bei den Großeltern zu Besuch waren, schlief Charlotte mit in Klaras Bett. Das war das Schönste an diesen Besuchen. Da ging Charlotte sogar freiwillig mit den Hühnern schlafen, nur um mit Klara noch zu flüstern, Geschichten zu erzählen oder alberne Witze. Die beiden anderen Betten in der engen Schlafkammer gehörten der älteren Cousine Ettje und Tante Fanny. Bei denen hätte Charlotte auf keinen Fall liegen wollen. Ettje knirschte im Schlaf mit den Zähnen, und manchmal schlug sie mit Armen und Beinen um sich. Außerdem hatte sie schon ihre Regel und jammerte immer fürchterlich, wenn es so weit war, was einen Angst und Bange machen konnte. Mit Tante Fanny das Bett zu teilen wäre noch schrecklicher gewesen; die legte sich abends steif und gerade auf den Rücken, die Hände über dem Bauch verschränkt, und wachte am Morgen in derselben Stellung wieder auf Sobald Tante Fanny zu Bett gegangen war, durfte in der Kammer nicht mehr geflüstert werden, Kichern oder gar Lachen war gänzlich verboten. Einmal war die Tante aufgestanden und mit dem Nachtlicht in der Hand wie ein weißes Gespenst zu ihnen hinübergegangen, um Klara eine Ohrfeige zu geben. Die Strafe hätte Charlotte genauso verdient gehabt, aber Tante Fanny traute sich nicht, Charlotte zu schlagen, das hätte Papa nicht geduldet. Also hatte es die arme Klara abbekommen, Tante Fannys eigene Tochter.
Charlotte schloss die Augen und versuchte, Klaras regelmäßigen Atemzügen nachzuspüren, um ihr in den Schlaf zu folgen, doch es wollte nicht gelingen. Wahrscheinlich lag es am Morgenlicht, das durch die Ritzen des Vorhangs quoll und das ausgebleichte Grün mit silbernen Rändern versah. Leise seufzend drehte sie sich wieder auf den Rücken, ganz vorsichtig natürlich, um Klara nicht aufzuwecken. Vielleicht war es ja gut, dass sie jetzt wach war; sie hätte das Segelschiff auf dem unendlich weiten Ozean sowieso nicht wieder gesehen, man träumte einen Traum niemals zum zweiten Mal. Und dann war der Traum zwar schön, aber auch kummervoll gewesen, so dass sie fast geweint hatte. Der stolze Dreimaster, der mit prall gefüllten Segeln die Wellen pflügte, trug Eltern und Bruder immer weiter von ihr fort, jeder Tag, jede Stunde machte die Entfernung zwischen ihnen größer. Sie reisten nach Indien, wo Mamas Eltern wohnten, in das Land voller Sonne und brauner Menschen, wo die Pflanzen geheimnisvoll dufteten und perlmuttfarbige Blüten auf den Teichen schwammen, lächelnd und schön wie Menschengesichter. Wie hatte sie gebettelt und gefleht, dass sie sie doch mitnehmen mögen, doch Mama hatte sich nicht erweichen lassen. Charlotte wurde zu den Großeltern nach Leer gebracht, ein Frachtschiff war kein Ort für eine Zehnjährige, auch wenn ihr Papa der Kapitän war. Ihr siebenjähriger Bruder Jonny aber durfte mitfahren. Weil er eben ein Junge war.
Mama hatte sehr geweint, als der Großvater Charlotte in Emden abholte, auch Jonny hatte beim Abschied geheult; der kleine Dummkopf wäre viel lieber mit nach Leer gefahren, denn dort konnte er mit Paul spielen. Papa hatte Charlotte hochgestemmt und sich mit ihr auf der Stelle gedreht, so dass sie wie ein Vogel in der Luft schwebte, dazu hatte er gelacht. Das nächste Mal dürfe sie mit - das war hoch und heilig versprochen.
Drüben im Bett reckte Ettje die Arme; sie gähnte verschlafen und ballte dabei die Fäuste.
