Keyes, M: hellste Stern am Himmel
Roman
Turbulenzen in der Dubliner Star Street 66. Katie aus dem 3. Stock zweifelt an Conall, während sie ein Auge auf den Gärtner vom 1. Stock geworfen hat. Nur bei Matt und Maeve aus dem Parterre scheint alles gut zu sein. Oder?
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Produktinformationen zu „Keyes, M: hellste Stern am Himmel “
Turbulenzen in der Dubliner Star Street 66. Katie aus dem 3. Stock zweifelt an Conall, während sie ein Auge auf den Gärtner vom 1. Stock geworfen hat. Nur bei Matt und Maeve aus dem Parterre scheint alles gut zu sein. Oder?
Lese-Probe zu „Keyes, M: hellste Stern am Himmel “
Der hellste Stern am Himmel von Marian KeyesNOCH EINUNDSECHZIG TAGE
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Erster Juni, ein heller Sommerabend, ein Montag. Ich bin über die Straßen und Häuser in Dublin geflogen, und jetzt bin ich hier, endlich. Ich komme durchs Dach. Durch ein Dachfenster schlüpfe ich in ein Wohnzimmer und weiß sofort, dass hier eine Frau wohnt. Die Einrichtung ist ausgesprochen weiblich - Decken und Kissen in Pastelltönen auf dem Sofa und Ähnliches mehr. Zwei Topfpflanzen, beide grün und kräftig. Ein mittelgroßer Fernseher.
Anscheinend bin ich mitten in etwas hineingeplatzt. Mehrere Menschen stehen verlegen im Kreis, trinken Champagner und lachen gezwungen über das, was zum Besten gegeben wird. Nach der Mischung von Alter und Geschlecht zu urteilen, ist es ein Familientreffen.
Überall Geburtstagskarten. Zerknülltes Geschenkpapier. Geschenke. Offenbar will man bald ins Restaurant aufbrechen. Ich bin neugierig und lese die Geburtstagskarten. Sie sind für eine Frau namens Katie, die ihren vierzigsten Geburtstag feiert. Warum man das besonders feiern muss, weiß ich nicht, aber die Menschen sind so, habe ich mir sagen lassen.
Ich entdecke Katie. Sie sieht viel jünger als vierzig aus, aber vierzig heute ist wie früher zwanzig, habe ich gehört. Sie ist ziemlich groß, hat dunkle Haare und einen großen Busen und hält sich in kniehohen Stiefeln mit spitzen Absätzen ziemlich tapfer aufrecht. Ihr Energiefeld ist angenehm, sie strahlt wohltuende Wärme aus, ein bisschen wie eine attraktive Grundschullehrerin. (Auch wenn das nicht ihr Beruf ist. Das weiß ich, weil ich sehr viel weiß.)
Der Mann neben Katie, strahlend vor Stolz - der Stolz hat in erster Linie mit der neuen Platin-Uhr an Katies Handgelenk zu tun -, ist ihr Freund, Partner, Geliebter, wie immer man das nennen möchte.
Ein interessanter Mann mit starker Lebenskraft, und die von ihm ausgehenden Schwingungen sind so intensiv, dass man sie fast mit Händen greifen kann. Um ehrlich zu sein: Er macht mich neugierig.
Sie nennen ihn Conall. Wenigstens die höflichen Menschen in dieser Versammlung. Ein paar andere Bezeichnungen - Angeber, feiner Pinkel - schwirren durch die Luft, werden aber nicht ausgesprochen. Wie faszinierend! Die Männer können ihn nicht ausstehen. Ich habe den Vater, Bruder und Schwager von Katie ausgemacht, und keiner mag ihn besonders. Während die Frauen - Katies Mutter und ihre Schwester und beste Freundin - nichts gegen ihn zu haben scheinen.
Ich weiß noch etwas: Dieser Conall wohnt nicht mit in der Wohnung. Ein Mann mit einer Frequenz von dieser Potenz würde sich nicht mit einem so kleinen Fernseher begnügen. Und Blumengießen wäre auch nichts für ihn.
Ich schwebe an Katie vorbei, worauf sie die Hand an den Hals hebt und zittert.
»Was ist?«, fragt Conall und sieht sich kampflustig um. »Nichts. Jemand ist gerade über mein Grab gegangen.« Von wegen! So ein Unsinn!
»Ha!« Naomi, Katies ältere Schwester, zeigt auf einen Spiegel, der vor einem Schrank auf dem Fußboden steht. »Dein neuer Spiegel ist ja immer noch nicht aufgehängt!«
»Nein, noch nicht«, erwidert Katie und wirkt ein bisschen angespannt.
»Du hast ihn doch schon ewig! Ich dachte, Conall macht das für dich.«
»Das macht er auch«, sagt Katie bestimmt. »Morgen früh, bevor er nach Helsinki fliegt. Oder, Conall?«
Gereiztheit! Gereiztheit schwirrt durchs Zimmer und prallt von den Wänden zurück. Conall, Katie und Naomi senden Spannungswellen aus, die sich verbreiten und alle anderen im Raum mit einbeziehen. Entre nous, ich würde für mein Leben gern herausfinden, was hier los ist, aber zu meiner Überraschung nimmt mich eine andere Kraft gefangen, die größer und stärker ist als ich und mich nach unten zieht. Durch den Teppich aus hundert Prozent Wolle, an ein paar fragwürdigen Deckenbalken vorbei, die von Holzwürmern völlig zerfressen sind - da sollte sich mal jemand drum kümmern - und in eine andere Wohnung, die Wohnung unter Katies. Ich bin in der Küche. Einer erstaunlich schmutzigen Küche. Töpfe, Pfannen, Teller türmen sich wild im Spülbecken, stehen im schmutzigen Wasser, der Linoleumboden ist seit Ewigkeiten nicht gewischt worden, und der Herd ist so voller Spritzer, dass man denken könnte, eine Gruppe von Aktionskünstlern hätte sich da ausgetobt. Zwei muskulöse junge Männer stehen am Tisch und unterhalten sich auf Polnisch. Sie stecken die Köpfe zusammen und sprechen hastig, fast panisch. In beiden rumort die Angst, so sehr, dass Schwingungen sich ineinander verheddern und ich nicht aus ihnen schlau werde. Zum Glück stelle ich fest, dass ich Polnisch sehr gut verstehe, und hier ist eine ungefähre Übersetzung dessen, was sie sagen:
»Sag du es ihr, Jan.«
»Nein, das musst du machen, Andrej.«
»Ich habe es beim letzten Mal versucht.«
»Aber dich achtet sie mehr, Andrej.«
»Nein, Jan. Mir als Pole ist das zwar unbegreiflich, aber sie achtet uns beide nicht. Irische Frauen sind mir ein Rätsel.«
»Wenn du es ihr sagst, kriegst du drei Kohlrouladen von mir. «
»Vier, dann mache ich es.«
(Ich gestehe, dass ich die letzten beiden Sätze frei erfunden habe.)