»Schlaft ihr noch?«, krächzte sie morgenheiser. »Denkt nicht, dass ihr faulenzen könnt, bloß weil heute keine Schule ist. Morgen ist Pfingsten, da wird hier alles geputzt.«
Ettjes rundes Gesicht war umrahmt von einer spitzenbesetzten Nachthaube, die aus dem Bestand der Großmutter stammte. Die Cousine war der Meinung, ihr Haar sei dadurch besser geschützt und werde - so ihre große Hoffnung -auch üppiger wachsen. Ettje hatte dunkelblondes, flusiges Haar, das sie für die Nacht zu einem Zopf flocht; wenn sie es tagsüber offen trug, bündelte es sich zu schmalen Strähnen, die sie so oft bürsten konnte, wie sie wollte - sie kamen immer wieder.
»Ich bin schon lange wach! Länger als du!«, prahlte Charlotte, während Klara neben ihr die Decke ein wenig herab-schob und leise gähnte. Bei allem, was sie tat, war Klara leise wie ein Mäuschen, sogar wenn sie ging, machte sie kaum ein Geräusch. Das war seltsam, denn Klara hatte ein zu kurzes linkes Bein, auch der Fuß war nicht richtig, er war dick und gar nicht wie ein Fuß geformt.
»Dann hättest du uns längst warmes Waschwasser aus der Küche holen können!«, versetzte Ettje vorwurfsvoll.
»Wieso ich?«
»Wieso nicht? Hast du gedacht, ich mach das jeden Tag für euch? Ich muss schon immer Klara alles beischleppen.«
»Lass bloß Klara in Ruhe!«, versetzte Charlotte wütend.
Sie stand aus dem Bett auf und wickelte sich Mamas blaues Wolltuch um das lange Nachthemd. Um den Waschkrug zu holen, musste sie über die hölzerne Reisekiste klettern. Darin befand sich die eigentliche Ursache für Ettjes schlechte Laune - es waren Charlottes hübsche Kleider, ihre Schuhe und die feine Wäsche, auch ihre Spielsachen, einige Bücher und ihre beiden Puppen. Solch teure Sachen hatte Ettje nie besessen, dazu war kein Geld da im Hause des pensionierten Pfarrers Dirksen, der seine verwitwete Tochter Fanny mit den drei Kindern durchfüttern musste.
»Wenn ich das Wasser hole, darf ich mich als Erste waschen«, verkündete Charlotte fröhlich. »Und dann Klara. Du zuletzt, Ettje!«
»Schlag bloß den Krug nicht an, und verschütte nichts, das gibt Flecken auf der Stiege!«, rief Ettje ihr nach und drehte sich auf die Seite, um die wohlige Schlafwärme ihres Bettes noch ein wenig zu genießen.
Die Stiege war eng und dunkel, es roch nach Bohnerwachs und altem Holz und auch ein bisschen nach Großvaters Pfeifentabak. Charlotte hielt den Krug mit beiden Händen vor dem Bauch und ertastete die Stufen mit den bloßen Füßen, auf keinen Fall wollte sie das kostbare, mit lila Blüten bemalte Gefäß an Wand oder Treppengeländer anschlagen. Kein Wunder, dass Klara für diese Arbeit nichts taugte, sie hatte ja auch so schon Mühe, die Treppe hinunterzugehen.
Unten im Flur war es ein wenig heller. Das kam durch das Oberlicht über der weiß gestrichenen Haustür, dafür zog es ordentlich, und der geflieste Boden war kalt. Auf der Flurkommode standen allerlei irdene Töpfe mit eingekochtem Mus und anderen Sachen. Die hatte die Großmutter wohl aus dem Keller geholt, denn die bunten Stoffe, mit denen sie bedeckt waren, trugen eine graue Staubschicht. Morgen war Pfingsten, da würde die Tante bestimmt einen Kuchen backen, vielleicht gab es sogar einen Braten.
Zum Glück war die Küchentür nur angelehnt, sie öffnete sich knarrend, als das Mädchen mit dem bloßen Fuß dagegendrückte. Wärme und der beißende Geruch des Herdfeuers quollen ihr entgegen, es roch auch ein wenig nach Kaffee und gekochter Milch. Die Großmutter stand vor dem Ofen, hatte die runde Herdplatte abgehoben und stocherte im Feuer herum, dass die Funken aufstoben.
»Dich Spatz haben sie geschickt?«, meinte sie und deckte das Feuer speiende Ungetüm im Ofen wieder mit der Eisenplatte zu. »Pass nur auf, dass du nicht auf der Stiege ins Stolpern kommst und mitsamt dem Krug herunterpurzelst!«
»Ich kann das schon! Ist ganz leicht für mich!«, behauptete Charlotte beleidigt und stellte den Krug neben dem Herd auf den Küchenboden.
»Na, denn man los!«
Großmutter Grete nahm die Kelle und schöpfte heißes Wasser aus dem »Schiff« in den Krug hinein. Das Schiff war ein viereckiger Behälter im Herd, der höchstens einem jämmerlichen Kahn ähnlich sah, mit dem man auf dem Fluss herumrudern konnte. Ein richtiges Schiff wie das, das ihr Vater befehligte, war es auf keinen Fall, dazu war es viel zu plump.
»Ach Gott, das schafft sie doch gar nicht«, ließ sich Tante Fanny vernehmen, die drüben am Küchentisch stand und Möhren schrappte. »Sie wird den Krug fallen lassen, Mutter. Es ist schade um das schöne Stück. Ich ruf mal fix nach Ettje ...«
»Lass sie nur«, entgegnete die Großmutter unbeirrt und goss kaltes Wasser nach. »Und werft Paul aus den Federn, ich glaub fast, der schläft bis Pfingstmontag durch, wenn ihn keiner aufweckt.«
Großmutter Grete überragte Charlotte nur um einen halben Kopf, dafür war sie breit, bewegte sich rasch und hatte eine kräftige Stimme. Wenn sie ernst dreinblickte, war ihr Gesicht ganz glatt, nur die Wangen hingen ein wenig herunter. Wenn sie aber lachte - und das tat sie oft -, glich ihre Haut zerknittertem Papier und hatte tausende winzige Fältchen. Obgleich sie so klein war, hatte die Großmutter doch das Sagen im Haus, nicht einmal der Großvater wagte ihr zu widersprechen, dabei war er doch früher Pfarrer gewesen und auch jetzt noch eine Respektsperson für alle guten Lutheraner in Leer.
Charlotte hob den Krug vorsichtig an - er war jetzt elend schwer und noch dazu ziemlich voll.
»Geh langsam, und oben lass Ettje einschütten!«
Die Großmutter drehte sich wieder zum Herd, um einen Topf zurechtzuschieben, und schien sich nicht weiter um Charlottes Kampf mit dem Waschkrug zu kümmern. Dafür folgte Tante Fanny ihrer Nichte mit besorgtem Blick, hielt sogar mit der Arbeit inne, und ihrer Miene war zu entnehmen, dass sie jeden Augenblick eine Katastrophe befürchtete. Aber das war nichts Ungewöhnliches - die dünne, blasse Tante zog immer ein Gesicht, als stünde ihnen schon morgen der Jüngste Tag bevor. Das erste Mal schwappte das warme Wasser im Flur über, aber auch nur deshalb, weil ihr der dumme, graue Kater zwischen die Beine lief. Ein Schwall klatschte ihm auf den Rücken, und er zischte zu Tode erschrocken in Richtung Küche davon. Auf der Treppe musste sie zweimal stehen bleiben, weil sie beinahe Mamas hellblaues Wolltuch verloren hätte. Das Wasser schwappte erneut über, und Charlotte versuchte, die Lachen mit dem nackten Fuß zu verwischen. Oben im halbdunklen Flur stand Paul im kurzen Nachthemd am Geländer und sah gespannt zu, wie die Cousine den Krug balancierte. Als sie mit ihrer Last heil oben ankam, machte er ein enttäuschtes Gesicht.
»Ich hab dich verhext«, feixte er. »Gleich musst du den Krug fallen lassen.«
»Geh weg!«
»Er fällt, er fällt ...«
Er hampelte dicht vor ihr herum und zog allerlei Grimassen, aber er wagte doch nicht, sie anzustoßen, denn wenn der Krug tatsächlich zu Bruch gegangen wäre, hätte er großen Ärger bekommen.