Die Küche betritt jetzt das Objekt ihrer ernsten Diskussion, und ich verstehe nicht, wovor sie sich so sehr fürchten, zwei stattliche Mannsbilder wie sie, mit ihren Tätowierungen und den bedrohlich wirkenden Bürstenschnitten. Dieses zarte Geschöpf - irisch, im Gegensatz zu den beiden jungen Männern - ist entzückend. Ein hübsches kleines Kätzchen mit kessem Blick und dichten Wimpern und einer Unmenge wilder Korkenzieherlocken, die ihr bis über die Schultern reichen. Mitte zwanzig, dem Anschein nach, und so energiegeladen, dass die Luft vibriert.
In der Hand hält sie einen Karton mit einer Fertigmahlzeit. Sieht nicht sehr appetitlich aus. (Gräuliches Roastbeef, falls es jemanden interessiert.)
»Jetzt mach«, zischt Jan Andrej ins Ohr.
»Lydia.« Andrej deutet auf die wirklich sehr verdreckte Küche. Auf Englisch sagt er: »Du machst sauber irgendwann.«
»Irgendwann«, sagt sie zustimmend und nimmt sich eine Gabel von der Abtropffläche. »Aber bedauerlicherweise nicht in diesem Leben. Jetzt mach Platz.«
Bereitwillig gibt Andrej ihr den Weg zur Mikrowelle frei. Energisch sticht Lydia mit der Gabel in die Zellophanhülle des Kartons. Viermal, und jedes Mal erklingt ein Geräusch wie eine kleine Explosion, so laut, dass Jans linkes Auge zuckt, dann knallt sie die Packung in die Mikrowelle. Ich nutze die Gelegenheit, mich ihr von hinten zu nähern, aber zu meiner Überraschung schlägt sie mich fort, als wäre ich eine lästige Fliege.
Ich!
Weißt du nicht, wer ich bin?
Andrej versucht es erneut. »Lydia, bitte ... Jan und ich, wir machen oft, oft sauber.«
»Sehr gut«, sagt Lydia munter, klaubt sich das Messer aus dem Becken, das am wenigsten schmutzig aussieht, und lässt kurz Wasser drüberlaufen.
»Wir haben einen Plan gemacht.« Andrej zeigt ihr ein Blatt Papier.
»Auch das ist sehr gut.« Oh, wie weiß ihre Zähne sind, wie bezaubernd ihr Lächeln!
»Du lebst hier drei Wochen. Du machst nicht sauber. Du musst saubermachen.«
Plötzlich geht ein Gefühl von Lydia aus, schwarz und bitter. Offenbar macht sie sehr wohl sauber. Aber nicht hier? Wo dann?
»Andrej, mein kleiner polnischer Kohlkopf, und auch du, Jan, mein zweiter polnischer Kohlkopf, stellen wir uns mal vor, die Sache wäre andersherum.« Sie wedelt mit dem immer noch schmutzigen Messer, um das Gesagte zu unterstreichen. Ich weiß zufällig, dass sich auf diesem Messer zweihundertdreiundsiebzig unterschiedliche Bakterienarten tummeln. Allerdings weiß ich auch, dass es nur einer besonders mutigen und heldenhaften Bakterie gelingen würde, sich gegen diese Lydia durchzusetzen.
»Andersherum?«, fragt Andrej beklommen.
»Sagen wir, es wären zwei Frauen und ein Mann, die in dieser Wohnung lebten. Der Mann würde nichts tun, die Frauen alles. Stimmt's?«
Die Mikrowelle piept. Lydia schnappt sich ihr unappetitlich aussehendes Essen und verlässt mit einem bezaubernden Lächeln die Küche, um im Internet etwas nachzusehen.
Was für eine temperamentvolle junge Frau! Ein faszinierendes kleines Feuerwerk!
»Sie sagt Kohlkopf zu uns«, sagt Jan starr. »Ich hasse es, wenn sie Kohlkopf zu uns sagt.«
Doch obwohl ich zu gern wüsste, wie es weitergeht - ob Jan in Tränen ausbricht? -, werde ich fortgezogen. Fort, nach unten, durch gesundheitsgefährdendes Linoleum, durch eine weitere wurmzerfressene Holzdecke, und lande in einer dritten Wohnung. Diese ist dunkler. Vollgestopft mit schweren Möbeln, die zu groß und zu braun für dieses Zimmer sind. Auf dem Fußboden liegen mehrere Läufer mit nicht zueinanderpassenden Mustern, an den Fenstern hängen Stores, die so dicht sind, dass man sie für gehäkelt halten könnte. In einem großen Sessel sitzt eine finster dreinblickende alte Frau, die Beine gespreizt, die Füße in Pantoffeln fest auf dem Boden. Sie muss mindestens hundertsechzehn Jahre alt sein. Sie guckt eine Sendung über Gartengestaltung, man kann ihrem Stirnrunzeln entnehmen, dass sie noch nie in ihrem Leben so viel dummes Zeug gehört hat. Winterharte Pflanzen? So etwas gibt es nicht, du dummer, dummer Mann! Alles muss sterben!
Ich gleite an ihr vorbei in ein kleines, düsteres Schlafzimmer, dann in ein etwas größeres, ebenso düsteres Zimmer, wo ich zu meiner Überraschung einen großen, grauen Hund mit langen Ohren antreffe, der so groß und grau ist, dass ich ihn einen Moment lang für einen Esel halte. Er liegt in einer Ecke, den Kopf auf den Pfoten, und schmollt - dann spürt er meine Anwesenheit und ist sofort hellwach. Tieren macht man nichts vor. Sie haben andere Wellenlängen, und schließlich ist alles eine Frage der Wellenlänge.
Vor Angst und Ehrfurcht erstarrt, richtet er seine großen Eselsohren auf und knurrt leise, dann beruhigt er sich wieder, der Arme. Bin ich Freund oder Feind? Er hat keinen Schimmer.
Und wie heißt der Hund? Nun, seltsamerweise scheint sein Name »Grollo« zu sein. Aber das kann nicht stimmen, das ist doch kein Name. In der Wohnung steht zu viel rum, das ist das Problem, es macht die Schwingungen langsamer und verdirbt das Muster.
Ich verlasse den Esel-Hund und sause wieder ins Wohnzimmer, wo ein Schreibtisch aus Mahagoni mit einem Rollverdeck steht. Er ist so groß und gewichtig wie ein ausgewachsener Elefant. Ein paar herumliegenden Briefen entnehme ich, dass die alte Frau Jemima heißt.
Neben den Briefen steht ein silberner Bilderrahmen mit dem Foto eines jungen Mannes, und blitzartig weiß ich, dass er Fionn heißt. Das bedeutet »der Helle«. Wer ist er also? Hatte Jemima einen Verlobten, der sein Leben im Burenkrieg ließ? Oder einen, der 1918 bei der Grippeepidemie starb? Aber das Foto kann nicht aus dem Ersten Weltkrieg stammen. Die Männer in ihren stramm sitzenden Uniformen sehen immer so steif und geradeaus in die Kamera, dass man glauben könnte, man hätte ihnen ihr eigenes Gewehr hinten reingeschoben. Sie tragen unterschiedslos ein bürstenartiges Oberlippenbärtchen, und der erloschene, glasäugige Blick, mit dem sie den Betrachter anstarren, erweckt den Eindruck, dass sie gestorben und ausgestopft sind. Fionn hingegen sieht aus wie der Prinz in einem Märchenbuch. Es liegt an seinem Haar - das blond, lang und gewellt ist - und an dem kantigen Kiefer. Er trägt eine Lederjacke und verschossene Jeans und hockt in einem Blumenbeet, so scheint es, die Hand voller Erde, die er mir mit einem kessen, fast anzüglichen Lächeln entgegenstreckt, als hätte er noch viel mehr, das er einem entgegenstrecken könnte! Grundgütiger! Gerade hat er mir zugezwinkert! Ja, gezwinkert! Aus dem Foto! Und seinem Lächeln entsprang ein Silberstern! Ich kann es kaum fassen.
»Ich spüre deine Gegenwart!«, brüllt Jemima plötzlich und jagt mir einen gehörigen Schrecken ein. Ich
hatte sie ganz vergessen, so vertieft war ich in meine Betrachtung von Fionn dem Prinzen und seinem Zwinkern und Funkeln.
»Ich weiß, dass du hier bist«, sagt sie. »Du machst mir keine Angst!«
Sie hat mich bemerkt. Dabei war ich gar nicht nah an ihr dran. Offenbar feinfühliger, als man denken würde. »Zeig dich«, befiehlt sie.
Das tue ich, Madame, das tue ich bestimmt, aber noch nicht jetzt. Du musst dich noch gedulden. Anscheinend bin ich sowieso wieder auf dem Absprung und werde gezogen, nach unten gezerrt. Jetzt bin ich in der Wohnung im Erdgeschoss. Durch das Wohnzimmerfenster kann ich auf die Straße sehen. Ich spüre viel Liebe. Und noch etwas ...
Auf dem Sofa, im flackernden Licht des Fernsehers, liegt ... na ja ... liegen ein Mann und eine Frau, aber sie halten sich so eng umschlungen, dass ich einen Moment lang denke, sie sind eins, ein merkwürdiges, mythologisches, zweiköpfiges, dreibeiniges Ding - das hätte mir noch gefehlt. (Das vierte Bein ist da, es liegt nur unter den beiden.)
Auf dem Fußboden stehen zwei Teller mit den Resten eines üppigen Mahls: Kartoffeln, Rinderbraten, Soße, Mohrrüben - kommt mir ein bisschen mächtig vor für Juni, aber was weiß ich schon.
Jetzt erkenne ich die Frau - Maeve -, sie ist blond und rotwangig wie ein Engel auf einem Gemälde. Sie hat eine gesunde, rosige Frische, denn sie ist auf einer Farm aufgewachsen. Jetzt lebt sie zwar in Dublin, aber die süße reine Luft des Ländlichen haftet ihr noch an. Diese Frau fürchtet sich nicht vor Schlamm. Auch nicht vor Kuheutern. Oder Hühnern, die Junge gebären. (Ich glaube, da stimmt was nicht.) Aber die Frau fürchtet sich vor anderen Dingen ...
Einen guten Blick auf den Mann - Matt - zu bekommen, ist gar nicht so leicht, weil sie so ineinander verknäult sind; sein Gesicht ist fast völlig versteckt. Lustig, bei ihnen läuft dieselbe Gartensendung wie bei Jemima, doch im Gegensatz zu ihr finden diese beiden offenbar, dass es wunderbare Fernsehunterhaltung ist.