»Du hast gelbe Augen wie ein Kater!«, rief er hämisch, als sie schon vor der Tür der Schlafkammer war und er das Spiel aufgeben musste. »Kateraugen, Hexenaugen ...«
Es war wirklich schade, dass ihr Bruder Jonny nicht hier war, der hätte Paul jetzt verdroschen, auch wenn er zwei Jahre jünger war als der Cousin. Charlotte hätte Paul auch gern eine gescheuert, aber sie musste den Krug festhalten, außerdem war sie ein Mädchen und durfte sich nicht prügeln.
In der Schlafkammer waren die Vorhänge noch zugezogen, aber durch den Spalt fiel ein Sonnenstrahl in den Raum hinein wie ein schmaler, goldener Schleier. Als Klara sich im Bett aufsetzte, fiel er direkt über ihr Gesicht, und sie musste blinzeln.
»Ettje!«, rief Klara leise zum Bett der Schwester hinüber. »Psst!«, machte Charlotte und schüttelte den Kopf. »Lass sie ruhig schlafen.«
Charlotte nahm die Waschschüssel von der Kommode und stellte sie auf den Boden, um leichter eingießen zu können. Dann musste sie Klara beim Aufstehen helfen. Das dicke Federbett lag bleischwer auf ihren Beinen, weil in der Nacht wieder alle Federn nach unten gerutscht waren. Ihre Cousine hatte ein wenig Mühe, sich auf den Boden zu knien, aber sie klagte nicht, sondern tauchte genau wie Charlotte den Lappen in die Waschschüssel, um sich den Schlaf aus dem Gesicht zu reiben. Auch Hände und Arme wurden mit warmem Wasser gesäubert, dann die Brust. Dazu musste man das Nachthemd aufknöpfen und herunterziehen, aber nicht bis über den Bauch, das wäre unschicklich gewesen. Alles, was unterhalb der Körpermitte war, durfte man auf keinen Fall mit dem nassen Lappen berühren, man sollte dort überhaupt so wenig wie möglich hinfassen. Nur die Füße mussten gewaschen werden, aber bloß bis zu den Knien hinauf. Einmal in der Woche wurden die Kinder gebadet, zuerst die Mädchen, dann die Knaben, damit das Badewasser gut ausgenutzt war. Doch nur die ganz kleinen Kinder waren dabei nackig, die älteren - auch Charlotte - behielten das Hemd an.
Klaras Haut war hell, ihre Brust und die Arme erschienen Charlotte sehr durchsichtig und mager, aber sie waren ganz normal und nicht verwachsen wie ihr Bein. Ihr Gesicht war schmal, die Nase ein bisschen zu groß, und die blauen Augen hatten Schattenränder - das kam wohl daher, dass Klara früher so oft krank gewesen war. Immerhin hatte sie keine Sommersprossen wie Ettje, die sich schrecklich über die Sprenkel auf Stirn und Nase ärgerte und schon einmal versucht hatte, sich mit weißem Mehl zu pudern. Es hatte nicht viel genutzt, die braunen Tupfer leuchteten durch das Mehl hindurch, und sie hatte von der Großmutter eine saftige Backpfeife bekommen. Im Hause Dirksen verschwendete man keine Lebensmittel, schon gar nicht für die Eitelkeit, die eine schlimme Sünde war.
»Ich wünschte, ich hätte Haare wie du«, flüsterte Klara. »So dicht und solche Locken.«
Sie hatte den Lappen ausgewrungen und über den Rand der Schüssel gelegt, jetzt griff sie nach Charlottes langem Zopf. Man brauchte niemals ein Band oder eine Spange dafür; es genügte, das Ende um den Finger zu schlingen, dann entstand eine Ringellocke, die den Zopf zusammenhielt.
»Wünsch dir das bloß nicht. Es ziept furchtbar beim Kämmen!«
»Es fühlt sich ganz weich an. Und es glänzt blau.« »Blau?«, fragte Charlotte kichernd.
»Nicht richtig blau. Nur ein klein wenig. Wenn das Licht darauf scheint. Schwarzblau. Silberblau ...«
Charlotte besah sich das Zopfende mit kritischen Augen und schüttelte den Kopf. Dann hob sie es in die Höhe, um es in den flimmernden Sonnenstrahl zu halten, der jetzt noch ein wenig heller und breiter geworden war. Dabei stieß sie mit dem Knie gegen die Waschschüssel, und das Wasser schwappte auf den Fußboden. Erschrocken wich Klara zurück, damit ihr Hemd nicht nass wurde.