Ganz unerwartet spüre ich die Gegenwart eines zweiten Mannes. Nur schwach, aber doch stark genug, dass ich in alle Ecken fahre, um nachzusehen. Wie in den anderen drei Wohnungen im Haus gibt es zwei Schlafzimmer, aber hier wird nur eins als Schlafzimmer benutzt. Das andere ist halb Arbeitszimmer, halb Abstellraum - ein Schreibtisch, ein Computer und überfl üssige Sportgeräte (Nordic-Walking-Stöcke, Badminton-Schläger, Reitstiefel und so), aber keine Schlafstätte.
Ich schnüffl e noch ein bisschen weiter. Zwei Podgeand-Rodge-Tassen in der Küche, zwei Tigger-Müslischüsseln, alles gibt es paarweise. Wer immer der andere Mann ist, er wohnt nicht hier. Und dem wilden, verwucherten Garten hinter dem Haus nach zu urteilen, den man vom Schlafzimmer aus sehen kann, mäht er auch nicht den Rasen. Ich kehre ins Wohnzimmer zurück und komme ganz nah an die engelhafte Maeve heran, um mich ihr - ganz freundlich - vorzustellen, aber sie fängt an, mit den Armen um sich zu schlagen, wie jemand, der Schwimmübungen auf dem Trockenen macht, und stößt Matt zurück. Sie befreit sich aus der Umarmung und setzt sich aufrecht hin. Das Blut ist aus ihrem Gesicht gewichen, und ihr Mund macht ein großes stummes O.
Matt stemmt sich von dem weichen Sofa hoch und setzt sich, auch er ist verstört. »Maeve! Maeve! Es geht doch nur um Gartenarbeit! Hat jemand was Schlimmes gesagt?« Seine Miene drückt Besorgnis aus. Jetzt kann ich ihn besser sehen, er hat ein junges, freundliches, selbstbewusstes Gesicht, und ich vermute, wenn er nicht so besorgt ist, gehört er zu denen, die lächelnd durchs Leben gehen.
»Nein, es ist nichts ... «, sagt Maeve. »Entschuldige, Matt, es war nur ... nein, alles in Ordnung, es ist nichts.«
Zögernd umarmen sie sich wieder. Aber ich habe sie durcheinandergebracht, beide, und das will ich nicht. Sie gefallen mir; die ungewöhnliche Zärtlichkeit zwischen ihnen berührt mich.
»Ist gut«, sage ich (aber natürlich können sie mich nicht hören), »ich gehe ja schon.«
Ich setze mich draußen auf die Stufen und bin leicht bedrückt. Abermals überprüfe ich die Adresse: Star Street Nummer 66, Dublin 8. Ein rotes Backsteinhaus im georgianischen Stil mit einer blauen Eingangstür und einem Türklopfer, der wie eine Banane geformt ist. (Ein früherer Bewohner war ein Schlosser mit Sinn für Humor. Die anderen konnten ihn nicht ausstehen.) Eindeutig ein Backsteinhaus. Eindeutig georgianisch. Die Haustür eindeutig blau. Der Türklopfer hat eindeutig die Form einer Banane. Dies ist das richtige Haus. Aber keiner hat mir gesagt, dass hier so viele Menschen wohnen. Mach dich auf alles gefasst, hat man mir geraten. Aber das ist nicht die Sorte Alles, auf die ich mich gefasst gemacht habe. Es ist das falsche Alles.
Und ich kann niemanden fragen. Ich bin losgeschickt worden wie ein Spion mit einer neuen Legende. Ich muss allein klarkommen.
EINUNDSECHZIG TAGE ...
An meinem ersten Abend in der Star Street Nummer 66 bin ich von Wohnung zu Wohnung gezogen, ängstlich bemüht herauszufinden, welche meine ist. Katies Wohnung war leer. Kurz nach meiner Ankunft hatte sich die ganze Truppe ziemlich gereizt zu einem teuren Restaurant aufgemacht. In der Wohnung darunter putzten Jan und Andrej die Küche, während Lydia sich an dem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers installierte und lange Zeit vollkommen vertieft im Netz surfte. Als sie in ihr Zimmer ging und ein Schläfchen machte und Jan und Andrej sich in ihrem Zimmer die Betriebswirtschaftsbücher vornahmen - so tüchtig, die beiden -, wechselte ich zur Etage darunter, zu Jemimas Wohnung. Ich achtete darauf, dass ich ihr nicht zu nahe kam, schließlich wollte ich nicht wieder von ihr beschimpft werden. Aber ich gestehe, dass es mir großen Spaß machte, den Hund an der Nase herumzuführen, Grollo - wenn er wirklich so heißt. Ich schaukelte um ihn herum, und er starrte in die Luft in gebanntem, regungslosem Staunen. Als ich auf die Idee kam, ein wenig zu tanzen, bewegte sich sein großer grauer Kopf - das muss man ihm lassen - genau im Takt zu meinen Bewegungen. Ich drehte mich schneller und schneller und wirbelte über seinem Kopf, und er versuchte, meinen Bewegungen zu folgen, der Arme, bis er vor lauter Erregung mit einem Hundekichern in sich zusammensackte. Da hörte ich lieber auf. Nicht, dass er am Ende noch kotzte.
Dann kehrte ich endlich zu Matt und Maeve zurück, wo ich eigentlich die ganze Zeit schon sein wollte, aber professionell wie ich bin, fand ich, ich sollte erst alle anderen Möglichkeiten erforschen. Jetzt hatte ich sie erforscht, wenigstens fürs Erste, und konnte mich guten Gewissens wieder zu dem Liebespärchen auf dem Sofa gesellen.
Die Sendung, die sie angesehen hatten, war gerade zu Ende, worauf Maeve automatisch die Arme öffnete und Matt freiließ. Der rollte sich vom Sofa auf den Boden und sprang auf die Füße, als wollte er mit einem Sonderkommando eine feindliche Botschaft einnehmen. Das sah erstaunlich glatt und elegant aus und war offenbar oft geübt worden, und zum Glück waren die Teller, die zuvor auf dem Fußboden gestanden hatten, weggeräumt worden, sonst hätte er jetzt Bratensoße auf seinem hübschen T-Shirt.