»Was treibt ihr denn da?«, rief Ettje von ihrem Bett hinüber. »Wisch das auf, Charlotte! Wenn das Wasser durch die Dielen läuft, tropft es in die Wohnstube hinunter.«
»Das bisschen ...«
»Mach schon! Und dann zieht euch an. Aber fix!«
Ettje stieg aus dem Bett, warf einen Blick in den leicht erblindeten Wandspiegel und zog sich selbst eine Grimasse. Dann hob sie schimpfend die Waschschüssel auf die Kommode und sah neiderfüllt zu, wie Charlotte den hölzernen Deckel ihrer Kiste aufklappte.
»Schau - das könnte dir passen, Klara!«, flüsterte Charlotte. »Das ist zu fein für mich.«
»Morgen ist Feiertag, und wir gehen zur Kirche, da ist es genau richtig. Das Kleid hat Mama genäht, der Stoff kommt aus Indien. Fühl doch mal, wie glatt er ist.«
Ettje sah nicht hin, stattdessen rieb sie sich mit dem Lappen fest über das Gesicht und schnaube laut. Sie war vierzehn und hatte schon weibliche Formen, Charlottes Wäsche wäre ihr sowieso zu eng gewesen und die Kleider zu kurz. Trotzdem war es ungerecht. »Kämmt euch das Haar! Trödelt nicht so herum!«
Charlotte musste unters Bett kriechen, um die hässlichen Holzschuhe hervorzuangeln, die sie im Haus der Großmutter tragen musste. Beim Aufstehen lugte sie neugierig zu Ettje hinüber, die gerade ihr Nachthemd heruntergeschoben hatte. Mama zog sich niemals vor den Kindern aus, daher war es für Charlotte aufregend, Ettjes Busen zu betrachten. Komisch schaute das aus, wie zwei Mückenstiche, die ordentlich angeschwollen waren. Die linke Seite war dicker, rechts musste wohl noch wachsen. Ein richtiger Busen war das nicht, wenn Ettje das Kleid anhatte, sah man nichts davon. Charlotte war froh, dass sie noch ein wenig Zeit hatte. Um nichts in der Welt wollte sie solche komischen Schwellungen an der Brust haben. Weshalb konnte man nicht einfach am Morgen aufwachen, und der Busen war fix und fertig, wie er sein musste?
Klara war schon auf der Treppe, und Charlotte quetschte sich an ihr vorbei, um langsam vor ihr herzugehen.
»Das musst du nicht, Lotte. Lauf hinunter in die Küche, ich komm schon nach«, flüsterte Klara verschämt.
»Ich geh doch bloß langsam, weil ich mir vorhin den Zeh am Bettpfosten gestoßen hab!«
Klara rutschte oft auf der Treppe aus und fiel die Stufen hinab, was niemanden hier im Haus besonders aufregte - man war daran gewöhnt. Aber Charlotte wollte nicht, dass Klara sich wehtat, deshalb lief sie auf der Treppe immer dicht vor ihr her, damit Klara sich an ihr festhalten konnte, falls sie ins Stolpern geriet.
Unten saß Paul am Küchentisch und stopfte ein Butterbrot in sich hinein, dazu trank er warme Milch. Tante Fanny presste den Brotlaib gegen die Brust und schnitt schmale Scheiben ab, dazu gab es Butter und schwarzbraunes Birnenmus, das mit Wasser aufgekocht und verlängert worden war. Die Großmutter bereitete das Frühstück für den Großvater vor, das er wie immer in seinem kleinen Arbeitszimmer einnehmen würde. Auf dem Tablett stand eine große Tasse Milchkaffee, daneben auf dem Teller lagen zwei Brotscheiben, dick mit Butter und Mus bestrichen. Kaffee gab es für die anderen höchstens zu Feiertagen oder wenn Besuch kam.