Übersetzung: Susanne Höbel
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
Erster Juni, ein heller Sommerabend, ein Montag. Ich bin über die Straßen und Häuser in Dublin geflogen, und jetzt bin ich hier, endlich. Ich komme durchs Dach. Durch ein Dachfenster schlüpfe ich in ein Wohnzimmer und weiß sofort, dass hier eine Frau wohnt. Die Einrichtung ist ausgesprochen weiblich - Decken und Kissen in Pastelltönen auf dem Sofa und Ähnliches mehr. Zwei Topfpflanzen, beide grün und kräftig. Ein mittelgroßer Fernseher.
Anscheinend bin ich mitten in etwas hineingeplatzt. Mehrere Menschen stehen verlegen im Kreis, trinken Champagner und lachen gezwungen über das, was zum Besten gegeben wird. Nach der Mischung von Alter und Geschlecht zu urteilen, ist es ein Familientreffen.
Überall Geburtstagskarten. Zerknülltes Geschenkpapier. Geschenke. Offenbar will man bald ins Restaurant aufbrechen. Ich bin neugierig und lese die Geburtstagskarten. Sie sind für eine Frau namens Katie, die ihren vierzigsten Geburtstag feiert. Warum man das besonders feiern muss, weiß ich nicht, aber die Menschen sind so, habe ich mir sagen lassen.
Ich entdecke Katie. Sie sieht viel jünger als vierzig aus, aber vierzig heute ist wie früher zwanzig, habe ich gehört. Sie ist ziemlich groß, hat dunkle Haare und einen großen Busen und hält sich in kniehohen Stiefeln mit spitzen Absätzen ziemlich tapfer aufrecht. Ihr Energiefeld ist angenehm, sie strahlt wohltuende Wärme aus, ein bisschen wie eine attraktive Grundschullehrerin. (Auch wenn das nicht ihr Beruf ist. Das weiß ich, weil ich sehr viel weiß.)
Der Mann neben Katie, strahlend vor Stolz - der Stolz hat in erster Linie mit der neuen Platin-Uhr an Katies Handgelenk zu tun -, ist ihr Freund, Partner, Geliebter, wie immer man das nennen möchte.
Ein interessanter Mann mit starker Lebenskraft, und die von ihm ausgehenden Schwingungen sind so intensiv, dass man sie fast mit Händen greifen kann. Um ehrlich zu sein: Er macht mich neugierig.
Sie nennen ihn Conall. Wenigstens die höflichen Menschen in dieser Versammlung. Ein paar andere Bezeichnungen - Angeber, feiner Pinkel - schwirren durch die Luft, werden aber nicht ausgesprochen. Wie faszinierend! Die Männer können ihn nicht ausstehen. Ich habe den Vater, Bruder und Schwager von Katie ausgemacht, und keiner mag ihn besonders. Während die Frauen - Katies Mutter und ihre Schwester und beste Freundin - nichts gegen ihn zu haben scheinen.
Ich weiß noch etwas: Dieser Conall wohnt nicht mit in der Wohnung. Ein Mann mit einer Frequenz von dieser Potenz würde sich nicht mit einem so kleinen Fernseher begnügen. Und Blumengießen wäre auch nichts für ihn.
Ich schwebe an Katie vorbei, worauf sie die Hand an den Hals hebt und zittert.
»Was ist?«, fragt Conall und sieht sich kampflustig um. »Nichts. Jemand ist gerade über mein Grab gegangen.« Von wegen! So ein Unsinn!
»Ha!« Naomi, Katies ältere Schwester, zeigt auf einen Spiegel, der vor einem Schrank auf dem Fußboden steht. »Dein neuer Spiegel ist ja immer noch nicht aufgehängt!«
»Nein, noch nicht«, erwidert Katie und wirkt ein bisschen angespannt.
»Du hast ihn doch schon ewig! Ich dachte, Conall macht das für dich.«
»Das macht er auch«, sagt Katie bestimmt. »Morgen früh, bevor er nach Helsinki fliegt. Oder, Conall?«
Gereiztheit! Gereiztheit schwirrt durchs Zimmer und prallt von den Wänden zurück. Conall, Katie und Naomi senden Spannungswellen aus, die sich verbreiten und alle anderen im Raum mit einbeziehen. Entre nous, ich würde für mein Leben gern herausfinden, was hier los ist, aber zu meiner Überraschung nimmt mich eine andere Kraft gefangen, die größer und stärker ist als ich und mich nach unten zieht. Durch den Teppich aus hundert Prozent Wolle, an ein paar fragwürdigen Deckenbalken vorbei, die von Holzwürmern völlig zerfressen sind - da sollte sich mal jemand drum kümmern - und in eine andere Wohnung, die Wohnung unter Katies. Ich bin in der Küche. Einer erstaunlich schmutzigen Küche. Töpfe, Pfannen, Teller türmen sich wild im Spülbecken, stehen im schmutzigen Wasser, der Linoleumboden ist seit Ewigkeiten nicht gewischt worden, und der Herd ist so voller Spritzer, dass man denken könnte, eine Gruppe von Aktionskünstlern hätte sich da ausgetobt. Zwei muskulöse junge Männer stehen am Tisch und unterhalten sich auf Polnisch. Sie stecken die Köpfe zusammen und sprechen hastig, fast panisch. In beiden rumort die Angst, so sehr, dass Schwingungen sich ineinander verheddern und ich nicht aus ihnen schlau werde. Zum Glück stelle ich fest, dass ich Polnisch sehr gut verstehe, und hier ist eine ungefähre Übersetzung dessen, was sie sagen:
»Sag du es ihr, Jan.«
»Nein, das musst du machen, Andrej.«
»Ich habe es beim letzten Mal versucht.«
»Aber dich achtet sie mehr, Andrej.«
»Nein, Jan. Mir als Pole ist das zwar unbegreiflich, aber sie achtet uns beide nicht. Irische Frauen sind mir ein Rätsel.«
»Wenn du es ihr sagst, kriegst du drei Kohlrouladen von mir. «
»Vier, dann mache ich es.«
(Ich gestehe, dass ich die letzten beiden Sätze frei erfunden habe.)
Die Küche betritt jetzt das Objekt ihrer ernsten Diskussion, und ich verstehe nicht, wovor sie sich so sehr fürchten, zwei stattliche Mannsbilder wie sie, mit ihren Tätowierungen und den bedrohlich wirkenden Bürstenschnitten. Dieses zarte Geschöpf - irisch, im Gegensatz zu den beiden jungen Männern - ist entzückend. Ein hübsches kleines Kätzchen mit kessem Blick und dichten Wimpern und einer Unmenge wilder Korkenzieherlocken, die ihr bis über die Schultern reichen. Mitte zwanzig, dem Anschein nach, und so energiegeladen, dass die Luft vibriert.
In der Hand hält sie einen Karton mit einer Fertigmahlzeit. Sieht nicht sehr appetitlich aus. (Gräuliches Roastbeef, falls es jemanden interessiert.)
»Jetzt mach«, zischt Jan Andrej ins Ohr.
»Lydia.« Andrej deutet auf die wirklich sehr verdreckte Küche. Auf Englisch sagt er: »Du machst sauber irgendwann.«
»Irgendwann«, sagt sie zustimmend und nimmt sich eine Gabel von der Abtropffläche. »Aber bedauerlicherweise nicht in diesem Leben. Jetzt mach Platz.«
Bereitwillig gibt Andrej ihr den Weg zur Mikrowelle frei. Energisch sticht Lydia mit der Gabel in die Zellophanhülle des Kartons. Viermal, und jedes Mal erklingt ein Geräusch wie eine kleine Explosion, so laut, dass Jans linkes Auge zuckt, dann knallt sie die Packung in die Mikrowelle. Ich nutze die Gelegenheit, mich ihr von hinten zu nähern, aber zu meiner Überraschung schlägt sie mich fort, als wäre ich eine lästige Fliege.
Ich!
Weißt du nicht, wer ich bin?
Andrej versucht es erneut. »Lydia, bitte ... Jan und ich, wir machen oft, oft sauber.«
»Sehr gut«, sagt Lydia munter, klaubt sich das Messer aus dem Becken, das am wenigsten schmutzig aussieht, und lässt kurz Wasser drüberlaufen.
»Wir haben einen Plan gemacht.« Andrej zeigt ihr ein Blatt Papier.
»Auch das ist sehr gut.« Oh, wie weiß ihre Zähne sind, wie bezaubernd ihr Lächeln!
»Du lebst hier drei Wochen. Du machst nicht sauber. Du musst saubermachen.«
Plötzlich geht ein Gefühl von Lydia aus, schwarz und bitter. Offenbar macht sie sehr wohl sauber. Aber nicht hier? Wo dann?
»Andrej, mein kleiner polnischer Kohlkopf, und auch du, Jan, mein zweiter polnischer Kohlkopf, stellen wir uns mal vor, die Sache wäre andersherum.« Sie wedelt mit dem immer noch schmutzigen Messer, um das Gesagte zu unterstreichen. Ich weiß zufällig, dass sich auf diesem Messer zweihundertdreiundsiebzig unterschiedliche Bakterienarten tummeln. Allerdings weiß ich auch, dass es nur einer besonders mutigen und heldenhaften Bakterie gelingen würde, sich gegen diese Lydia durchzusetzen.
»Andersherum?«, fragt Andrej beklommen.
»Sagen wir, es wären zwei Frauen und ein Mann, die in dieser Wohnung lebten. Der Mann würde nichts tun, die Frauen alles. Stimmt's?«
Die Mikrowelle piept. Lydia schnappt sich ihr unappetitlich aussehendes Essen und verlässt mit einem bezaubernden Lächeln die Küche, um im Internet etwas nachzusehen.
Was für eine temperamentvolle junge Frau! Ein faszinierendes kleines Feuerwerk!
»Sie sagt Kohlkopf zu uns«, sagt Jan starr. »Ich hasse es, wenn sie Kohlkopf zu uns sagt.«
Doch obwohl ich zu gern wüsste, wie es weitergeht - ob Jan in Tränen ausbricht? -, werde ich fortgezogen. Fort, nach unten, durch gesundheitsgefährdendes Linoleum, durch eine weitere wurmzerfressene Holzdecke, und lande in einer dritten Wohnung. Diese ist dunkler. Vollgestopft mit schweren Möbeln, die zu groß und zu braun für dieses Zimmer sind. Auf dem Fußboden liegen mehrere Läufer mit nicht zueinanderpassenden Mustern, an den Fenstern hängen Stores, die so dicht sind, dass man sie für gehäkelt halten könnte. In einem großen Sessel sitzt eine finster dreinblickende alte Frau, die Beine gespreizt, die Füße in Pantoffeln fest auf dem Boden. Sie muss mindestens hundertsechzehn Jahre alt sein. Sie guckt eine Sendung über Gartengestaltung, man kann ihrem Stirnrunzeln entnehmen, dass sie noch nie in ihrem Leben so viel dummes Zeug gehört hat. Winterharte Pflanzen? So etwas gibt es nicht, du dummer, dummer Mann! Alles muss sterben!
Ich gleite an ihr vorbei in ein kleines, düsteres Schlafzimmer, dann in ein etwas größeres, ebenso düsteres Zimmer, wo ich zu meiner Überraschung einen großen, grauen Hund mit langen Ohren antreffe, der so groß und grau ist, dass ich ihn einen Moment lang für einen Esel halte. Er liegt in einer Ecke, den Kopf auf den Pfoten, und schmollt - dann spürt er meine Anwesenheit und ist sofort hellwach. Tieren macht man nichts vor. Sie haben andere Wellenlängen, und schließlich ist alles eine Frage der Wellenlänge.