»Nun mal rasch«, befahl Großmutter Grete. »Ettje soll zum Schlachter und dann noch auf den Markt. Paul kann tragen helfen. Klara bleibt hier zum Sockenwaschen, und Charlotte hilft uns beim Saubermachen.«
Die Großmutter war wie ein Feldherr; wenn sie die Arbeiten einteilte, hatte man zu gehorchen. Morgen war Pfingsten, dann musste das ganze Haus blitzblank sein: Alle Böden mussten gewischt und die Betten geschüttelt werden, auf den Möbeln durfte kein Stäubchen liegen, vor allem nicht in der Wohnstube, für den Fall, dass überraschend Besuch kam.
Saubermachen war keine schöne Arbeit, fand Charlotte. Daheim in Emden gab es dafür ein Mädchen. Auch die Wäsche wurde von einer Frau abgeholt, nur die kleinen Sachen wusch Mama selbst.
»Soll ich nicht besser mit auf den Markt gehen, Großmutter? Du weißt doch, dass ich neulich die Eier billiger bekommen habe und die Butter auch.«
Großmutter Grete schwieg und ging in die Speisekammer, um die Speckseite vom Haken zu nehmen. Sie schwieg auch noch, während sie ein Stück davon herunterschnitt und in kleine Würfel zerteilte.
»Wir haben vier Pfennige gespart, weil ich so gut handeln kann«, beharrte Charlotte und nahm einen tiefen Schluck aus der Milchtasse. »Wenn ich heute wieder handele, sparen wir vielleicht noch mal vier oder fünf Pfennige.«
Ettjes Holzpantinen klapperten im Flur. Sie trat in die Küche und hörte gerade noch, was Charlotte sagte.
»Mit der gehe ich nicht auf den Markt, Großmutter. Man schämt sich ja vor den Leuten, so wie die schachert.«
»Du hast wohl Geld zu verschenken, wie?«, fuhr die Großmutter Ettje an, ohne von ihrer Arbeit hochzuschauen. Es fiel ihr schwer, die Anordnung zurückzunehmen, aber vier Pfennige waren vier Pfennige, und Geld war knapp.
»Weiß der Himmel, woher du dieses Talent hast«, knurrte sie Charlotte an. »Von deinem Vater gewiss nicht. Also geh mit auf den Markt, und versuche dein Glück.«
Ettje kaute verbissen an ihrem Butterbrot. Sie hatte nicht einmal Gelegenheit, ihren Ärger an Charlotte auszulassen, denn nun musste sie sich die Aufträge der Großmutter genau einprägen. Den Braten beim Schlachter abholen, der war vorbestellt, dazu drei Leberwürste und drei kleine Blutwürste. Auf dem Markt ein Pfund Butter, Zwiebeln, Eier, drei frische Brote. Und ein Päckchen Tabak. Dieser Auftrag wurde von einem leisen Seufzer begleitet, da sich der Großvater das Pfeiferauchen einfach nicht abgewöhnen wollte. Das Geld bekam Ettje abgezählt auf die Hand, und sie band es umständlich in ein Schnupftuch, damit sie es auf keinen Fall verlor. Paul hatte blitzschnell den großen Einkaufskorb aus der Speisekammer geholt und stellte sich dienstfertig neben die ältere Schwester, voller Sorge, daheim gelassen zu werden, weil jetzt ja Charlotte tragen helfen konnte. Er wusste, dass dann er an
ihrer Stelle hätte ausfegen müssen - eine Arbeit, die er hasste.
Er hatte Glück. Großmutter Grete hatte immer eine kleine Schwäche für flehende Knabenaugen gehabt, und sie befahl ihm, die Jacke zuzuknöpfen und die Socken hochzuziehen. Das war alles.