Vor Angst und Ehrfurcht erstarrt, richtet er seine großen Eselsohren auf und knurrt leise, dann beruhigt er sich wieder, der Arme. Bin ich Freund oder Feind? Er hat keinen Schimmer.
Und wie heißt der Hund? Nun, seltsamerweise scheint sein Name »Grollo« zu sein. Aber das kann nicht stimmen, das ist doch kein Name. In der Wohnung steht zu viel rum, das ist das Problem, es macht die Schwingungen langsamer und verdirbt das Muster.
Ich verlasse den Esel-Hund und sause wieder ins Wohnzimmer, wo ein Schreibtisch aus Mahagoni mit einem Rollverdeck steht. Er ist so groß und gewichtig wie ein ausgewachsener Elefant. Ein paar herumliegenden Briefen entnehme ich, dass die alte Frau Jemima heißt.
Neben den Briefen steht ein silberner Bilderrahmen mit dem Foto eines jungen Mannes, und blitzartig weiß ich, dass er Fionn heißt. Das bedeutet »der Helle«. Wer ist er also? Hatte Jemima einen Verlobten, der sein Leben im Burenkrieg ließ? Oder einen, der 1918 bei der Grippeepidemie starb? Aber das Foto kann nicht aus dem Ersten Weltkrieg stammen. Die Männer in ihren stramm sitzenden Uniformen sehen immer so steif und geradeaus in die Kamera, dass man glauben könnte, man hätte ihnen ihr eigenes Gewehr hinten reingeschoben. Sie tragen unterschiedslos ein bürstenartiges Oberlippenbärtchen, und der erloschene, glasäugige Blick, mit dem sie den Betrachter anstarren, erweckt den Eindruck, dass sie gestorben und ausgestopft sind. Fionn hingegen sieht aus wie der Prinz in einem Märchenbuch. Es liegt an seinem Haar - das blond, lang und gewellt ist - und an dem kantigen Kiefer. Er trägt eine Lederjacke und verschossene Jeans und hockt in einem Blumenbeet, so scheint es, die Hand voller Erde, die er mir mit einem kessen, fast anzüglichen Lächeln entgegenstreckt, als hätte er noch viel mehr, das er einem entgegenstrecken könnte! Grundgütiger! Gerade hat er mir zugezwinkert! Ja, gezwinkert! Aus dem Foto! Und seinem Lächeln entsprang ein Silberstern! Ich kann es kaum fassen.
»Ich spüre deine Gegenwart!«, brüllt Jemima plötzlich und jagt mir einen gehörigen Schrecken ein. Ich
hatte sie ganz vergessen, so vertieft war ich in meine Betrachtung von Fionn dem Prinzen und seinem Zwinkern und Funkeln.
»Ich weiß, dass du hier bist«, sagt sie. »Du machst mir keine Angst!«
Sie hat mich bemerkt. Dabei war ich gar nicht nah an ihr dran. Offenbar feinfühliger, als man denken würde. »Zeig dich«, befiehlt sie.
Das tue ich, Madame, das tue ich bestimmt, aber noch nicht jetzt. Du musst dich noch gedulden. Anscheinend bin ich sowieso wieder auf dem Absprung und werde gezogen, nach unten gezerrt. Jetzt bin ich in der Wohnung im Erdgeschoss. Durch das Wohnzimmerfenster kann ich auf die Straße sehen. Ich spüre viel Liebe. Und noch etwas ...
Auf dem Sofa, im flackernden Licht des Fernsehers, liegt ... na ja ... liegen ein Mann und eine Frau, aber sie halten sich so eng umschlungen, dass ich einen Moment lang denke, sie sind eins, ein merkwürdiges, mythologisches, zweiköpfiges, dreibeiniges Ding - das hätte mir noch gefehlt. (Das vierte Bein ist da, es liegt nur unter den beiden.)
Auf dem Fußboden stehen zwei Teller mit den Resten eines üppigen Mahls: Kartoffeln, Rinderbraten, Soße, Mohrrüben - kommt mir ein bisschen mächtig vor für Juni, aber was weiß ich schon.
Jetzt erkenne ich die Frau - Maeve -, sie ist blond und rotwangig wie ein Engel auf einem Gemälde. Sie hat eine gesunde, rosige Frische, denn sie ist auf einer Farm aufgewachsen. Jetzt lebt sie zwar in Dublin, aber die süße reine Luft des Ländlichen haftet ihr noch an. Diese Frau fürchtet sich nicht vor Schlamm. Auch nicht vor Kuheutern. Oder Hühnern, die Junge gebären. (Ich glaube, da stimmt was nicht.) Aber die Frau fürchtet sich vor anderen Dingen ...
Einen guten Blick auf den Mann - Matt - zu bekommen, ist gar nicht so leicht, weil sie so ineinander verknäult sind; sein Gesicht ist fast völlig versteckt. Lustig, bei ihnen läuft dieselbe Gartensendung wie bei Jemima, doch im Gegensatz zu ihr finden diese beiden offenbar, dass es wunderbare Fernsehunterhaltung ist.
Ganz unerwartet spüre ich die Gegenwart eines zweiten Mannes. Nur schwach, aber doch stark genug, dass ich in alle Ecken fahre, um nachzusehen. Wie in den anderen drei Wohnungen im Haus gibt es zwei Schlafzimmer, aber hier wird nur eins als Schlafzimmer benutzt. Das andere ist halb Arbeitszimmer, halb Abstellraum - ein Schreibtisch, ein Computer und überfl üssige Sportgeräte (Nordic-Walking-Stöcke, Badminton-Schläger, Reitstiefel und so), aber keine Schlafstätte.