Helle Maisonne empfing sie draußen und blendete die Augen, in den Hecken grünte es mächtig, neben der Eingangstür glänzte ein großer, weißer Klecks auf dem Boden. Der kam von dem Schwalbennest unterm Dach, in dem jetzt eifrig zwitscherndes Leben war. Drüben auf der anderen Straßenseite blühte das Spalierobst, weiße, rosig geränderte Pracht umhüllte die lange Reihe der ausgespannten Äste. Wenn ein Lüftchen aufkam, wehten die Blütenblätter wie Schnee über den Gartenweg und schwebten sogar bis auf die Straße. Die Ulrichstraße war ein gutes Stück vom Markt entfernt, und Ettje, die für die Schönheiten des Frühlings völlig blind war, trieb zur Eile an. Nachbarinnen kamen ihnen mit vollen Körben entgegen, manche zogen auch einen Karren oder Bollerwagen hinter sich her, darauf hockten zwischen Bündeln, Flaschen und Körben die Kleinen, die noch nicht so weit laufen konnten. Charlotte hatte längst gelernt, dass man freundlich zu grüßen hatte, denn hier in Leer war es nicht wie in Emden, hier kannte jeder jeden. Pastor Henrich Dirksen war überall hoch angesehen, auch bei den Reformierten, obgleich die ja nicht den richtigen, christlichen Glauben hatten, und so blieb immer wieder eine der Frauen stehen, um einen kleinen Schnack zu halten. Ob das die Enkelin aus Emden sei? Die Tochter vom Ernst. Wo sie denn den kleinen Bruder gelassen habe? Dann erklärte Charlotte, dass ihre Eltern und der Bruder unterwegs nach Indien seien, und spürte voller Unbehagen die aufdringlichen Blicke. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass die Frauen das alles längst wussten, sie wollten sie nur anstarren und ausfragen, vielleicht wollten sie auch wissen, ob sie ordentliches Deutsch reden konnte und nicht etwa Englisch oder Indisch.
»Bis in den Sommer hinein bleibst du bei der Großmutter? Da wird sie sich aber freuen, du bist doch eine ganz fixe Deern!«
Möwen kreisten über der Stadt, weiß gefiederte Diebe mit spitzen Schnäbeln; sie kamen von der Anlegestelle der Fischerboote her, wo manchmal etwas für sie abfiel. Die Maisonne ließ das spärliche Grün in den Straßen und Vorgärten leuchten, trotzdem erschien Charlotte die Stadt grau und irgendwie trostlos. Die Häuser waren niedrig, der Backstein dunkel verfärbt von Wind und Regen, zwischen den Häusern standen halb verfallene Remisen, wacklige Unterstände für Brennholz und allerlei Krempel, auch kaputte Boote, die vor sich hin moderten. Windmühlen drehten ihre Flügel wie kreischende, flatternde Ungetüme, ein Geräusch, das Charlotte heute seltsamerweise Angst machte, obgleich sie es bei früheren Besuchen in Leer immer lustig gefunden hatte. Vielleicht kam ihr die Stadt auch nur so hässlich vor, weil die Rosen noch nicht blühten, die vielerorts die Eingangstüren umrankten, doch vielleicht war der Grund auch einfach der, dass Charlotte so gerne auf dem Schiff bei Jonny und den Eltern gewesen wäre. Bis zum Spätsommer - das war so lang, dass es sich nicht lohnte, die Tage zu zählen, ein ganzes Leben, eine Ewigkeit.
»Wenn du wieder handelst und wir Geld sparen, könnten wir uns Bärendreck kaufen«, schlug Paul vor.
»Nee«, widersprach Ettje energisch. »Das kommt auf.«
Charlotte schwieg entrüstet. Wenn sie schon handelte, dann tat sie es, um die Großmutter zu beeindrucken, um ihr Lob zu hören, wenn sie die gesparten Pfennige auf den Tisch zählte, keinesfalls aber, um für Ettje und Paul heimlich Süßes zu kaufen, denn das war gemeiner Betrug.
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Autoren-Porträt von Leah Bach
Bach, LeahLeah Bach studierte Französisch und Russisch auf Lehramt, entschied sich aber gegen eine Laufbahn als Gymnasiallehrerin. Stattdessen begann sie zu schreiben, veröffentlichte bereits zahlreiche Kurzgeschichten und Romane und widmete sich ihrer heimlichen Leidenschaft, der Geschichte. Sie lebt mit ihrer Familie im Taunus und arbeitet als freie Autorin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leah Bach
- 2012, 670 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442377692
- ISBN-13: 9783442377695
Rezension zu „Der Himmel über dem Kilimandscharo “
"Herrlich mitreissender, dramatischer Schmöker zum Immerwiederlesen." Frankfurter Stadtkurier
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