Ich schnüffl e noch ein bisschen weiter. Zwei Podgeand-Rodge-Tassen in der Küche, zwei Tigger-Müslischüsseln, alles gibt es paarweise. Wer immer der andere Mann ist, er wohnt nicht hier. Und dem wilden, verwucherten Garten hinter dem Haus nach zu urteilen, den man vom Schlafzimmer aus sehen kann, mäht er auch nicht den Rasen. Ich kehre ins Wohnzimmer zurück und komme ganz nah an die engelhafte Maeve heran, um mich ihr - ganz freundlich - vorzustellen, aber sie fängt an, mit den Armen um sich zu schlagen, wie jemand, der Schwimmübungen auf dem Trockenen macht, und stößt Matt zurück. Sie befreit sich aus der Umarmung und setzt sich aufrecht hin. Das Blut ist aus ihrem Gesicht gewichen, und ihr Mund macht ein großes stummes O.
Matt stemmt sich von dem weichen Sofa hoch und setzt sich, auch er ist verstört. »Maeve! Maeve! Es geht doch nur um Gartenarbeit! Hat jemand was Schlimmes gesagt?« Seine Miene drückt Besorgnis aus. Jetzt kann ich ihn besser sehen, er hat ein junges, freundliches, selbstbewusstes Gesicht, und ich vermute, wenn er nicht so besorgt ist, gehört er zu denen, die lächelnd durchs Leben gehen.
»Nein, es ist nichts ... «, sagt Maeve. »Entschuldige, Matt, es war nur ... nein, alles in Ordnung, es ist nichts.«
Zögernd umarmen sie sich wieder. Aber ich habe sie durcheinandergebracht, beide, und das will ich nicht. Sie gefallen mir; die ungewöhnliche Zärtlichkeit zwischen ihnen berührt mich.
»Ist gut«, sage ich (aber natürlich können sie mich nicht hören), »ich gehe ja schon.«
Ich setze mich draußen auf die Stufen und bin leicht bedrückt. Abermals überprüfe ich die Adresse: Star Street Nummer 66, Dublin 8. Ein rotes Backsteinhaus im georgianischen Stil mit einer blauen Eingangstür und einem Türklopfer, der wie eine Banane geformt ist. (Ein früherer Bewohner war ein Schlosser mit Sinn für Humor. Die anderen konnten ihn nicht ausstehen.) Eindeutig ein Backsteinhaus. Eindeutig georgianisch. Die Haustür eindeutig blau. Der Türklopfer hat eindeutig die Form einer Banane. Dies ist das richtige Haus. Aber keiner hat mir gesagt, dass hier so viele Menschen wohnen. Mach dich auf alles gefasst, hat man mir geraten. Aber das ist nicht die Sorte Alles, auf die ich mich gefasst gemacht habe. Es ist das falsche Alles.
Und ich kann niemanden fragen. Ich bin losgeschickt worden wie ein Spion mit einer neuen Legende. Ich muss allein klarkommen.
EINUNDSECHZIG TAGE ...
An meinem ersten Abend in der Star Street Nummer 66 bin ich von Wohnung zu Wohnung gezogen, ängstlich bemüht herauszufinden, welche meine ist. Katies Wohnung war leer. Kurz nach meiner Ankunft hatte sich die ganze Truppe ziemlich gereizt zu einem teuren Restaurant aufgemacht. In der Wohnung darunter putzten Jan und Andrej die Küche, während Lydia sich an dem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers installierte und lange Zeit vollkommen vertieft im Netz surfte. Als sie in ihr Zimmer ging und ein Schläfchen machte und Jan und Andrej sich in ihrem Zimmer die Betriebswirtschaftsbücher vornahmen - so tüchtig, die beiden -, wechselte ich zur Etage darunter, zu Jemimas Wohnung. Ich achtete darauf, dass ich ihr nicht zu nahe kam, schließlich wollte ich nicht wieder von ihr beschimpft werden. Aber ich gestehe, dass es mir großen Spaß machte, den Hund an der Nase herumzuführen, Grollo - wenn er wirklich so heißt. Ich schaukelte um ihn herum, und er starrte in die Luft in gebanntem, regungslosem Staunen. Als ich auf die Idee kam, ein wenig zu tanzen, bewegte sich sein großer grauer Kopf - das muss man ihm lassen - genau im Takt zu meinen Bewegungen. Ich drehte mich schneller und schneller und wirbelte über seinem Kopf, und er versuchte, meinen Bewegungen zu folgen, der Arme, bis er vor lauter Erregung mit einem Hundekichern in sich zusammensackte. Da hörte ich lieber auf. Nicht, dass er am Ende noch kotzte.
Dann kehrte ich endlich zu Matt und Maeve zurück, wo ich eigentlich die ganze Zeit schon sein wollte, aber professionell wie ich bin, fand ich, ich sollte erst alle anderen Möglichkeiten erforschen. Jetzt hatte ich sie erforscht, wenigstens fürs Erste, und konnte mich guten Gewissens wieder zu dem Liebespärchen auf dem Sofa gesellen.
Die Sendung, die sie angesehen hatten, war gerade zu Ende, worauf Maeve automatisch die Arme öffnete und Matt freiließ. Der rollte sich vom Sofa auf den Boden und sprang auf die Füße, als wollte er mit einem Sonderkommando eine feindliche Botschaft einnehmen. Das sah erstaunlich glatt und elegant aus und war offenbar oft geübt worden, und zum Glück waren die Teller, die zuvor auf dem Fußboden gestanden hatten, weggeräumt worden, sonst hätte er jetzt Bratensoße auf seinem hübschen T-Shirt.
Übersetzung: Susanne Höbel
Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
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Autoren-Porträt von Marian Keyes
Marian Keyes wurde 1963 als ältestes von fünf Kindern in Cork (Irland) geboren. Sie studierte Jura und siedelte 1986 nach London über, wo sie sich mit Gelegenheitsjobs durchschlug und nebenbei einen Abschluss in Buchprüfung machte. Mit ihrem Romandebüt "Wassermelone" erzielte sie ihren ersten grossen Erfolg. Heute lebt Marian Keyes in der Nähe von Dublin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marian Keyes
- 2012, 2. Aufl., 748 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Hoebel, Susanne
- Übersetzer: Susanne Höbel
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453406389
- ISBN-13: 9783453406384
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